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Pas de Deux für einen Sozialstaat

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<strong>Pas</strong> <strong>de</strong> <strong>Deux</strong> für <strong>einen</strong><br />

<strong>Sozialstaat</strong><br />

o<strong>de</strong>r:<br />

Der Hund von Socialville


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<strong>Pas</strong> <strong>de</strong> <strong>Deux</strong> für <strong>einen</strong> <strong>Sozialstaat</strong><br />

o<strong>de</strong>r: Der Hund von Socialville. Ein Textkonvolut.<br />

Holly N., Mitwirkung: Sönke Neuwöhner, Erol Alexandrov, Anne O. Poncet<br />

Inhalt:<br />

<strong>Pas</strong> <strong>de</strong> <strong>Deux</strong> für <strong>einen</strong> <strong>Sozialstaat</strong> 2<br />

TEIL 1: SIGNALE, o<strong>de</strong>r: Der Hund von Socialville 3<br />

TEIL 2: WARTERAUM, o<strong>de</strong>r: Denn sie wissen nicht, wem sie helfen… 8<br />

TEIL 3: SOZIALDÄMMERUNG, o<strong>de</strong>r: Im Zwielicht <strong>de</strong>r Kassen 12<br />

TEIL 4: VARIATIONEN 2, o<strong>de</strong>r: Bild <strong>de</strong>s jungen Empfängers als Erfolgsmensch19<br />

TEIL 5: UTOPIA, o<strong>de</strong>r: Mini-Zimmer mit Aussicht 24<br />

VOM WARUM UND WIE 31<br />

K<strong>einen</strong> ver<strong>de</strong>rben lassen<br />

auch nicht sich selbst<br />

je<strong>de</strong>n mit Glück zu erfüllen<br />

auch sich, das<br />

ist gut.<br />

Bertolt Brecht<br />

Bil<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Erstaufführung für zwei Sprecher und zwei Tänzer im Dock 11, Berlin, Mai 2016;<br />

Tanz: Anne O. Poncet/Erol Alexandrov; Fotos Holly N.


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TEIL 1: SIGNALE, o<strong>de</strong>r: Der Hund von Socialville<br />

JEMAND<br />

CHOR<br />

JEMAND<br />

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JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

Wie geben wir, warum?<br />

Wir geben uns,<br />

zu unsrem Vorteil. Der eine sagt,<br />

So einfach ist das nicht,<br />

<strong>de</strong>nn uns ist nicht zu helfen.<br />

Im Garten welken Blumen.<br />

Sie brauchen Wasser,<br />

so sie nicht Unkraut sind.<br />

Garantiert ist <strong>de</strong>r <strong>Sozialstaat</strong> uns<br />

in einfachster Form<br />

vom Grundgesetz.<br />

1<br />

Das Geld <strong>de</strong>r Steuerzahler zahlt<br />

<strong>de</strong>s Menschen Status<br />

würdige Bedingungen,<br />

für Bürger wie für an<strong>de</strong>re;<br />

so die Zeitung. 2<br />

Der Staat steht in<br />

utopischer Pflicht.<br />

Geholfnen ist dabei,<br />

je Fähigkeit, je Kraft,<br />

Beschäftigung auch zumutbar;<br />

so das Gesetz<br />

3.<br />

Fin<strong>de</strong> ich nicht gut, ich<br />

habe immerhin studiert<br />

und muss nicht alles machen.<br />

Der Mensch hat: Herrenmensch studiert?<br />

“Je<strong>de</strong>r nach s<strong>einen</strong> Fähigkeiten,<br />

je<strong>de</strong>m nach seiner Leistung”. 4<br />

Sozial sind manche Tiere auch.<br />

Schreien, kriegt das eine<br />

mehr als das andre. Klagen<br />

gegen Gott und Hüter,<br />

neigen, wie wir,<br />

zur Ungleichheitsaversion.<br />

So lebt man <strong>de</strong>nn<br />

als Gleicher unter Gleichen<br />

wie ein Tier?<br />

1<br />

Artikel 20.1, Grundgesetzes Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland: „Die Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland ist ein <strong>de</strong>mokratischer und sozialer Bun<strong>de</strong>sstaat.“<br />

2<br />

Berliner Zeitung, 7.7. 2014<br />

3<br />

SGB II, § 10<br />

4<br />

Verfassung <strong>de</strong>r DDR von 1968, ABs. 1, Kap. 1, Art. 2,3


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JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

Da wir Her<strong>de</strong>ntiere sind,<br />

vorausschauend, verallgemeinernd<br />

bringt uns Gleichheit<br />

<strong>einen</strong> Fortpflanzungsvorteil.<br />

Das Wir gewinnt. 5<br />

Re<strong>de</strong>te einer oben nicht<br />

von Menschenwür<strong>de</strong>n?<br />

Um Menschenwür<strong>de</strong><br />

zu erhalten, heißt es, muss<br />

man sich <strong>de</strong>r Lust enthalten… 6<br />

Man darf sich nie<br />

<strong>de</strong>r Lust enthalten. Sowas<br />

scha<strong>de</strong>t <strong>de</strong>m BSP.<br />

Ich soll also im Jobcenter<br />

das Gewicht meiner Not<br />

ermessen und mich<br />

zu Markte treiben lassen?<br />

Ein arbeitsloses Paar, so <strong>de</strong>r<br />

Wirtschaftsteil, steht<br />

in Abhängigkeit vom Staate besser da,<br />

als wenn einer arbeite zum Min<strong>de</strong>stlohn.<br />

Denn neben Geld winken Vergünstigungen<br />

für Kultur- und Wirtschaftskonsum.<br />

Und ohne fleißig betriebenen Konsum wären<br />

Supermärkte wie Theater: Leer…<br />

Der <strong>Sozialstaat</strong>, erdacht<br />

von oben, hat nur ein Ziel:<br />

Der Revolution<br />

Wohlstandsbauch und Riegel vorzuschieben.<br />

Sozialen Frie<strong>de</strong>n zu gewähren.<br />

Der <strong>Sozialstaat</strong> basiert<br />

auf <strong>de</strong>m humanistischen<br />

Menschenbild, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Hilfsgebot<br />

<strong>de</strong>r Religion. Den Schwachen<br />

hilft <strong>de</strong>r Herr.<br />

Humanitär ist <strong>de</strong>r Mensch;<br />

<strong>de</strong>r Staat ist ein<br />

Kontrollkonstrukt<br />

das gibt, um zu profitieren.<br />

5<br />

nach: P.K.Dick, Do Androids Dream of Electric Sheep<br />

“Frage: Und was muss man tun, um sich diese Wür<strong>de</strong>, die uns als Menschen zuteil wird, zu bewahren? Cicero: Die Lust ist <strong>de</strong>r Vorzüglichkeit <strong>de</strong>s<br />

6<br />

Menschen nicht würdig genug, so dass es nötig ist, sie zu verachten und zurückzuweisen.” (Cic.off. I,106); siehe auch Schiller, Über Anmut und Wür<strong>de</strong>,<br />

1793: “Beherrschung <strong>de</strong>r Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Wür<strong>de</strong> heißt ihr Ausdruck in <strong>de</strong>r Erscheinung.”


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JEMAND<br />

Der <strong>Sozialstaat</strong> hier ist<br />

fehlgeleitet; er for<strong>de</strong>rt k<strong>einen</strong><br />

zur Arbeit an sich selbst.<br />

So bleibt Mensch bei s<strong>einen</strong> Leisten. Und<br />

s<strong>einen</strong> Vorurteilen.<br />

So kommen Leute hierher<br />

und können ihre Kultur<br />

von Vorgestern erhalten,<br />

im Sozialbiotop <strong>de</strong>r<br />

Abhängigen.<br />

Je<strong>de</strong>r han<strong>de</strong>lt nach seiner Natur:<br />

Das heißt, er tut, was ihm wohltut. 7<br />

Der Staat muss uns<br />

attraktive Angebote machen,<br />

das wir uns was verdienen.<br />

Im Sozialgesetzbuch steht, es sind<br />

Anreize zur Aufnahme und Ausübung einer<br />

Erwerbstätigkeit zu schaffen. 8<br />

For<strong>de</strong>rn und för<strong>de</strong>rn<br />

ist das altbackne Schlagwort hier. 9<br />

Dann lieber<br />

ein geringes Bürgergeld<br />

als ständig gefor<strong>de</strong>rt,<br />

geför<strong>de</strong>rt und<br />

gestaltet zu wer<strong>de</strong>n. Ich<br />

bin doch nicht<br />

<strong>Sozialstaat</strong>s Kunstwerk.<br />

Bürgergeld ist ein Trick<br />

von <strong>de</strong>nen oben, damit<br />

weniger sie<br />

geben müssen. 10<br />

Auch Schönheit ist<br />

Kapital. So ist erwiesen, dass<br />

<strong>de</strong>r Schöne uns<br />

vertrauenswürdig ist.<br />

11<br />

Wir<br />

sind nicht gleich; und wer sich weniger<br />

um sein Bild im Spiegel<br />

<strong>de</strong>r Nächsten kümmert, ist suspekt.<br />

7<br />

G. Büchner, Dantons Tod, Erster Akt, Sechste Szene<br />

8<br />

SGB II, §1<br />

9<br />

siehe http://www.heise.<strong>de</strong>/tp/artikel/22/22924/1.html: „Die ALGII-Gesetzgebung … stand unter <strong>de</strong>m Motto "För<strong>de</strong>rn und For<strong>de</strong>rn". Die bisher bei <strong>de</strong>r<br />

Vermittlung außen vor gelassenen Sozialhilfeempfänger sollten Arbeitssuchen<strong>de</strong>n gleichgestellt wer<strong>de</strong>n (sowohl finanziell als auch in Bezug auf die<br />

Vermittlung von Arbeit)- das bisher zeitaufwändige Verfahren <strong>de</strong>r Beihilfebewilligung für vielerlei Anlässe sollte durch Regelsätze, die diese Kosten bereits<br />

anteilig enthalten, obsolet wer<strong>de</strong>n. Doch was wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n hehren Zielen? Sind Sozialhilfeempfänger jetzt besser gestellt und wer<strong>de</strong>n sie, wie es<br />

verlautbart wur<strong>de</strong>, nicht nur gefor<strong>de</strong>rt son<strong>de</strong>rn auch geför<strong>de</strong>rt? Zeit für ein paar Entzauberungen.“<br />

10<br />

siehe http://www.wilsons-island.net/2008/01/05/min<strong>de</strong>stlohn-o<strong>de</strong>r-buergergeld/: „Ein Grund für das Aufgreifen <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e einer Grundsicherung durch die<br />

Neoliberalen ist, dass diese Form <strong>de</strong>s Bürgergelds die Unternehmer-Einkommen erhöht und die Kosten auf die Bürger verlagert (…) Gehälter und Löhne<br />

wür<strong>de</strong>n um <strong>de</strong>n Betrag <strong>de</strong>s Grun<strong>de</strong>inkommens gekürzt wer<strong>de</strong>n.“<br />

