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Hundert Dinge

Leseprobe aus Mirko Kussin / Tobias Wimbauer Hundert Dinge.

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Mirko Kussin | Tobias Wimbauer<br />

HUNDERT DINGE<br />

Mit einem Gastbeitrag von<br />

Melanie Wyssen-Voß<br />

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Mirko Kussin<br />

geboren 1974 in Recklinghausen, wohnte viele Jahre in Dortmund und<br />

lebt nun mit Ehefrau und Kater in einem 125 Jahre alten Haus am Rand<br />

des Muttentals in Witten-Bommern.<br />

Er ist freiberuflicher Redakteur und Autor. Zuvor viele Jahre in verschiedenen<br />

PR- und Kommunikationsagenturen schrieb er Texte über<br />

Melkroboter, orthodoxe jüdische Privatschulen und Mieterinitiativen.<br />

Mit seinen literarischen Texten gewann er zahlreiche anerkannte Förderpreise<br />

und Stipendien (u.a. Klagenfurter Literaturkurs, Förderpreis<br />

des Literaturpreis Ruhr, gwk-Förderpreis) und veröffentlichte in zahlreichen<br />

Anthologien und Literaturzeitschriften.<br />

Tobias Wimbauer<br />

geboren 1976 in Überlingen am Bodensee, aufgewachsen in St. Ulrich<br />

im Schwarzwald, lebte bis zum ersten Studienabbruch in Freiburg und<br />

nach einem kurzen Intermezzo in Sachsen-Anhalt seit 2003 in Hagen.<br />

Lebt nun im ehemaligen „Naturfreundehaus Nimmertal“ im Nimmertal<br />

bei Hagen.<br />

Verheiratet, drei Katzen (nur noch). Inhaber eines Versandantiquariates,<br />

freier Schriftsteller und Publizist mit einigen Buch-, Zeitschriftenund<br />

Zeitungsveröffentlichungen (u.a. in der FAZ).<br />

Überarbeitete, ergänzte und nunmehr durchgängig farbig illustrierte<br />

Neuausgabe der 2012 im Eisenhut Verlag erschienenen ersten Ausgabe.<br />

Umschlaggestaltung, Illustration, Layout und Satz:<br />

Dirk Uhlenbrock, ersteliga.de<br />

Gesetzt aus der Glober<br />

Druck: Multiprint, Kostinbrod, BG<br />

Verlag adson fecit Dr. Gregor Meder, Essen<br />

www.adson-fecit.de<br />

© 2017 Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3-9816594-7-4<br />

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»Alles, was du hast,<br />

hat irgendwann dich.«<br />

Tyler Durden<br />

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Inhaltsübersicht<br />

Vorwort<br />

14<br />

Akkuschrauber<br />

Aquarium<br />

Armbanduhr<br />

Auto<br />

Autoradio<br />

Badische Zeitung<br />

Bandshirts<br />

Baumärkte<br />

Bierglas<br />

Bleilettern<br />

Buch<br />

Commodore 64<br />

Comics<br />

Compact Disc<br />

Corned Beef<br />

Decken<br />

Diese-Drombuschs-DVD-Box<br />

Ding<br />

Dosenravioli<br />

Dusche<br />

Ehering<br />

Einkaufswagenchips<br />

Einwegpfandflaschen<br />

Energy Drinks<br />

Fahrradhelme<br />

Fernbedienung<br />

Fight Club<br />

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Filofax<br />

Filzpantoffeln<br />

Fischertechnik, Lego und andere <strong>Dinge</strong>,<br />

die mich nie interessiert haben<br />

Flugsterne<br />

Frühstücksbrettchen<br />

Füller<br />

Gartenmauer<br />

Geschenkgutschein<br />

Geschirrspüler<br />

Hochzeitsschuhe<br />

IKEA-Tüte Frakta<br />

Kamera<br />

Kernseife<br />

Klebstift<br />

Küchenmesser<br />

Kühlschrank<br />

Kundenseparierer<br />

Labyrinth<br />

Lametta<br />

Leere<br />

Leonardo-Zeug<br />

Lesezeichen<br />

Listen<br />

Marlspieker/Eisenstift<br />

Mixtapes<br />

Moppe, oder: Das Stansyndrom der<br />

verschwindenden IKEA-<strong>Dinge</strong><br />

Nachthemd<br />

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Nasenhaarschneider<br />

Nasenspray, abschwellend, z.B.<br />

Xylometazolinhydrchlorid<br />

Natrium Chloratum & Aurum Metallicum<br />

