Christsein ist keine einfache Angelegenheit
Leseprobe aus Klaus Pfeffer: Christseinist keine einfache AngelegenheitErscheint ab 5. Mai 2017
Leseprobe aus Klaus Pfeffer: Christseinist keine einfache AngelegenheitErscheint ab 5. Mai 2017
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Unverkäufliche Leseprobe<br />
Klaus Pfeffer<br />
<strong>Chr<strong>ist</strong>sein</strong> <strong>ist</strong> <strong>keine</strong><br />
<strong>einfache</strong> <strong>Angelegenheit</strong><br />
Mit Dietrich Bonhoeffer<br />
auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche<br />
Hardcover, 140 Seiten<br />
ISBN 978-3-9816594-2-9<br />
www.adson-fecit.de<br />
© verlag adson-fecit, Essen
<strong>Chr<strong>ist</strong>sein</strong> <strong>ist</strong> <strong>keine</strong><br />
<strong>einfache</strong> <strong>Angelegenheit</strong>
Klaus Pfeffer<br />
<strong>Chr<strong>ist</strong>sein</strong> <strong>ist</strong> <strong>keine</strong><br />
<strong>einfache</strong> <strong>Angelegenheit</strong><br />
Mit Dietrich Bonhoeffer<br />
auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche<br />
2017
ISBN 978-3-9816594-5-0<br />
Lektorat: Mirko Kussin, Witten<br />
Satz und Layout: Studio Wegener, Essen<br />
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung<br />
von Roger Merged: Studio Wegener, Essen<br />
Gesetzt aus der Janson Text und Myriad Pro<br />
Druck: Multiprint, Kostinbrod, BG<br />
Verlag adson fecit Dr. Gregor Meder, Essen<br />
www.adson-fecit.de<br />
© 2017 Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt<br />
Einführung 1 07<br />
1 Eine Reise durch die<br />
Lebensgeschichte Dietrich Bonhoeffers <br />
1 11<br />
Eine Entdeckung in der Krise 112<br />
Ökumenische Weggefährtenschaft:<br />
„Auf den Namen katholisch oder evangelisch<br />
kommt uns nichts an …“ 116<br />
Wer war Dietrich Bonhoeffer? 122<br />
Theologie aus der Nähe zur Wirklichkeit 125<br />
Antäus – ein Riese als Symbol für einen<br />
Glauben mit Bodenhaftung 130<br />
Geerdeter Glaube 131<br />
Suche nach spirituellem Tiefgang 134<br />
Ge<strong>ist</strong>lich Leben mitten in der Welt –<br />
ohne „religiöse Einkleidungen“ 140<br />
Eine Theologie der Freiheit und Verantwortung 144<br />
Die Entdeckung der Liebe 152<br />
Theologie aus dem Gefängnis:<br />
Paradox und hochmodern 155<br />
Perspektiven für ein Chr<strong>ist</strong>entum der Zukunft 162<br />
Was Bonhoeffer mich lehrt 172<br />
2 Anstöße für das Leben im Heute 1 77<br />
„Aber ob das Jahr ein Jahr mit Chr<strong>ist</strong>us sei,<br />
darauf kommt es an …“<br />
Gedanken zur Jahreswende 180<br />
„Gott <strong>ist</strong> uns ‚immer’ gerade ‚heute’ Gott“<br />
Chr<strong>ist</strong>liche Botschaft <strong>ist</strong> konkret 182<br />
„Laßt Chr<strong>ist</strong>us Chr<strong>ist</strong>us sein!“
Zur Bedeutung ge<strong>ist</strong>licher Übungen im Alltag 186<br />
Wir leben zwar noch im Alten,<br />
aber sind doch schon über das Alte hinaus<br />
Österliche Gedanken 190<br />
„Es gibt nichts Größeres,<br />
als dass ein Mensch ein Segen für andere <strong>ist</strong>“<br />
Von der Liebe 193<br />
Warten auf ein neues Pfingstwunder<br />
Vom Drama der Unverständlichkeit<br />
kirchlicher Sprache 197<br />
Von der Freundlichkeit Gottes<br />
Zur Erlaubnis der Selbstsorge des Chr<strong>ist</strong>en 101<br />
Von Gott nicht mehr loskommen<br />
Zur Bedeutung mystischer Erfahrungen 103<br />