11<br />

nach: Pierre Bourdieu, Einführung, Shurkamp


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JEMAND<br />

CHOR<br />

Wer schön ist kriegt, selbst unbekannt,<br />

für kleine Liebestat Kredit. Besitzt<br />

soziales Kapital.<br />

Man wird verwaltet. Entmündigt.<br />

Von an<strong>de</strong>ren verwertet. Ist abhängig.<br />

Es gibt, hört man, solche, die<br />

das System verlassen, doch:<br />

Sicher ist das nicht.<br />

Was nicht <strong>de</strong>mokratisch ist.<br />

Was ist das Arbeitsamt überhaupt?<br />

Hat in je<strong>de</strong>r Scheißstadt<br />

Gebäu<strong>de</strong>, größer als das Ritz,<br />

und verwaltet Leute, die<br />

<strong>de</strong>r Staat für Tätigkeiten ausgebil<strong>de</strong>t hat,<br />

die nicht benötigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die wissen doch, dass<br />

die Leute nicht wer<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, was<br />

sie wer<strong>de</strong>n wollen. Wozu das dann?<br />

Sie sagen dir: Das reicht nicht,<br />

davon kannst du nicht leben.<br />

Hier hast du. Aber<br />

wir zahlen dir nicht<br />

das schöne Leben, son<strong>de</strong>rn:<br />

D<strong>einen</strong> Coach.<br />

So helfen wir. Und helfend<br />

nimmt <strong>de</strong>r Staat<br />

und nimmt im Nehmen<br />

uns die Not zu geben. Wir wollen helfen.<br />

Dem Dankbaren, <strong>de</strong>r,<br />

Geholfen, besser wird.<br />

Doch <strong>de</strong>m entgegen steht:<br />

Das Anspruchs<strong>de</strong>nken<br />

<strong>de</strong>r Kun<strong>de</strong>n unsrer Sorge.<br />

Besser wer<strong>de</strong>n,<br />

sagen diese,<br />

lohnt sich nicht. Und<br />

wenn besser wer<strong>de</strong>n<br />

sich nicht lohnt<br />

ist uns<br />

nicht zu helfen.


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TEIL 2: WARTERAUM, o<strong>de</strong>r: Denn sie wissen nicht, wem sie helfen…<br />

CHOR<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

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JEMAND<br />

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JEMAND<br />

JEMAND<br />

Der Mensch<br />

muss besser wer<strong>de</strong>n. Er<br />

ist unser I<strong>de</strong>al, im Idyll <strong>de</strong>s sozialen<br />

Frie<strong>de</strong>ns wollen wir<br />

Ruhe fin<strong>de</strong>n, die wir - noch -<br />

kaum haben. Die Welt<br />

beunruhigt uns, und<br />

nach einem Tag<br />

<strong>de</strong>s Schuften, Kultivierens, Hurens<br />

sind wir aufgerufen,<br />

Sorge zu tragen, Steuern zu zahlen.<br />

Und nicht zu knapp!<br />

Ja: je<strong>de</strong>r hat das Recht<br />

am Konsum <strong>de</strong>r Welt sein Teil zu haben.<br />

Doch es gibt Regeln.<br />

Sonst gibt es nichts.<br />

Im Kommunismus hat <strong>de</strong>r Professor soviel gekriegt<br />

wie <strong>de</strong>r Busfahrer, und fühlte sich verarscht.<br />

Hat lang studieren, kriegt aber nur so viel wie jemand,<br />

<strong>de</strong>r nur eine Lehre hat.<br />

Ist das nicht egal? Sollte, wer von <strong>de</strong>m<br />

lebt, was er gerne tut, sich nicht glücklich schätzen?<br />

Der <strong>Sozialstaat</strong> hilft nicht nur <strong>de</strong>m<br />

Einzelnen in <strong>de</strong>r Not, son<strong>de</strong>rn<br />

arbeitet für die Gemeinschaft.<br />

Im <strong>Sozialstaat</strong> leben vielen<br />

vom vermeintlich interesselosen Verteilen.<br />

Sozialleistungsdienste, Kunstför<strong>de</strong>rung, Entwicklungshilfe<br />

kämpfen um ihre Pfrün<strong>de</strong>.<br />

“Der Souverän will das Volk nach s<strong>einen</strong> Begriffen glücklich machen, und wird Despot;<br />

das Volk will sich <strong>de</strong>n allgem<strong>einen</strong> menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit<br />

nicht nehmen lassen, und wird Rebell.“ 12<br />

Wir re<strong>de</strong>n hier nicht über Glück,<br />

son<strong>de</strong>rn über Geld. Verbriefte Ansprüche.<br />

Man kann sagen: Es ist zum Wohle <strong>de</strong>r Gemeinschaft,<br />

wenn alle gleich am Wohlstand partizipieren.<br />

Der Lohn eines genügsamen und rechtschaffenen<br />

Arbeiters muss notwendig, also gottgewollt,<br />

für <strong>de</strong>ssen Lebensunterhalt genügen. 13<br />

12<br />

I. Kant, Über <strong>de</strong>n Gemeinspruch: Das mag in <strong>de</strong>r Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793<br />

Leo XIII, Rerum Novarum, 1891, §38; und auch: “Wenn also die Sozialisten dahin streben, <strong>de</strong>n Son<strong>de</strong>rbesitz in Gemeingut umzuwan<strong>de</strong>ln, so ist klar, wie<br />

13<br />

sie dadurch die Lage <strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong>n Klassen nur ungünstiger machen. Sie entziehen <strong>de</strong>nselben ja mit <strong>de</strong>m Eigentumsrechte die Vollmacht, ihren<br />

erworbenen Lohn nach Gutdünken anzulegen, sie rauben ihnen eben dadurch Aussicht und Fähigkeit, ihr kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch<br />

Fleiß zu einer besseren Stellung emporzubringen“


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CHOR<br />

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JEMAND<br />

Ich bin für Bürgergeld, einfach weil<br />

ich nicht möchte, dass<br />

jemand gegängelt wird.<br />

Je<strong>de</strong>r bedürftige Mensch<br />

bekommt eine Gewisse Summe zum Unterhalt.<br />

Aber viele sagen: Man wird als Empfänger<br />

schlecht behan<strong>de</strong>lt, erniedrigt.<br />

Beson<strong>de</strong>rs wenn man von An<strong>de</strong>rswo kommt, also<br />

nicht einzahlen<strong>de</strong>s Her<strong>de</strong>nmitglied ist.<br />

Den Menschenrechten fühlen wir uns<br />

wohl alle verpflichtet?<br />

“Je<strong>de</strong>r hat das Recht auf <strong>einen</strong> Lebensstandard, <strong>de</strong>r seine und seiner Familie<br />

Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung,<br />

ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen sowie das Recht auf<br />

Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität o<strong>de</strong>r Verwitwung.” 14<br />

Viele, die psychotherapeutische<br />

Hilfe brauchen, haben<br />

Probleme mit <strong>de</strong>m Einkommen. 15<br />

Nicht, weil sie keine Arbeit haben, son<strong>de</strong>rn,<br />

weil sie nicht genug verdienen. Weiter<br />

abhängig bleiben.<br />

Der Staat sollte Arbeit för<strong>de</strong>rn,<br />

die <strong>de</strong>n Selbstwert för<strong>de</strong>rt.<br />

Das Streben nach Reichtum scheint<br />

unnötig. Reich ist, wer in einer<br />

relativ sicheren Welt <strong>de</strong>r Möglichkeiten<br />

lebt, nicht, wer sich aufwendig<br />

vor <strong>de</strong>m Nächsten schützen muss.<br />

Den Gedanken, Reiche<br />

sollen reich und verantwortlich sein und Arme<br />

arm und vor ihrem Scherbenhaufen stehen, <strong>de</strong>n<br />

fin<strong>de</strong> ich nett, ist radikal. Macht aber<br />

k<strong>einen</strong> glücklich. Was<br />

Armut und Reichtum sind<br />

weiß ich nicht.<br />

Vom Gefühl her möchte ich, dass alle Menschen<br />

ein Minimum haben, <strong>de</strong>n Kopf frei haben für Dinge, die sie<br />

wollen. Selbst wenn es schreckliche o<strong>de</strong>r<br />

dumme Dinge sind.<br />

14<br />

Allgemeine Erklärung <strong>de</strong>r Menschenrechte vom 10. Dez. 1948; Rechtsverbindlich durch <strong>de</strong>n Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und<br />

kulturelle Rechte, Art. 11, 1966; 1973 ratifiziert von <strong>de</strong>r BRD, seit 1976 in Kraft.<br />

siehe http://www.focus.<strong>de</strong>/finanzen/news/arbeitsmarkt/wahnvorstellungen-<strong>de</strong>pressionen-aengste-und-hartz-iv-sanktion-statt-verstaendnis-psychisch-<br />

15<br />

kranke-ueberfor<strong>de</strong>rn-jobcenter_id_3449949.html


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CHOR<br />

Wer Hilfe braucht, <strong>de</strong>m<br />

soll geholfen wer<strong>de</strong>n.<br />

Wir sind füreinan<strong>de</strong>r da.<br />

Mit vollem Herzen<br />

garantieren wir<br />

dabei kategorisch uns<br />

das Netz <strong>de</strong>s Lebens selbst,<br />

das Bismarck einst<br />

mit Donnerstimme zärtlich angemahnt,<br />

um <strong>de</strong>utschen Mütterchen über 70,<br />

<strong>de</strong>rer es damals 4 gebückte gab,<br />

das schwere Los zu lockern. 16<br />

Der kleine Mann, gebot er,<br />

soll auch zum Sparen eine Kasse haben,<br />

und seine Mühe soll<br />

in <strong>einen</strong> sanften Abend fließen.<br />

So erträumte er<br />

die Gol<strong>de</strong>n Girls.<br />

Heute sind die Mütterchen Legion, und<br />

gehen Hand in Hand<br />

mit herbstgoldnen Männlein,<br />

bildungsfernen Nachbarn und<br />

taubenäugigen Frem<strong>de</strong>n<br />

aus fernen, ze<strong>de</strong>rnbestan<strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>n.<br />

Vor dieser geballten Not stehen wir<br />

wie einst Rom<br />

vor Hannibal.<br />

1889 wur<strong>de</strong> auf Betreiben Otto von Bismarcks das Gesetz zur Alters- und Invaliditätsversicherung eingeführt; alle Arbeiter bis 70 Jahre wur<strong>de</strong>n<br />

16<br />

mitgliedspflichtig, eine Rente erhielt man ab 70 Jahren. Das damalige Deutsche Reich wur<strong>de</strong> zum wichtigen Vorläufer <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen <strong>Sozialstaat</strong>s. In<br />