Navi<br />

Netzteile<br />

Notizbuch<br />

Ohropax<br />

PCs<br />

Pikes<br />

Postkarten<br />

Rasierer/Schermaschine<br />

Reklame<br />

Salzteignamensschilder<br />

Sandwichtoaster<br />

Schallplatten<br />

Schmierpapier<br />

Schrebergarten<br />

Schreibtisch<br />

Schuhe<br />

Smartphone<br />

Sofa<br />

Sperrmüll<br />

Spielmäuse<br />

Sprudel<br />

Stabilo Point 88<br />

Stehpult<br />

Stempel<br />

Stoppschild<br />

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Tacker<br />

Tagebücher I<br />

Tagebücher II<br />

Tamagotchi (Gastbeitrag)<br />

TAN-Generator<br />

Tanzschuhe sind die 14-Loch Doc Martens<br />

der Fönfrisur<br />

Tastatur<br />

Toaster<br />

To-Go-Becher<br />

T-Shirt Prada Meinhof<br />

TV-Gerät<br />

Umhängetaschen<br />

Vergaser<br />

Wasser<br />

Wunder-Bäume<br />

Zahnprothese<br />

Zeitschriften<br />

Zeitungsmagazine<br />

Zombies<br />

Zum Schluß: Letzte <strong>Dinge</strong><br />

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Es gibt Bücher über Generationen. Die sind entweder Wiroder-Sie-Bücher.<br />

Nicht wiroderdie als Freund-Feind-Unterscheidung,<br />

sondern aus der Innenperspektive (»Wir«). Oder<br />

eben von aussen geschildert (»sie«). Sie verallgemeinern meist<br />

das Erleben des Autors oder sind ein Schnipselwerk. Wie sehr<br />

das zulässig ist, hängt von der Perspektive ab.<br />

Wir sind der Überzeugung, dass eine Biographie einer Persönlichkeit<br />

zu schreiben schlichtweg unmöglich ist, dass aber<br />

eine Annäherung an das Ganze über Detailausleuchtungen<br />

denkbar ist. Details, aus denen als Bausteine zu einer Biographie<br />

gewissermassen nach und nach sich ein gültiges Bild<br />

formt. In Folge dieser Überlegung kamen wir zu der Überzeugung,<br />

dass ein Portrait, wenn nicht gar eine Soziologie unserer<br />

Generation, der im 1970er-Jahrzehnt Geborenen und in den<br />

70ern und 80ern Sozialisierten, über ein Bündel von Bildern,<br />

von Details, von Umständen, von <strong>Dinge</strong>n möglich ist. Oder frecher<br />

formuliert: dass es anders gar nicht geht.<br />

»Über X könnte ich Dir hundert <strong>Dinge</strong> erzählen …«; »wir haben<br />

schon hundert <strong>Dinge</strong> versucht, um … was auch immer …«;<br />

»100 things to do before … I die … whatever«, hundert <strong>Dinge</strong><br />

sind sprichwörtlich, hundert <strong>Dinge</strong> sind virulent, hundert <strong>Dinge</strong><br />

stehen immer für sehr viel mehr. <strong>Hundert</strong> <strong>Dinge</strong> sind als solche<br />

immer mehr als sie selbst. Sie stehen in der saloppen Rede<br />

für ein Gesamtes, das jemanden oder etwas ausmacht. Das ist<br />

pars pro toto und totum pro parte gleichzeitig. So paradox das<br />

klingen mag: Es ist ein Einhundertpixelbild, das aus der Nähe<br />

einhundert Pixel hat und bei entschärfter Perspektive eben ein<br />

Bild ist.<br />

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VORWORT<br />

Hier sind also einhundert Texte über einhundert <strong>Dinge</strong>. Und<br />

ein Gastbeitrag ausserhalb der Zählung. Einhundert Details<br />

und einhundert Gedanken. Einhundert Stimmungen. Sie sind<br />

Links, die auf etwas hinter den <strong>Dinge</strong>n verweisen. Wir beanspruchen<br />

nicht, repräsentativ zu sein, das sind wir nur für uns<br />

selbst. Dieses Buch entstand zwischen September 2011 und<br />

Januar 2012. Es ist eine Momentaufnahme. Hätten wir es im<br />

Sommer geschrieben, hätte es sicherlich anders ausgesehen,<br />

hätte anders geklungen. Hätten wir es ein Jahr eher geschrieben,<br />

wäre manches Ding nicht aufgetaucht. Die Haltung zu <strong>Dinge</strong>n<br />

