Hundert Dinge
Leseprobe aus Mirko Kussin / Tobias Wimbauer Hundert Dinge.
Leseprobe aus Mirko Kussin / Tobias Wimbauer Hundert Dinge.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
3
4
Mirko Kussin | Tobias Wimbauer<br />
HUNDERT DINGE<br />
Mit einem Gastbeitrag von<br />
Melanie Wyssen-Voß<br />
5
Mirko Kussin<br />
geboren 1974 in Recklinghausen, wohnte viele Jahre in Dortmund und<br />
lebt nun mit Ehefrau und Kater in einem 125 Jahre alten Haus am Rand<br />
des Muttentals in Witten-Bommern.<br />
Er ist freiberuflicher Redakteur und Autor. Zuvor viele Jahre in verschiedenen<br />
PR- und Kommunikationsagenturen schrieb er Texte über<br />
Melkroboter, orthodoxe jüdische Privatschulen und Mieterinitiativen.<br />
Mit seinen literarischen Texten gewann er zahlreiche anerkannte Förderpreise<br />
und Stipendien (u.a. Klagenfurter Literaturkurs, Förderpreis<br />
des Literaturpreis Ruhr, gwk-Förderpreis) und veröffentlichte in zahlreichen<br />
Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />
Tobias Wimbauer<br />
geboren 1976 in Überlingen am Bodensee, aufgewachsen in St. Ulrich<br />
im Schwarzwald, lebte bis zum ersten Studienabbruch in Freiburg und<br />
nach einem kurzen Intermezzo in Sachsen-Anhalt seit 2003 in Hagen.<br />
Lebt nun im ehemaligen „Naturfreundehaus Nimmertal“ im Nimmertal<br />
bei Hagen.<br />
Verheiratet, drei Katzen (nur noch). Inhaber eines Versandantiquariates,<br />
freier Schriftsteller und Publizist mit einigen Buch-, Zeitschriftenund<br />
Zeitungsveröffentlichungen (u.a. in der FAZ).<br />
Überarbeitete, ergänzte und nunmehr durchgängig farbig illustrierte<br />
Neuausgabe der 2012 im Eisenhut Verlag erschienenen ersten Ausgabe.<br />
Umschlaggestaltung, Illustration, Layout und Satz:<br />
Dirk Uhlenbrock, ersteliga.de<br />
Gesetzt aus der Glober<br />
Druck: Multiprint, Kostinbrod, BG<br />
Verlag adson fecit Dr. Gregor Meder, Essen<br />
www.adson-fecit.de<br />
© 2017 Alle Rechte vorbehalten<br />
ISBN 978-3-9816594-7-4<br />
6
»Alles, was du hast,<br />
hat irgendwann dich.«<br />
Tyler Durden<br />
7
8
Inhaltsübersicht<br />
Vorwort<br />
14<br />
Akkuschrauber<br />
Aquarium<br />
Armbanduhr<br />
Auto<br />
Autoradio<br />
Badische Zeitung<br />
Bandshirts<br />
Baumärkte<br />
Bierglas<br />
Bleilettern<br />
Buch<br />
Commodore 64<br />
Comics<br />
Compact Disc<br />
Corned Beef<br />
Decken<br />
Diese-Drombuschs-DVD-Box<br />
Ding<br />
Dosenravioli<br />
Dusche<br />
Ehering<br />
Einkaufswagenchips<br />
Einwegpfandflaschen<br />
Energy Drinks<br />
Fahrradhelme<br />
Fernbedienung<br />
Fight Club<br />
19<br />
20<br />
21<br />
23<br />
26<br />
28<br />
29<br />
31<br />
34<br />
34<br />
37<br />
38<br />
40<br />
42<br />
45<br />
47<br />
47<br />
49<br />
52<br />
54<br />
56<br />
60<br />
61<br />
63<br />
64<br />
68<br />
69<br />
9
Filofax<br />
Filzpantoffeln<br />
Fischertechnik, Lego und andere <strong>Dinge</strong>,<br />
die mich nie interessiert haben<br />
Flugsterne<br />
Frühstücksbrettchen<br />
Füller<br />
Gartenmauer<br />
Geschenkgutschein<br />
Geschirrspüler<br />
Hochzeitsschuhe<br />
IKEA-Tüte Frakta<br />
Kamera<br />
Kernseife<br />
Klebstift<br />
Küchenmesser<br />
Kühlschrank<br />
Kundenseparierer<br />
Labyrinth<br />
Lametta<br />
Leere<br />
Leonardo-Zeug<br />
Lesezeichen<br />
Listen<br />
Marlspieker/Eisenstift<br />
Mixtapes<br />
Moppe, oder: Das Stansyndrom der<br />
verschwindenden IKEA-<strong>Dinge</strong><br />
Nachthemd<br />
72<br />
73<br />
74<br />
76<br />
77<br />
79<br />
81<br />
81<br />
82<br />
83<br />
85<br />
88<br />
89<br />
91<br />
91<br />
94<br />
95<br />
96<br />
97<br />
97<br />
99<br />
101<br />
102<br />
103<br />
103<br />
106<br />
108<br />
10
Nasenhaarschneider<br />
Nasenspray, abschwellend, z.B.<br />
Xylometazolinhydrchlorid<br />
Natrium Chloratum & Aurum Metallicum<br />
Navi<br />
Netzteile<br />
Notizbuch<br />
Ohropax<br />
PCs<br />
Pikes<br />
Postkarten<br />
Rasierer/Schermaschine<br />
Reklame<br />
Salzteignamensschilder<br />
Sandwichtoaster<br />
Schallplatten<br />
Schmierpapier<br />
Schrebergarten<br />
Schreibtisch<br />
Schuhe<br />
Smartphone<br />
Sofa<br />