Deutschland betrug die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer etwa 50 Jahre. Eine Witwenrente war dabei übrigens nicht vorgesehen, son<strong>de</strong>rn<br />

eine Rückzahlung <strong>de</strong>r eingezahlten Beiträge bei Tod vor <strong>de</strong>m Versicherungsfall. Hinterbliebenen- und Sozialversicherungen entstan<strong>de</strong>n aber in <strong>de</strong>n<br />

Berufsverbän<strong>de</strong>n, also „von unten“. Siehe: http://www.bpb.<strong>de</strong>/politik/innenpolitik/rentenpolitik/142673/ein-historischer-rueckblick


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TEIL 3: SOZIALDÄMMERUNG, o<strong>de</strong>r: Im Zwielicht <strong>de</strong>r Kassen<br />

CHOR<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

JEMAND<br />

Es wird erzählt<br />

im Irgendwo erwarten<br />

uns reife Früchte<br />

an übervollen Bäumen.<br />

Für manche gibt es das.<br />

Warum nicht für<br />

uns? Wir fühlen uns wohl, wo<br />

die Raunen, die<br />

Anspruch auf mehr<br />

haben; ihr Anspruch färbt auf<br />

uns ab, <strong>de</strong>nn: Wir sind sozial.<br />

Doch glaubt nicht wir<br />

wären ein Chor. Wir sind eigen. Wir verachten<br />

Mainstream, be<strong>de</strong>cken unsre Körper<br />

mit <strong>de</strong>n Zeichen <strong>de</strong>r Ächtung,<br />

sind solidarischen mit<br />

uns, <strong>de</strong>n Erben <strong>de</strong>r Welt. 17<br />

Glaubt dies: Wir freuen uns<br />

über das Glück an<strong>de</strong>rer,<br />

fühlen Unruhe dort, wo<br />

Unglück ist. Besitzen<br />

sensus communis, und applaudieren<br />

<strong>de</strong>r Schönheit <strong>de</strong>r Moral; 18<br />

jedoch in Grenzen.<br />

Unter m<strong>einen</strong> kargen, fernen Olivenbäumen,<br />

nannte man Reisen<strong>de</strong><br />

aus <strong>de</strong>m reichen, fernen <strong>Sozialstaat</strong>,<br />

die sich nach von <strong>de</strong>r Last,<br />

geholfen zu wer<strong>de</strong>n,<br />

erholen kamen,<br />

Zuckermenschen.<br />

Denn unter kargen Olivenbäumen<br />

musste, wer sich<br />

erholen will, malochen.<br />

Das Amt sagt:<br />

Hungern darf <strong>de</strong>r Mensch.<br />

Am Ran<strong>de</strong> sein, von wenig leben.<br />

Nur so treibt’s ihn zum Erfolg.<br />

Verdächtig ist er, sein<br />

Regelbedarf ein Luxus,<br />

<strong>de</strong>n er mit Trug vermehrt. 19<br />

17<br />

siehe auch: http://www.salzburg.com/nachrichten/welt/chronik/sn/artikel/jugendforscher-hipster-sind-die-elite-von-morgen-170560/ und Norman Mailer:<br />

„The White Negro“.<br />

18<br />

nach Farncis Hutcheson (1694-1746): public sense, or sensus communis, "a <strong>de</strong>termination to be pleased with the happiness of others and to be uneasy<br />

at their misery“; moral sense, or "moral sense of beauty in actions and affections, by which we perceive virtue or vice, in ourselves or others"<br />

Seit Januar 2016 beträgt <strong>de</strong>r Regelbedarf 404€/Monat; 2005 wur<strong>de</strong> er, in einem inzwischen als verfassungswidrig eingestuften Verfahren, erstmals auf<br />

19<br />

345 € für Westempfänger (331 € Ost) ermittelt. Siehe: http://www.hartziv.org/regelbedarf.html


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Und wenn du ehrlich bist<br />

springt <strong>de</strong>r Hund<br />

von Socialville<br />

dich an, wie <strong>einen</strong><br />

blut’gen Knochen.<br />

Wer nicht lügt, wird zernagt.<br />

Mir wur<strong>de</strong> für <strong>einen</strong> Job<br />

geringes Geld versprochen,<br />

das ich vom fernen Arbeitgeber<br />

lange nicht bekam.<br />

Das Amt sagte,<br />

das ist <strong>de</strong>ine Sache.<br />

Vertrauen gibt es<br />

von oben nicht.<br />

Warum auch?<br />

Der Arme ist verdächtig.<br />

Der Grund ist klar.<br />

Er raubt und nimmt<br />

vom Tisch die Krumen. Doch zurück<br />

zum Fall: Hier ist<br />

<strong>de</strong>r Arbeitgeber Schuld.<br />

Wer Kun<strong>de</strong> beim <strong>Sozialstaat</strong> ist<br />

braucht eine dicke Haut.<br />

Besser ists,<br />

nichts zu verdienen.<br />

Das hält dich<br />

frei vom Verdacht <strong>de</strong>rer,<br />

in <strong>de</strong>ren Ermessensspielraum<br />

du hilflos liegst.<br />

Recht gibt es nur für die,<br />

die <strong>einen</strong> eigenen Spielraum haben.<br />

Ich möchte aber glauben:<br />

Unser soziales Netz, das<br />

im Großen und Ganzen doch<br />

über alle Netze geht in <strong>de</strong>r Welt, greift…<br />

Das System, in <strong>de</strong>m wir leben,<br />

versucht, gerecht zu sein. Um gerecht zu sein<br />

missachtet <strong>de</strong>r Staat die<br />

Freiheit <strong>de</strong>s Individuums, spannt es<br />

in eine Beurteilungsmaschine ein… 20<br />

Die Arbeitslosenversicherung errang 2004 <strong>de</strong>n Big Brother-Award: “Hartz IV/ALG II stellen <strong>einen</strong> Generalangriff auf <strong>de</strong>n <strong>Sozialstaat</strong> dar… Mit <strong>de</strong>m Antrag<br />

20<br />

sind gravieren<strong>de</strong> Eingriffe in informationelle Selbstbestimmung, Persönlichkeitsrechte, Privat- und Intimsphäre <strong>de</strong>r Antragsteller verbun<strong>de</strong>n” https://<br />

www.bigbrotherawards.<strong>de</strong>/2004/.gov/


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JEMAND<br />

Nimmt ihm die Selbstwirksamkeit, die <strong>de</strong>m,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Hilfe nicht entkommt,<br />

nur im Betrugsversuch winkt.<br />

Man wird kompetent in <strong>de</strong>r Sache, kann<br />

<strong>de</strong>n <strong>Sozialstaat</strong> durch sich selbst besiegen.<br />

Einer meiner Fälle ist<br />

ein junger Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Staat, respektlos,<br />

“Opferstaat” nennt. Er sagt, die<br />

müssen mir ja geben. Tun<br />

will er nichts.<br />

Da haben wir Glück.<br />

Ist es <strong>de</strong>nn besser,<br />

sich vom Amt ficken zu lassen?<br />

JEMAND Und dann Hecken zu schnei<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r Win<strong>de</strong>ln zu wechseln?<br />

JEMAND<br />

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JEMAND<br />

Weil die sonst dir die Hilfe kürzen?<br />

Ich fin<strong>de</strong> die Haltung, man hätte ein Recht<br />

auf Leistung ohne Gegenleistung<br />

kindisch.<br />

Wer Leistungen<br />

einfach so empfängt macht sich<br />

zum Kind <strong>de</strong>s Staates.<br />

Kapitalismus funktioniert nur,<br />

wenn die Leute Kaufkraft haben.<br />

Deswegen beteiligen vernünftige Unternehmer<br />

Arbeiter am Gewinn.<br />

Ich fin<strong>de</strong>, je<strong>de</strong>r sollte für gleichen Zeitaufwand<br />

gleich entlohnt wer<strong>de</strong>n. Kapitalrenditen<br />

und Verwertungsrechte<br />

sollte es nicht geben.<br />

Du spinnst doch. Ohne Anreiz<br />

leistet doch keiner was!<br />

Verwechseln wir hier nicht<br />

<strong>de</strong>n Wunsch nach gerechter Verteilung<br />

mit <strong>de</strong>m nach Erhebung?<br />

Und vergessen, das einfach Not vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n soll?<br />

Man muss Initiative zeigen.<br />

Nur dastehen und Hilfe brauchen,<br />

das reicht nicht.


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JEMAND<br />

Man muss s<strong>einen</strong> Sachbearbeiter überzeugen.<br />

Sowas funktioniert nur für Deutsche.<br />

Bedürftige müssen <strong>de</strong>r Norm entsprechen, das<br />

ist eben so; wer das nicht kann<br />

ist arm dran.<br />

Die Welt ist ungerecht, doch Leistung soll sich lohnen.<br />

Laut einer DIW-Studie 2012<br />

ist dieses das Land <strong>de</strong>r Eurozone<br />

mit <strong>de</strong>r größten Ungleichverteilung beim Vermögen.<br />

Das asozialste Land.<br />

Nach Studien schätzen Menschen<br />

ihre eigene Lebensqualität schlechter ein,<br />

wenn die Reichen reicher sind, egal<br />

wie gut es ihnen, ärmer doch reicher<br />

als an<strong>de</strong>re, geht… 21<br />

Nach einer Veröffentlichung <strong>de</strong>s DIW von 2015 besitzen die reichsten 10 % <strong>de</strong>r<br />

Deutschen etwa 70 % <strong>de</strong>r Privatvermögen… 22<br />

Arm ist, wer weniger hat.<br />

Die Einstellung <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />

zum Arbeitslosen ist negativ. Dir<br />

wird vermittelt: Du bist ein Versager.<br />

Vermittelst du dir das nicht selbst?<br />

Manche Hilfe bewirkt eine Anspruchsreduktion, die<br />

mit einer Traumatisierung einhergeht. 23<br />

Die konservativ-religiös veranlagte Seite<br />

<strong>de</strong>nkt: Der Arme ist Schuld,<br />

<strong>de</strong>r Reiche muss helfen.<br />

An<strong>de</strong>rswo ist die Einstellung <strong>de</strong>r Leute<br />

positiver. Die Reichen zahlen mehr Steuern.<br />

Man hat ein vertrauensvolles Verhältnis zur<br />

herrschen<strong>de</strong>n Klasse.<br />

Der herrschen<strong>de</strong>n Klasse,<br />

ob Kapitalisten, Sozialisten o<strong>de</strong>r<br />

religiöse Maskulinisten,<br />

war noch nie guter Rat.<br />

21<br />

Burkhauser, De Neve, Powdthavee: Top Income and Human Well-Being around the World, Forschungsinstitut zur Zukunft <strong>de</strong>r Arbeit, 2016, http://<br />

ftp.iza.org/dp9677.pdf<br />

22<br />

Christian Westermeier/M. Grabka, Große statistische Unsicherheit beim Anteil <strong>de</strong>r Top-Vermögen<strong>de</strong>n in Deutschland, http://www.diw.<strong>de</strong>/documents/<br />

publikationen/73/diw_01.c.496886.<strong>de</strong>/15-7-3.pdf; Laut <strong>de</strong>r Huffington Post gehört man zu <strong>de</strong>n reichsten 10 %, wenn man mehr als € 217.000 in<br />

