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Reinalter, Vögele-Stammtisch – Leseprobe

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Helmut <strong>Reinalter</strong><br />

Der Vögele<br />

<strong>Stammtisch</strong><br />

im Gasthof „Roter Adler“<br />

Eine Kulturgeschichte Bozens<br />

<strong>–</strong> 1 <strong>–</strong>


<strong>–</strong> 2 <strong>–</strong>


Helmut <strong>Reinalter</strong><br />

Der Vögele<br />

<strong>Stammtisch</strong><br />

im Gasthof „Roter Adler“<br />

Eine Kulturgeschichte Bozens<br />

<strong>–</strong> 3 <strong>–</strong>


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung<br />

des Amtes der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2016<br />

Berenkamp Buch- und Kunstverlag<br />

Wattens<strong>–</strong>Wien<br />

www.berenkamp-verlag.at<br />

ISBN 978-3-85093-364-3<br />

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

<strong>–</strong> 4 <strong>–</strong>


Inhalt<br />

7<br />

Vorwort<br />

9 Wirtsstuben, Gasthäuser und gesellige Vereinigungen in<br />

der Frühen Neuzeit<br />

15 Trinkstuben und Wirtshäuser<br />

25 Vereinigungen und Vereine seit dem 18. Jahrhundert<br />

35 Gasthöfe in Südtirol<br />

45 Ein kurzer Überblick über Wirtshäuser in Bozen<br />

55 Der Gasthof „Roter Adler“ in der Goethestraße<br />

65 Bozner Bürgertum, Bürgerkultur und Kaufleute<br />

75 Das Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert<br />

85 Das Bürgertum in Bozen um die Wende vom 19. zum 20.<br />

Jahrhundert<br />

95 Der <strong>Stammtisch</strong> „Vögele“<br />

105 Was ist ein <strong>Stammtisch</strong>?<br />

115 Der Ursprung und die Anfänge des „Vögele“<br />

125 Die weitere Entwicklung des „Vögele“-<strong>Stammtisch</strong>es im<br />

20. Jahrhundert:<br />

135 Der Erste Weltkrieg und die Zeit des Faschismus<br />

145 Gasthof „Roter Adler“ und der <strong>Stammtisch</strong> unter dem<br />

Faschismus<br />

<strong>–</strong> 5 <strong>–</strong>


155 Die politische Entwicklung Südtirols nach 1945:<br />

165 Die Politik in Südtirol nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

175 Der Gang vor die UNO<br />

185 Die Politik Silvius Magnagos<br />

195 Der <strong>Stammtisch</strong> nach 1947<br />

205 Der „Vögele“-<strong>Stammtisch</strong> heute<br />

215 Jahrestreffen, tägliche Zusammenkünfte, kulturelle Begegnungen<br />

und Ausflüge<br />

225 Gespräche, Diskussionen und Festreden<br />

235 Pflege der Freundschaft und gelebte Toleranz<br />

245 Schluss: Was bringt die Zukunft?<br />

255 Anhang:<br />

256 Präsidenten seit 1947<br />

257 Kurzbiographien der Mitglieder des <strong>Stammtisch</strong>es<br />

258 Quellen und Literatur<br />

259 Personenregister<br />

260 Über den Autor<br />

<strong>–</strong> 6 <strong>–</strong>


Vorwort<br />

Der „Vögele“-<strong>Stammtisch</strong> im Gasthof „Roter Adler“ in<br />

Bozen war nie ein Verein, sondern eine freie Vereinigung<br />

von Freunden, und ist einer der ältesten seiner<br />

Art in Mitteleuropa. Es gibt ihn seit Ende des 19. Jahrhunderts,<br />

und er hat eine bewegte Geschichte durchlaufen, nämlich die<br />

Jahrhundertwende, den Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit<br />

mit dem Faschismus, den Zweiten Weltkrieg und den Wiederbeginn<br />

von 1947 bis heute. Die politischen Teile wurden allerdings<br />

für die Drucklegung sehr gekürzt.<br />

Im vorliegenden Buch geht es vor allem um eine Kulturgeschichte<br />

des <strong>Stammtisch</strong>s von den Anfängen bis zur Gegenwart.<br />

Eine Familiengeschichte Kamaun wurde nicht angestrebt.<br />

Sie müsste noch geschrieben werden. Dargestellt werden im<br />

vorliegenden Buch die Entwicklung der Gasthäuser und Wirtsstuben<br />

in Südtirol, das Selbstverständnis von <strong>Stammtisch</strong>en allgemein,<br />

die Geschichte des Bozner Bürgertums und die Treffen<br />

und Feiern des <strong>Stammtisch</strong>s, die Pflege der Freundschaft, der<br />