Allein in der Tat <strong>ist</strong> die Freiheit<br />
Von der Entscheidungsfreudigkeit der Chr<strong>ist</strong>en 107<br />
Im Glauben das Laufen lernen<br />
Vom chr<strong>ist</strong>lichen Erwachsenwerden 110<br />
„Ich bring’ alles wieder“<br />
Von einem ungewöhnlichen Weihnachtsmotiv 114<br />
Mit Gott tritt man nicht auf der Stelle<br />
Von der Veränderlichkeit des Lebens 117<br />
Erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche<br />
Vom Leben als Fragment 119<br />
Karneval<br />
Von der Fröhlichkeit des Chr<strong>ist</strong>en 121<br />
Optimismus<br />
Von der Kraft der Zuversicht 123<br />
3 Statt eines Schlusswortes 127<br />
Eine Zukunftsvision für die Kirche 130<br />
Anmerkungen 138
7<br />
Einführung<br />
Auf der Insel Kreta habe ich zum ersten Mal öffentlich von<br />
meiner Verehrung für Dietrich Bonhoeffer erzählt. Ich hielt<br />
einen Vortrag in einem ungewöhnlichen „Setting“: Die Selbsterfahrungswoche<br />
eines psychoanalytischen Seminars, in der alle<br />
Teilnehmenden jeweils ein Referat halten mussten. Die Themenwahl<br />
blieb jedem frei überlassen. Die Beiträge sollten – im<br />
weitesten Sinn – mit kulturellen Themen aus Vergangenheit und<br />
Gegenwart zu tun haben. Manche beschäftigten sich – dem Ort<br />
angemessen – mit Mythen und Gestalten aus der antiken Kultur,<br />
andere mit Kunst und Literatur. Die me<strong>ist</strong>en Teilnehmer wählten<br />
Themen, mit denen sie sich in ihrem Leben schon einige Zeit<br />
beschäftigten. Ich wagte einen Vortrag aus meinem beruflichen<br />
Leben und stellte Dietrich Bonhoeffer vor. Der evangelische<br />
Theologe und Pfarrer, der aufgrund seines Engagements im Widerstand<br />
von den Nationalsozial<strong>ist</strong>en ermordet worden war, interessierte<br />
mich schon viele Jahre. Er hatte mir viel zu sagen – und<br />
wie ich auf Kreta erfuhr, sagte er auch vieles über mich.<br />
Die Referate während dieser Woche waren für alle Teilnehmenden<br />
mit großer Aufregung verbunden, weil es nur vordergründig<br />
um die Präsentation eines Themas ging. Viel wichtiger war eine<br />
tiefere Ebene in diesem psychoanalytischen Zusammenhang: Das
8<br />
Einführung<br />
Referat als Vehikel, um dem Innenleben des Vortragenden auf die<br />
Spur zu kommen. Natürlich wusste ich, dass Dietrich Bonhoeffer<br />
nicht zufällig zu meinem kirchlichen und theologischen Leitbild<br />
geworden war. Aber ich ahnte noch nicht, wie viel er tatsächlich<br />
mit mir persönlich zu tun hat. Das spiegelten mir die Teilnehmenden<br />
erst nach dem Referat. Sie kannten mich aufgrund unseres<br />
Seminar schon recht gut – und so entdeckten sie in dem,<br />
was ich von Bonhoeffer erzählte, viele erstaunliche Hinweise auf<br />
mein eigenes Leben, auf meine Geschichte, auf meine Fragen und<br />
Ängste, auf meine Träume und Hoffnungen.<br />
Seit dieser Erfahrung auf Kreta <strong>ist</strong> mir Dietrich Bonhoeffer noch<br />
einmal näher gekommen. Ich weiß, dass ich viel von mir selbst<br />
erzähle, wenn ich auf ihn zu sprechen komme – in meiner kirchlichen<br />
Verkündigung, aber auch in Diskussionen und Gesprächsrunden.<br />
Wer mich persönlich näher kennt, rechnet früher oder<br />
später mit einem Bonhoeffer-Zitat.<br />
Mit diesem Buch erfülle ich mir den langgehegten Wunsch, von<br />
dem zu erzählen, was mich an Bonhoeffer fasziniert, was mich<br />
prägt und inspiriert. Es braucht natürlich <strong>keine</strong> weitere Biographie<br />