Sperrmüll<br />
Spielmäuse<br />
Sprudel<br />
Stabilo Point 88<br />
Stehpult<br />
Stempel<br />
Stoppschild<br />
110<br />
111<br />
112<br />
113<br />
115<br />
116<br />
119<br />
120<br />
122<br />
124<br />
125<br />
130<br />
131<br />
132<br />
133<br />
136<br />
137<br />
139<br />
141<br />
141<br />
144<br />
146<br />
148<br />
149<br />
151<br />
152<br />
153<br />
153<br />
11
Tacker<br />
Tagebücher I<br />
Tagebücher II<br />
Tamagotchi (Gastbeitrag)<br />
TAN-Generator<br />
Tanzschuhe sind die 14-Loch Doc Martens<br />
der Fönfrisur<br />
Tastatur<br />
Toaster<br />
To-Go-Becher<br />
T-Shirt Prada Meinhof<br />
TV-Gerät<br />
Umhängetaschen<br />
Vergaser<br />
Wasser<br />
Wunder-Bäume<br />
Zahnprothese<br />
Zeitschriften<br />
Zeitungsmagazine<br />
Zombies<br />
Zum Schluß: Letzte <strong>Dinge</strong><br />
154<br />
156<br />
157<br />
159<br />
162<br />
164<br />
166<br />
167<br />
170<br />
171<br />
173<br />
174<br />
176<br />
176<br />
178<br />
180<br />
183<br />
185<br />
187<br />
189<br />
12
13
Es gibt Bücher über Generationen. Die sind entweder Wiroder-Sie-Bücher.<br />
Nicht wiroderdie als Freund-Feind-Unterscheidung,<br />
sondern aus der Innenperspektive (»Wir«). Oder<br />
eben von aussen geschildert (»sie«). Sie verallgemeinern meist<br />
das Erleben des Autors oder sind ein Schnipselwerk. Wie sehr<br />
das zulässig ist, hängt von der Perspektive ab.<br />
Wir sind der Überzeugung, dass eine Biographie einer Persönlichkeit<br />
zu schreiben schlichtweg unmöglich ist, dass aber<br />
eine Annäherung an das Ganze über Detailausleuchtungen<br />
denkbar ist. Details, aus denen als Bausteine zu einer Biographie<br />
gewissermassen nach und nach sich ein gültiges Bild<br />
formt. In Folge dieser Überlegung kamen wir zu der Überzeugung,<br />
dass ein Portrait, wenn nicht gar eine Soziologie unserer<br />
Generation, der im 1970er-Jahrzehnt Geborenen und in den<br />
70ern und 80ern Sozialisierten, über ein Bündel von Bildern,<br />
von Details, von Umständen, von <strong>Dinge</strong>n möglich ist. Oder frecher<br />
formuliert: dass es anders gar nicht geht.<br />
»Über X könnte ich Dir hundert <strong>Dinge</strong> erzählen …«; »wir haben<br />
schon hundert <strong>Dinge</strong> versucht, um … was auch immer …«;<br />
»100 things to do before … I die … whatever«, hundert <strong>Dinge</strong><br />
sind sprichwörtlich, hundert <strong>Dinge</strong> sind virulent, hundert <strong>Dinge</strong><br />
stehen immer für sehr viel mehr. <strong>Hundert</strong> <strong>Dinge</strong> sind als solche<br />
immer mehr als sie selbst. Sie stehen in der saloppen Rede<br />
für ein Gesamtes, das jemanden oder etwas ausmacht. Das ist<br />
pars pro toto und totum pro parte gleichzeitig. So paradox das<br />
klingen mag: Es ist ein Einhundertpixelbild, das aus der Nähe<br />
einhundert Pixel hat und bei entschärfter Perspektive eben ein<br />
Bild ist.<br />
14
VORWORT<br />
Hier sind also einhundert Texte über einhundert <strong>Dinge</strong>. Und<br />
ein Gastbeitrag ausserhalb der Zählung. Einhundert Details<br />
und einhundert Gedanken. Einhundert Stimmungen. Sie sind<br />
Links, die auf etwas hinter den <strong>Dinge</strong>n verweisen. Wir beanspruchen<br />
nicht, repräsentativ zu sein, das sind wir nur für uns<br />
selbst. Dieses Buch entstand zwischen September 2011 und<br />
Januar 2012. Es ist eine Momentaufnahme. Hätten wir es im<br />
Sommer geschrieben, hätte es sicherlich anders ausgesehen,<br />
hätte anders geklungen. Hätten wir es ein Jahr eher geschrieben,<br />
wäre manches Ding nicht aufgetaucht. Die Haltung zu <strong>Dinge</strong>n<br />
ist von Veränderung bestimmt. Deswegen ist dieses Buch<br />
nur der Auftakt, der erste greifbare Schritt in einer Sammlung,<br />
die weitergeschrieben wird, weitergeschrieben werden muss,<br />
um Veränderung festzuhalten.<br />
B MK & TW<br />
15
16
17
18
HUNDERT DINGE<br />
_ AKKUSCHRAUBER<br />
Akkuschrauber? Brauch ich nicht. Sagte ich und schraubte bei<br />
jedem Umzug meine Regale von Hand mit dem Schraubendreher<br />
auseinander und hinterher wieder zusammen. Und auch<br />
wenn die Umzüge meist recht rasch hintereinander kamen,<br />