Geselligkeit, die geführten Gespräche und die Festreden. Die<br />

verstorbenen Mitglieder wurden nur erwähnt, soweit sie dem<br />

Verfasser bekannt waren. Im Anhang werden die Präsidenten<br />

des <strong>Stammtisch</strong>s von 1947 bis heute und Kurzbiografien der<br />

noch lebenden <strong>Stammtisch</strong>mitglieder angeführt. Damit soll das<br />

wenige Quellenmaterial, das über diesen <strong>Stammtisch</strong> schriftlich<br />

und mündlich überliefert ist, der Nachwelt erhalten bleiben.<br />

Die vom Verfasser in vielen Jahren gesammelten diversen<br />

Unterlagen bilden die Grundlage dieser <strong>Stammtisch</strong>geschichte.<br />

Teile des Manuskripts wurden nicht nur in Innsbruck, sondern<br />

auch in der Toskana im Weingut „Il Poderuccio“ geschrieben.<br />

Das in der Zwischenzeit verstorbene <strong>Stammtisch</strong>mitglied<br />

Klaus Dubis hat den Verfasser öfters kontaktiert und bearbeitet,<br />

diese Geschichte des <strong>Stammtisch</strong>s zu schreiben, weil sie ihm<br />

ein besonderes Anliegen war. Würde sie nicht verfasst werden,<br />

könnte das darüber vorhandene Wissen für immer verloren gehen,<br />

betonte er mehrfach. Nach anfänglichem Zögern hat sich<br />

<strong>–</strong> 7 <strong>–</strong>


der Autor doch dazu entschlossen, Klaus Dubis eine Zusage zu<br />

geben. Die Bedenken bestanden darin, dass der Verfasser beruflich<br />

durch zahlreiche Forschungsaufträge und Funktionen in<br />

wissenschaftlichen Einrichtungen zeitlich ziemlich ausgelastet<br />

war und zudem das spärlich vorhandene Material zum Thema<br />

die Forschungsarbeit erschwert hätte. Jahrelange Recherchen,<br />

Materialsammlungen und zahlreiche Interviews haben dann<br />

auch zu einer Verzögerung der Drucklegung geführt.<br />

Der Autor dankt vielen Personen für Hilfestellungen, Interviews<br />

und Auskünfte, namentlich Karl Kamaun (†), Roland<br />

Riz, Max Bauer (†), Karl Kompatscher, Martin Bozner, dem<br />

Dolomiten-Zeitungsarchiv und Chefredakteur Toni Ebner sowie<br />

der Tessmann-Bibliothek in Bozen und der Bibliothek des<br />

Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Auch Renate Kamaun<br />

hat dem Verfasser einige wenige Hinweise und Unterlagen zur<br />

Familiengeschichte Kamaun und zum Gasthof „Roter Adler“<br />

zur Verfügung gestellt. Er war methodisch bemüht, die engere<br />

<strong>Stammtisch</strong>geschichte des „Vögele“ in den größeren Rahmen<br />

der Zeit- und Kulturgeschichte Bozens einzubinden. Für<br />

Schreibarbeiten, Recherchen und Korrekturlesungen dankt er<br />

seinen Mitarbeiterinnen Franziska Österreicher und Jacqueline<br />

Lukovnjak. Seine frühere Assistentin, Brigitte Abram, hat dankenswerterweise<br />

das Personenregister zusammengestellt.<br />

Helmut <strong>Reinalter</strong><br />

Innsbruck <strong>–</strong> Bozen, im Dezember 2014<br />

<strong>–</strong> 8 <strong>–</strong>


I. Wirtsstuben, Gasthäuser und gesellige<br />

Vereinigungen in der Frühen Neuzeit<br />

1. Trinkstuben und Wirtshäuser<br />

Die Wirtshäuser und Trinkstuben waren in der Frühen<br />

Neuzeit ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen<br />

Lebens. Besonders in bürgerlichen Kreisen trank<br />

und aß man sehr häufig in den ständischen Trinkstuben, die in<br />

jeder größeren Stadt vorhanden waren. Frauen hatten in den<br />

Trinkstuben nur selten Zutritt. Neben den Trinkstuben existierten<br />

noch die öffentlichen Schenken und Gasthäuser, deren<br />

Zahl sich auf dem Land und in der Stadt im Laufe der Frühen<br />

Neuzeit steigerte. Diese wurden nicht nur zu feierlichen Anlässen<br />

wie Taufe, Hochzeit oder Begräbnis besucht, sondern<br />

regelmäßig auch von der Stadt- und Dorfbevölkerung. In diesem<br />

Zusammenhang dürften sich auch die ersten regelmäßigen<br />

Zusammenkünfte am Abend herausgebildet haben. Sie waren<br />

die Voraussetzung für die späteren <strong>Stammtisch</strong>e. Im 16. Jahrhundert<br />