ist von Veränderung bestimmt. Deswegen ist dieses Buch<br />

nur der Auftakt, der erste greifbare Schritt in einer Sammlung,<br />

die weitergeschrieben wird, weitergeschrieben werden muss,<br />

um Veränderung festzuhalten.<br />

B MK & TW<br />

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HUNDERT DINGE<br />

_ AKKUSCHRAUBER<br />

Akkuschrauber? Brauch ich nicht. Sagte ich und schraubte bei<br />

jedem Umzug meine Regale von Hand mit dem Schraubendreher<br />

auseinander und hinterher wieder zusammen. Und auch<br />

wenn die Umzüge meist recht rasch hintereinander kamen,<br />

weil ich unstetes Wiesel erst in den Wäldern zwischen Hagen<br />

und Dortmund so richtig sesshaft geworden bin, so waren es<br />

doch jedesmal ein paar Regale mehr, die einige paar Bücher<br />

mehr beherbergten als beim letzten Umzug. Man kann übrigens<br />

vom Regalschrauben Blasen an den Fingern kriegen. Das<br />

ist nicht schön. Womit wir beim Akkuschrauber sind. Wir hatten<br />

zwei Akkuschrauber, deren Akkus irgendwann durch waren,<br />

und die irgendwie nicht mehr wollten, irgendwann. Mein<br />

erster Akkuschrauber der neuen Generation war der kleine<br />

handliche von Bosch. Der streikte bei der dritten Schraube,<br />

das eingetauschte Ersatzgerät hielt einen Monat länger. Damit<br />

war das Akkuexperiment erledigt und ich dachte mir auch,<br />

dass sehr viele Regale zu schrauben jeden Akku überlasten<br />

müsse, also ging die nächste Runde an einen Schrauber, der<br />

mit stromführendem Kabel versehen war. Geldhalber von der<br />

Baumarkthausmarke. Der schraubte gewaltig, um nicht zu sagen:<br />

aggressiv. Auch war er wohl etwas überspannt, jedenfalls<br />

roch es beim Schrauben immer merkwürdig und wenn man auf<br />

die Schrauberlüftungsschlitze schaute beim Schrauben, konnte<br />

man sehen, wie drinnen Funken stoben. Nicht unbedingt so<br />

das Vertrauensding. Als mir der Funkenflug zu gefährlich wurde,<br />

kam erstmals ein teureres Modell von Bosch ins Haus. Der<br />

bohrt und schraubt astrein. Zickt nicht, hat mir beim letzten<br />

Lagerumzug artig, hurtig und superb drei Dutzend Ikeagormse<br />

( l Moppe) zusammengeschraubt.<br />

B TW<br />

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_ AQUARIUM<br />

Es gibt <strong>Dinge</strong>, die man schon sein halbes Leben lang interessant<br />

findet und trotzdem nicht besitzt. Manchmal mag das<br />

ganz banale Gründe haben: zu wenig Geld, zu wenig Platz, zu<br />

wenig Gelegenheit. Vielleicht spielt aber auch das Unterbewusstsein<br />

eine Rolle. Weil da, ganz tief im Innern, eine dumpfe,<br />

kaum spürbare, aber dennoch vorhandene Angst ist. Die Angst<br />

davor, dass der Besitz dieser Sache nur halb so schön sein<br />

könnte wie die Vorstellung davon.<br />

Mir geht es mit einem Aquarium so. Ich habe noch nie eines<br />

besessen, aber ich kann mich noch ganz dunkel daran erinnern,<br />

dass mein viel zu früh verstorbener Opa eines hatte.<br />

Das scheint mich geprägt zu haben. Ich mag die Ruhe, die ein<br />

Aquarium ausstrahlt. Ich könnte stundenlang davor sitzen, den<br />

Fischen zuschauen und in 80% der Fälle wäre das interessanter<br />

als das Fernsehprogramm aller Privatsender und Streamingdienste<br />

zusammen.<br />

Warum ich mir bis heute keines zugelegt habe, weiß ich nicht<br />

so richtig. Meist argumentiere ich, dass es einfach keinen geeigneten<br />

Platz in der Wohnung gibt. Manchmal schrecke ich<br />

vor der Arbeit zurück, die es machen würde, und dann ist da<br />

auch stets der Gedanke an den Kater des Hauses. Ein Aquarium<br />

wäre einfach zu gefährlich. Nicht für die Fische, sondern für<br />

ihn. Er ist komplett liebenswürdig, kann aber nur Quatsch machen.<br />

Nichts sonst. Er würde wahrscheinlich beim Versuch, die<br />

Fische zu beschmusen, ertrinken. Und das ist es mir dann doch<br />

nicht wert. Nicht zuletzt verbraucht ein Aquarium auch viel zu<br />

viel Strom und ich müsste wieder ein schlechtes Gewissen haben.<br />

Unsere Generation hat ja ständig ein schlechtes Gewissen.<br />

Wir verbrauchen zu viel Wasser, Strom, Gas und Öl, konsumieren<br />

zu viele Kohlenhydrate, Alkohol und Kippen. Produzieren<br />

zu viel CO2. Bei einem Aquarium, das relativ sinnfrei Strom verbraucht,<br />

wäre das schlechte Gewissen also vorprogrammiert.<br />

20


Manchmal versuche ich mich zu überlisten. Dann installiere<br />

ich einen Bildschirmschoner mit bunten Fischen auf meinem<br />

Rechner. Das funktioniert aber ebensowenig wie Kaminfeuer-DVDs.<br />

Es sind Simulationen. Es bleiben Simulationen. Und<br />

das Herz spürt sehr genau, ob man es hinters Licht führen will.<br />

Auf Simulationen lässt es sich nicht ein.<br />

Ich werde also auch in Zukunft vor Aquarien stehen und eine<br />

Sehnsucht spüren, wenn Guppys und Scheibenputzerfische<br />

durch ihren gläsernen Wasserkasten flitzen. Ich werde weiterhin<br />

sagen Irgendwann lege ich mir auch mal ein Aquarium zu.<br />

Und werde weiterhin keines kaufen.<br />

Vielleicht will ich auch gar kein Aquarium.<br />

Vielleicht will ich einfach ein wenig Sehnsucht.<br />

Manchmal.<br />

B MK<br />

· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />

_ ARMBANDUHR<br />

Ich trage schon seit Jahren keine Uhr mehr. Als ich noch unterwegs<br />

war und nicht selbständig selbst und ständig daheim am<br />

Schreibtisch sass, guckte ich aufs Handy, wenn ich die Uhrzeit<br />

wissen wollte, oder auf eine der Uhren, die überall im öffentlichen<br />

Raum so rumuhren. Sitze ich am Schreibtisch, bekomme<br />

ich eine Uhr an einem meiner Monitore unten rechts angezeigt,<br />

und eigentlich bräuchte ich auch da keine Uhr, denn mein Tageslauf<br />

ist nicht von der Uhr abhängig, sondern von anderen<br />

<strong>Dinge</strong>n. Ich frühstücke zum Beispiel, wenn die Post da war. Das<br />