zu den unzähligen kleinen und großen Büchern, die das<br />
Leben des Theologen aus unterschiedlichen Perspektiven und<br />
mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen zusammenfassen. Ich<br />
werfe in diesem Buch einen kleinen, sehr persönlichen Blick auf<br />
Bonhoeffers Leben und Denken und zeige, wie er mein Leben,<br />
meinen Glauben und meinen Blick auf die Zukunft der chr<strong>ist</strong>lichen<br />
Kirche beeinflusst hat.<br />
Zu Beginn berichte ich von meiner persönlichen Beziehung zu<br />
Dietrich Bonhoeffer. Es gibt eine biographische Erfahrung,<br />
die mein Interesse für ihn geweckt hat und zu einer intensiven
Einführung9<br />
ökumenischen Weggefährtenschaft führte. Dann aber begebe<br />
ich mich auf eine Reise durch seine Lebensgeschichte. Manches<br />
streife ich nur kurz, an einigen Stellen halte ich intensiver inne,<br />
weil sich hier für mich wesentliche Einsichten ergeben, die ich<br />
weiterdenke und interpretiere. Sein Leben <strong>ist</strong> voller Kostbarkeiten,<br />
aus denen ich sowohl für das eigene Leben als auch für das<br />
chr<strong>ist</strong>liche Denken und Handeln in der Gegenwart schöpfe.<br />
Im zweiten Teil dieses Buches greife ich einige solcher „Kostbarkeiten“<br />
auf: Ausgewählte Zitate, Begebenheiten und besondere<br />
Aspekte aus der Lebensgeschichte kommen in abgeschlossenen<br />
Beiträgen zur Geltung und laden ein, Bonhoeffer weiter zu entdecken.<br />
Dabei handelt es sich um überarbeitete Fassungen ge<strong>ist</strong>licher<br />
Impulse, die ich für das „Pastoralblatt“ der Diözesen Aachen,<br />
Berlin, Essen, Hildesheim, Köln und Osnabrück schrieb. 1<br />
Sie stießen auf eine erstaunliche Resonanz und bestätigen mir die<br />
Alltagstauglichkeit von Bonhoeffers Spiritualität. Einige weitere<br />
Beiträge stammen aus einer Reihe von Radiosendungen für „Kirche<br />
im WDR“.<br />
Den Abschluss bildet in Teil III eine Zukunftsvision für die<br />
chr<strong>ist</strong>liche Kirche, die ich vor wenigen Jahren in der Online-<br />
Zeitschrift „futur2 – Zeitschrift für Strategie & Entwicklung in<br />
Gesellschaft und Kirche“ veröffentlicht habe. Darin verweise ich<br />
zwar nicht explizit auf Dietrich Bonhoeffer, übe mich allerdings<br />
in dem, was Bonhoeffer uns allen als seine nachkommenden Generationen<br />
aufgegeben hat: Von einer Kirche zu träumen und an<br />
ihr mitzuwirken, die auch in zukünftigen Gesellschaften als prägende<br />
Kraft wahrgenommen wird.<br />
Herzlich danke ich Herrn Dr. Gregor Meder, der mich ermutigt<br />
hat, dieses Buch zu schreiben. Mit viel Einsatz hat er die Veröf-
10<br />
Einführung<br />
fentlichung in seinem Verlag möglich gemacht. Mirko Kussin<br />
danke ich für das Lektorat und seine vielen inhaltlichen Anregungen,<br />
die ich gerne aufgegriffen habe.<br />
Dietrich Bonhoeffer zitiere ich nach der großen Gesamtausgabe,<br />
die von 1986 bis 1999 im Chr<strong>ist</strong>ian-Kaiser-Verlag, München und<br />
danach im Gütersloher Verlagshaus in 17 Bänden erschienen <strong>ist</strong><br />
(Dietrich Bonhoeffer Werke, DBW). Hinsichtlich der Lebensgeschichte<br />
Bonhoeffers orientiere ich mich an der immer noch<br />
wegweisenden Biographie seines Freundes Eberhard Bethge<br />
(Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie. 8. korr. Aufl. Gütersloh<br />
2004; zuvor München 1968. Zitiert: Bethge: DB).