weil ich unstetes Wiesel erst in den Wäldern zwischen Hagen<br />
und Dortmund so richtig sesshaft geworden bin, so waren es<br />
doch jedesmal ein paar Regale mehr, die einige paar Bücher<br />
mehr beherbergten als beim letzten Umzug. Man kann übrigens<br />
vom Regalschrauben Blasen an den Fingern kriegen. Das<br />
ist nicht schön. Womit wir beim Akkuschrauber sind. Wir hatten<br />
zwei Akkuschrauber, deren Akkus irgendwann durch waren,<br />
und die irgendwie nicht mehr wollten, irgendwann. Mein<br />
erster Akkuschrauber der neuen Generation war der kleine<br />
handliche von Bosch. Der streikte bei der dritten Schraube,<br />
das eingetauschte Ersatzgerät hielt einen Monat länger. Damit<br />
war das Akkuexperiment erledigt und ich dachte mir auch,<br />
dass sehr viele Regale zu schrauben jeden Akku überlasten<br />
müsse, also ging die nächste Runde an einen Schrauber, der<br />
mit stromführendem Kabel versehen war. Geldhalber von der<br />
Baumarkthausmarke. Der schraubte gewaltig, um nicht zu sagen:<br />
aggressiv. Auch war er wohl etwas überspannt, jedenfalls<br />
roch es beim Schrauben immer merkwürdig und wenn man auf<br />
die Schrauberlüftungsschlitze schaute beim Schrauben, konnte<br />
man sehen, wie drinnen Funken stoben. Nicht unbedingt so<br />
das Vertrauensding. Als mir der Funkenflug zu gefährlich wurde,<br />
kam erstmals ein teureres Modell von Bosch ins Haus. Der<br />
bohrt und schraubt astrein. Zickt nicht, hat mir beim letzten<br />
Lagerumzug artig, hurtig und superb drei Dutzend Ikeagormse<br />
( l Moppe) zusammengeschraubt.<br />
B TW<br />
19
_ AQUARIUM<br />
Es gibt <strong>Dinge</strong>, die man schon sein halbes Leben lang interessant<br />
findet und trotzdem nicht besitzt. Manchmal mag das<br />
ganz banale Gründe haben: zu wenig Geld, zu wenig Platz, zu<br />
wenig Gelegenheit. Vielleicht spielt aber auch das Unterbewusstsein<br />
eine Rolle. Weil da, ganz tief im Innern, eine dumpfe,<br />
kaum spürbare, aber dennoch vorhandene Angst ist. Die Angst<br />
davor, dass der Besitz dieser Sache nur halb so schön sein<br />
könnte wie die Vorstellung davon.<br />
Mir geht es mit einem Aquarium so. Ich habe noch nie eines<br />
besessen, aber ich kann mich noch ganz dunkel daran erinnern,<br />
dass mein viel zu früh verstorbener Opa eines hatte.<br />
Das scheint mich geprägt zu haben. Ich mag die Ruhe, die ein<br />
Aquarium ausstrahlt. Ich könnte stundenlang davor sitzen, den<br />
Fischen zuschauen und in 80% der Fälle wäre das interessanter<br />
als das Fernsehprogramm aller Privatsender und Streamingdienste<br />
zusammen.<br />
Warum ich mir bis heute keines zugelegt habe, weiß ich nicht<br />
so richtig. Meist argumentiere ich, dass es einfach keinen geeigneten<br />
Platz in der Wohnung gibt. Manchmal schrecke ich<br />
vor der Arbeit zurück, die es machen würde, und dann ist da<br />
auch stets der Gedanke an den Kater des Hauses. Ein Aquarium<br />
wäre einfach zu gefährlich. Nicht für die Fische, sondern für<br />
ihn. Er ist komplett liebenswürdig, kann aber nur Quatsch machen.<br />
Nichts sonst. Er würde wahrscheinlich beim Versuch, die<br />
Fische zu beschmusen, ertrinken. Und das ist es mir dann doch<br />
nicht wert. Nicht zuletzt verbraucht ein Aquarium auch viel zu<br />
viel Strom und ich müsste wieder ein schlechtes Gewissen haben.<br />
Unsere Generation hat ja ständig ein schlechtes Gewissen.<br />
Wir verbrauchen zu viel Wasser, Strom, Gas und Öl, konsumieren<br />
zu viele Kohlenhydrate, Alkohol und Kippen. Produzieren<br />
zu viel CO2. Bei einem Aquarium, das relativ sinnfrei Strom verbraucht,<br />
wäre das schlechte Gewissen also vorprogrammiert.<br />
20
Manchmal versuche ich mich zu überlisten. Dann installiere<br />
ich einen Bildschirmschoner mit bunten Fischen auf meinem<br />
Rechner. Das funktioniert aber ebensowenig wie Kaminfeuer-DVDs.<br />
Es sind Simulationen. Es bleiben Simulationen. Und<br />
das Herz spürt sehr genau, ob man es hinters Licht führen will.<br />
Auf Simulationen lässt es sich nicht ein.<br />
Ich werde also auch in Zukunft vor Aquarien stehen und eine<br />
Sehnsucht spüren, wenn Guppys und Scheibenputzerfische<br />