nahmen daran auch Adelige teil, und im 17. Jahrhundert<br />

wurden Gasthäuser ausschließlich Begegnungsstätten des<br />

Volkes beziehungsweiseder Männer. Auch in der Habsburgermonarchie<br />

entstanden in dieser Zeit solche öffentlichen Schenken<br />

und Gasthäuser. Die Kirchen verurteilten allerdings den<br />

häufigen Gasthausbesuch wegen der Trunksucht und üppigen<br />

Gelage, und die Obrigkeit erließ Verordnungen, um die Zahl<br />

der Trinkhäuser und Schenken einzuschränken. Die Ess- und<br />

Trinkkultur war wegen ihrer Maßlosigkeit häufig Anlass zur<br />

Kritik. Die Maßhaltedekrete richteten sich in erster Linie an die<br />

Unterschichten. Der seit der Reformation verstärkte Kampf um<br />

Mäßigkeit ist allerdings ziemlich wirkungslos geblieben.<br />

Die ältesten Gasthäuser in Tirol reichen bis in die römische<br />

Zeit zurück. Damals haben Reisende gastliche Tavernen und<br />

Stätten zur Einkehr und Unterkunft benutzt. In Urkunden und<br />

Aufzeichnungen ist auch von Herbergen in Klöstern die Rede.<br />

Auch an Straßen und in Städten entstanden Gasthäuser und<br />

Hospize. Erst im 13. Jahrhundert haben sich dann Gasthöfe im<br />

<strong>–</strong> 9 <strong>–</strong>


heutigen Sinn entwickelt. In dieser Zeit war das Reisen noch<br />

sehr beschwerlich, was sich später im Zuge der Renaissance<br />

durch Bildungs- und Kavaliersreisen änderte.<br />

Im 19. Jahrhundert setzt dann das richtige Reisezeitalter ein.<br />

In der Frühen Neuzeit waren es vor allem Kaufleute, Klosterboten,<br />

Pilger und Soldaten, die häufig reisten. August von Kotzebue,<br />

der in seinem Leben sehr viel gereist war, hielt im Jahr 1805<br />

in seinem Buch „Bemerkungen auf einer Reise von Liefland<br />

nach Rom und Neapel“ fest: „Für Leute, die sich’s gern bequem<br />

machen, gern gut essen und trinken, gewinnt die Reise durch<br />

Tyrol neue Reize. Denn ich wüßte kein Land, wo ich, auch in<br />

dieser Hinsicht, lieber reisen möchte. In jedem Dorf findest du<br />

mehrere gute, oft elegante, immer sehr reinliche Zimmer, mit<br />

weißen bequemen Betten versehen. Eine Stunde, oft auch nur<br />

eine halbe nach deiner Ankunft, wird dir ein Mahl aufgetischt,<br />

bestehend aus Fleischsuppe, Fisch, Wildbraten, delicater Mehlspeise,<br />

zum Dessert Confect und Früchte. Alles ist trefflich zubereitet.<br />

Dann trinkst du einen recht angenehmen Landwein,<br />

der deinen Gaumen befriedigen wird […] Schnelle und freundliche<br />

Bedienung, würzt das Mahl, und am Ende ist die Zeche<br />

so mäßig, dass auch der Beutel weit länger gefüllt bleibt als in<br />

der Schweiz […] Ein herrliches Land, zauberische Ansichten,<br />

wohl unterhaltene Chausseen, gute Pferde, willige Posthalter,<br />

höfliche Postillions, bequemes Nachtlager, leckere Speisen, guter<br />

Wein, freundliche Bedienung, wohlfeile Zeche. […]“<br />

Am Beginn des Reisezeitalters stellte der Bayer Ludwig Steub<br />

1875 fest, dass gute Menschen auch gute Wirtshäuser lieben. Er<br />

spricht von drei- bis vierhundertjährigen Gasthäusern in Tirol<br />

zu dieser Zeit.<br />

Die Gasthäuser fanden sich an den vier Hauptwegen entlang<br />

durch Tirol, an der Brennerstraße, am Oberen Weg über Fernund<br />

Reschenpass, an der Straße vom Arlberg durchs Inntal und<br />

schließlich durch das Pustertal. Historische Gaststätten finden<br />

sich in Tirol in historischen Straßenzügen und vor allem an den<br />

benützten Alpenübergängen. Da der Waren- und Reiseverkehr<br />

in der Frühen Neuzeit über Brenner und Reschen sehr stark zunahm,<br />

wurden das Frachtwesen besser organisiert und damit<br />

auch die Gaststätten erweitert. Aus dem Jahr 1533 stammt eine<br />

der ersten Tiroler Wirtsordnungen, in der die Anbringung des<br />

<strong>–</strong> 10 <strong>–</strong>


Speise- und Getränketarifs gefordert wurde. Unterließ der Wirt<br />

dies, war er verpflichtet, für die Gäste die Zeche zu übernehmen.<br />

Die Speisen mussten rein und gut gekocht werden und<br />

die Getränke unverfälscht sein. Auch die Sperrstunden wurden<br />

festgelegt.<br />

Die bereits erwähnten Trinkstuben wurden z. B. 1508 in der<br />

Stadt Hall errichtet, bei Matrei am Brenner der Grieshof. Wandsprüche<br />

erinnern an verschiedene Trinkstuben der Frühen<br />

Neuzeit, wie die vom Maler Ulrich Springinsklee 1526 in der<br />

Trinkstube der Apotheke in der Stadtgasse von Bruneck verewigten<br />

Namen und Wappen von 25 Trinkgesellen aus Adel<br />

und Bürgerschaft. Auch in anderen Trinkstuben waren fröhliche<br />

Wandmalereien und Trinksprüche als Wandschmuck bedeutsam.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Meran von Einheimischen<br />

