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Credit Suisse bulletin, 2002/02

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sich nicht mehr gegenseitig. Der wachsende<br />

Wunsch nach Individualität scheint die Solidarität<br />

schrumpfen zu lassen. Jeder schaut<br />

nur noch für sich, will sich selbst verwirklichen.<br />

Die Schweiz ist auch ein Land der Verbote. So<br />

ist in anderen Ländern das Rot der Fussgänger-<br />

Ampel eine reine Empfehlung. Dagegen ist es<br />

bei uns ein Verbot, dessen Überschreiten mit<br />

Busse bestraft wird. Sind wir nicht mündig<br />

genug? Ich habe lange in den USA gelebt,<br />

wo die Leute ständig bei Rot über die<br />

Strasse gehen. Trotzdem behaupte ich, dass<br />

die Amerikaner nicht mündiger als die<br />

Schweizer sind. Es ist eine kulturelle Frage,<br />

wo der Staat Regeln haben will und wo nicht.<br />

Unsere Kinder gehen mit fünf Jahren alleine<br />

in den Kindergarten. In den USA werden sie<br />

mit zwölf immer noch von den Eltern oder<br />

von Schulbussen hingebracht. Das hängt<br />

zwar auch mit den grossen Distanzen und<br />

den fehlenden öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

zusammen, aber auch sonst sind die Kinder<br />

in den USA viel stärker behütet. Wir sind<br />

nicht so unmündig, wie es auf den ersten<br />

Blick den Anschein haben mag.<br />

In Ihrem bisherigen Berufsleben hatten Sie<br />

eigentlich immer mit Randgruppen der Gesellschaft<br />

zu tun, seien dies Asylbewerber,<br />

Drogenabhängige, Häftlinge oder Kriminelle.<br />

Was reizt Sie an der Arbeit in diesem Grenzbereich?<br />

Mich fasziniert das Phänomen<br />

Mensch an sich. Und in diesem Randbereich<br />

ist der Kontakt zu den Menschen sehr unmittelbar.<br />

In Extremsituationen können sich die<br />

Menschen nicht mehr verstellen. Entsprechend<br />

kommt man sehr nah an sie heran.<br />

Das finde ich sehr spannend.<br />

Und wo holen Sie Ihre Erfolgsmomente? Als<br />

Leiterin des Rückführungszentrums oder<br />

Gefängnisdirektorin war es vor allem das<br />

Verhindern von Negativem.<br />

Ein anderes Klischee besagt, dass sich Polizisten<br />

und Kriminelle im Wesen sehr nahe<br />

stehen. Wie stellen Sie sich dazu? Der polnische<br />

Schriftsteller Stanislaw Lec sagt in<br />

seinen «unfrisierten Gedanken»: Die Feinde<br />

in der Frontlinie stehen sich am nächsten.<br />

Während meiner Zeit als Gefängnisdirektorin<br />

habe ich immer gesagt: Es ist häufig ein<br />

Zufall, warum die einen vor und die anderen<br />

hinter der Türe sind. Und diesen Zufall spielt<br />

das Leben. Es gibt nicht gute und schlechte<br />

Menschen. Es gibt nur gute und schlechte<br />

Umstände.<br />

Die guten Umstände haben Sie zur ersten<br />

Polizeikommandantin der Schweiz gemacht.<br />

Welches sind die Grundpfeiler Ihres Führungsstils?<br />

Ich baue auf eine offene und<br />

Äussere <strong>Ordnung</strong> ist oft nur<br />

der verzweifelte Versuch, mit einer grossen<br />

inneren Unordnung fertig zu werden.<br />

Albert Camus<br />

sehr klare Kommunikation. Das ist wichtig,<br />

um Vertrauen zu schaffen. Für mich ist<br />

das absolut erfolgsentscheidend in einer<br />

Führungsposition.<br />

Was bedeutet das konkret im Alltagsgeschäft?<br />

Ich versuche, gute wie schlechte<br />

Dinge immer sofort anzusprechen. Allerdings<br />

ist es etwas vom Schwierigsten, Leute<br />