Vermögenswerten besitzt, http://www.huffingtonpost.<strong>de</strong>/2014/02/27/vermoegen-<strong>de</strong>utschland-ungleichverteilung_n_4864775.html<br />

siehe Süd<strong>de</strong>utsche, 8. Januar 2015; hier auch: „Das Hartz-IV-System ist ein unglaublich rigi<strong>de</strong>s Armutsregime. Deutschland lebe über seine Verhältnisse,<br />

23<br />

heißt es immer. In Wahrheit geben sich immer mehr Menschen mit immer weniger zufrie<strong>de</strong>n - in einer Gesellschaft die ansonsten immer reicher wird: http://<br />

www.sued<strong>de</strong>utsche.<strong>de</strong>/wirtschaft/zehn-jahre-hartz-iv-immer-<strong>de</strong>n-staat-im-nacken-1.2293478-3


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JEMAND<br />

Ich glaube, wo es weniger <strong>Sozialstaat</strong> gibt<br />

sind Leute eher bereiter,<br />

in etwas zu investieren, an das sie glauben…<br />

Du meinst, weniger <strong>Sozialstaat</strong> ist besser?<br />

Das wir bessere Reiche brauchen?<br />

Mehr Crowdfunding statt<br />

Sozialfunding?<br />

Ich verlange<br />

das Unmögliche. Wer Geld hat<br />

soll Verantwortung<br />

für das Ganze übernehmen.<br />

Ich fin<strong>de</strong> es besser,<br />

wenn wir alle<br />

die Verantwortung für uns<br />

und dann für die Gemeinschaft<br />

übernehmen, statt dies <strong>de</strong>n<br />

Gol<strong>de</strong>n Boys zu überlassen.<br />

In An<strong>de</strong>rswo<br />

gibt man privat mehr.<br />

Ich kann zum Reichen gehen,<br />

mich auf sein Sofa setzen,<br />

sagen: Das will ich tun.<br />

Der Reiche sagt:<br />

JEMAND Toll. Hier ist Geld.<br />

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JEMAND<br />

Hier dagegen fragt man erst<br />

nach Ausbildung und Lebenslauf.<br />

Du fin<strong>de</strong>st es also gut<br />

wenn ein Reicher sagt:<br />

Mach mal.<br />

Ist es <strong>de</strong>nn an<strong>de</strong>rs<br />

wenn hier ein Gremium<br />

das Geld <strong>de</strong>r Allgemeinheit verteilt?<br />

Die Reichen könnten mich<br />

doch för<strong>de</strong>rn, mir ermöglichen,<br />

gut zu sein.<br />

Um Status geht es hier auch. „Gut“<br />

ist, wer <strong>einen</strong> hohen Status hat.<br />

Viel verdient, leistet, gibt.<br />

Wer oben ist, will oben bleiben.<br />

Ich glaube nicht, dass es <strong>de</strong>n Menschen<br />

besser macht, wenn er wenig Geld hat,<br />

obwohl das oft so dargestellt wird.


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CHOR<br />

Ich arbeite in <strong>de</strong>r Sozialbetreuung und habe<br />

Klienten, die Jobs machen, aber<br />

nicht aus Harz 4 kommen.<br />

Sie sind chancenlos, und da<br />

funktioniert das System nicht. Lehre ist:<br />

Halte ruhig, nimm, was du kriegst. Das<br />

macht nicht glücklich.<br />

Eigentlich gibt <strong>de</strong>r Staat viel.<br />

Aber viele fühlen sich abgehängt,<br />

und verachtet uns und ihn<br />

<strong>de</strong>swegen.<br />

Wir sind verwirrt. Es gibt<br />

Menschen, die halten von Geburt<br />

berechtigt sich zu Konsum und Selbstverwirklichung.<br />

Nehmen an, durchfinanziert, erhoben zu sein,<br />

aufgerufen nur zur Pflege ihres Talents<br />

sei ein Menschenrecht.<br />

An<strong>de</strong>re pochen auf das Recht,<br />

über die Maßen zu akkumulieren.<br />

Doch warum jemand mehr<br />

als ein einstelliges Vielfaches<br />

<strong>de</strong>s Grundbedarfs verdienen soll<br />

ist uns, gelin<strong>de</strong>, schleierhaft.<br />

Wir wollen, das die Dinge<br />

einfach sind, <strong>de</strong>nn:<br />

Das Einfache ist<br />

das Siegel <strong>de</strong>s Wahren. 24<br />

24<br />

lateinischer Leitsatz: "simplex sigillum ven", zu lesen u.a. im Physikhörsaal <strong>de</strong>r Universität Göttingen


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TEIL 4: VARIATIONEN 2, o<strong>de</strong>r: Bild <strong>de</strong>s jungen Empfängers als<br />

Erfolgsmensch<br />

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CHOR<br />

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Wer sind Wir?<br />

Wir wollen<br />

teilen, was wir haben,<br />

wertgeschätzt wer<strong>de</strong>n für das Gold<br />

unserer Kehlen und Gedanken,<br />

belohnt für Studium und Anstrengung,<br />

für Lei<strong>de</strong>nschaft für Schwache.<br />

Doch nicht mit<br />

unserem Glück prahlen.<br />

Wir wollen, einfach gesagt,<br />

das geliebte Zentrum unsrer Welt sein,<br />

liebend zu Gericht sitzend.<br />

Die Leinwand <strong>de</strong>r Welt<br />

als Künstler bemalen.<br />

Das Arbeitsamt sollte uns<br />

das Aufsteigen ermöglichen, gibt<br />

uns aber das Gefühl:<br />

Du kannst das nicht.<br />

Arbeitsamt frisst Selbstwertgefühl.<br />

Hilfe tut sowas auf Dauer.<br />

Viele Leute kommen hierher, um<br />

selbstständig zu existieren und<br />

trotz<strong>de</strong>m Kunst zu machen.<br />

Wer hierher kommt, merkt schnell:<br />

Du kannst hier leben, und bequem,<br />

aber kaum erfolgreich wer<strong>de</strong>n.<br />

Dann gehn sie wie<strong>de</strong>r.<br />

Meine Utopie wäre<br />

eine wertebasierte Gesellschaft.<br />

Aber eben nicht Geldwertbasiert.<br />

Die Ärzteschaft beispielsweise<br />

verän<strong>de</strong>rt sich durch<br />

die wirtschaftliche Logik, die sie, gezwungen,<br />

zu ihrer Logik macht.<br />

Die Renditen von Arbeit und Kapital<br />

wer<strong>de</strong>n nicht gut verteilt.<br />

Man sollte<br />

von guter Arbeit<br />

gut leben können. Mehr nicht.<br />

Reich bleibt, wer reich ist. Der Garant<br />

<strong>de</strong>s Reichtums wie <strong>de</strong>r Bildung und Befähigung<br />

ist die Geburt. Kurz:<br />

Arbeit lohnt sich nicht.


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Man darf nicht arbeiten<br />

und dann kaum davon leben können.<br />

Das darf kein Staat sich leisten.<br />

Was wäre mit staatlich<br />

garantierter Arbeit?<br />

Was, wenn ich<br />

nicht arbeiten will? Ich<br />

bin Künstler<br />

und gebe auf an<strong>de</strong>re Art.<br />

Schaffen wir nicht alle das Kunstwerk Welt?<br />

Die Leute wer<strong>de</strong>n<br />

systematisch <strong>de</strong>moralisiert,<br />

damit sie besser funktionieren.<br />

Das entspricht nicht meiner Erfahrung…<br />

Ich habe durchaus Büros<br />

mit gutem Betriebsklima erlebt.<br />

Das wird gemacht,<br />

damit die Leute funktionieren.<br />

Emotional habe ich<br />

wenig Verständnis für Leute,<br />

die k<strong>einen</strong> Bock haben,<br />

mit einem möglichen Job<br />

Geld zu verdienen,<br />

aber trotz<strong>de</strong>m eine Anspruchshaltung haben.<br />

Wir leben hier wie im Knast.<br />

Leute mit Ausbildung empfin<strong>de</strong>n,<br />

sie haben keine Chancen.<br />

Früher musste man arbeiten. Das<br />

war Faschismus.<br />

Nicht arbeiten war keine Option.<br />

Die gibt es heute, ansatzweise.<br />

Und ist ein hohes Gut.<br />

Arbeit ist zweckentfrem<strong>de</strong>te Tätigkeit.<br />

Du wirst vom Dritten<br />

ausgebeutet. Reich<br />

wer<strong>de</strong>n Leute wie wir nicht.<br />

Ich habe Kunst gemacht,<br />

für die Gesellschaft. Habe<br />

argumentiert:


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Macht, was ihr wollt!<br />

Das machten sie: Arbeiten. Denn<br />

sie waren Arbeiter.<br />

Sie wollten schuften, saufen…<br />

…und zu Hause eine Frau, und TV.<br />

Hel<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Arbeiterklasse eben.<br />

Über mich haben sie<br />

gelacht. Doch nach nebenan<br />

wollte ich auch nicht.<br />

Musiker von dort sagten,<br />

sie müssten nebenher malochen.<br />

Hier schleicht sich etwas ein.<br />

Es wird gesagt, dass<br />

Aka<strong>de</strong>miker o<strong>de</strong>r Künstler<br />

besser sind; befreit<br />

von <strong>de</strong>r Not niedriger Arbeit.<br />

Freigestellt zum Schaffen<br />

für die Schönheit.<br />

Ich <strong>de</strong>nke, Leute bringen sich<br />

weniger ein, wenn sie gefor<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />

Es wird schnell gesagt: Wenn man<br />

<strong>de</strong>m Menschen gibt, dann tut er nichts.<br />

Das glaube ich nicht.<br />

Ich lebe hier schon lange, habe früher<br />

Hilfe vom Staat erhalten.<br />

Da starb meine Mutter, ich flog<br />

nach Hause. Laut Gesetz hätte ich<br />

<strong>de</strong>m Arbeitsamt meine Abwesenheit<br />

im Voraus mel<strong>de</strong>n müssen.<br />

Als ich zurückkam wur<strong>de</strong> ich<br />

zum Amt bestellt. Mir sagte <strong>de</strong>r Bearbeiter,<br />

ich hätte, laut Gesetz, Betrug verübt. Er fragte,<br />

warum ich gegangen sei. Ich erklärte es.<br />

Da unterschrieb er ein Papier, sagte,<br />

die Sache sei geregelt. Er verstand. Es war eine<br />

persönliche, gute Erfahrung - nicht,<br />

was ich erwartet hatte.<br />

Menschen helfen, die in Not sind, ist<br />

ein Impuls jenseits befohlener Strukturen.