und Gästen die sogenannte „Stehweingesellschaft“<br />

gegründet, die besonders die Geselligkeit pflegte. In Tirol wurden<br />

in Stadt und Land Gasthöfe sehr häufig vererbt, wie Probst<br />

Josef Weingartner in seinem Buch „Tiroler Wirtshäuser und<br />

Wirtsfamilien“ erwähnt. Häufig waren Wirte aufgrund ihrer<br />

sozialen Stellung neben den Bürgermeistern und den Pfarrern<br />

die wichtigste Persönlichkeit. Vereinzelt gab es aber auch Kritik<br />

an Wirten und Gasthäusern. So schrieb der Tiroler Arzt und Gelehrte<br />

Hippolyt Guarinoni 1610, dass in den Wirtshäusern und<br />

Schlafkammern eine verpestete Luft vorherrsche, eine schädliche<br />

und abscheuliche Unreinlichkeit der Liegestätten vorhanden<br />

sei und der Gast für eine schlechte Mahlzeit sehr viel<br />

bezahlen müsse. Positiv beurteilt wird neben anderen Orten<br />

besonders die Stadt Bozen wegen deren Gastfreundschaft. So<br />

wurde besonders die Qualität des Weins und der Früchte hervorgehoben.<br />

1492 urteilte ein venezianischer Gesandter über<br />

die Bozner Gasthäuser sehr gut, und 1603 lobte ein Reisender<br />

Bozen, wo „ein sehr berühmtes und reiches Emporium“ existiere<br />

und „die Kaufleute aus Deutschland, Italien, Frankreich und<br />

Illyrien zusammenkommen.“<br />

Im 13. Jahrhundert wurde der erste Bozner Wirt erwähnt,<br />

und ein Häuserverzeichnis der Bozner Altstadt zählte 1497 ca.<br />

24 Wirtsbehausungen. Im Jahr 1546 gab es angeblich schon 68<br />

Gasthäuser in Bozen, während in Innsbruck 30 und in Sterzing<br />

zehn bestanden. So gab es in Bozen bereits 1420 u. a. das Gast-<br />

<strong>–</strong> 11 <strong>–</strong>


haus „Sonne“, 1514 das Haus „Zum Schwarzen Greifen“, später<br />

die „Weiße Gans“ und das Gasthaus „Zu den zwei Schlüsseln“,<br />

die „Post“, das Gasthaus „Figl“ und das „Gasthaus „Stiegl“,<br />

um nur einige zu nennen. Auch der Gasthof „Roter Adler“ hat<br />

eine historische Tradition. In der Bindergasse gab es sehr viele<br />

Gasthäuser mit schönen Fassaden und alten Schildern, mit<br />

holzgetäfelten Stuben und bemerkenswerten Fresken.<br />

<br />

2. Vereinigungen und Vereine seit dem 18. Jahrhundert<br />

Im 18. Jahrhundert entstand ein neuer Typus sozialer Organisation,<br />

der in der Forschung als „Assoziation“ oder als<br />

„Verein“ bezeichnet wurde. Unter Assoziation verstand<br />

man „einen freien organisatorischen Zusammenschluss von<br />

Personen, d. h., in ihr besteht Freiheit zum Beitritt, zum Austritt<br />

und zur Auflösung; sie ist sodann unabhängig vom rechtlichen<br />

Status der Mitglieder und verändert diesen Status auch nicht,<br />

sie ist also im Rechtssinne statusneutral; sie ist schließlich dazu<br />

begründet, selbst und frei gesetzte und in gewisser Weise spezifizierte<br />

Zwecke zu verfolgen. Die Assoziation unterscheidet<br />

sich von der älteren sozialen Organisationsform, der Korporation,<br />

insofern diese eine nichtvoluntaristische, sondern durch<br />

Geburt und Stand bestimmte, auf das Ganze des Lebens unspezifisch<br />

ausgedehnte Organisation ist, die für ihre Mitglieder statusbestimmte<br />

Rechtsfolgen hat.“<br />

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es bereits<br />

zahlreiche Vereine und Gesellschaften dieses Zuschnitts. Auch<br />

in Tirol begannen sich Gesellschaften und Vereinszusammenschlüsse<br />

zu entwickeln. In den folgenden Jahrzehnten wuchs<br />

dann die Zahl der Vereine sehr stark, sodass das Vereinswesen<br />

zu einer die sozialen Beziehungen der Menschen organisierenden<br />

und prägenden Kraft wurde. Waren es zunächst die Akademien<br />

und Gelehrtengesellschaften, folgten dann die landwirtschaftlichen,<br />

patriotischen Vereine und Lesegesellschaften,<br />

Musiziergesellschaften und ausschließlich gesellige Vereinigungen<br />

wie philanthropische Wohlfahrtsvereine. Erst nach der<br />

Französischen Revolution entstanden politische Gruppierun-<br />

<strong>–</strong> 12 <strong>–</strong>


gen, Kunst-, Konzert- und Gesangsvereine, Gewerbevereine<br />

und Kriegsvereine. <strong>Stammtisch</strong>e, die es bereits zu dieser Zeit<br />