1<br />
11<br />
Eine Reise durch<br />
die Lebensgeschichte<br />
Dietrich Bonhoeffers
12<br />
Eine Entdeckung in der Krise<br />
Es war eine meiner ersten großen Glaubenskrisen, die mich<br />
als junger Theologiestudent gepackt hatte. Im Sommer 1988<br />
hatte ich mich während der Semesterferien auf einen Einführungskurs<br />
in die Klinikseelsorge eingelassen. Täglich besuchte<br />
ich Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen<br />
auf den Stationen zweier Krankenhäuser in Neuwied. Zugleich<br />
stellte ich mich in unserer sechsköpfigen Ausbildungsgruppe<br />
den Erfahrungen, die ich bei der Begegnung mit den Kranken<br />
machte. Nie zuvor war ich so intensiv der Zerbrechlichkeit des<br />
Lebens, unendlichem Leid und dem Schrecken des Todes begegnet.<br />
Gefühle wurden in mir wach, die mich tief erschütterten: In<br />
mir schlummerte eine abgrundtiefe Angst vor der ganzen Unsicherheit<br />
des Lebens. Nichts war wirklich sicher. Ich hatte gar<br />
nicht so viel in der Hand, wie ich glaubte.<br />
Mir waren diese Gefühle nicht wirklich fremd. Als Kind hatte ich<br />
manchmal große Ängste. Meine Eltern konnten mich kaum allein<br />
lassen, weil ich mich davor fürchtete, verlassen zu werden. Als<br />
Fünfjähriger musste ich wegen einer Blinddarmentzündung ins<br />
Krankenhaus – und veranstaltete ein Heidenspektakel, weil ich<br />
nicht dort bleiben wollte und meinen Eltern hinterherlief. Natürlich<br />
ließ die kindliche Angst nach, aber auch in späteren Jahren
Eine Entdeckung in der Krise13<br />
konnte mich in manchen Situationen schnell der Mut verlassen.<br />
Jetzt holte mich als Student die tiefsitzende Angst wieder ein –<br />
und zeigte sich als etwas Ur-Menschliches: Das Leben <strong>ist</strong> eine<br />
höchst unsichere <strong>Angelegenheit</strong>!<br />
Die „Klinische-Seelsorge-Ausbildung“, die dem damaligen Kurs<br />
zu Grunde lag, führt angehende Seelsorgerinnen und Seelsorger<br />
gezielt in die Begegnung mit den eigenen Tiefen. Wer andere<br />
Menschen verstehen lernen will, um sie unterstützend begleiten<br />
zu können, muss zunächst sich selbst kennenlernen. So begann<br />
für mich damals in Neuwied ein Weg intensivster Auseinandersetzung<br />
mit mir selbst. Zur Seite stand mir ein Klinikseelsorger,<br />
der gerade an seiner theologischen Dissertation arbeitete. Er war<br />
und <strong>ist</strong> ein großer Verehrer Dietrich Bonhoeffers, dessen Gedanken<br />
er für die Seelsorge fruchtbar machen wollte. 2 In unseren<br />
Gesprächen geschah etwas, was uns beide damals überraschte<br />
und bewegte. Immer wieder war Dietrich Bonhoeffer präsent.<br />
Zu dem, was mich beschäftigte, bedrängte und auch aufwühlte,<br />
fielen meinem Begleiter Geschichten aus Bonhoeffers Leben ein,<br />
vor allem aber Zitate und ganze Abschnitte aus seinen Briefen,<br />
Predigten und größeren Arbeiten.<br />
Es war verblüffend: In meinen ersten Studiensemestern hatte<br />
mich die Theologie enttäuscht. Was ich hörte und las, wirkte auf<br />
mich abgehoben und weit weg von meinem Leben: Eine schwer<br />
verständliche Theorie, die mich wenig berührte, sondern eher<br />
langweilte. Jetzt begegnete ich einem Theologen, dessen Sätze<br />
mich zutiefst bewegten. Sie trafen mitten hinein in meine konkreten<br />
Erfahrungen, in meine Ängste und Zweifel, aber auch in<br />
meine Hoffnungen und Sehnsüchte. Dietrich Bonhoeffer zeigte<br />
mir, dass Theologie wohl doch viel mehr mit dem Leben zu tun<br />
haben kann, als es mir die Universität damals vermittelte.
14<br />
Eine Reise Durch die Lebensgeschichte<br />
Entscheidend war für mich die Tatsache, dass Bonhoeffer die widersprüchlichen<br />
und schwierigen Erfahrungen des Lebens nicht<br />
verschweigt. In vielen Texten beschäftigt er sich mit Unsicherheiten,<br />
Zweifeln und Ängsten – all das, was mich damals so umtrieb.<br />
Ich ahnte, dass da ein Theologe seinen Glauben intensiv mit seinen<br />