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CHOR<br />

Den wir <strong>de</strong>m Staat übergeben haben.<br />

Die Politik will<br />

das Primat <strong>de</strong>r Wirtschaft;<br />

wir verstehen, unser Glück<br />

hängt vom Wachstum ab,<br />

das, mächtiger Bauch,<br />

uns auch im Darben noch ernährt.<br />

Doch wollen wir<br />

helfen; wollen<br />

geben, wollen<br />

für unsre Hilfe, für das,<br />

was wir uns geben<br />

auch Lohn erhalten,<br />

engagieren uns für an<strong>de</strong>re<br />

für Nachbarschaft und für Kultur;<br />

wer gibt, soll kriegen, wer kriegt,<br />

<strong>de</strong>r ernte<br />

gerechten Lohn, <strong>de</strong>nn<br />

nur <strong>de</strong>r Lohn für etwas Gutes<br />

ist gerecht. Doch beißt<br />

sich hier <strong>de</strong>r Esel <strong>de</strong>r<br />

sozialen Willens<br />

nicht in <strong>de</strong>n eignen Schwanz?


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TEIL 5: UTOPIA, o<strong>de</strong>r: Mini-Zimmer mit Aussicht<br />

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CHOR<br />

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Helfen wir, sichern<br />

wir unser eignes Umfeld, o<strong>de</strong>r<br />

arbeiten wir an einer Utopie?<br />

Angesprochen geben wir<br />

<strong>de</strong>n lockren Euro her;<br />

wenn Kin<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m<br />

brennen<strong>de</strong>n Haus flehen<br />

rufen wir die Feuerwehr.<br />

Und wenn in fernen Lan<strong>de</strong>n<br />

Schüsse fallen<br />

schauen wir Politiker<br />

komisch an. Doch<br />

all dies ist nichts im Vergleich<br />

zum Streben zur Schönheit<br />

die sich auch im Sozialen<br />

zeigen mag,<br />

und zum Instinkt <strong>de</strong>r Rebellion<br />

gegen die, die mehr haben. Denn wir lei<strong>de</strong>n<br />

an unsren Unterschie<strong>de</strong>n.<br />

Vor kurzem las ich<br />

die Geschichte eines Menschen,<br />

mir ähnlich in Gestalt, <strong>de</strong>r durch die Straßen ging:<br />

Da hielt ihm ein Bettler s<strong>einen</strong> Hut hin, mit einem dieser unvergleichlichen Blicke, die<br />

Throne stürzen wür<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r Geist die Materie bewegen könnte.<br />

Zur gleichen Zeit vernahm ich die Stimme <strong>de</strong>s guten Engels, o<strong>de</strong>r Dämons, <strong>de</strong>r mich<br />

überall hin begleitet. Sie flüsterte mir folgen<strong>de</strong>s zu: „Nur <strong>de</strong>r ist einem an<strong>de</strong>ren gleich,<br />

<strong>de</strong>r es beweist, und nur <strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Freiheit würdig, <strong>de</strong>r sie zu erobern vermag.“<br />

Sofort stürzte ich mich auf <strong>de</strong>n Bettler. Mit einem Faustschlag schloss ich ihm ein<br />

Auge, das so dick wur<strong>de</strong> wie ein Ball. Ich schlug ihm zwei Zähne aus und brach mir<br />

<strong>einen</strong> Fingernagel. Da ich, zart von Geburt, mich nicht stark genug fühlte, <strong>de</strong>n Alten<br />

rasch nie<strong>de</strong>rzustrecken, packte ich ihn mit einer Hand am Rockkragen und mit <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren an <strong>de</strong>r Gurgel und begann, ihn heftig gegen die Wand zu stoßen.<br />

Ich muss gestehen, dass ich vorsorglich die Gegend gemustert und mich vergewissert<br />

hatte, dass ich mich außerhalb <strong>de</strong>r Reichweite eines Polizisten befand.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich <strong>de</strong>n Bettler durch <strong>einen</strong> Fußtritt zu Bo<strong>de</strong>n gestreckt hatte ergriff ich <strong>einen</strong><br />

dicken Ast und schlug mit <strong>de</strong>r Energie von Köchen, die ein altes Beefsteak<br />

weichklopfen, auf ihn ein.<br />

Plötzlich - Oh Lust <strong>de</strong>s Philosophen, <strong>de</strong>r die Vortrefflichkeit seiner Theorie bestätigt<br />

sieht! - sah ich <strong>de</strong>n Greis sich erheben. Mit hasserfülltem Blick, <strong>de</strong>r mir ein gutes Omen<br />

schien, warf er sich auf mich, schlug mir die Augen blau, brach mir vier Zähne aus,<br />

prügelte mich win<strong>de</strong>lweich. - Ich hatte ihm Stolz und Leben wie<strong>de</strong>rgegeben.


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JEMAND<br />

Darauf gab ich ihm zu verstehen, das ich die Unterredung für been<strong>de</strong>t hielt. Ich erhob<br />

mich mit <strong>de</strong>r Befriedigung eines Sophisten und sagte: „Mein Herr, Sie sind mir gleich!<br />

Tun Sie mir die Ehre an und teilen Sie mit mir m<strong>einen</strong> Geldbeutel!“ 25<br />

Wir sollten in einer Gesellschaft<br />

ohne krasse Einkommensunterschie<strong>de</strong><br />

leben, belohnt durch<br />

Freiheit, erfülltes Leben, Sicherheit.<br />

Straßenbahnfahrer, Manager, alle<br />

sollten etwa dasselbe Einkommen haben. 26<br />

Die jüdisch-christliche Religion ist<br />

das Grundbrummen unserer Kultur. Und in <strong>de</strong>m<br />

brummt die Belohnung für das Besser-Sein kräftig mit.<br />

Wer nicht besser ist, wird verwaltet,<br />

um besser einst zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Vielleicht wäre es besser, wenn man die Menschen<br />

alleine lässt. Respektvoller.<br />

Was hat <strong>de</strong>n Hilfe<br />

mit Respekt zu tun?<br />

Wer nennt Hilfe etwas,<br />

das schuldig macht?<br />

Der Staat sollte so wenig wie möglich<br />

in unser Leben eingreifen. Was man nicht selbst wählt,<br />

worin man geleitet wird, das<br />

geht nicht in <strong>de</strong>n eigenen Charakter über,<br />

das bleibt fremd. 27<br />

Auch wenn es uns zum Vorteil ist? Sind wir blind?<br />

Der Reichtum <strong>de</strong>r Gesellschaft scheint,<br />

statt auf alle gleich verwen<strong>de</strong>t,<br />

auf Höhergestellte, Schamanen, Empfänger<br />

von Boni und <strong>de</strong>ren Bezahldates konzentriert.<br />

Und <strong>de</strong>n Betrug, <strong>de</strong>r all dies möglich<br />

macht, schultert zu allem Überfluss<br />

das Publikum <strong>de</strong>s Überflusses<br />

28.<br />

Um zum Grun<strong>de</strong>inkommen zu kommen sollte man<br />

Harz 4 ohne Auflagen, also Schikanen, zahlen.<br />

25<br />

Nach: Charles Bau<strong>de</strong>laire, Assommons les pauvres!, in: Le Spleen <strong>de</strong> Paris, Gedicht XLIX<br />

26<br />

siehe K. Marx, Kapital I, MEW 23, 184: “Der Wert <strong>de</strong>r Arbeitskraft, gleich <strong>de</strong>m Wert je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch<br />

Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit.”<br />

27<br />

Nach W. V. Humboldt, „I<strong>de</strong>en zu einem Versuch, die Grenzen <strong>de</strong>r Wirksamkeit <strong>de</strong>s Staats zu bestimmen“, Kapitel III: Sorgfalt <strong>de</strong>s Staats für das Wohl <strong>de</strong>r<br />

Bürger, S. 37 (Reclam)<br />

nach Thomas Paine, Rights of Man: „Civil government does not exist in executions; but in making such provision for the instruction of youth and the<br />

28<br />

support of age, as to exclu<strong>de</strong>, as much as possible, profligacy from the one and <strong>de</strong>spair from the other. Instead of this, the resources of a country are<br />

lavished upon kings, upon courts, upon hirelings, impostors and prostitutes; and even the poor themselves, with all their wants upon them, are compelled to<br />

support the fraud that oppresses them.“ (Wikisource, Part 2.7, 1792)


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Aber wenn das System<br />

schon jetzt nicht funktioniert…<br />

Wer sagt, dass es nicht funktioniert? Es gibt keine Unruhen,<br />

es wer<strong>de</strong>n keine Polizisten erschossen.<br />

Es funktioniert ausgezeichnet.<br />

“Wenn es heißt, in gleicher Ehre steht <strong>de</strong>r Gemeine wie <strong>de</strong>r Edle‘, wer<strong>de</strong>n sich die<br />

Gebil<strong>de</strong>ten ärgern, als verdienten sie es nicht, bloß gleich viel wie die an<strong>de</strong>ren zu<br />

besitzen und darum wer<strong>de</strong>n sie sich oft verschwören und Aufstän<strong>de</strong> machen.” 29<br />

Einst hat die Familie sich<br />

um die Familie gekümmert. Gleiche unter Gleichen.<br />

Aber dann wollte man Freiheit. Mobilität.<br />

Aus <strong>de</strong>r Enge <strong>de</strong>r Gleichen weg.<br />

Früher hatte in meinem Land<br />

die Kirche die Macht. Einer wollte<br />

Hilfsgel<strong>de</strong>r für junge Mütter einführen.<br />

Das lehnte die Kirche ab, sagte: Lasst<br />

diese jungen Mütter zu uns kommen.<br />

Sie wusste: Eine soziale Politik wür<strong>de</strong> die Macht<br />

<strong>de</strong>r Kirche brechen.<br />

Ist das jetzt, mit Blick auf die “Industrienation”, an<strong>de</strong>rs?<br />