gab, haben sich nicht als Vereine verstanden, sondern als regelmäßige<br />

Zusammenkünfte und Treffen.<br />

In zeitgenössischen Berichten wurde das Vereinswesen sehr<br />

positiv als Fortschritt, als wesentlicher Teil der modernen Zeit<br />

und als Grundlage für die Bewältigung der Zukunft charakterisiert.<br />

Was die Ursachen und Gründe von Vereinsgründungen<br />

und die Herausbildung von freundschaftlichen Zusammenschlüssen<br />

und <strong>Stammtisch</strong>en betrifft, wurden vier Motivkomplexe<br />

hervorgehoben. Die Vereinsgründer setzten sich zum Ziel,<br />

über die Vereine jenseits der Beschränkungen durch Familie,<br />

Stand und Beruf sich zusammenzufinden, um freie Geselligkeit<br />

und Unterhaltung zu pflegen. Hier stand das Bedürfnis nach<br />

Verstärkung der mitmenschlichen Bindungen, nach Brüderlichkeit<br />

und Freundschaft im Sinn eines „gemüthaften Zusammenhalts“<br />

im Vordergrund. Die Vereinsmitglieder wollten sich<br />

untereinander auch „friedfertig“ belehren, um vernünftig und<br />

aufgeklärt-humanitär eingestellt zu werden. Sie wollten „ein<br />

neues, weltbürgerliches oder nationales, aufgeklärtes oder idealistisches<br />

oder romantisches, liberales oder soziales Bewusstsein,<br />

eine neue Gesinnung bilden“. Später setzten sich die Vereine<br />

gesamtgesellschaftliche Zwecke, die über die Grenzen des<br />

Vereins hinausführten, wie z. B. Gemeinwohl, Gemeinnützigkeit<br />

oder auch Politik, also Ziele von allgemeinem öffentlichem<br />

Interesse. Schließlich gab es auch Vereinsziele, die der Kultur<br />

und Bildung, der Kunst und Wissenschaft dienen sollten.<br />

Das Vereinswesen, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

ausbreitete, wurde nicht als Wiederbelebung einer<br />

älteren Tradition gesehen, sondern als Novum bezeichnet. Die<br />

alten Ordnungen des Lebens mit ihren sozialen Bindungen<br />

lockerten sich zusehends und lösten sich dann z. T. auch auf.<br />

Diese Entwicklung verlief parallel zum Prozess der Individualisierung,<br />

Dekorporierung und bürgerlichen Emanzipation.<br />

Das Neue waren der auf Vernunft und Autonomie aufgebaute<br />

Individualismus und die Verbürgerlichung der Kultur. Das<br />

zunehmende Diskussions- und Informationsbedürfnis des Publikums<br />

erforderte neue, überprivate, öffentliche Orte wie die<br />

Vereine. Auch der Glaube an den Fortschritt spielte im Zusam-<br />

<strong>–</strong> 13 <strong>–</strong>


menhang mit der Aufklärung für das Vereinswesen eine große<br />

Rolle, weil es um eine grundsätzliche Verbesserung der Institutionen<br />

und der gesellschaftlichen Zustände ging und eine<br />

Höherentwicklung des Menschen durch Freiheit und Bildung<br />

erwartet wurde.<br />

Die Vereine der Aufklärung bildeten einen besonderen „Kristallisationspunkt“<br />

und ein wichtiges Forum für aufklärerische<br />

Diskurse. In den verschiedenen Vereinen und Gesellschaften<br />

war die Aufklärung als ein soziokultureller Prozess gut fassbar<br />

und daher ein entscheidendes Element für eine sozialgeschichtliche<br />

Bestimmung des 18. Jahrhunderts. Eine weitere wichtige<br />

Basis für die Vereine und geselligen Zusammenschlüsse bildeten<br />