Lebenserfahrungen in Verbindung brachte. Meine Ahnung<br />
bestätigte sich, als ich später Bonhoeffers berühmtes Wort entdeckte,<br />
„dass eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der<br />
Ex<strong>ist</strong>enz, in der sie gewonnen <strong>ist</strong>“. 3 Die Rede von Gott, die Theo-<br />
Logie, muss aus dem konkreten Leben erwachsen, sonst bleibt sie<br />
hohl und leer. Mir scheint, dass die Theologie und mit ihr die<br />
kirchliche Verkündigung gerade deshalb in unserer Gesellschaft<br />
kaum noch wahrgenommen wird, weil ihr der Bezug zum konkreten<br />
Leben verloren gegangen <strong>ist</strong>.<br />
Für mich war diese erste Begegnung mit der Gedankenwelt Bonhoeffers<br />
ein wichtiger Schritt auf dem Weg, einen Glauben zu<br />
finden, der sich nahe an den Erfahrungen meines Lebens bewegt.<br />
Ein Glaube, der mir hilft, mich selbst und mein Leben besser zu<br />
verstehen und zu deuten – indem ich Gottes Wirken mitten in<br />
meinem Leben entdecke. Rückblickend kann ich nur bestätigen,<br />
was Chr<strong>ist</strong>oph Zimmermann-Wolf am Ende seiner Dissertation<br />
so treffend formuliert: „Die eigene Identität zu finden <strong>ist</strong> ein<br />
grundlegender Schritt zu der Erfahrung, von Gott so gewollt und<br />
geliebt zu sein, wie man <strong>ist</strong>.“ 4<br />
Ich ahnte damals wohl, wie sehr Bonhoeffer auf diesem Weg einer<br />
chr<strong>ist</strong>lichen Identitätsfindung helfen kann. Darum war ich<br />
neugierig geworden. Wer war dieser Mann eigentlich? Wie verlief<br />
sein Leben? Was hatte er hinterlassen? Im Laufe der Jahre<br />
begab ich mich auf eine Entdeckungsreise und habe bis heute damit<br />
nicht aufgehört: Ich las viele Biographien, weite Teile seiner
Eine Entdeckung in der Krise15<br />
hinterlassenen Schriften und Briefe, dazu jede Menge Sekundärliteratur.<br />
Dietrich Bonhoeffer <strong>ist</strong> für mich auf diese Weise zu einem<br />
Weggefährten geworden. Immer wieder greife ich zu seinen<br />
Texten und finde Anregungen für mein eigenes Leben und Denken.<br />
In meiner Verkündigung taucht er häufig auf. Seine Lebensgeschichte<br />
tröstet, ermutigt und provoziert mich – je nachdem,<br />
in welcher Situation ich mich selbst gerade befinde. Und seine<br />
immer noch aktuelle und durchaus provozierende Theologie regt<br />
mich für mein eigenes theologisches Denken ungemein an.<br />
Bonhoeffer lehrt mich, dass chr<strong>ist</strong>licher Glaube nicht vom konkreten<br />
Leben mit all seinen Facetten getrennt werden darf. Er <strong>ist</strong><br />
weder eine nette, harmlose Verzierung des Lebens, noch löst er<br />
die Konflikte, Widersprüche und offenen Fragen im Leben auf.<br />
Er <strong>ist</strong> vielmehr ein Angebot, das Leben auf dieser Erde mit seinen<br />
Konflikten, Widersprüchen und offenen Fragen, aber natürlich<br />
auch mit all seinen großartigen Seiten, anzunehmen und zu gestalten.<br />
Nämlich genau hier, mitten in diesem irdischen Leben,<br />
<strong>ist</strong> der jenseitige Gott zu entdecken, der ja gerade deshalb Mensch<br />
geworden <strong>ist</strong>, damit wir uns nicht von diesem irdischen Leben abwenden.<br />
Vielleicht <strong>ist</strong> Gott auch deshalb Mensch geworden, damit<br />
wir dies verstehen: Solange wir als Menschen auf dieser Erde<br />
leben, haben wir <strong>keine</strong>n anderen Ort, um Gott auf die Spur zu<br />
kommen. Vor allem die Menschen sind es, in denen ER sich zeigen<br />
kann – und damit <strong>ist</strong> der Weg zu den anderen – und zu mir<br />
selbst – auch immer ein Weg zu Gott.<br />
Um <strong>keine</strong> Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es versteht<br />
sich angesichts der Zeit, in der Bonhoeffer lebte, ganz von<br />
selbst, dass nichts in dieser Welt mit Gott unmittelbar identisch<br />
<strong>ist</strong>. Chr<strong>ist</strong>licher Glaube verlangt, sich in der Unterscheidung der<br />