ist meist zwischen 12 und 13 Uhr der Fall. Ist ein Vertretungstag,<br />

der bei der Post »Rolltag« heisst, kann das aber auch schon um<br />

11 Uhr sein, oder manchmal sehr viel später. Dann frühstücke<br />

ich eben, wenn ich mit dem Verpacken der Ausgangspost fertig<br />

bin. Das Abendessen mache ich, wenn Silvia Feierabend hat und<br />

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mir Rauchzeichen gibt, dass sie losfährt. Das ist mal früher, mal<br />

später.<br />

Präzise Zeitmessung brauche ich nur für’s Laufen. Da habe<br />

ich eine Sportuhr mit GPS, damit ich meine Strecke hinterher<br />

auf Google Earth anschauen kann, und Pulsmesser und überhaupt.<br />

Das Ding erstellt mir die tollsten Statistiken. Aber die<br />

Uhrzeit ist dabei von keiner Relevanz. Wobei »brauchen« auch<br />

da nicht stimmt, da nur die Relation interessiert.<br />

Uhrzeiten spielen meist auch nur ungefähr für mich eine Rolle.<br />

Wenn wir zu einem Konzert fahren, das um 21 Uhr beginnen<br />

soll, so geht es meist sowieso erst um 21:30 Uhr oder später los,<br />

und ob man nun vorher eine Stunde oder anderthalb am Tresen<br />

steht und Bierchen trinkt, ist hinsichtlich der Zeitmessung<br />

ohne Belang. Sonntags 20:15 Uhr der Tatort, aber so genau ist<br />

der auch nicht von der Uhrzeit für mich abhängig, weil ich nach<br />

dem Abendessen am Sonntag sowieso mit Bücherverpacken<br />

zugange bin und den TV dann einfach irgendwann anschalte.<br />

Da kommt dann irgendwann die Tagesschau und dann der Tatort.<br />

Ob nach einer halben Stunde Bücherverpacken oder nach<br />

einer Stunde, ist nicht so wichtig.<br />

Die erste Armbanduhr bekam ich von Opa Ristau. Opa Ristau<br />

war nicht mein richtiger Opa, aber er war halt der einzige »alte<br />

Mann«, der uns regelmässig besuchen kam, als ich klein war.<br />

Opa Ristau war ein Förderer und Freund meines Vaters. Und er<br />

schenkte mir die erste Armbanduhr. Die kam aus der Schweiz<br />

und war schwarz mit grünen Reflexen und in der Nacht leuchteten<br />

vier der Ziffern. Später hatte ich eine Solaruhr von Junghans<br />

mit dem Logo vom SC Freiburg drauf. Und dann eine andere.<br />

Und dann keine mehr. Bis heute.<br />

B TW<br />

22


_ AUTO<br />

Fahren muss es, Platz muss drin sein für reichlich Bücherkisten.<br />

Mein erstes Auto war ein Mitsubishi Colt. Uralt und in Orange.<br />

Dem Nachbarn für 200 Mark abgekauft. Auf der ersten Fahrt<br />

hatte ich einen Radfahrer auf der Motorhaube. War aber nicht<br />

meine Schuld. Ich fuhr aus der Tankstelle raus, er fuhr ohne<br />

Licht nachts um 10 bei Regen auf der falschen Fahrbahn, ihn zu<br />

sehen hatte ich keine Chance. Doof nur für ihn, dass er gerade<br />

einen sechzehnfachen Knöchelbruch vom letzten Snowboardurlaub<br />

auskuriert hatte, denn auf eben diesem Knochen landete<br />

er. Er rief nach Polizei, aber nüchtern erläuterte ich ihm die<br />

Lage und wir schieden im Einvernehmen. Er war Tresenmann<br />

in einer Innenstadtkneipe. Da hatte ich fürderhin Freibier bei<br />

ihm, wenn ich vorbeikam.<br />

Dann hatte ich einen volljährigen Audi 80, von einem anderen<br />

Nachbarn. Den bekam ich geschenkt. Der funktionierte irgendwann<br />

nur noch mit Gewalt. Gut, dass die Strasse abschüssig<br />

war, in der ich wohnte, so konnte ich immer schön anrollen<br />

und den zweiten Gang kommen lassend, den Motor starten.<br />

Ich hatte mir mal den Fuss angebrochen in der Schule, weil<br />

ich schneller nach draussen wollte zur Fünfminutenpause um<br />

eine zu rauchen, und war rennend an die Flügeltüre gesprungen,<br />