Die Macht hat jetzt die Wirtschaft<br />

Ich dachte immer, dass je<strong>de</strong>r<br />

auf <strong>de</strong>n eigenen Füßen stehen möchte.<br />

Das stimmt wohl nicht.<br />

Es sollte minimale Hilfsleistungen geben,<br />

ein zu 100 % kostenloses Bildungsangebot sowie<br />

kostenlose medizinische Dienste, ein garantiertes<br />

Mini-Zimmer…<br />

Die Leute brauchen Anleitung, wollen<br />

an die Hand genommen wer<strong>de</strong>n,<br />

bestehen auf ihren Status,<br />

wollen Garantien…<br />

Utopia ist immer nur so gut wie seine Bürger.<br />

Die Aspekte Gerechtigkeit und Freiheit stehen<br />

in dauern<strong>de</strong>m Konflikt.<br />

Unser System<br />

versucht eine Balance, auch, um die<br />

Demütigung zu vermei<strong>de</strong>n,<br />

zur Familie zurück zu kriechen.<br />

29<br />

Aristoteles, Pol. 1267 a 39–41


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JEMAND:<br />

Dass muss alles viel gerechter sein, o<strong>de</strong>r:<br />

Gera<strong>de</strong> meine Freiheit wird beschnitten.<br />

Ich fin<strong>de</strong> Opferhaltungen schwierig,<br />

sie zeigen oft <strong>einen</strong> unreifen Geist, <strong>de</strong>r meint:<br />

Die Welt hat mir ein Leben zu bieten.<br />

Die hat dir aber<br />

kein Leben zu bieten, son<strong>de</strong>rn du musst dir,<br />

irgendwie, ein Leben gestalten.<br />

Das Leben ist keine Entität, die auf dich zukommt, und auch<br />

<strong>de</strong>r Staat ist das besser nicht.<br />

Er sollte immer<br />

mit Produkt <strong>de</strong>s Einzelnen sein.<br />

Darüber re<strong>de</strong>n wir - über die Utopie<br />

eines Staates, aus <strong>de</strong>r Natur, <strong>de</strong>r Welt gerissen.<br />

ganz und gar nicht gottgegeben.<br />

Utopische Menschen<br />

bräuchten keine Hilfsleistungen.<br />

Irgendwo steht in <strong>de</strong>r griechischen<br />

Grund-Buchstabensuppe unserer Kultur:<br />

Ein Bürger ist einer, <strong>de</strong>r sich um sein Auskommen<br />

nicht sorgen muss. und nur <strong>de</strong>r kann<br />

an <strong>de</strong>r Demokratie teilnehmen.<br />

Entsprechend sollte<br />

<strong>de</strong>r Staat dafür sorge tragen, das wir uns nicht<br />

um <strong>de</strong>n Absturz ins Nichts sorgen. Statt<br />

Sozialhilfe Demokratiebefähigung.<br />

Erst kommt das Fressen,<br />

dann kommt die Moral. Eine<br />

zutiefst bürgerliche Weltsicht.<br />

Das Wir an sich, das wissen wir,<br />

ist irgendwie fremd, irgendwie miefig,<br />

irgendwie schlecht.<br />

Fast je<strong>de</strong>r Anspruch ist übermäßig,<br />

je<strong>de</strong>s Geben beleidigend,<br />

<strong>de</strong>nn das unselige Gegenüber muss nehmen.<br />

Die Quelle <strong>de</strong>r Gier ist<br />

die Angst vor <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungslosigkeit. Vor<br />

<strong>de</strong>m Scheitern an <strong>de</strong>r Welt. 30<br />

30<br />

http://www.seele-und-gesundheit.<strong>de</strong>/psycho/gier.html


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Hilfe brauchen zeigt uns,<br />

das wir an <strong>de</strong>r Welt gescheitert sind.<br />

JEMAND Doch Scheitern ist Teil <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns. 31<br />

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Teil <strong>de</strong>r Kunst. Teil <strong>de</strong>s Lebens;<br />

und wer sein Leben nicht in <strong>de</strong>n Griff kriegt<br />

<strong>de</strong>r bleibt Dilettant und hat nichts zu sagen. 32<br />

„Kunst ist in unserer Gesellschaft etwas gewor<strong>de</strong>n,<br />

das nur Gegenstän<strong>de</strong> betrifft. Von Experten, nämlich<br />

Künstlern, gemacht wird.“ 33<br />

Und die Geben nicht, son<strong>de</strong>rn Nehmen<br />

Kunst aus unser aller Leben.<br />

„Die Kunst, das Leben zu meistern, ist<br />

die Grundbedingung zu allen weiteren<br />

Äußerungen“. 34<br />

Menschen durch die Garantie eines komfortablen<br />

Lebens die Verantwortung für das eigene Streben nach Glück,<br />

Erfüllung, Interesse zu nehmen wäre eine Entmündigung. Aber<br />

freie medizinische Versorgung, freie Bildungsmöglichkeiten,<br />

garantierte Minimalversorgung, das entmündigt nieman<strong>de</strong>n…<br />

Wir sind bösartig.<br />

Raffgierig.<br />

Wollen nur unseren Vorteil, von Natur aus.<br />

Was, richtig angewandt, völlig OK ist. 35<br />

Aber <strong>de</strong>shalb ist das Nehmen und Geben, das<br />

Mitgestalten in <strong>de</strong>r Demokratie so schwierig.<br />

Aber ich bin dafür.<br />

Manche glauben ja<br />

trotz Aufklärung und naturwissenschaftlicher<br />

Grundbildung, es gäbe eine höhere Macht, die sich<br />

hauptberuflich um unser Wohlbefin<strong>de</strong>n kümmert. 36<br />

Die gibt es, nur ist das eben<br />

<strong>de</strong>r bürokratische Wohlfahrtsstaat. Und <strong>de</strong>m<br />

traut keiner.<br />

31<br />

siehe Epiktet, „Diatriben“: „So wie Holz das Material <strong>de</strong>s Zimmermanns ist, ist das Material <strong>de</strong>r Lebenskunst das Leben je<strong>de</strong>s einzelnen“<br />

32<br />

Paul Klee, Tagebuch: „Die Kunst, das Leben zu meistern, ist die Grundbedingung zu allen weiteren Äußerungen“<br />

33<br />

Michel Foucault: „Zur Genealogie <strong>de</strong>r Ethik“ (Interview, 1983)<br />

34<br />

Paul Klee, Tagebuch<br />

35<br />

siehe Oscar Wil<strong>de</strong>s Aphorismus: „Die Selbstsucht besteht nicht darin, daß man lebt, wie man will, son<strong>de</strong>rn daß man von an<strong>de</strong>ren verlangt, sie sollen<br />

leben, wie man will.“<br />

36<br />

siehe Gruber, Oberhummer, Puntigam, „Science Busters“,Goldmann 2013, S. 157


29 von 34<br />

CHOR<br />

JEMAND<br />

Den <strong>Sozialstaat</strong> hochzuhalten<br />

wur<strong>de</strong> in die Wiege uns gelegt. Doch<br />

<strong>de</strong>r Weisheit letzter Schluß<br />

ist dieser nicht. Sitzt irgendwo<br />

ein unglückliches Kind<br />

in seinem Kot und<br />

isst sein magres Brot mit Tränen,<br />

garantierten unser Glück? 37<br />

Viele sagen Ja, doch<br />

<strong>de</strong>m drehen wir <strong>de</strong>n Rücken zu<br />

und drängen nach Utopia:<br />

Wir wollen an uns arbeiten; doch noch<br />

ist die Statue unserer Freiheit<br />

nicht gegossen<br />

38. Sie mag<br />

zum Klumpen uns geraten. Doch:<br />

Es soll sich je<strong>de</strong>r<br />

befähigt fühlen.<br />

Teilhaben an <strong>de</strong>r Diskussion.<br />

Sein Leben in Freiheit gestalten.<br />

Ausbildung sollte frei sein,<br />

Elitenför<strong>de</strong>rung ein lächerliches Bild<br />

an einer frem<strong>de</strong>n Wand. Reichtum<br />

in Maßen herrschen; die Verteilung<br />

holprig, doch nie steil sein,<br />

und medizinische Leistungen,<br />

hier stimmt <strong>de</strong>r<br />

Begriff, von allen für alle<br />

bezahlt sein. Und wichtig ist:<br />

Uns<br />

ist nicht zu helfen.<br />

37<br />

U. K. Le Guin, Those Who leave Omelas behind<br />

38<br />

G. Büchner, Dantons Tod, Erster Akt, Erste Szene


30 von 34


VOM WARUM UND WIE<br />

Eine Art Nach/Neben/Vorwort<br />

31 von 34<br />

Am Anfang dieses Projekts stand ein Freund, <strong>de</strong>r sich ständig über das Sozialamt beschwerte.<br />

Kein Abend verging, an <strong>de</strong>m er sich nicht die Seele aus <strong>de</strong>m Leib kotzte, um es so drastisch zu<br />

beschreiben wie es war, sich über die schlechte Behandlung, über die Beleidigung, mit <strong>de</strong>r „das<br />

Amt“, stellvertretend für Staat und Gesellschaft, ihn belästigte, so er die benötigte Hilfe zum<br />

Überleben in unserem Land erhalten wollte. Und da unser Land auch meines ist hielt ich erst mal<br />

dagegen. Er musste etwas falsch verstan<strong>de</strong>n haben. Es musste etwas falsch gelaufen sein.<br />

Vielleicht liefen Dinge aufgrund sprachlicher Probleme schief (sein Deutsch ist gut, aber trotz <strong>de</strong>r<br />

Jahrzehnte <strong>de</strong>s Ansässigseins nicht perfekt), vielleicht waren es Missverständnisse, o<strong>de</strong>r er hatte<br />

einfach Pech mit seinem Sachbearbeiter. Auch an<strong>de</strong>re stimmten ein, wir wur<strong>de</strong>n zum üblichen<br />

Kanon, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen <strong>Sozialstaat</strong> verteidigt - <strong>de</strong>nn: Wo gibt es <strong>de</strong>nn sonst so etwas auf <strong>de</strong>r<br />

Welt? Woan<strong>de</strong>rs ist es schlimmer.<br />

Da ich <strong>de</strong>r Meinung bin, dass je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in einem Land Steuern zahlt (egal welcher Höhe), in einem<br />

Land das Wahlrecht hat o<strong>de</strong>r auch nur ohne großen Aufwand aufgrund einer langjährigen<br />

Ansässigkeit haben könnte (egal, ob dafür ein fernes Wahlrecht aufgegeben wer<strong>de</strong>n müsste) eine<br />

Mitverantwortung für das Wesen dieser Entität trägt, wollte ich es doch genauer wissen. Ist unser<br />

<strong>Sozialstaat</strong>, ein, wie mir langsam schien, mir unbekanntes Wesen, vielleicht halb Florence<br />

Nightingale, halb Staatsmonster?<br />

Nach<strong>de</strong>m ich in <strong>de</strong>r Wikipedia und im Gesetzestext etwas nachgelesen habe, ein trockenes<br />

Unterfangen, interviewte ich Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Solche, die Harz IV erhielten; solche, die<br />

aufstockten, solche, die Steuern zahlten; solche, die als Sozialarbeiter ihr Geld verdienten;<br />

Künstler, Ärzte, An<strong>de</strong>re. Eingeborene und Zugewan<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r lokalen Folklore zufolge<br />

<strong>de</strong>r beste (und älteste) <strong>Sozialstaat</strong> <strong>de</strong>r Welt ist.<br />