auch der sich allmählich herausbildende moderne Staat mit<br />

seiner Beamtenschaft und die beginnende Emanzipation des<br />

Bürgertums in Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft. Im<br />

Prozess der bürgerlichen Emanzipation stellten sie eine Etappe<br />

zwischen feudaler Korporation und bürgerlicher Assoziation<br />

dar. Zur Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit haben sie<br />

wesentlich beigetragen und waren eine Erscheinungsform des<br />

tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses in<br />

der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In ihnen wurden zum<br />

ersten Mal über konfessionelle Grenzen, staatliche und ständische<br />

Interessen hinweg gemeinsame, für die ganze Gesellschaft<br />

verbindliche Anliegen vertreten.<br />

Wichtig war auch in diesem Zusammenhang, dass der Staat<br />

seit dem Aufgeklärten Absolutismus eine Reihe von Voraussetzungen<br />

für die Vereinsbildung geschaffen und diese gefördert<br />

hat. „Indem der Staat die Vereinheitlichung der Untertanenschaft<br />

vorantrieb und bis zu einem gewissen Grade die Rechtsgleichheit<br />

der Individuen durchsetzte, indem er Korporationen<br />

zurückdrängte und in der Reformzeit […] aufhob, förderte er<br />

den Individualisierungsprozess und damit die Tendenz zu Assoziation.<br />

Die strikte Trennung von privatem und öffentlichem<br />

Recht ermöglichte darüber hinaus die freie und assoziative,<br />

nichtkorporative Assoziation der Individuen […]“ Die Vereine<br />

und geselligen Zusammenschlüsse waren wichtige Elemente<br />

der bürgerlichen Gesellschaft, wichtig für ihren Aufstieg, und<br />

sie begünstigten und beschleunigten die Ausbildung dieser<br />

neuen Gesellschaftsformation. Die Vereine verfolgten in erster<br />

<strong>–</strong> 14 <strong>–</strong>


Linie ideale Zwecke, die einem neuen Selbstverständnis der<br />

Aufklärungsbewegung und neuen kulturellen, gesellschaftlichen<br />

und praktischen Ansprüchen entsprachen.<br />

Die Bedeutung des Vereinswesens umfasste auch die soziale<br />

Schichtung, weil die Vereinstätigkeit auch Einfluss auf den sozialen<br />

Rang und den Bürger im öffentlichen Rang nahm. Das<br />

Bürgertum spielte später in der Selbstverwaltung und Politik<br />

eine zunehmend wichtige Rolle. Die Fähigkeit dazu entwickelte<br />

sie auch durch die aktive Tätigkeit in Vereinen. Im 19. und<br />

20. Jahrhundert nimmt vielfach die politische Bedeutung der<br />

Vereine zu, obwohl manche die Politik aus ihren Aktivitäten<br />

ausschlossen. Waren die Motive und Zwecke der Vereine und<br />

Zusammenschlüsse teilweise unspezifiziert, so orientierten sie<br />

sich doch am allgemeinen Leben der Menschen. Die Bildung<br />

war Selbstverständigung im Medium der Kultur. Pflege der<br />

Freundschaft, Geselligkeit und gemeinnützige Praxis standen<br />

im Vordergrund.<br />

Für die Entstehung der Vereine des 18. und 19. Jahrhunderts<br />

war die Herausbildung neuer Interessen und Bedürfnisse bedeutsam,<br />

die den Rahmen des engeren Berufsfeldes und des<br />

Standeslebens sprengten. Die neue Selbstorganisierung des<br />

Bürgers in Vereinen, Gesellschaften und <strong>Stammtisch</strong>en wurde<br />