die an diesem Tag aber einseitig verschlossen war …, und<br />

fuhr noch selbst zum Krankenhaus. Das war nicht so leicht, das<br />

Auto anschieben auf flacher Strasse und dann reinspringen<br />

zum Anlassen, und das mit dem doppelt so dicken pochenden<br />

rechten Fuss. Klappte aber irgendwie. Das Auto starb irgendwann<br />

den Heldentod. Ich nutzte es in seinen letzten Tagen<br />

noch für Fahrtrainings auf abgelegenen Sportplätzen, wo ich<br />

Handbremsenlenkung in Kurven übte und solche Spässe. Dann<br />

war das Auto aber endgültig hinüber.<br />

Von Onkel J. bekam ich einen Golf. Aus steuerlichen Gründen<br />

lief der auf seine Zweitfrau. Einmal, als ich zu schnell fuhr, weil<br />

23


ich zu Silvia wollte, da wir noch nicht zusammenwohnten, wurde<br />

ich geblitzt. Eine Bagatelle von vielleicht zwanzig Euro. Aber<br />

die telephonischen Vorwürfe waren enorm. Als hätte ich was<br />

verbrochen. War ich froh, als das rum war. Heute haben wir<br />

einen Caddy. Da passt ganz viel rein. 35 Mineralwasserkästen.<br />

Oder 30 Bücherkisten. Braves Hotto.<br />

B TW<br />

· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />

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_ AUTORADIO<br />

Die Änderung meiner Hörgewohnheiten führt mir am deutlichsten<br />

vor Augen, dass ich älter werde. Alt.<br />

Früher wäre ich niemals auf die Idee gekommen, im Auto<br />

Radio zu hören. Damals mussten es eigens für diesen Zweck<br />

zusammengestellte l Mixtapes sein: mal rockig, mal traurig,<br />

meist traurig und manchmal rockigtraurig. Irgendwann hatte<br />

ich es jedoch satt, immer die gleichen Stücke in der gleichen<br />

Reihenfolge von den gleichen Bands zu hören. Das war so wenig<br />

überraschend. Traurig.<br />

Also hörte ich Radio, wobei 1Live einige Jahre lang mein bevorzugter<br />

Sender war.<br />

Irgendwann entwuchs ich der werberelevanten 1Live-Zielgruppe.<br />

Ich begann immer häufiger den Dortmunder Lokalsender<br />

Radio 91.2 zu hören. Nachrichten aus der Stadt, Warnungen<br />

über Radarkontrollen sowie die größten Hits der 80er,<br />

90er und das Beste von heute. Sagt zumindest der Jingle. Natürlich<br />

laufen dort weder die größten Hits noch das Beste von<br />

heute, sondern der belangloseste Mainstreamscheiß, den man<br />

sich vorstellen kann. Aber immerhin ist er so belanglos, dass es<br />

nicht weh tut. Vielleicht wechsle ich den Sender deshalb nur<br />

noch selten.<br />

Autoradio hören ist für mich auch: Zeitreise.<br />

In meiner Kindheit fuhren meine Eltern mit meiner Schwester<br />

und mir jedes Jahr in den Winterurlaub. Aus dem Ruhrgebiet<br />

nach Tirol, knappe 900 Kilometer. Wir fuhren abends los<br />

und kamen am nächsten Morgen an. Die Stimmung, die ich fühle,<br />

wenn ich an diese Reisen denke, ist verschlafen. Wie in einem<br />

Traum fährt mein Vater den bronzefarbenen Audi 80 über<br />

Autobahnen. Wenn ich wach werde und aufschaue, sehe ich im<br />

Scheinwerferlicht Tausende von Schneeflocken, die unentwegt<br />

auf den Wagen zugeschossen kommen. Aus dem Autoradio<br />

plätschert das Nachtprogramm: langsame, alte Swingstücke<br />

26


aus den 1940ern. Noch heute fühle ich diese Stimmung manchmal,<br />

wenn ich Songs von Dean Martin oder Frank Sinatra höre.<br />

Irgendwann dämmert es, ich kann durch die Seitenfenster des<br />

Audi auf die Berge schauen. Wenn es richtig hell ist, legt Mutter<br />

eine Kassette mit dem Kufsteinlied ein. Dann sind wir bald da.<br />

In der Gegenwart gibt es trotz der musikalischen Belanglosigkeit<br />

der meisten Programme immer wieder Gründe, aus<br />