durch ihren gläsernen Wasserkasten flitzen. Ich werde weiterhin<br />
sagen Irgendwann lege ich mir auch mal ein Aquarium zu.<br />
Und werde weiterhin keines kaufen.<br />
Vielleicht will ich auch gar kein Aquarium.<br />
Vielleicht will ich einfach ein wenig Sehnsucht.<br />
Manchmal.<br />
B MK<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
_ ARMBANDUHR<br />
Ich trage schon seit Jahren keine Uhr mehr. Als ich noch unterwegs<br />
war und nicht selbständig selbst und ständig daheim am<br />
Schreibtisch sass, guckte ich aufs Handy, wenn ich die Uhrzeit<br />
wissen wollte, oder auf eine der Uhren, die überall im öffentlichen<br />
Raum so rumuhren. Sitze ich am Schreibtisch, bekomme<br />
ich eine Uhr an einem meiner Monitore unten rechts angezeigt,<br />
und eigentlich bräuchte ich auch da keine Uhr, denn mein Tageslauf<br />
ist nicht von der Uhr abhängig, sondern von anderen<br />
<strong>Dinge</strong>n. Ich frühstücke zum Beispiel, wenn die Post da war. Das<br />
ist meist zwischen 12 und 13 Uhr der Fall. Ist ein Vertretungstag,<br />
der bei der Post »Rolltag« heisst, kann das aber auch schon um<br />
11 Uhr sein, oder manchmal sehr viel später. Dann frühstücke<br />
ich eben, wenn ich mit dem Verpacken der Ausgangspost fertig<br />
bin. Das Abendessen mache ich, wenn Silvia Feierabend hat und<br />
21
mir Rauchzeichen gibt, dass sie losfährt. Das ist mal früher, mal<br />
später.<br />
Präzise Zeitmessung brauche ich nur für’s Laufen. Da habe<br />
ich eine Sportuhr mit GPS, damit ich meine Strecke hinterher<br />
auf Google Earth anschauen kann, und Pulsmesser und überhaupt.<br />
Das Ding erstellt mir die tollsten Statistiken. Aber die<br />
Uhrzeit ist dabei von keiner Relevanz. Wobei »brauchen« auch<br />
da nicht stimmt, da nur die Relation interessiert.<br />
Uhrzeiten spielen meist auch nur ungefähr für mich eine Rolle.<br />
Wenn wir zu einem Konzert fahren, das um 21 Uhr beginnen<br />
soll, so geht es meist sowieso erst um 21:30 Uhr oder später los,<br />
und ob man nun vorher eine Stunde oder anderthalb am Tresen<br />
steht und Bierchen trinkt, ist hinsichtlich der Zeitmessung<br />
ohne Belang. Sonntags 20:15 Uhr der Tatort, aber so genau ist<br />
der auch nicht von der Uhrzeit für mich abhängig, weil ich nach<br />
dem Abendessen am Sonntag sowieso mit Bücherverpacken<br />
zugange bin und den TV dann einfach irgendwann anschalte.<br />
Da kommt dann irgendwann die Tagesschau und dann der Tatort.<br />
Ob nach einer halben Stunde Bücherverpacken oder nach<br />
einer Stunde, ist nicht so wichtig.<br />
Die erste Armbanduhr bekam ich von Opa Ristau. Opa Ristau<br />
war nicht mein richtiger Opa, aber er war halt der einzige »alte<br />
Mann«, der uns regelmässig besuchen kam, als ich klein war.<br />
Opa Ristau war ein Förderer und Freund meines Vaters. Und er<br />
schenkte mir die erste Armbanduhr. Die kam aus der Schweiz<br />
und war schwarz mit grünen Reflexen und in der Nacht leuchteten<br />
vier der Ziffern. Später hatte ich eine Solaruhr von Junghans<br />
mit dem Logo vom SC Freiburg drauf. Und dann eine andere.<br />
Und dann keine mehr. Bis heute.<br />
B TW<br />
22
_ AUTO<br />
Fahren muss es, Platz muss drin sein für reichlich Bücherkisten.<br />
Mein erstes Auto war ein Mitsubishi Colt. Uralt und in Orange.<br />
Dem Nachbarn für 200 Mark abgekauft. Auf der ersten Fahrt<br />
hatte ich einen Radfahrer auf der Motorhaube. War aber nicht<br />
meine Schuld. Ich fuhr aus der Tankstelle raus, er fuhr ohne<br />
Licht nachts um 10 bei Regen auf der falschen Fahrbahn, ihn zu<br />
sehen hatte ich keine Chance. Doof nur für ihn, dass er gerade<br />
einen sechzehnfachen Knöchelbruch vom letzten Snowboardurlaub<br />
auskuriert hatte, denn auf eben diesem Knochen landete<br />
er. Er rief nach Polizei, aber nüchtern erläuterte ich ihm die<br />
Lage und wir schieden im Einvernehmen. Er war Tresenmann<br />
in einer Innenstadtkneipe. Da hatte ich fürderhin Freibier bei<br />
ihm, wenn ich vorbeikam.<br />
Dann hatte ich einen volljährigen Audi 80, von einem anderen<br />
Nachbarn. Den bekam ich geschenkt. Der funktionierte irgendwann<br />
nur noch mit Gewalt. Gut, dass die Strasse abschüssig<br />