langsam zu einem gesellschaftlichen Faktor. Sie bildeten eine<br />

bürgerliche Gesellschaft, die durch die Emanzipation der bürgerlichen<br />

Schichten ermöglicht wurde, und sie ging aus dem<br />

großen gesellschaftlichen Wandlungsprozess seit der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts hervor. Im 19. Jahrhundert wurden die erwähnten<br />

Zusammenschlüsse politischer und waren stark beeinflusst<br />

vom Nationalismus und Patriotismus dieser Zeit. In ihrer<br />

inneren Struktur zeigte die frühe Vereinsbildung im 19. Jahrhundert<br />

einen beachtlichen Grad formaler Organisierung und<br />

ein großes Ausmaß institutioneller Verankerung demokratischer<br />

Willensbildung. Bei den <strong>Stammtisch</strong>en war die formale<br />

Organisierung auf ein Mindestmaß beschränkt, weil es häufig<br />

keine Statuten gab.<br />

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer<br />

Ausbreitung der Vereine, Gesellschaften und <strong>Stammtisch</strong>e.<br />

Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass in die erwähnten<br />

Sozietäten im steigenden Maß auch unterbürgerliche<br />

<strong>–</strong> 15 <strong>–</strong>


Schichten und zum Teil auch bürgerliche Frauen aufgenommen<br />

wurden. Die Zahl der Gesellschaften stieg schnell und stetig.<br />

In den 1850er-Jahren wurden dann allerdings wegen der Revolution<br />

1848/49 neben den politischen Vereinen auch gesellige<br />

Zusammenschlüsse von der Polizei vorübergehend überwacht.<br />

In dieser Zeit nahmen vor allem Gesangs- und Turnvereine sowie<br />

Kriegervereine erheblich zu. Charakteristisch waren für sie<br />

eine relativ große soziale Offenheit und ein starker Ortsbezug,<br />

weshalb sie auch als schichtenübergreifende Lokalvereine bezeichnet<br />

wurden.<br />

II.<br />

Gasthöfe in Südtirol<br />

1. Ein kurzer Überblick über Wirtshäuser in Bozen<br />

In Bozen existierten schon seit dem Mittelalter zahlreiche<br />

Schenken und Wirtshäuser in der Altstadt. Nach alter<br />

Tradition besaß jedes Gasthaus einen eigenen Namen. In<br />

Bozen wie überhaupt im Land an der Etsch war der Brauch<br />

des „Aussteckens“ in den Weinschenken (Buschen) weit verbreitet.<br />

Im Mittelalter blieb die Zahl der Ganzjahreswirte noch<br />

gering, und sie waren auch selten Eigenbesitzer ihres Ausschanks.<br />

Meistens fungierten sie als Pächter oder Schaffer, die<br />

man als „Bestandswirte“ bezeichnete. Die wirklichen Besitzer<br />

der Lokale waren der Stadtmagistrat, das Land, die Kirche oder<br />

Grund- und Hauseigentümer. Die freien Weinschenken waren<br />

eine gute Geldquelle. Schankwirte benötigten keine besondere<br />

Ausbildung, weshalb es in der Bozner Altstadt viele Buschenschenken<br />

gab.<br />

Bozen war die Hochburg der Tiroler Buschenschankkultur.<br />

Die ersten Buschen entstanden im Bereich des heutigen Obstplatzes<br />

und gingen auf den Tiroler Grafen Meinhard II. zurück.<br />

Zu den ältesten Bozner Buschen zählte der „Pierlinger<br />

Buschen“ (Hepperger-Buschen) unter den „welschen Lauben“,<br />

<strong>–</strong> 16 <strong>–</strong>


der „Runkger Schupfen“ und der Kreuzer-Buschen, der auf das<br />

Jahr 1546 zurückgeht. Eigentümer war der Bozner Bürger Hans<br />

Kreuzer. Später haben sich diese Buschenschenken schrittweise<br />

zu Wirtshäusern entwickelt. In der Zeit des italienischen<br />

Faschismus kam es zu behördlichen Schikanen gegenüber den<br />

Wirten und sogar, wie das Plattner-Haus zeigt, zu Enteignungen.<br />

Aus dem alten Gugler-Buschen entstand später das Restaurant<br />

„Italia“. Vorzügliche Weine aus der Bozner Umgebung<br />

wurden beim Zallinger-Buschen und Paur-Buschen getrunken.<br />