Ich sollte hier noch anmerken, dass meine Gesprächspartner sicherlich k<strong>einen</strong> repräsentativen<br />

Schnitt durch die <strong>de</strong>utsche Bank abgeben. Es waren insgesamt etwas über 20 Personen, alle mit<br />

Wohnsitz in Berlin. Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Meine Welt eben.<br />

Das sich ergeben<strong>de</strong> Textkonvolut war: Seltsam. Glücklich mit <strong>de</strong>m <strong>Sozialstaat</strong> war: Kaum einer,<br />

kurz: Keiner. Dann doch zufrie<strong>de</strong>n die, die außer <strong>de</strong>m abstrakten Geben <strong>de</strong>s Steuerobolus nichts<br />

mit ihm zu tun hatten, und auch jene, die ihn als Helfer in <strong>de</strong>r Not o<strong>de</strong>r Unterstützer ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

kennengelernt hatten. Diskutiert wur<strong>de</strong> meist auch, und ohne gültiges Ergebnis, was <strong>de</strong>nn ein<br />

<strong>Sozialstaat</strong> eigentlich sei. Ein perfi<strong>de</strong>s, von Bismarck befohlenes Ruhighaltungskonzept, eine Art<br />

Gemütlichkeitszwangsjacke, das die eigentlich revolutionären Massen betäubt, o<strong>de</strong>r ein eher von<br />

unten durch Gewerkschaften und Sozialisten gestaltetes Konzept <strong>de</strong>s Zusammenwirkens und<br />

Umverteilens; geht es hauptsächlich um staatliche Schulen, Infrastrukturen, Krankenversicherung,<br />

o<strong>de</strong>r eher um Geld für die, die keins verdienen; war es in <strong>de</strong>r BRD so, in <strong>de</strong>r DDR an<strong>de</strong>rs? Auch<br />

Kants Kritik am Wohlfahrtsstaat (kurz: Kein Staat sollte elternhaft fürsorglich sein) trat auf. Und:<br />

Woan<strong>de</strong>rs ginge es mir besser. Da wür<strong>de</strong> ich keine Sozialkrücke brauchen. Mir wur<strong>de</strong> schnell klar,<br />

dass mein sich entwickeln<strong>de</strong>s Projekt nur aus Wortmeldungen bestehen konnte. Nicht aus meiner<br />

Meinung, auch nicht aus meiner Meinung <strong>de</strong>ssen, was ich für logisch o<strong>de</strong>r OK halte. Son<strong>de</strong>rn aus<br />

Texten, die umeinan<strong>de</strong>r Kreise drehen.<br />

Ich kenne viele Tänzer, von <strong>de</strong>nen viele (inzwischen, <strong>de</strong>nn die besol<strong>de</strong>te Berufung <strong>de</strong>s<br />

professionellen Tänzers ist oft kurz) Hilfe vom Amt erhalten und/o<strong>de</strong>r erhielten. Da erschien es<br />

logisch, Menschen, die sich mit <strong>de</strong>r untersuchten Sache hautnah auskennen, zu bitten, in ihrer<br />

Sprache etwas dazu zu sagen. I<strong>de</strong>e war es, eine Art Lesung durch thematische statt nur<br />

tänzerisch-ästhetische Tanzeinlagen zu unterbrechen; eine Textüberflutung mit eher sinnlichen<br />

Anregungen zu verbin<strong>de</strong>n und so Resonanzbö<strong>de</strong>n zu eröffnen. Das Projekt war geboren, und wir<br />

sprachen mit <strong>de</strong>n Verantwortlichen im Dock 11, einem Raum für zeitgenössischen Tanz in Berlin,


32 von 34<br />

über eine Möglichkeit zur Aufführung. Wir merkten an, dass wir nicht daran interessiert waren, <strong>de</strong>n<br />

Status Quo einfach in <strong>de</strong>n Grund zu re<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zu tanzen; zu sagen, wie es so oft geschieht, hier<br />

wird einfach nicht genug gegeben; son<strong>de</strong>rn sozusagen eine Bestandsaufnahme wagen und zu<strong>de</strong>m<br />

versuchen wollten, ein o<strong>de</strong>r mehrere Warums für <strong>de</strong>n <strong>Sozialstaat</strong> o<strong>de</strong>r, allgemein, für <strong>de</strong>n Wunsch<br />

zu Helfen zu fin<strong>de</strong>n. Die durch <strong>de</strong>n Raum schwirren<strong>de</strong>n Begriffe auf tönerne, bleierne o<strong>de</strong>r<br />

behän<strong>de</strong> Füße zu stellen. Uns über die Ungleichheitsaversion bei Tieren zu wun<strong>de</strong>rn. Die<br />

Galapagosinseln <strong>de</strong>s sozialen Impulses zu fin<strong>de</strong>n. Und eine Verbindung zum Anspruch <strong>de</strong>r<br />

Schönheit <strong>de</strong>s Tanzes herzustellen, schließlich strebt man ja spätestens seit <strong>de</strong>r klassischen<br />

Philosophie zum „richtigen Leben“, <strong>de</strong>ssen Garant oft genug das Geben scheint. Das Dock 11<br />

zeigte sich an unseren vielleicht noch etwas wirren I<strong>de</strong>en interessiert, gab uns eine<br />

Spielplatzgarantie und schlug vor, dass wir För<strong>de</strong>rung beantragen sollten. Das taten wir dann<br />

auch.<br />

Was sich als Fehler erwies. Nicht nur waren die selbst für Miniför<strong>de</strong>rungen erfor<strong>de</strong>rlichen,<br />

hochsurrealen Rechnereien und bürokratischen Anfor<strong>de</strong>rungen mehr als lästig, son<strong>de</strong>rn auch die<br />

Wartezeit lang, und das Ergebnis eine logistisch herausfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> För<strong>de</strong>rsumme von 0 Euro.<br />

Verloren hatten wir dabei etwa ein Jahr, je<strong>de</strong> Menge nerven und zahlreiche Seiten Papier,<br />

gewonnen vielleicht <strong>einen</strong> Aspekt <strong>de</strong>r ebenso simplen wie schwierigen Einsicht „Uns ist nicht zu<br />

helfen“.<br />

Glücklicherweise hielt das Dock 11 weiter zu uns; wir zogen zwar, gewissermaßen gezwungeneraber<br />

eben auch realistischerweise, in <strong>einen</strong> kleineren Saal um, die Möglichkeiten waren geringer,<br />

aber ohne För<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r wirtschaftlich unabhängigen Hintergrund ist das eben so; kein Geld,<br />

weniger Zeit, weniger Pomp, aus Sicht <strong>de</strong>r meisten vielleicht auch weniger Qualität. Katzentisch<br />

<strong>de</strong>s Kulturbetriebs, wenn man so will. Aber das Projekt ging weiter, als Improvisorium vielleicht,<br />

aber <strong>de</strong>nnoch.<br />

Wie das so ist mit <strong>de</strong>m Warten: Während Godot schweigt, verfällt man in eine passive Haltung,<br />

wartet mit <strong>de</strong>n Dingen, die man tun könnte, und erwartet, tatenlos, als Reh im Licht <strong>de</strong>s mächtigen<br />

För<strong>de</strong>r-Lkws, das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wartens. Als unsere För<strong>de</strong>rhoffnung dann glücklich überrollt war ging<br />

es, nach getroffener Entscheidung, eben im jetzt noch engeren Rahmen <strong>de</strong>s Möglichen<br />

weiterzumachen, erst mal darum, das Textkonvolut irgendwie in eine Form zu bringen. Dabei<br />

wur<strong>de</strong> schnell klar, dass Klartext nicht unbedingt die beste Art <strong>de</strong>r Präsentation war. Der war<br />

verletzt, eitel, behäbig, vorsichtig und zuweilen (o<strong>de</strong>r hin und wie<strong>de</strong>r) beschwipst. Am liebsten<br />

sollte <strong>de</strong>r Text aber doch erstmal ohne Zorn, Pathos, Verletzung und Dankbarkeit dastehen. Also in<br />

irgen<strong>de</strong>iner Abstraktion. Naturgemäß kamen historische und politische Texte hinzu, sowie<br />

Zeitungsfetzen; das alles sollte, halbwegs geordnet, <strong>de</strong>n Kopf <strong>de</strong>s Betrachters (o<strong>de</strong>r Lesers) in<br />

Schwingung versetzen; in seine eigenen, natürlich. Vorgeben wollten wir nichts.<br />

Das Vorgeben ist ohnehin ein schweres Unterfängen; wenn man mit direkter Sprache, mit direkten<br />

Aussagen arbeitet wer<strong>de</strong>n die benutzten Begriffe schnell schwammig; je<strong>de</strong>r hat eine an<strong>de</strong>re<br />

Perspektive, je<strong>de</strong>r benutzt die Begriffe leicht an<strong>de</strong>rs, sieht die Dinge an<strong>de</strong>rs. Das wird schon an<br />

<strong>de</strong>m Spannungsfeld zwischen <strong>de</strong>m positiven Helfen und <strong>de</strong>r negativen Annahme einer<br />

Anspruchshaltung klar. Zwischen <strong>de</strong>r angenommenen Befähigung zur Teilhaben an <strong>de</strong>r Kultur und<br />

<strong>de</strong>m För<strong>de</strong>rn und For<strong>de</strong>rn durch <strong>einen</strong> dann doch künstlerisch gestalten<strong>de</strong>n Staat. Zwischen <strong>de</strong>r<br />

Freiheit <strong>de</strong>s Einzelnen und <strong>de</strong>m Anspruch <strong>de</strong>r Gesamtheit, von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Einzelne dann ein<br />

problematisches Teil wird; im Konvolut.<br />

Doch <strong>de</strong>utlich ist zu sagen: Um Hilfe geht es hier nicht; um Wollen und das Warum <strong>de</strong>s Helfens<br />

schon eher. Dann auch noch um das Wie. Das praktisch keiner, auch kein Staat, etwas selbstlos<br />

tut ist ohnehin ein Gemeinplatz; das wir alle, beson<strong>de</strong>rs die künstlerisch beflissene Seite, für unser<br />

Geben (unsere Selbstlosigkeit, eben <strong>de</strong>m, was wir <strong>de</strong>r Gemeinheit geben - was alles mögliche sein<br />

kann) auf je<strong>de</strong>n Fall eine Gegenleistung erwarten - auch das ist keine Überraschung. Aber wo,<br />

fragt man sich, bleibt da die Utopie? Und das, worum es eigentlich geht. Die Art, wie wir unser<br />

Zusammenleben gemeinsam gestalten wollen. Falls wir das wollen. Die Art, wie wir uns aus <strong>de</strong>r<br />

Natur lösen.