denen das Autoradio wichtig ist. Die Konferenzschaltung auf<br />

WDR 2 ist solch ein Grund. Samstags, wenn Spieltag ist und ich<br />

im Auto sitze, höre ich Sabine Töpperwien und ihre männlichen<br />

Kollegen aus den Stadien der Republik.<br />

Ein anderer wichtiger Grund ist Heiligabend. An diesem Tag<br />

fahre ich zu meinen Eltern. Die Autobahn ist leer, manchmal<br />

schneit es und es herrscht eine unwirkliche Stimmung. Das Autoradio<br />

ist an diesem speziellen Tag wichtig, denn aus ihm heraus<br />

moderiert Mike Litt als einsamster DJ der Welt. Seit Mitte<br />

der 1990er Jahre führt er am Heiligabend zwischen 18.00 und<br />

1.00 Uhr durch das Programm von 1Live. Er redet angenehm<br />

viel, liest E-Mails und Briefe seiner Hörer vor und es läuft entspannt<br />

gute Musik. Pünktlich um 0.00 Uhr spielt er jedes Jahr<br />

Silent Night, gesungen von Sinead O’Connor. Das ist für mich<br />

der magischste Moment an Weihnachten. So viel Pathos, so<br />

viel Liebe, so viel Hoffnung in Sineads Stimme. Das berührt<br />

mich in jedem Jahr aufs Neue ganz tief im Herzen. Und erst<br />

dann, wenn die Bescherung gelaufen ist, wenn der Rotwein<br />

die angespannten Nerven beruhigt, wenn das Familienevent<br />

Weihnachten abgehalten ist, erst dann kehrt bei mir der Geist<br />

der Weihnacht ein. Dann ist Ruhe.<br />

B MK<br />

· · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · ·<br />

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_ BADISCHE ZEITUNG<br />

Es gibt eine Art unnützer Nostalgie, die eine Art Leben in der<br />

Vergangenheit ist, und die dabei ein Fortleben eines vergangenen<br />

Zustands suggeriert oder autosuggestiv evoziert.<br />

Eine solche unnütze Nostalgie habe ich heute ausgemacht<br />

und abgeschaltet, indem ich mein Abonnement der Badischen<br />

Zeitung kündigte. Ich bin mit dem Freiburger Monopol-Lokalblatt<br />

gross geworden. Meine Mutter hatte die BZ abonniert<br />

und als ich daheim auszog, zeichnete ich mein eigenes Abo.<br />

Und als ich 2002 Freiburg verliess, nahm ich das BZ-Abo mit<br />

und bekomme sie bis heute, jeweils mit einem Tag Verspätung<br />

zugestellt.<br />

Gewiss, ich kenne in jeder Ausgabe jemanden, der erwähnt<br />

wird, ehemalige Arbeitsstellen (ich habe in einem Café in der<br />

Wiehre, einem Antiquariat in der Innenstadt, dann bei Musikhaus<br />

Ruckmich/Musiksortiment Schröder und schliesslich in<br />

der Freiburger Turnerschaft von 1844 e.V. [Sportverein] gearbeitet),<br />

Schule, Uni, Kneipen in denen ich versumpfte, Restaurants,<br />

in denen ich ass. Leute sterben, die ich flüchtig kannte,<br />

Bekannte auch. Firmen machen dicht, mit denen ich zu tun<br />

hatte, Bekannte aus Schulzeiten heiraten, bekommen Kinder.<br />

– Und all das verfolge ich irgendwie aus der Ferne und weiss<br />

daher, welche Probleme es mit einer Deponie bei Kappel gibt,<br />

wie der SC aufgestellt ist für die neue Saison, welcher Gemeinderat<br />

80 Jahre alt geworden ist und ob mein Schulkollege Florian<br />

Braune nun von Junges Freiburg zu den Grünen wechselt<br />

oder nicht usw. usw.<br />

Doch wofür? Ich war so froh, als ich vor sieben Jahren Freiburg<br />

verliess. Und diese Erleichterung darüber ging in eine Verklärung<br />

über. Ja, gewiss ist Freiburg wunderschön und wert<br />

darin zu leben. Doch das eine hat mit dem andern nichts zu tun.<br />

Ich werde in den nächsten Jahren nicht nach Freiburg kommen.<br />

Ich werde nie wieder nach Freiburg ziehen. Wozu also das<br />

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Fern-Abonnement der Lokalzeitung? Es ist unnützes Wissen.<br />