war, in der ich wohnte, so konnte ich immer schön anrollen<br />
und den zweiten Gang kommen lassend, den Motor starten.<br />
Ich hatte mir mal den Fuss angebrochen in der Schule, weil<br />
ich schneller nach draussen wollte zur Fünfminutenpause um<br />
eine zu rauchen, und war rennend an die Flügeltüre gesprungen,<br />
die an diesem Tag aber einseitig verschlossen war …, und<br />
fuhr noch selbst zum Krankenhaus. Das war nicht so leicht, das<br />
Auto anschieben auf flacher Strasse und dann reinspringen<br />
zum Anlassen, und das mit dem doppelt so dicken pochenden<br />
rechten Fuss. Klappte aber irgendwie. Das Auto starb irgendwann<br />
den Heldentod. Ich nutzte es in seinen letzten Tagen<br />
noch für Fahrtrainings auf abgelegenen Sportplätzen, wo ich<br />
Handbremsenlenkung in Kurven übte und solche Spässe. Dann<br />
war das Auto aber endgültig hinüber.<br />
Von Onkel J. bekam ich einen Golf. Aus steuerlichen Gründen<br />
lief der auf seine Zweitfrau. Einmal, als ich zu schnell fuhr, weil<br />
23
ich zu Silvia wollte, da wir noch nicht zusammenwohnten, wurde<br />
ich geblitzt. Eine Bagatelle von vielleicht zwanzig Euro. Aber<br />
die telephonischen Vorwürfe waren enorm. Als hätte ich was<br />
verbrochen. War ich froh, als das rum war. Heute haben wir<br />
einen Caddy. Da passt ganz viel rein. 35 Mineralwasserkästen.<br />
Oder 30 Bücherkisten. Braves Hotto.<br />
B TW<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
24
25
_ AUTORADIO<br />
Die Änderung meiner Hörgewohnheiten führt mir am deutlichsten<br />
vor Augen, dass ich älter werde. Alt.<br />
Früher wäre ich niemals auf die Idee gekommen, im Auto<br />
Radio zu hören. Damals mussten es eigens für diesen Zweck<br />
zusammengestellte l Mixtapes sein: mal rockig, mal traurig,<br />
meist traurig und manchmal rockigtraurig. Irgendwann hatte<br />
ich es jedoch satt, immer die gleichen Stücke in der gleichen<br />
Reihenfolge von den gleichen Bands zu hören. Das war so wenig<br />
überraschend. Traurig.<br />
Also hörte ich Radio, wobei 1Live einige Jahre lang mein bevorzugter<br />
Sender war.<br />
Irgendwann entwuchs ich der werberelevanten 1Live-Zielgruppe.<br />
Ich begann immer häufiger den Dortmunder Lokalsender<br />
Radio 91.2 zu hören. Nachrichten aus der Stadt, Warnungen<br />
über Radarkontrollen sowie die größten Hits der 80er,<br />
90er und das Beste von heute. Sagt zumindest der Jingle. Natürlich<br />
laufen dort weder die größten Hits noch das Beste von<br />
heute, sondern der belangloseste Mainstreamscheiß, den man<br />
sich vorstellen kann. Aber immerhin ist er so belanglos, dass es<br />
nicht weh tut. Vielleicht wechsle ich den Sender deshalb nur<br />
noch selten.<br />
Autoradio hören ist für mich auch: Zeitreise.<br />
In meiner Kindheit fuhren meine Eltern mit meiner Schwester<br />
und mir jedes Jahr in den Winterurlaub. Aus dem Ruhrgebiet<br />
nach Tirol, knappe 900 Kilometer. Wir fuhren abends los<br />
und kamen am nächsten Morgen an. Die Stimmung, die ich fühle,<br />
wenn ich an diese Reisen denke, ist verschlafen. Wie in einem<br />
Traum fährt mein Vater den bronzefarbenen Audi 80 über<br />
Autobahnen. Wenn ich wach werde und aufschaue, sehe ich im<br />
Scheinwerferlicht Tausende von Schneeflocken, die unentwegt<br />
auf den Wagen zugeschossen kommen. Aus dem Autoradio<br />
plätschert das Nachtprogramm: langsame, alte Swingstücke<br />
26
aus den 1940ern. Noch heute fühle ich diese Stimmung manchmal,<br />
wenn ich Songs von Dean Martin oder Frank Sinatra höre.<br />
Irgendwann dämmert es, ich kann durch die Seitenfenster des<br />
Audi auf die Berge schauen. Wenn es richtig hell ist, legt Mutter<br />
eine Kassette mit dem Kufsteinlied ein. Dann sind wir bald da.<br />
In der Gegenwart gibt es trotz der musikalischen Belanglosigkeit<br />
der meisten Programme immer wieder Gründe, aus<br />
denen das Autoradio wichtig ist. Die Konferenzschaltung auf<br />
WDR 2 ist solch ein Grund. Samstags, wenn Spieltag ist und ich<br />
im Auto sitze, höre ich Sabine Töpperwien und ihre männlichen<br />
Kollegen aus den Stadien der Republik.<br />
Ein anderer wichtiger Grund ist Heiligabend. An diesem Tag<br />
