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Paradox

Über einen scheinbaren Umweg dem Leser etwas anbieten, was er sucht aber auf direktem Weg nicht finden kann.

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Die Schändung des jüdischen Friedhofs in Freudental rief<br />

– so die Regionalpresse – großes Entsetzen und große Betroffenheit<br />

in der Region Bietigheim hervor. Die Bürgermeisterin<br />

der Gemeinde Freudental bezeichnete die Tat<br />

als «feigen und infamen Anschlag auf die Menschenwürde».<br />

Dass bereits im Sommer ein ähnlicher Übergriff vorausgegangen<br />

war, wurde erst nach der erneuten Schändung<br />

bekannt.<br />

Als «Friedhofsschändung» versteht man die mutwillige<br />

Zerstörung, Beschädigung oder Beschmutzung von<br />

Grabstätten, die als Straftat nach §168 StGB (Störung<br />

der Totenruhe) und nach § 304 StGB (Gemeinschädliche<br />

Sachbeschädigung) mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren<br />

geahndet werden kann. Die weitaus häufigsten Friedhofsschändungen<br />

finden hierzulande auf jüdischen Friedhöfen<br />

statt, wobei die Täter in der Regel die Grabsteine<br />

mit antisemitischen und nationalsozialistischen Parolen<br />

beschmieren.<br />

Erfolglose Ermittlungen führen oft zur Vermutung,<br />

spielende Kinder hätten Grabsteine ohne böse Absicht<br />

umgeworfen oder «dumme» Teenager hätten ohne Hintergedanken<br />

Hakenkreuze auf Grabsteine gesprüht. Zuweilen<br />

werden fehlende Freizeitangebote für Jugendliche<br />

und die daraus resultierende Langeweile als ausschlaggebendes<br />

Tatmotiv betrachtet. Als 1994 auf dem jüdischen<br />

Friedhof in Nassau zahlreiche Grabsteine mit Hakenkreuzen<br />

beschmiert und fünf Grabsteine komplett zerstört<br />

vorgefunden wurden, konkretisierte ein für diese Tat<br />

dringend tatverdächtiger Schüler die vermeintlich desolate<br />

Situation seiner Altersgenossen: «Fünf Tage Schule,<br />

freitags Disco, samstags Disco. Und sonst?» Auch zwei<br />

Jugendliche aus Beerfelden (Odenwald) vermissten während<br />

einer Disco-Tour im Mai 1994 die «Action» und «Power».<br />

Aus diesem Grund, so ihre Aussagen, hätten sie<br />

ihren «Frust» dann an Grabsteinen entladen, denn «da<br />

einfach nicht viel los gewesen sei, musste noch etwas<br />

168 – Störung der Totenruhe \s.94<br />

obwohl gewalt und tod heute in den medien fast allgegenwärtig<br />

sind, wird der direkte kontakt zu den toten in den westlich geprägten<br />

ländern – anders als in vielen anderen kulturkreisen – meist gemieden.<br />

insbesondere die leiche ist nahezu aus unserem alltäglichen<br />

blickfeld verdrängt und durch ein neues system von ritualen und<br />

symbolen ersetzt worden, in dem die end lichkeit der menschlichen<br />

existenz verarbeitet werden soll. – kurzum: wir tun uns schwer mit<br />

unseren toten.<br />

passieren». Keinesfalls, so beteuerten die Täter, hätten<br />

sie aus politischen Gründen die Grabsteine auf dem jüdischen<br />

Friedhof in Beerfelden demoliert. Frustration und<br />

Langeweile mögen für einen kleinen Teil der Friedhofsschänder<br />

die Motivation ihrer Handlungen sein. Häufiger<br />

jedoch sind es rechtsradikale Heranwachsende, die ihr<br />

Gedankengut auf jüdische Grabstätten plakatieren. So<br />

gaben drei Jugendliche, die 1979 den jüdischen Friedhof<br />

in Freiburg schändeten an, der «Kampfgruppe Priem» anzugehören.<br />

Als 1994 der jüdische Friedhof in Busenberg<br />

(bei Pirmasens) verwüstet wurde, führten damals schon<br />

Spuren zur «Aktion Sauberes Deutschland» (ASD), einer<br />

neonazistischen Organisation, die sich 1986 gegründet<br />

hatte. Nachweisen konnte man den Aktivisten der ASD<br />

jedoch nichts. Erst nach der erneuten Schändung des Busenberger<br />

Friedhofes 1997 ermittelte die Kriminalpolizei<br />

die Täter aus dem Kreis der ASD, aus denen sich auch die<br />

Friedhofsschänder in Neustadt und Jebenhausen (Baden-<br />

Württemberg) rekrutierten.<br />

Eine «negative Einstellung zu Juden und Ausländern»<br />

gaben zwei Minderjährige als Motiv ihres Übergriffes<br />

auf den jüdischen Friedhof von Bad Kissingen 1994 an.<br />

Acht Heranwachsende, darunter zwei Frauen, die man<br />

der Schändung des jüdischen Friedhofs im brandenburgischen<br />

Guben im März 2000 verdächtigte, waren der<br />