Futter für ein unfruchtbares Imaginärleben in einer ungelebten<br />

und unbelebten Welt (die Autosuggestion der fortgesetzten<br />

Teilhabe am freiburger Alltag) und ist somit: unnütze Nostalgie.<br />

Auf unnützer Nostalgie bauen ganze Industrien und Politikerkarrieren<br />

auf, ich selbst lebe davon mit meinem Antiquariat<br />

und bin Teil davon. Mich von einer mich selbst betreffenden,<br />

gleichwohl kleinen Spielform der unnützen Nostalgie zu befreien,<br />

ist vielleicht ganz heilsam. Bald werd ich’s wissen.<br />

PS: Auf der Suche nach ein/zwei Daten in alten Tagebüchern<br />

festgelesen, die Bände 1998 bis 2001 quergeblättert. Das Gesuchte<br />

nicht gefunden, viel aber wiedererkannt und mit einem<br />

Frösteln fremd gefunden. Diese merkwürdigen freiburger Zustände,<br />

die vielen Fragezeichen, das Blindtasten, die Unruhe.<br />

So sehr mein Herz an Freiburg hing, so froh war ich, als ich die<br />

Kisten packte und mit einem gemieteten klapperigen LKW mit<br />

all den Büchern und Habseln aufbrach.<br />

B TW<br />

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_ BANDSHIRTS<br />

Mein erstes »Band«-Shirt war, es ist peinlich, ich weiss, aber<br />

es zu verschweigen wäre Lüge: Mein erstes Bandshirt war ein<br />

übergrosses Elton John-T-Shirt von Gaultier. Das bekam ich<br />

von meiner Mutter nach einem Elton John-Konzert geschenkt.<br />

Wahrscheinlich nicht das Original, sondern eines von einem<br />

fliegenden Händler vor der Konzerthalle. Ich muss dazu sagen,<br />

dass ich Elton John damals gut fand. Damals heisst: als ich so<br />

12 oder 13 war. Das war so eine temporäre Seitenphase meiner<br />

Elvisperiode.<br />

Dann kamen einige Bandshirts, die im Rückblick nicht minder<br />

peinlich sind, Rammstein, Cradle of Filth und so. Die trug ich<br />

gern zur Arbeit, ich hielt das für maximum shocking.<br />

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Und dann lange nichts. Dann trug ich Hemd und Krawatte<br />

und Janker. Weil ich T-Shirt-Statements doof fand und der<br />

Nachweis, dass man der Ultratrue-Fanboy ist, indem man das<br />

rarste Hemd der auftretenden Band trägt, ebenso albern ist.<br />

Und dann, vergangenes Jahr, bekam ich plötzlich wieder Lust<br />

auf Bandshirts. Welche mit guter Optik, also keine mit Plattencovern<br />

drauf, sondern Logo oder artwork. Nicht zu nah dran,<br />

aber doch passend sollte es jeweils sein. Das erste Bandshirt,<br />

das ich mit »Ü30« trug, war ein Blood Axis-Shirt (»The Tears<br />

of Strangers are only water«) zum Plattenreleasekonzert von<br />

Primordial im Turock in Essen. Dass das so gut passt, wusste<br />

ich gar nicht. Ich erfuhr erst später, dass Michael Moynihan und<br />

Allan Averill sich nach einem Konzert in Wien backstage getroffen<br />

hatten und Averill offenbar ein grosser Blood Axis-Fan<br />

ist. Das wurde mir dann so richtig klar, als ich Primordial als<br />

Support von Immortal sah und sie ihr Konzert mit dem kompletten<br />

Reign I Forever von Blood Axis einleiteten. Da glühten<br />

Silvia und mir die Bäckchen und wir freuten uns und wir waren<br />

wieder versöhnt mit dem Zeugs, das wir von den anderen Vorbands<br />

ertragen mussten bis dahin.<br />

Zu unserem dritten Wolves in the Throne Room-Konzert trug<br />

ich ein Waldteufel-Shirt, der Gitarrist sprach uns deswegen an,<br />

und wir hatten ein gutes Gespräch über Katzen, gemeinsame<br />

Freunde, organic food, geilen und beschissenen Sound und wie<br />

schön Portland ist (und Westfalen).<br />

Sonst trage ich meist Neurosis- oder Saint Vitus-Shirts. Je<br />

nachdem, was gerade passt. Am Blackmetal-Tag beim Rockhard-Festival<br />

war ich der Einzige mit einem Vitus-Shirt, aber<br />

ich war nicht der einzige Doomfan. Ich wurde fünfmal darauf<br />

angesprochen von Menschen, die mir ihre Vitus-Tattoos zeigten<br />

und die sich freuten über den Schriftzug auf meinem Hemd.<br />

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Ich stiess meist mit meinem Bier an, ich grinste, schob meinen<br />

rechten Ärmel hoch und zeigte auf das geflügelte V mit<br />

dem Kreuz darin.<br />

B TW<br />

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_ BAUMÄRKTE<br />

Männer lieben Baumärkte, heißt es. Zumindest, wenn man<br />

sich das Stimmungsbild in Mario-Barth-affinen Milieus anschaut.<br />

Wahrscheinlich ist an diesem Klischee auch ein Fünkchen<br />

Wahrheit. Runtergebrochen auf meine eigene Lebenswahrnehmung<br />

heißt das: Ja, ich bin ein Mann und was soll ich<br />

sagen … es gibt Orte, an denen ich mich weniger wohl fühle.<br />

Eine Landzahnarztpraxis in Brandenburg etwa. Die Hochzeitsgesellschaft<br />

eines IS-Kämpfers bei seiner Vermählung mit einer<br />

13-jährigen Kriegsbeute etwa. Oder einfach: ein freier Stuhl<br />

neben Ursula von der Leyen.<br />

Also da bin ich dann schon lieber in einem Baumarkt.<br />

In einem Baumarkt habe ich eine Ahnung davon, wie sich<br />

Frauen in einem Schuhgeschäft fühlen müssen. Es geht ja nie<br />

wirklich darum, ob man etwas braucht – seien es ein Paar<br />

hinreißende schwarze Pumps aus Nubukleder oder ein neuer<br />

funkelnder Stechbeitel. Beide Gegenstände lassen schlicht die<br />

Fantasie des Käufers Achterbahn fahren. Vor unseren geistigen<br />

Augen sehen wir unser Alltagsleben. Fraun sehen dreckige<br />

Schuhe, angemackte Schuhe, Schuhe, die uns nicht gefallen.<br />

Und Männer sehen ebenso die alte Werkzeugkiste im Keller<br />

mit den verrosteten Stechbeiteln. Gebraucht, benutzt. Nicht so<br />

schön eben. Nicht so modern eben. Nicht so gut eben.<br />

Und dann sind wir im Laden, die Mädels im Schuhgeschäft,<br />

wir Kerle bei Hellweg, Hornbach, Bauhaus. Und schlagartig<br />

wird uns die Möglichkeit eines Lebens bewusst, das wir eigentlich<br />

schon immer leben wollten. Egal ob neue Louboutins oder<br />

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Hilti. Nur mit ihnen können wir so sein, wie wir wirklich sind.<br />

