Pas de Deux für einen Sozialstaat
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VOM WARUM UND WIE<br />
Eine Art Nach/Neben/Vorwort<br />
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Am Anfang dieses Projekts stand ein Freund, <strong>de</strong>r sich ständig über das Sozialamt beschwerte.<br />
Kein Abend verging, an <strong>de</strong>m er sich nicht die Seele aus <strong>de</strong>m Leib kotzte, um es so drastisch zu<br />
beschreiben wie es war, sich über die schlechte Behandlung, über die Beleidigung, mit <strong>de</strong>r „das<br />
Amt“, stellvertretend für Staat und Gesellschaft, ihn belästigte, so er die benötigte Hilfe zum<br />
Überleben in unserem Land erhalten wollte. Und da unser Land auch meines ist hielt ich erst mal<br />
dagegen. Er musste etwas falsch verstan<strong>de</strong>n haben. Es musste etwas falsch gelaufen sein.<br />
Vielleicht liefen Dinge aufgrund sprachlicher Probleme schief (sein Deutsch ist gut, aber trotz <strong>de</strong>r<br />
Jahrzehnte <strong>de</strong>s Ansässigseins nicht perfekt), vielleicht waren es Missverständnisse, o<strong>de</strong>r er hatte<br />
einfach Pech mit seinem Sachbearbeiter. Auch an<strong>de</strong>re stimmten ein, wir wur<strong>de</strong>n zum üblichen<br />
Kanon, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen <strong>Sozialstaat</strong> verteidigt - <strong>de</strong>nn: Wo gibt es <strong>de</strong>nn sonst so etwas auf <strong>de</strong>r<br />
Welt? Woan<strong>de</strong>rs ist es schlimmer.<br />
Da ich <strong>de</strong>r Meinung bin, dass je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in einem Land Steuern zahlt (egal welcher Höhe), in einem<br />
Land das Wahlrecht hat o<strong>de</strong>r auch nur ohne großen Aufwand aufgrund einer langjährigen<br />
Ansässigkeit haben könnte (egal, ob dafür ein fernes Wahlrecht aufgegeben wer<strong>de</strong>n müsste) eine<br />
Mitverantwortung für das Wesen dieser Entität trägt, wollte ich es doch genauer wissen. Ist unser<br />
<strong>Sozialstaat</strong>, ein, wie mir langsam schien, mir unbekanntes Wesen, vielleicht halb Florence<br />
Nightingale, halb Staatsmonster?<br />
Nach<strong>de</strong>m ich in <strong>de</strong>r Wikipedia und im Gesetzestext etwas nachgelesen habe, ein trockenes<br />
Unterfangen, interviewte ich Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Solche, die Harz IV erhielten; solche, die<br />
aufstockten, solche, die Steuern zahlten; solche, die als Sozialarbeiter ihr Geld verdienten;<br />
Künstler, Ärzte, An<strong>de</strong>re. Eingeborene und Zugewan<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r lokalen Folklore zufolge<br />
<strong>de</strong>r beste (und älteste) <strong>Sozialstaat</strong> <strong>de</strong>r Welt ist.<br />
Ich sollte hier noch anmerken, dass meine Gesprächspartner sicherlich k<strong>einen</strong> repräsentativen<br />
Schnitt durch die <strong>de</strong>utsche Bank abgeben. Es waren insgesamt etwas über 20 Personen, alle mit<br />
Wohnsitz in Berlin. Freun<strong>de</strong> und Bekannte. Meine Welt eben.<br />
Das sich ergeben<strong>de</strong> Textkonvolut war: Seltsam. Glücklich mit <strong>de</strong>m <strong>Sozialstaat</strong> war: Kaum einer,<br />
kurz: Keiner. Dann doch zufrie<strong>de</strong>n die, die außer <strong>de</strong>m abstrakten Geben <strong>de</strong>s Steuerobolus nichts<br />
mit ihm zu tun hatten, und auch jene, die ihn als Helfer in <strong>de</strong>r Not o<strong>de</strong>r Unterstützer ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />
kennengelernt hatten. Diskutiert wur<strong>de</strong> meist auch, und ohne gültiges Ergebnis, was <strong>de</strong>nn ein<br />
<strong>Sozialstaat</strong> eigentlich sei. Ein perfi<strong>de</strong>s, von Bismarck befohlenes Ruhighaltungskonzept, eine Art<br />
Gemütlichkeitszwangsjacke, das die eigentlich revolutionären Massen betäubt, o<strong>de</strong>r ein eher von<br />
unten durch Gewerkschaften und Sozialisten gestaltetes Konzept <strong>de</strong>s Zusammenwirkens und<br />
Umverteilens; geht es hauptsächlich um staatliche Schulen, Infrastrukturen, Krankenversicherung,<br />
o<strong>de</strong>r eher um Geld für die, die keins verdienen; war es in <strong>de</strong>r BRD so, in <strong>de</strong>r DDR an<strong>de</strong>rs? Auch<br />
Kants Kritik am Wohlfahrtsstaat (kurz: Kein Staat sollte elternhaft fürsorglich sein) trat auf. Und:<br />
Woan<strong>de</strong>rs ginge es mir besser. Da wür<strong>de</strong> ich keine Sozialkrücke brauchen. Mir wur<strong>de</strong> schnell klar,<br />
dass mein sich entwickeln<strong>de</strong>s Projekt nur aus Wortmeldungen bestehen konnte. Nicht aus meiner<br />
Meinung, auch nicht aus meiner Meinung <strong>de</strong>ssen, was ich für logisch o<strong>de</strong>r OK halte. Son<strong>de</strong>rn aus<br />
Texten, die umeinan<strong>de</strong>r Kreise drehen.<br />
Ich kenne viele Tänzer, von <strong>de</strong>nen viele (inzwischen, <strong>de</strong>nn die besol<strong>de</strong>te Berufung <strong>de</strong>s<br />
professionellen Tänzers ist oft kurz) Hilfe vom Amt erhalten und/o<strong>de</strong>r erhielten. Da erschien es<br />
logisch, Menschen, die sich mit <strong>de</strong>r untersuchten Sache hautnah auskennen, zu bitten, in ihrer<br />
Sprache etwas dazu zu sagen. I<strong>de</strong>e war es, eine Art Lesung durch thematische statt nur<br />
tänzerisch-ästhetische Tanzeinlagen zu unterbrechen; eine Textüberflutung mit eher sinnlichen<br />
Anregungen zu verbin<strong>de</strong>n und so Resonanzbö<strong>de</strong>n zu eröffnen. Das Projekt war geboren, und wir<br />
sprachen mit <strong>de</strong>n Verantwortlichen im Dock 11, einem Raum für zeitgenössischen Tanz in Berlin,