Polizei bereits durch rechtsradikale Vorfälle bekannt.<br />

Meist jedoch werden die Täter aber nicht als überzeugte<br />

Rechtsradikale betrachtet, sondern eher als Mitläufer,<br />

Nachahmungstäter oder irre geleitete Jugendliche.<br />

Dieser Meinung schließen sich auch oft Politiker an, die<br />

die Schändung eines jüdischen Friedhofes als einen unpolitischen<br />

Akt «wirrer Einzeltäter» betrachten. Auch ein<br />

Gerichtspsychiater bezeichnete die Skinheads, die den<br />

Hechinger jüdischen Friedhof verwüsteten, als «unsichere,<br />

orientierungslose Heranwachsende». Die Aufklärungsquote<br />

von Friedhofsschändungen ist äußerst gering.<br />

Wurden 1957 noch 53% aller Überfälle auf jüdische Friedhöfe<br />

aufgeklärt, sank die erfolgreiche Täterermittlung<br />

Mitte der 80er Jahre auf 30% bis 35% und liegt heute bei<br />

etwa 10% bis 15%. Von 1945 bis 2002 sind 2.027 Schändungen<br />

jüdischer Grabanlagen in Deutschland nachgewiesen.<br />

633 Übergriffe fanden dabei im Zeitraum von<br />

1990 bis 2002 statt, was bedeutet, dass während dieser<br />

12 Jahre wöchentlich ein jüdischer Friedhof in Deutschland<br />

geschändet wurde.<br />

Diese Zahlen sind aus Einzeldarstellungen, Verfassungsschutzberichten<br />

(bis 1997) und Pressemeldungen<br />

am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU<br />

Berlin dokumentiert. Hier ist es vor allem die Lokalpresse,<br />

die als unerlässlichste Informationsquelle herangezogen<br />

werden muss, denn eine Presseberichterstattung<br />

von Schändungen jüdischer Friedhöfe findet nur selten<br />

Eingang in die überregionale Presse und beschränkt sich<br />

meist auf nicht mehr als fünf Zeilen. Eine der Regionalpresse<br />

vorenthaltene oder untersagte Berichterstattung<br />

über Schändungen jüdischer Friedhöfe, in der Hoffnung,<br />

dadurch Wiederholungstaten zu verhindern, ist eine fatale<br />

Entscheidung, wie der Fall Freudental gezeigt hat.<br />

Marion Neiss (Historikerin) arbeitet am Zentrum für Antisemitismusforschung<br />

der TU Berlin. Sie publizierte verschiedene Aufsätze<br />

zu Schändungen jüdischer Friedhöfe in Deutschland und<br />

promovierte über die jiddische Presse im Berlin der 1920er Jahre.<br />

Wie verschieden Verstoße gegen § 168 – Störung<br />

der Totenruhe aussehen können, zeigen wir anhand<br />

folgender Beispiele:<br />

… drei Mitarbeiter des Hofer Krematoriums haben<br />

in den Jahren 2005 und 2006 aus der nach der Verbrennung<br />

verbleibenden Asche von Verstorbenen<br />

mindestens 12 kg Zahngold gesammelt und dieses<br />

weiterverkauft. Hierdurch erzielten sie einen Erlös<br />

in Höhe von mindestens 50.000 Euro, den sie zu<br />

gleichen Teilen unter sich aufteilten.<br />

… der Leichnam von Edith Lewinski war nach ihrem<br />

Ableben stillschweigend geöffnet worden. Die<br />

Einwilligung dazu sei darin zu sehen, antwortete<br />

ihm der Arzt, daß kein Widerspruch erhoben worden<br />

sei. „Das steht in Ziffer 14 unserer Aufnahmebestimmungen.“<br />

In den Bestimmungen heißt<br />

es „Die Einwilligung zur Leichenöffnung gilt als<br />

erteilt, wenn nicht der Kranke selbst oder Angehörige<br />

fristgemäß den Wunsch auf Unterlassung der<br />

Leichenöffnung schriftlich geäußert haben.“<br />

… ein 43-jähriger Mann hatte seit Einsetzen der<br />

Pubertät die Phantasie, junge Männer zu schlachten<br />

und sich einzuverleiben. Bereits geraume Zeit<br />

vor der Tat suchte er über das Internet männliche<br />

Personen, die sich ihm hierfür zur Verfügung stellten.<br />

Nach mehreren Internetkontakten fand er das<br />

spätere Opfer, das mit der Verwirklichung dieser<br />

Phantasien einverstanden war. Die Tat fand am<br />

09. März 2001 im Haus des Angeklagten statt, der<br />

dort einen „Schlachtraum“ eingerichtet hatte.<br />

… in der Silvesternacht beschädigten bisher unbekannte<br />

Täter etwa 85 Grableuchten und weiteren<br />

Grabschmuck auf dem katholischen Friedhof in<br />

Oelde. Das ganze Geschehen nahm der Angeklagte<br />

auf Video auf, welches er hinterher betrachten<br />

und in Ausschnitten im Internet verbreiten wollte.<br />

Nach den getroffenen Feststellungen des Landgerichts<br />

sah er sich das Video nach der Tat einmal an<br />

und befriedigte sich dabei selbst, Teile der Leiche<br />

verspeiste er.

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