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VOM WARUM UND WIE Eine Art Nach/Neben/Vorwort 31 von 34 Am Anfang dieses Projekts stand ein Freund, <strong>de</strong>r sich ständig über das Sozialamt beschwerte. Kein Abend verging, an <strong>de</strong>m er sich nicht die Seele aus <strong>de</strong>m Leib kotzte, um es so drastisch zu beschreiben wie es war, sich über die schlechte Behandlung, über die Beleidigung, mit <strong>de</strong>r „das Amt“, stellvertretend für Staat und Gesellschaft, ihn belästigte, so er die benötigte Hilfe zum Überleben in unserem Land erhalten wollte. Und da unser Land auch meines ist hielt ich erst mal dagegen. Er musste etwas falsch verstan<strong>de</strong>n haben. Es musste etwas falsch gelaufen sein. Vielleicht liefen Dinge aufgrund sprachlicher Probleme schief (sein Deutsch ist gut, aber trotz <strong>de</strong>r Jahrzehnte <strong>de</strong>s Ansässigseins nicht perfekt), vielleicht waren es Missverständnisse, o<strong>de</strong>r er hatte einfach Pech mit seinem Sachbearbeiter. Auch an<strong>de</strong>re stimmten ein, wir wur<strong>de</strong>n zum üblichen Kanon, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen <strong>Sozialstaat</strong> verteidigt - <strong>de</strong>nn: Wo gibt es <strong>de</strong>nn sonst so etwas auf <strong>de</strong>r Welt? Woan<strong>de</strong>rs ist es schlimmer. Da ich <strong>de</strong>r Meinung bin, dass je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in einem Land Steuern zahlt (egal welcher Höhe), in einem Land das Wahlrecht hat o<strong>de</strong>r auch nur ohne großen Aufwand aufgrund einer langjährigen Ansässigkeit haben könnte (egal, ob dafür ein fernes Wahlrecht aufgegeben wer<strong>de</strong>n müsste) eine Mitverantwortung für das Wesen dieser Entität trägt, wollte ich es doch genauer wissen. Ist unser <strong>Sozialstaat</strong>, ein, wie mir langsam schien, mir unbekanntes Wesen, vielleicht halb Florence Nightingale, halb Staatsmonster? Nach<strong>de</strong>m ich in <strong>de</strong>r Wikipedia und im Gesetzestext etwas nachgelesen habe, ein trockenes Unterfangen, interviewte ich Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Solche, die Harz IV erhielten; solche, die aufstockten, solche, die Steuern zahlten; solche, die als Sozialarbeiter ihr Geld verdienten; Künstler, Ärzte, An<strong>de</strong>re. Eingeborene und Zugewan<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r lokalen Folklore zufolge <strong>de</strong>r beste (und älteste) <strong>Sozialstaat</strong> <strong>de</strong>r Welt ist. Ich sollte hier noch anmerken, dass meine Gesprächspartner sicherlich k<strong>einen</strong> repräsentativen Schnitt durch die <strong>de</strong>utsche Bank abgeben. Es waren insgesamt etwas über 20 Personen, alle mit Wohnsitz in Berlin. Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Meine Welt eben. Das sich ergeben<strong>de</strong> Textkonvolut war: Seltsam. Glücklich mit <strong>de</strong>m <strong>Sozialstaat</strong> war: Kaum einer, kurz: Keiner. Dann doch zufrie<strong>de</strong>n die, die außer <strong>de</strong>m abstrakten Geben <strong>de</strong>s Steuerobolus nichts mit ihm zu tun hatten, und auch jene, die ihn als Helfer in <strong>de</strong>r Not o<strong>de</strong>r Unterstützer ihrer Kin<strong>de</strong>r kennengelernt hatten. Diskutiert wur<strong>de</strong> meist auch, und ohne gültiges Ergebnis, was <strong>de</strong>nn ein <strong>Sozialstaat</strong> eigentlich sei. Ein perfi<strong>de</strong>s, von Bismarck befohlenes Ruhighaltungskonzept, eine Art Gemütlichkeitszwangsjacke, das die eigentlich revolutionären Massen betäubt, o<strong>de</strong>r ein eher von unten durch Gewerkschaften und Sozialisten gestaltetes Konzept <strong>de</strong>s Zusammenwirkens und Umverteilens; geht es hauptsächlich um staatliche Schulen, Infrastrukturen, Krankenversicherung, o<strong>de</strong>r eher um Geld für die, die keins verdienen; war es in <strong>de</strong>r BRD so, in <strong>de</strong>r DDR an<strong>de</strong>rs? Auch Kants Kritik am Wohlfahrtsstaat (kurz: Kein Staat sollte elternhaft fürsorglich sein) trat auf. Und: Woan<strong>de</strong>rs ginge es mir besser. Da wür<strong>de</strong> ich keine Sozialkrücke brauchen. Mir wur<strong>de</strong> schnell klar, dass mein sich entwickeln<strong>de</strong>s Projekt nur aus Wortmeldungen bestehen konnte. Nicht aus meiner Meinung, auch nicht aus meiner Meinung <strong>de</strong>ssen, was ich für logisch o<strong>de</strong>r OK halte. Son<strong>de</strong>rn aus Texten, die umeinan<strong>de</strong>r Kreise drehen. Ich kenne viele Tänzer, von <strong>de</strong>nen viele (inzwischen, <strong>de</strong>nn die besol<strong>de</strong>te Berufung <strong>de</strong>s professionellen Tänzers ist oft kurz) Hilfe vom Amt erhalten und/o<strong>de</strong>r erhielten. Da erschien es logisch, Menschen, die sich mit <strong>de</strong>r untersuchten Sache hautnah auskennen, zu bitten, in ihrer Sprache etwas dazu zu sagen. I<strong>de</strong>e war es, eine Art Lesung durch thematische statt nur tänzerisch-ästhetische Tanzeinlagen zu unterbrechen; eine Textüberflutung mit eher sinnlichen Anregungen zu verbin<strong>de</strong>n und so Resonanzbö<strong>de</strong>n zu eröffnen. Das Projekt war geboren, und wir sprachen mit <strong>de</strong>n Verantwortlichen im Dock 11, einem Raum für zeitgenössischen Tanz in Berlin,