Ge<strong>ist</strong>er zu üben und zuweilen klar zu benennen, wo Gott aus-
16<br />
Eine Reise Durch die Lebensgeschichte<br />
drücklich nicht <strong>ist</strong>. Auch das lerne ich von Dietrich Bonhoeffer,<br />
der in der Auseinandersetzung mit seiner Welt eindeutig Position<br />
bezog und <strong>keine</strong>n Zweifel daran ließ, dass es auf dieser Erde<br />
Dinge gibt, denen Chr<strong>ist</strong>en – um Gottes Willen – widerstehen<br />
müssen.<br />
Ökumenische Weggefährtenschaft:<br />
„Auf den Namen katholisch oder<br />
evangelisch kommt uns nichts an …“<br />
Vor vielen Jahren erntete ich deutlichen Protest, als ich in<br />
einer katholischen Verkündigungssendung im WDR von<br />
Dietrich Bonhoeffer erzählte. Ein Briefschreiber, der offensichtlich<br />
ein sehr überzeugter Katholik war, stellte mir die vorwurfsvolle<br />
Frage, ob ich denn nicht über katholische Vorbilder predigen<br />
könne. Auch wenn solche eher negativen Reaktionen die<br />
Ausnahme sind, so fallen meine Verehrung für Bonhoeffer und<br />
die ökumenische Weggefährtenschaft vielen Menschen auf. Protestanten<br />
freuen sich und schnell finden wir Kontakt zueinander.<br />
Aber auch unter Katholiken <strong>ist</strong> Bonhoeffer bekannt und beliebt.<br />
Das verwundert nicht. Bonhoeffer war in der ökumenischen Bewegung<br />
seiner Zeit sehr engagiert. Unabhängig von der Verwurzelung<br />
in seiner eigenen Kirche war er zeitlebens davon über-
Ökumenische Weggefährtenschaft17<br />
zeugt, dass es im chr<strong>ist</strong>lichen Glauben um Wesentlicheres geht<br />
als um konfessionelle Rechthaberei. Ihm ging es um die Suche<br />
nach Gott, um die Frage, wie dieser Gott in das aktuelle Leben<br />
hineinspricht, um Orientierung und Halt zu geben. Wenn er<br />
dazu Hilfen in anderen Konfessionen und sogar in anderen Religionen<br />
entdeckte, so griff er sie unumwunden auf.<br />
Obwohl sich die römisch-katholische Kirche aus der damaligen<br />
ökumenischen Diskussion weitgehend heraus hielt, entwickelte er<br />
einen für seine Zeit erstaunlich ungezwungenen und freien Umgang<br />
mit der Schwesterkirche.<br />
Es beginnt im Juli 1920: Bonhoeffer <strong>ist</strong> 14 Jahre alt und besucht<br />
bei einem Ausflug im Harz zum ersten Mal eine katholische Kirche.<br />
Der vergoldete Altar und die vielen Heiligen- und Marienbilder<br />
beeindrucken ihn schwer. „Ich war ganz erstaunt von dieser<br />
Pracht“, schreibt er seinen Eltern 5 .<br />
Vier Jahre später – er <strong>ist</strong> Student in Tübingen – re<strong>ist</strong> er mit seinem<br />
Bruder Klaus nach Italien und erlebt in Rom die Kar- und Ostertage.<br />
Seine Tagebucheinträge lassen spüren, wie beeindruckt er<br />
<strong>ist</strong>: „Fabelhaft wirkt die Universalität der Kirche, Weiße, Schwarze,<br />
Gelbe, alle in ge<strong>ist</strong>lichen Trachten vereint unter der Kirche,<br />
scheint doch sehr ideal“, beschreibt er die Palmsonntagsliturgie 6 .<br />
In manchen Gesängen entdeckt er in jenen Tagen sogar „einen<br />
unerhört unberührten Eindruck tiefster Frömmigkeit“ und bilanziert<br />
schließlich, dass „mir etwas Wirkliches vom Katholizismus<br />
aufging“, und gesteht ein: „Ich fange an, den Begriff ‚Kirche’ zu<br />
verstehen“. 7 Es scheint vor allem die über alle Grenzen von Nationalitäten,<br />
Kontinenten, Sprachen und Kulturen hinausgehende<br />
Verbundenheit der katholischen Kirche zu sein, die er in diesen<br />
römischen Tagen hautnah erlebt. Sie drückt aus, was zum Wesen
18<br />
Eine Reise Durch die Lebensgeschichte<br />
des chr<strong>ist</strong>lichen Glaubens gehört: Alle Menschen sind Töchter<br />
und Söhne des einen Gottes und dadurch Geschw<strong>ist</strong>er. Was die<br />
Menschen nach irdischen Kategorien oft voneinander zu trennen<br />
scheint, hat vor dem Gott Jesu Chr<strong>ist</strong>i <strong>keine</strong> Relevanz.<br />