Durch die Urbanisierung und Beseitigung vieler in und in der<br />

Nähe von Bozen gelegener Weingärten wurden zahlreiche<br />

historische Stadtbuschen und Stadtkneipen aufgelöst. Andere<br />

wurden in ganzjährige Schank- und Speiselokale umgewandelt.<br />

Um 1550 existierten in der Stadt Bozen ca. 70 Gasthäuser<br />

und Weinschenken, um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren<br />

es nur mehr ca. 25 Wirtshäuser.Im Bereich des Bozner Obstplatzes<br />

in der Nähe des Augustiner-Buschen, Kreuzer-Buschen,<br />

Gugler-Buschen und weiterer Schenken und Tavernen gab es<br />

einige erstklassige und traditionsverbundene Gaststätten, wie<br />

die Gasthäuser „Zur Goldenen Sonne“, „Zu den Roten Rosen“,<br />

„Zum Weißen Mohr“ und die „Goldene Glocke“. Sehr bekannt<br />

und ein beliebter Einkehrort am Obstplatz war die Taverne<br />

„Vom Augustin in der Glocken“. Auf der kurzen Strecke von<br />

der Mitte des Obstmarkts bis zur Predigergasse in der heutigen<br />

Goethestraße gab es drei Wirtshäuser, wovon eines auf das<br />

Jahr 1538 zurückging („Zum Weißen Mohren“). Zu den stark<br />

frequentierten historischen Gaststätten in der Bozner Altstadt<br />

gehörte auch das Postgasthaus „Zur Roten Rose“, das in der<br />

ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Namen „Schwarzer Adler“<br />

annahm. Die Gasthäuser „Zum Schwarzen Adler“, „Goldene<br />

Sonne“, „Eisenhut“ und „Blauer Bock“ („Kaiserkrone“)<br />

zählten zu den vornehmsten Wirtshäusern und Herbergen in<br />

Bozen. Vom Traditionsgasthaus „Schwarzer Adler“ existierte<br />

nach dem Ersten Weltkrieg nur mehr ein schwarzes Tiroler-Adler-Schild,<br />

das einen Tag vor dem „Blutsonntag“ 1921 von faschistischen<br />

Schlägertrupps entfernt und nach Verona gebracht<br />

wurde. Eine lange historische Tradition hatte auch das Gasthaus<br />

„Roter Adler“, in dem der bekannte Vögele-<strong>Stammtisch</strong><br />

später seinen Sitz fand.<br />

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Der „Vögele“-<strong>Stammtisch</strong> im Gasthof „Roter Adler“ in Bozen ist<br />

eine freie Vereinigung von Freunden und einer der ältesten seiner<br />

Art. Es gibt ihn seit Ende des 19. Jahrhunderts. Seine bewegte Geschichte<br />

wird in diesem Buch in komprimierter Form dargestellt<br />

und in die politische und kulturelle Entwicklung Bozens eingebunden.<br />

Im Mittelpunkt des „Vögele“-<strong>Stammtisch</strong>s standen und<br />

stehen das gesellige Zusammensein, die Pflege der Freundschaft<br />

und Gespräche über politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle<br />

Themen. Der <strong>Stammtisch</strong> ist kein Verein, sondern versteht<br />

sich als lockerer Zusammenschluss, bei dem die Pflege der Geselligkeit<br />

und die emotionale Verbindung der <strong>Stammtisch</strong>-Freunde<br />

maßgeblich sind. Er bildet eine besondere Form sozialer Bindung<br />

und ist sicher ein Teil des Sozialkapitals der Bozner Gesellschaft.<br />

Helmut <strong>Reinalter</strong>, geb. 1943 in Innsbruck, Studium<br />

der Geschichte und Philosophie an den Universitäten<br />

Innsbruck und Sorbonne I in Paris, Dr. phil. 1970,<br />

Habilitation in Innsbruck 1978; von 1981 bis 2009<br />

Professor für Geschichte der Neuzeit und Politische<br />

Philosophie, seit 2009 Dekan der Europäischen<br />

Akademie der Wissenschaften, Mitbegründer der<br />

Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Bratislava;<br />

Gastprofessuren und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen<br />

Akademien.<br />

ISBN: 978-3-85093-364-3<br />

www.berenkamp-verlag.at<br />

www.kraftplatzl.com<br />

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