Besser. Glänzender. Strahlender.<br />

Denken wir.<br />

Natürlich ist da ganz tief hinten im Kopf die Ahnung, dass<br />

das alles Quatsch ist. So, wie wir auch irgendwo ganz tief hinten<br />

im Kopf wissen, dass Angela Merkel vielleicht nicht die<br />

bestmögliche Kanzlerin dieses Landes ist. Oder dass Worte<br />

und Taten der IS-Leute vielleicht doch etwas mit der Religion<br />

zu tun haben. Aber das schieben wir beiseite. Und selbst das<br />

Engelchen auf unseren Schultern ignorieren wir. Es erklärt uns,<br />

warum die alten Stechbeitel in der Werkzeugkiste verrostet<br />

sind: Nämlich einfach, weil wir sie in den vergangenen zehn<br />

Jahren nicht einmal genutzt haben.<br />

Egal, in Baumärkten schaltet unser Gehirn ab.<br />

Und ich möchte mich selbst da auch gar nicht ausschließen.<br />

Auch, wenn es sicherlich kaufsüchtigere Kerle als mich in den<br />

Heimwerkerabteilungen dieses Landes zu finden gibt, denn ich<br />

schaffe es durchaus durch die heiligen Hallen zu gehen ohne<br />

bei jedem Besuch einen neuen Akkuschrauber zu kaufen.<br />

Aber spannend ist es schon.<br />

Vor allen <strong>Dinge</strong>n ist es unglaublich spannend das Verhalten<br />

der zwei Spezies zu beobachten, die sich dort, in den Hellwegs<br />

und Hornbachs dieser Welt, aufhalten. Auf der einen Seite: die<br />

Einkäufer. Sucher, Nurmalschauer, Nichtfinder. Auf der anderen<br />

Seite: die Angestellten. Verkäufer, Infostandbewacher,<br />

Kassierer. Begegnungen zwischen diesen beiden Arten sind<br />

äußerst selten, denn Angestellte von Baumärkten haben magische<br />

Kräfte und können von einer Sekunde auf die andere im<br />

Nichts verschwinden. Wem diese Erklärung zu metaphysisch<br />

erscheint, dem biete ich eine zweite Variante an: Die Baumarktverkäufer<br />

dieses Landes haben im Laufe der vergangenen<br />

Jahrzehnte ein weit verzweigtes unterirdisches Tunnelsystem<br />

gegraben, an das alle Baumärkte angeschlossen sind. Kurz<br />

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nach Schichtbeginn treffen sie sich in einer riesigen unterirdischen<br />

Kathedrale und feiern in mächtig exzessiven Partys sich<br />

selbst, ihre Unverschämtheiten und ihren Da-kann-ich-ihnenjetzt-auch-nicht-weiterhelfen-Blick.<br />

Ich halte diese Erklärung<br />

für sehr wahrscheinlich. Die Eingänge zu diesem Tunnelsystem<br />

sind stets unter irgendwelchen Regalen verborgen. Wie<br />

oft sind Sie bereits in einem Baumarkt hinter einem Verkäufer<br />

hergelaufen, er bog in einen Gang – Sie vielleicht zwei, drei<br />

Meter dahinter – biegen ebenfalls ein und zack … weg war der<br />

Verkäufer.<br />

Ich sage nur Tunnelsystem.<br />

Die seltenen Fälle, in denen die zwei Arten dann doch einmal<br />

aufeinandertreffen, sind im Allgemeinen geprägt von einem<br />

Unverständnis, das sehr schnell in Aggression umschlagen<br />

kann.<br />

Man spricht unterschiedliche Sprachen. Man missversteht<br />

sich. Man mag sich nicht.<br />

Berichte von zuvorkommenden, hilfsbereiten Baumarktverkäufern<br />

können getrost als Urban Legends bezeichnet werden.<br />

Falls Sie also wirklich einmal auf einen Baumarktverkäufer<br />

treffen sollten: Fragen Sie nicht nach den 3,5 x 35 Spax-Schrauben,<br />

fragen Sie nicht nach dem Weg zum Maleracryl. Fragen<br />

Sie auch nicht nach dem Quadratmeterpreis einer bestimmten<br />

Fliesensorte. Wenn Sie einen sehen, fragen Sie ihn nach dem<br />

Tunneleingang.<br />

Die Chance, auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, ist<br />

immer noch am größten.<br />

B MK<br />

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