Die römischen Eindrücke inspirieren Bonhoeffer ein Jahr später<br />
bei der Themenwahl für seine Dissertation. Unter dem Titel<br />
„Sanctorum Communio“ entwickelt er ein Kirchenverständnis,<br />
mit dem man ihm durchaus „’Heimweh’ nach dem Katholizismus“<br />
hätte vorwerfen können 8 , weil es bei ihm fast zu einer Identifizierung<br />
von Kirche und Chr<strong>ist</strong>us kommt. Kirche versteht er<br />
unter dem berühmt gewordenen Begriff von „Chr<strong>ist</strong>us als Gemeinde<br />
ex<strong>ist</strong>ierend“. 9 Dieses Kirchenverständnis leitet ihn in den<br />
folgenden Jahren: Kirche hat sich nach seiner Überzeugung in<br />
allem, was sie tut, an Jesus Chr<strong>ist</strong>us und seinem Wort auszurichten<br />
– und das kann sie auch, weil ihr die Gegenwart dieses Chr<strong>ist</strong>us<br />
zugesichert <strong>ist</strong>.<br />
Ein sehr frühes Zeugnis, wie freundlich Bonhoeffer die katholische<br />
Kirche betrachtet, hat sich aus dem Jahre 1927 erhalten.<br />
Damals lädt er junge Leute zum sogenannten „Donnerstagskreis“<br />
ein, um ihnen durch Vorträge und Diskussionen einen Zugang<br />
zu theologischen Themen zu eröffnen. An einem dieser Donnerstage<br />
referiert er über „die katholische Kirche“ 10 . Eingehend<br />
beschreibt er, worin sie sich von der protestantischen Kirche unterscheidet.<br />
Dabei macht er <strong>keine</strong>n Hehl aus dem, was ihn beeindruckt<br />
– aber er stellt zugleich kritische Fragen: „Ist diese Welt<br />
(der katholischen Kirche, K.P.) wirklich Kirche Chr<strong>ist</strong>i geblieben?<br />
Ist sie nicht, statt auf dem Weg zu Gott ein Wegweiser zu<br />
sein, vielleicht zu einem Bollwerk mitten auf dem Weg geworden?<br />
Hat sie nicht den allein seligmachenden Weg verbaut?“ 11
Ökumenische Weggefährtenschaft19<br />
Bonhoeffer wird wenige Jahre später in ähnlicher Form seine<br />
eigene Kirche kritisch hinterfragen. Das entscheidende Kriterium<br />
einer legitimen Kirche <strong>ist</strong> für ihn, ob sie sich radikal an Jesus<br />
Chr<strong>ist</strong>us orientiert. Darum kann er sein Referat mit einem sehr<br />
versöhnlichen Wort beschließen: „So wollen wir gern in Frieden<br />
neben dieser ungleichen Schwester leben […]. Auf den Namen katholisch<br />
oder evangelisch kommt uns nichts an, aber aufs Wort Gottes.“ 12<br />
Mit diesem Satz <strong>ist</strong> auf den Punkt gebracht, was – nach Bonhoeffer<br />
– wesentlich <strong>ist</strong> für eine Kirche, die sich Jesus Chr<strong>ist</strong>us verpflichtet<br />
weiß: Die Treue zum Wort Gottes, das Ringen um einen<br />
Glauben, der allein Gott die Ehre gibt und in die Nachfolge Jesu<br />
Chr<strong>ist</strong>i führt – auf dieser Erde, in diesem Leben, an dem Ort, wo<br />
Gott mich hingestellt hat. Es geht nicht um die Treue zu einer bestimmten,<br />
von Menschen gemachten Kirche; es geht auch nicht um<br />
einen Glauben, der menschlichen Kirchenvätern oder -müttern<br />
die Ehre gibt und letztlich in der Gefahr steht, menschlichen Verführern<br />
zu erliegen. Nein, aufs „Katholische“ oder „Evangelische“<br />
kommt es ihm nicht an – und deshalb kann er eines Tages auch mit<br />
seiner eigenen Kirche brechen, als er ihre schreckliche Untreue gegenüber<br />
dem Wort Gottes erkennt.<br />
So betrachte ich Dietrich Bonhoeffer <strong>keine</strong>swegs mit einer „katholischen<br />
Brille“ und sehe in ihm nicht primär den protestantischen<br />
Pfarrer und Theologen. Ich blicke aus meiner sehr persönlichen<br />
Perspektive auf diesen großen Chr<strong>ist</strong>en des vergangenen Jahrhunderts.<br />
Dass ich Katholik bin und er Protestant, darauf kommt es<br />
nun wirklich nicht an. Ich verstehe uns als ökumenische Weggefährten<br />
– und ich bin davon überzeugt, dass die Zukunft des Chr<strong>ist</strong>entums<br />
ganz entscheidend davon abhängt, ob und wie die Chr<strong>ist</strong>en<br />
unterschiedlicher Konfessionen zueinander finden.