fahre ich zu meinen Eltern. Die Autobahn ist leer, manchmal<br />
schneit es und es herrscht eine unwirkliche Stimmung. Das Autoradio<br />
ist an diesem speziellen Tag wichtig, denn aus ihm heraus<br />
moderiert Mike Litt als einsamster DJ der Welt. Seit Mitte<br />
der 1990er Jahre führt er am Heiligabend zwischen 18.00 und<br />
1.00 Uhr durch das Programm von 1Live. Er redet angenehm<br />
viel, liest E-Mails und Briefe seiner Hörer vor und es läuft entspannt<br />
gute Musik. Pünktlich um 0.00 Uhr spielt er jedes Jahr<br />
Silent Night, gesungen von Sinead O’Connor. Das ist für mich<br />
der magischste Moment an Weihnachten. So viel Pathos, so<br />
viel Liebe, so viel Hoffnung in Sineads Stimme. Das berührt<br />
mich in jedem Jahr aufs Neue ganz tief im Herzen. Und erst<br />
dann, wenn die Bescherung gelaufen ist, wenn der Rotwein<br />
die angespannten Nerven beruhigt, wenn das Familienevent<br />
Weihnachten abgehalten ist, erst dann kehrt bei mir der Geist<br />
der Weihnacht ein. Dann ist Ruhe.<br />
B MK<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
27
_ BADISCHE ZEITUNG<br />
Es gibt eine Art unnützer Nostalgie, die eine Art Leben in der<br />
Vergangenheit ist, und die dabei ein Fortleben eines vergangenen<br />
Zustands suggeriert oder autosuggestiv evoziert.<br />
Eine solche unnütze Nostalgie habe ich heute ausgemacht<br />
und abgeschaltet, indem ich mein Abonnement der Badischen<br />
Zeitung kündigte. Ich bin mit dem Freiburger Monopol-Lokalblatt<br />
gross geworden. Meine Mutter hatte die BZ abonniert<br />
und als ich daheim auszog, zeichnete ich mein eigenes Abo.<br />
Und als ich 2002 Freiburg verliess, nahm ich das BZ-Abo mit<br />
und bekomme sie bis heute, jeweils mit einem Tag Verspätung<br />
zugestellt.<br />
Gewiss, ich kenne in jeder Ausgabe jemanden, der erwähnt<br />
wird, ehemalige Arbeitsstellen (ich habe in einem Café in der<br />
Wiehre, einem Antiquariat in der Innenstadt, dann bei Musikhaus<br />
Ruckmich/Musiksortiment Schröder und schliesslich in<br />
der Freiburger Turnerschaft von 1844 e.V. [Sportverein] gearbeitet),<br />
Schule, Uni, Kneipen in denen ich versumpfte, Restaurants,<br />
in denen ich ass. Leute sterben, die ich flüchtig kannte,<br />
Bekannte auch. Firmen machen dicht, mit denen ich zu tun<br />
hatte, Bekannte aus Schulzeiten heiraten, bekommen Kinder.<br />
– Und all das verfolge ich irgendwie aus der Ferne und weiss<br />
daher, welche Probleme es mit einer Deponie bei Kappel gibt,<br />
wie der SC aufgestellt ist für die neue Saison, welcher Gemeinderat<br />
80 Jahre alt geworden ist und ob mein Schulkollege Florian<br />
Braune nun von Junges Freiburg zu den Grünen wechselt<br />
oder nicht usw. usw.<br />
Doch wofür? Ich war so froh, als ich vor sieben Jahren Freiburg<br />
verliess. Und diese Erleichterung darüber ging in eine Verklärung<br />
über. Ja, gewiss ist Freiburg wunderschön und wert<br />
darin zu leben. Doch das eine hat mit dem andern nichts zu tun.<br />
Ich werde in den nächsten Jahren nicht nach Freiburg kommen.<br />
Ich werde nie wieder nach Freiburg ziehen. Wozu also das<br />
28
Fern-Abonnement der Lokalzeitung? Es ist unnützes Wissen.<br />
Futter für ein unfruchtbares Imaginärleben in einer ungelebten<br />
und unbelebten Welt (die Autosuggestion der fortgesetzten<br />
Teilhabe am freiburger Alltag) und ist somit: unnütze Nostalgie.<br />
Auf unnützer Nostalgie bauen ganze Industrien und Politikerkarrieren<br />
auf, ich selbst lebe davon mit meinem Antiquariat<br />
und bin Teil davon. Mich von einer mich selbst betreffenden,<br />
gleichwohl kleinen Spielform der unnützen Nostalgie zu befreien,<br />
ist vielleicht ganz heilsam. Bald werd ich’s wissen.<br />
PS: Auf der Suche nach ein/zwei Daten in alten Tagebüchern<br />
festgelesen, die Bände 1998 bis 2001 quergeblättert. Das Gesuchte<br />
nicht gefunden, viel aber wiedererkannt und mit einem<br />
Frösteln fremd gefunden. Diese merkwürdigen freiburger Zustände,<br />
die vielen Fragezeichen, das Blindtasten, die Unruhe.<br />
So sehr mein Herz an Freiburg hing, so froh war ich, als ich die<br />
Kisten packte und mit einem gemieteten klapperigen LKW mit<br />