auf Missstände oder Schwächen anzusprechen<br />

oder ihnen im Extremfall sogar einen<br />

Jobwechsel nahe zu legen. Doch genau<br />

dieses Thematisieren von Unzulänglichkeiten<br />

ist für mich der entscheidende Unterschied<br />

zwischen einer mittelmässigen<br />

Führungskraft und einer guten.<br />

Die Arbeit bei der Polizei ist sehr hierarchisch,<br />

fast militärisch aufgebaut. Entspricht das Ihrem<br />

Stil? Wir arbeiten viel mit Dienstbefehlen.<br />

Das ist neu für mich. Andererseits bin ich<br />

überzeugt, dass sich auch Befehle langfristig<br />

nur durchsetzen lassen, wenn die<br />

Leute sie nachvollziehen können und dahinter<br />

stehen. Auch hier ist das gegenseitige<br />

Vertrauen wichtig.<br />

Für eine gute Führung braucht es neben dem<br />

Vertrauen auch die Anerkennung der gegenseitigen<br />

Kompetenz. Womit wir wieder bei der<br />

Problematik von Quereinsteigern sind. Es ist<br />

für einen Chef am einfachsten, seine Kompetenz<br />

in schwierigen Situationen unter Beweis<br />

zu stellen. In meiner bisherigen Amts-<br />

zeit musste ich mich glücklicherweise noch<br />

in keiner schwierigen Situation behaupten.<br />

Aber über kurz oder lang wird das einmal der<br />

Fall sein.<br />

Eine extrem schwierige Situation war sicher<br />

der Amokläufer von Chur, den Ihr Amtskollege<br />

schliesslich mit einem finalen Rettungsschuss<br />

ausser Gefecht setzen liess. Kann<br />

man sich auf so eine schwierige Entscheidung<br />

vorbereiten? Ich kann mich nur insofern auf<br />

so etwas vorbereiten, als ich mir Klarheit<br />

über mein persönliches Wertegerüst verschaffe<br />

und genau weiss, wo ich stehe und<br />

das auch spüre. Gleichzeitig muss ich darauf<br />

vertrauen, dass ich in solchen Situationen<br />

objektiv bleibe. Ich wurde auch in meiner<br />

Zeit als Gefängnisdirektorin immer wieder mit<br />

extremen Situationen konfrontiert. Menschen<br />

haben sich selber verstümmelt oder wurden<br />

zwangsausgeschafft. In solchen Fällen stellt<br />

sich sehr schnell die Frage nach der Würde<br />

des Menschen. Das ist ein Thema, mit dem<br />

ich mich sehr intensiv beschäftige. So handelt<br />

auch meine Dissertation vom Verbot der<br />

erniedrigenden Behandlung. Ich betrachte<br />

darin philosophische wie rechtliche Aspekte<br />

der menschlichen Würde. Entsprechend<br />

fühle ich mich in diesem Thema sicher. Doch<br />

wie es im Ernstfall aussieht, lässt sich nicht<br />

voraussagen.<br />

Die 43-jährige Barbara Ludwig ist in<br />

St.Moritz im Hotel, in dem ihr Vater gearbeitet<br />

hat, aufgewachsen. Nach dem<br />

Jus-Studium arbeitete sie von 1989 bis<br />

1994 fürs Rote Kreuz in einem Durchgangsheim<br />

für Asylsuchende. Von 1994<br />

bis 1996 war sie im Rahmen der flankierenden<br />

Massnahmen der Letten-Räumung<br />

in Zürich für den Aufbau und die Leitung<br />

des Rückführungszentrums für Drogensüchtige<br />

verantwortlich. 1996 wurde sie<br />

zur Chefin des Zürcher Ausschaffungsgefängnisses<br />

in Kloten ernannt. Von 1999<br />

bis zur Ernennung zur Polizeikommandantin<br />

von Schwyz war sie zusätzlich<br />

Direktorin der acht Zürcher Bezirksgefängnisse.<br />

Barbara Ludwig ist verheiratet<br />

und wohnt mit ihrem Mann in Freienbach<br />

im Kanton Schwyz.<br />

28 Credit Suisse Bulletin 2-<strong>02</strong>

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