33 von 34<br />

Während dieser Zeit erlebte ich <strong>de</strong>n Gang eines an<strong>de</strong>ren Freun<strong>de</strong>s zu <strong>de</strong>n Ämtern mit. Aus Not,<br />

und in Not. Mein Freund litt unter durchaus schweren, ihn einschränken<strong>de</strong>n psychischen<br />

Problemen. Hat, auf Anraten seines Arztes, seine Arbeitsstelle aufgeben. Aber genau dafür ist<br />

unser System ja, so sagt man, da: Es fängt die auf, die Hilfe brauchen. Stütze. Um wie<strong>de</strong>r hoch zu<br />

kommen. Wirklich? Trotz <strong>de</strong>s Anspruchs auf ALG 1, trotz <strong>de</strong>utscher Geburt (die oft als Vorteil bei<br />

<strong>de</strong>r Hilfevergabe angeführt wur<strong>de</strong>) und trotz eines bestehen<strong>de</strong>n Attests wur<strong>de</strong> die… nennen wir es:<br />

Hilfswürdigkeit meines Freun<strong>de</strong>s immer wie<strong>de</strong>r angezweifelt, unter ein Mikroskop gestellt. Erst von<br />

<strong>de</strong>r Agentur für Arbeit, dann vom zweiten Jobcenter. Trotz ständiger freundlicher Beteuerung von<br />

<strong>de</strong>n menschlichen Sachbearbeitern, das wäre ja alles klar, da ist ja das Attest. Doch dann kam,<br />

immer wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r kalte Schrieb. Sie haben ihre Notlage selbst verschul<strong>de</strong>t. Wir müssen ihre<br />

Interessen gegen die <strong>de</strong>r Allgemeinheit abwägen. Sie müssen nun dies und jenes anbringen und<br />

sind gesperrt, sie warten ja schon mehrere Monate auf unsere Entscheidung, auch ihre Schuld,<br />

Rückzahlung gibt es nicht. Sie haben sich Geld geliehen? Ihre Schuld. Sie hätten zum Jobcenter<br />

gehen müssen. Ich war Zeuge, wie aus zähneknirschen<strong>de</strong>m Optimismus Rückzug wur<strong>de</strong>. Klar war<br />

aber auch, dass hier die Amtsbeamten einfach überfor<strong>de</strong>rt waren. Es war ja nicht wirklich ihre<br />

Entscheidung, und sie kannten sich mit diesen Dingen ja nicht aus.<br />

An<strong>de</strong>rs einige <strong>de</strong>r Menschen, mit <strong>de</strong>nen ich darüber sprach. Man müsse eben so und so mit <strong>de</strong>n<br />

Ämtern umgehen. Dann klappt das auch mit <strong>de</strong>m Antrag. So und so darf man nicht sein. Plötzlich<br />

stand das Bild <strong>de</strong>s erfolgreichen Bittstellers vor mir. Ein frankensteinsches Monster aus<br />

Überzeugungskraft, Willensstärke und Organisationstalent. Schlimm nur, dass manche Menschen<br />

dieser Schablone nicht entsprechen können. Irgendwie sah ich in meiner inneren Glotze die<br />

beliebte Sendung DSDS - Deutschland such <strong>de</strong>n Sozialstar - in <strong>de</strong>r ein blon<strong>de</strong>r Beamter breit<br />

grinsend überzeugen<strong>de</strong>n Antragstellern verkün<strong>de</strong>te, sie seien ein Traum, während die an<strong>de</strong>ren, die<br />

nicht Paradiesvögel und Antragskünstler waren, ohne Aben<strong>de</strong>ssen ins Bootcamp <strong>de</strong>r Versager<br />

mussten.<br />

Ich beschloss, mich irgendwie zu beschweren. Ganz einfach zu sagen: So könnt ihr jeman<strong>de</strong>n mit<br />

einem entsprechen<strong>de</strong>n Attest doch nicht abschmettern, etc. Auch hier war die Erfahrung nicht<br />

positiv. Ich wur<strong>de</strong> abgewimmelt, verwiesen. Am En<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> mir gesagt, ich könne mich ja lei<strong>de</strong>r<br />

nicht beschweren, da ich nicht betroffen sei. Ich sei ja nicht <strong>de</strong>r Fall. Das aber stimmt nicht. Wir<br />

alle, die wir <strong>de</strong>n Staat ausmachen, als Empfänger, Einzahler o<strong>de</strong>r Mitexistierer, sind betroffen.<br />

Denn ein Teil unseres Wesen ist es, wie wir Menschen behan<strong>de</strong>ln. Uns behan<strong>de</strong>ln. Frem<strong>de</strong><br />

behan<strong>de</strong>ln. Menschen, die kein monströses Selbstbewusstsein haben. Menschen, die fliehen.<br />

Menschen, die nicht schick sind wie Un<strong>de</strong>rdogs, son<strong>de</strong>rn vielleicht eher langweilig, und einfach<br />

schlecht dran. Uns.<br />

Auch das sei gesagt, nicht überall waren die Türen völlig zu. Es gab durchaus positive Reaktionen.<br />

Klar wur<strong>de</strong> aber, das hier ein System - man erinnert sich an die alten Diskussionen aus <strong>de</strong>n 80ern<br />

- statt die Menschlichkeit herrscht.<br />

Der Text unseres Textkonvoluts hatte inzwischen mehr Gestalt angenommen. Er fügte sich in<br />

Abschnitte, leicht thematisch angeordnet, aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en und Statistiken kamen Elemente<br />

hinzu. Tanz und Musik nahmen gemeinsam Gestalt an; beispielsweise wur<strong>de</strong> aus einer fast<br />

spontanen 45-Sekun<strong>de</strong>n-I<strong>de</strong>e durch Wie<strong>de</strong>rholung im Probenprozess eine brauchbare<br />

Untermalung für <strong>einen</strong> Tanz De <strong>Deux</strong> über das Warten. Das existenzialistisch-sozialabhängige<br />

Dahingesetztsein. Ein Chor kam dazu, irgendwie. Die Unsicherheit <strong>de</strong>s Wir wollte im Konvolut<br />

gehört wer<strong>de</strong>n, löste sich. Braucht eigenen Text, hat eine abweichen<strong>de</strong> Meinung o<strong>de</strong>r Haltung.<br />

Auch <strong>de</strong>r Chor zitiert und oszilliert. Und zittert dabei. Weil er nicht wirklich weiß, was er will.<br />

Und was er <strong>de</strong>nken soll. Zuweilen kam <strong>de</strong>r Traum vom Auswan<strong>de</strong>rn, vom besseren Leben in<br />

Übersee auf. Weil man da eben erfolgreich sein wür<strong>de</strong>. Weil die Gesellschaft dort durchlässiger<br />

wäre. Deutschland, <strong>de</strong>r <strong>Sozialstaat</strong>, ist eben auch ein Status Quo-Staat. Was du mit Abschluss <strong>de</strong>r<br />

Ausbildung erreicht hast ist <strong>de</strong>r Stein, auf <strong>de</strong>m du baust. Quereinstiege, nicht in <strong>de</strong>r Disziplin<br />

gewachsene I<strong>de</strong>en sind nicht erwünscht. Ist das so? Wahrscheinlich, <strong>de</strong>nn das ist Teil <strong>de</strong>s


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Wunsches nach Sicherheit, <strong>de</strong>r Garantie einer stabilen Gesellschaft. Die ihre Schattenseiten hat.<br />

In einem Gespräch mit einem US-Amerikaner ging es um die von vielen in Deutschland leben<strong>de</strong>n<br />

Personen noch immer nicht umgesetzte o<strong>de</strong>r durchgefühlte Gleichstellung von Männern und<br />

Frauen. Für ihn war klar: In <strong>de</strong>n USA passiert das nicht; die Existenz ist meist hart, beson<strong>de</strong>rs<br />

Neuankömmlinge müssen sich anpassen, um zu überleben. Der <strong>de</strong>utsche <strong>Sozialstaat</strong>, so sein<br />

Fazit, schafft Biotope für Ansichten von Vorgestern. Vielleicht.<br />

Die Suche nach einer Basis, einem soli<strong>de</strong>n, nachvollziehbaren Grund für die Verteilung <strong>de</strong>s<br />

Reichtums, die Absicherung <strong>de</strong>r Existenz, wenn man so will, jenseits <strong>de</strong>s Rechts <strong>de</strong>s zeitweilig<br />

Stärkeren war, bei aller Offenheit <strong>de</strong>s pluralistischen Plau<strong>de</strong>rns gegenüber, ein Teil <strong>de</strong>s Projekts,<br />

<strong>de</strong>r Absicht. Am nächsten an eine soli<strong>de</strong> Basis kam dabei für mich Thomas Paine mit seinem<br />

Essay „Agrarian Justice“ (kurz: Der zivilisierte o<strong>de</strong>r zivilisieren<strong>de</strong> Mensch hat die Zivilisation/Kultur<br />

so hinzubauen, das sie <strong>de</strong>m in die Zivilisation geborenen Menschen eine Minimalauskunft sichert,<br />

ganz so, wie es die Natur durch die Produktion von Beeren etc. vor <strong>de</strong>r als wun<strong>de</strong>rbar, befreiend<br />

und richtig verstan<strong>de</strong>n Zivilisation tat und soll sich davor hüten, schon aus Stolz, <strong>de</strong>n Menschen in<br />

das Loch <strong>de</strong>r am Ran<strong>de</strong> gedrängten fallen zu lassen). Der Text sei allein empfohlen.<br />

Tatsächliche Aussagen, For<strong>de</strong>rungen am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Konvoluts? Diese könnten einfacher nicht sein.<br />

Ein geringes, aber bedingungsloses Grun<strong>de</strong>inkommen, also Überleben in <strong>de</strong>r westlichen Welt<br />

ohne je<strong>de</strong>n Komfort, aber auch ohne je<strong>de</strong> Schikane, gepaart mit Min<strong>de</strong>stlohn und einer<br />

entsprechen<strong>de</strong>n Deckelung <strong>de</strong>r Miet- und Lebensmittelpreise, freie Bildungsmöglichkeiten und<br />

freie medizinische Versorgung. Utopisch und lyrisch schön wäre dann noch eine Begrenzung <strong>de</strong>s<br />

Reichtums nach oben. Der Ausflug sei auch noch erlaubt: Und für die am Ausdruck interessierten<br />

unter uns natürlich freie Aufführungs- und Probemöglichkeiten und die nötig Zeit dafür - statt <strong>de</strong>r<br />

För<strong>de</strong>rung von Exzellenzen, wie man das heute so nennt. Denn Foucaults Einsicht, dass die<br />

zeitgemäße Profi-Kommerzialisierung <strong>de</strong>r Kunst aus Künstlern Diebe macht, ist ernst zu nehmen.<br />

Publikum sollte man wirklich nur zeitweise sein wollen.<br />

Wie auch immer, als Schlusswort bleibt nur zu sagen: Uns ist nicht zu helfen.

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