all den Büchern und Habseln aufbrach.<br />
B TW<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
_ BANDSHIRTS<br />
Mein erstes »Band«-Shirt war, es ist peinlich, ich weiss, aber<br />
es zu verschweigen wäre Lüge: Mein erstes Bandshirt war ein<br />
übergrosses Elton John-T-Shirt von Gaultier. Das bekam ich<br />
von meiner Mutter nach einem Elton John-Konzert geschenkt.<br />
Wahrscheinlich nicht das Original, sondern eines von einem<br />
fliegenden Händler vor der Konzerthalle. Ich muss dazu sagen,<br />
dass ich Elton John damals gut fand. Damals heisst: als ich so<br />
12 oder 13 war. Das war so eine temporäre Seitenphase meiner<br />
Elvisperiode.<br />
Dann kamen einige Bandshirts, die im Rückblick nicht minder<br />
peinlich sind, Rammstein, Cradle of Filth und so. Die trug ich<br />
gern zur Arbeit, ich hielt das für maximum shocking.<br />
29
Und dann lange nichts. Dann trug ich Hemd und Krawatte<br />
und Janker. Weil ich T-Shirt-Statements doof fand und der<br />
Nachweis, dass man der Ultratrue-Fanboy ist, indem man das<br />
rarste Hemd der auftretenden Band trägt, ebenso albern ist.<br />
Und dann, vergangenes Jahr, bekam ich plötzlich wieder Lust<br />
auf Bandshirts. Welche mit guter Optik, also keine mit Plattencovern<br />
drauf, sondern Logo oder artwork. Nicht zu nah dran,<br />
aber doch passend sollte es jeweils sein. Das erste Bandshirt,<br />
das ich mit »Ü30« trug, war ein Blood Axis-Shirt (»The Tears<br />
of Strangers are only water«) zum Plattenreleasekonzert von<br />
Primordial im Turock in Essen. Dass das so gut passt, wusste<br />
ich gar nicht. Ich erfuhr erst später, dass Michael Moynihan und<br />
Allan Averill sich nach einem Konzert in Wien backstage getroffen<br />
hatten und Averill offenbar ein grosser Blood Axis-Fan<br />
ist. Das wurde mir dann so richtig klar, als ich Primordial als<br />
Support von Immortal sah und sie ihr Konzert mit dem kompletten<br />
Reign I Forever von Blood Axis einleiteten. Da glühten<br />
Silvia und mir die Bäckchen und wir freuten uns und wir waren<br />
wieder versöhnt mit dem Zeugs, das wir von den anderen Vorbands<br />
ertragen mussten bis dahin.<br />
Zu unserem dritten Wolves in the Throne Room-Konzert trug<br />
ich ein Waldteufel-Shirt, der Gitarrist sprach uns deswegen an,<br />
und wir hatten ein gutes Gespräch über Katzen, gemeinsame<br />
Freunde, organic food, geilen und beschissenen Sound und wie<br />
schön Portland ist (und Westfalen).<br />
Sonst trage ich meist Neurosis- oder Saint Vitus-Shirts. Je<br />
nachdem, was gerade passt. Am Blackmetal-Tag beim Rockhard-Festival<br />
war ich der Einzige mit einem Vitus-Shirt, aber<br />
ich war nicht der einzige Doomfan. Ich wurde fünfmal darauf<br />
angesprochen von Menschen, die mir ihre Vitus-Tattoos zeigten<br />
und die sich freuten über den Schriftzug auf meinem Hemd.<br />
30
Ich stiess meist mit meinem Bier an, ich grinste, schob meinen<br />
rechten Ärmel hoch und zeigte auf das geflügelte V mit<br />
dem Kreuz darin.<br />
B TW<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
_ BAUMÄRKTE<br />
Männer lieben Baumärkte, heißt es. Zumindest, wenn man<br />
sich das Stimmungsbild in Mario-Barth-affinen Milieus anschaut.<br />
Wahrscheinlich ist an diesem Klischee auch ein Fünkchen<br />
Wahrheit. Runtergebrochen auf meine eigene Lebenswahrnehmung<br />
heißt das: Ja, ich bin ein Mann und was soll ich<br />
sagen … es gibt Orte, an denen ich mich weniger wohl fühle.<br />
Eine Landzahnarztpraxis in Brandenburg etwa. Die Hochzeitsgesellschaft<br />
eines IS-Kämpfers bei seiner Vermählung mit einer<br />
13-jährigen Kriegsbeute etwa. Oder einfach: ein freier Stuhl<br />
neben Ursula von der Leyen.<br />
Also da bin ich dann schon lieber in einem Baumarkt.<br />
In einem Baumarkt habe ich eine Ahnung davon, wie sich<br />
Frauen in einem Schuhgeschäft fühlen müssen. Es geht ja nie<br />
wirklich darum, ob man etwas braucht – seien es ein Paar<br />
hinreißende schwarze Pumps aus Nubukleder oder ein neuer<br />
funkelnder Stechbeitel. Beide Gegenstände lassen schlicht die<br />
Fantasie des Käufers Achterbahn fahren. Vor unseren geistigen<br />