20<br />
Eine Reise Durch die Lebensgeschichte<br />
Ein Chr<strong>ist</strong>entum, das in unserer pluralen, modernen Welt Bedeutung<br />
beansprucht, kann und darf sich nicht länger in konfessionellen<br />
Auseinandersetzungen ergehen, die heute ohnehin kaum noch<br />
verstanden werden. 500 Jahre nach der letzten großen Kirchenspaltung<br />
<strong>ist</strong> es höchste Zeit, dass wir Chr<strong>ist</strong>en uns gemeinsam auf<br />
die Suche nach Chr<strong>ist</strong>us begeben, um IHN für die Gegenwart neu<br />
zu verstehen und SEINE Worte überzeugend zu leben. Wir kommen<br />
zweifellos aus verschiedenen konfessionellen Prägungen, die<br />
zu großen Unterschieden in den Ausdrucksformen des chr<strong>ist</strong>lichen<br />
Glaubens führen und die nicht unterschätzt werden dürfen. Aber<br />
das Verbindende überwiegt. Alle chr<strong>ist</strong>lichen Konfessionen haben<br />
eine gemeinsame Wurzel. Die Ursachen der Trennung liegen weit<br />
zurück. Darum <strong>ist</strong> es an der Zeit, im Wissen um die gemeinsame<br />
Wurzel neu und anders auf das zu schauen, was uns unterscheidet,<br />
aber nicht dauerhaft trennen muss. Es geht vielmehr um einen Perspektivenwechsel:<br />
Die römisch-katholische Kirche und die Kirchen<br />
der Reformation haben jeweils große ge<strong>ist</strong>liche Schätze bewahrt<br />
und entwickelt, die der gegenseitigen Bereicherung dienen<br />
könnten. Ökumene bedeutet nicht, dass der eine sich dem anderen<br />
anzupassen hat, sondern dass beide sich mit ihren jeweiligen Reichtümern<br />
ergänzen, voneinander lernen und profitieren.<br />
So <strong>ist</strong> die protestantische Wertschätzung des Wortes Gottes ein<br />
großer Schatz, der dabei hilft, in der inneren Auseinandersetzung<br />
mit der Bibel die Verbindung zum Ursprung und Grund unseres<br />
Glaubens zu suchen und zu bewahren. Die Bibel als Heilige Schrift<br />
und Wort Gottes <strong>ist</strong> die wichtigste Richtschnur für ein chr<strong>ist</strong>liches<br />
Leben, die auf die Ursprünge des Chr<strong>ist</strong>entums verwe<strong>ist</strong> – sowohl<br />
in der jüdischen Tradition als auch in der unmittelbaren Botschaft<br />
Jesu Chr<strong>ist</strong>i. Auch die synodale Struktur der protestantischen Kirchen<br />
hat ihren besonderen Wert, weil sie ernst nimmt, dass Gott in<br />
jedem einzelnen Getauften wirkt. Deshalb <strong>ist</strong> das geduldige Rin-
Ökumenische Weggefährtenschaft21<br />
gen um einen Konsens in den vielen Entscheidungsprozessen ein<br />
Ausdruck des Vertrauens auf das Wirken des göttlichen Ge<strong>ist</strong>es im<br />
gemeinsamen Dialog der glaubenden Menschen.<br />
Die katholische Liebe zur sakramentalen Verbindung mit Jesus<br />
Chr<strong>ist</strong>us vor allem in der Euchar<strong>ist</strong>ie, aber auch in den weiteren<br />
Sakramenten, hilft, im Leben immer wieder über emotional und<br />
körperlich spürbare Erfahrungen dem Göttlichen zu begegnen.<br />
Die katholischen Sakramente sind me<strong>ist</strong> sehr ausdrucksstarke liturgische<br />
Feiern oder – wie in Beichte, Ehe und Krankensalbung –<br />
sehr intime Begegnungen. Sie verweisen darauf, dass chr<strong>ist</strong>licher<br />
Glaube konkrete Erfahrungen braucht, die innerlich und äußerlich<br />
berühren. Die Wertschätzung der Tradition und die besondere Bedeutung<br />
des Weiheamtes sind ebenso nicht zu unterschätzen. Sie<br />
bringen zum Ausdruck, dass es im Chr<strong>ist</strong>entum um etwas geht, das<br />
nicht beliebig <strong>ist</strong>, sondern im Kern auf etwas Vorgegebenem beruht.<br />
Die Verbindung und Verankerung mit dem Ursprung <strong>ist</strong> ein<br />
sehr zentrales Element, um die eigene Identität zu sichern.<br />
Es wird dem Chr<strong>ist</strong>entum nur helfen, wenn die Konfessionen ihre<br />
jeweiligen ge<strong>ist</strong>lichen Schätze zusammen tragen und sich auf diese<br />
Weise ergänzen. Sie werden sich damit zugleich in ihren jeweiligen<br />
Schwächen korrigieren – und sich damit vielleicht zu einer glaubwürdigeren,<br />
überzeugenderen Kirche entwickeln. Es <strong>ist</strong> wichtig,<br />
dass ein solcher Weg eingeschlagen wird – weil es um die gemeinsame<br />
Verantwortung aller Chr<strong>ist</strong>en geht, damit auch in kommenden<br />
Generationen Jesus Chr<strong>ist</strong>us im Alltag der Menschen lebendig<br />
erlebbar wird.