Augen sehen wir unser Alltagsleben. Fraun sehen dreckige<br />
Schuhe, angemackte Schuhe, Schuhe, die uns nicht gefallen.<br />
Und Männer sehen ebenso die alte Werkzeugkiste im Keller<br />
mit den verrosteten Stechbeiteln. Gebraucht, benutzt. Nicht so<br />
schön eben. Nicht so modern eben. Nicht so gut eben.<br />
Und dann sind wir im Laden, die Mädels im Schuhgeschäft,<br />
wir Kerle bei Hellweg, Hornbach, Bauhaus. Und schlagartig<br />
wird uns die Möglichkeit eines Lebens bewusst, das wir eigentlich<br />
schon immer leben wollten. Egal ob neue Louboutins oder<br />
31
Hilti. Nur mit ihnen können wir so sein, wie wir wirklich sind.<br />
Besser. Glänzender. Strahlender.<br />
Denken wir.<br />
Natürlich ist da ganz tief hinten im Kopf die Ahnung, dass<br />
das alles Quatsch ist. So, wie wir auch irgendwo ganz tief hinten<br />
im Kopf wissen, dass Angela Merkel vielleicht nicht die<br />
bestmögliche Kanzlerin dieses Landes ist. Oder dass Worte<br />
und Taten der IS-Leute vielleicht doch etwas mit der Religion<br />
zu tun haben. Aber das schieben wir beiseite. Und selbst das<br />
Engelchen auf unseren Schultern ignorieren wir. Es erklärt uns,<br />
warum die alten Stechbeitel in der Werkzeugkiste verrostet<br />
sind: Nämlich einfach, weil wir sie in den vergangenen zehn<br />
Jahren nicht einmal genutzt haben.<br />
Egal, in Baumärkten schaltet unser Gehirn ab.<br />
Und ich möchte mich selbst da auch gar nicht ausschließen.<br />
Auch, wenn es sicherlich kaufsüchtigere Kerle als mich in den<br />
Heimwerkerabteilungen dieses Landes zu finden gibt, denn ich<br />
schaffe es durchaus durch die heiligen Hallen zu gehen ohne<br />
bei jedem Besuch einen neuen Akkuschrauber zu kaufen.<br />
Aber spannend ist es schon.<br />
Vor allen <strong>Dinge</strong>n ist es unglaublich spannend das Verhalten<br />
der zwei Spezies zu beobachten, die sich dort, in den Hellwegs<br />
und Hornbachs dieser Welt, aufhalten. Auf der einen Seite: die<br />
Einkäufer. Sucher, Nurmalschauer, Nichtfinder. Auf der anderen<br />
Seite: die Angestellten. Verkäufer, Infostandbewacher,<br />
Kassierer. Begegnungen zwischen diesen beiden Arten sind<br />
äußerst selten, denn Angestellte von Baumärkten haben magische<br />
Kräfte und können von einer Sekunde auf die andere im<br />
Nichts verschwinden. Wem diese Erklärung zu metaphysisch<br />
erscheint, dem biete ich eine zweite Variante an: Die Baumarktverkäufer<br />
dieses Landes haben im Laufe der vergangenen<br />
Jahrzehnte ein weit verzweigtes unterirdisches Tunnelsystem<br />
gegraben, an das alle Baumärkte angeschlossen sind. Kurz<br />
32
nach Schichtbeginn treffen sie sich in einer riesigen unterirdischen<br />
Kathedrale und feiern in mächtig exzessiven Partys sich<br />
selbst, ihre Unverschämtheiten und ihren Da-kann-ich-ihnenjetzt-auch-nicht-weiterhelfen-Blick.<br />
Ich halte diese Erklärung<br />
für sehr wahrscheinlich. Die Eingänge zu diesem Tunnelsystem<br />
sind stets unter irgendwelchen Regalen verborgen. Wie<br />
oft sind Sie bereits in einem Baumarkt hinter einem Verkäufer<br />
hergelaufen, er bog in einen Gang – Sie vielleicht zwei, drei<br />
Meter dahinter – biegen ebenfalls ein und zack … weg war der<br />
Verkäufer.<br />
Ich sage nur Tunnelsystem.<br />
Die seltenen Fälle, in denen die zwei Arten dann doch einmal<br />
aufeinandertreffen, sind im Allgemeinen geprägt von einem<br />
Unverständnis, das sehr schnell in Aggression umschlagen<br />
kann.<br />
Man spricht unterschiedliche Sprachen. Man missversteht<br />
sich. Man mag sich nicht.<br />
Berichte von zuvorkommenden, hilfsbereiten Baumarktverkäufern<br />
können getrost als Urban Legends bezeichnet werden.<br />
Falls Sie also wirklich einmal auf einen Baumarktverkäufer<br />
treffen sollten: Fragen Sie nicht nach den 3,5 x 35 Spax-Schrauben,<br />
fragen Sie nicht nach dem Weg zum Maleracryl. Fragen<br />
Sie auch nicht nach dem Quadratmeterpreis einer bestimmten<br />
Fliesensorte. Wenn Sie einen sehen, fragen Sie ihn nach dem<br />
Tunneleingang.<br />
Die Chance, auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, ist<br />
immer noch am größten.<br />
B MK<br />
· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />
33