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Paradox

Über einen scheinbaren Umweg dem Leser etwas anbieten, was er sucht aber auf direktem Weg nicht finden kann.

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Der Alte hat den Tod vor Augen \ s.137<br />

drei monate nach dem von der bundeswehr am 04. september angeforderten bombenangriff<br />

auf zwei tanklastwagen im afghanischen kundus müssen die bisher kursierenden opferzahlen<br />

auf 168 deutlich nach oben korrigiert werden.<br />

Franz Josef Jung – ehemaliger Verteidigungsminister der großen Koalition – nimmt am 26. November 2009, dem Vortag<br />

seines Rücktrittes vom Posten des Ministers für Arbeit und Soziales, Stellung zu den Vorgängen vom 4. September<br />

letzten Jahres in Kunduz und den damit verbundenen Behauptungen der Öffentlichkeit.<br />

Ob Franz Josef Jung zu Beginn seiner Rede schon wusste, dass er dem Druck nicht Stand halten und am darauf<br />

folgenden Tag seinen Rücktritt bekannt geben würde? Bei mir weckt Jungs Rede die Assoziation – „letztes Lied einer<br />

Band auf Abschluss-Tournee.“ Oder noch besser: Zum Abschied „Nehmt Abschied Brüder“ singen – was auch immer –<br />

es treibt einem die Tränen in die Augen.<br />

Ganz ehrlich – ich habe Mitleid mit Franz Josef Jung – ob aus bloßem Kalkül oder nicht, der Mann vorne am Rednerpult<br />

hat „Scheiße gebaut.“ Jung wird von Vizepräsidentin Pau mit folgenden Worten angekündigt: „Vereinbarte Debatte<br />

zu der von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung in Aussicht gestellte Erklärung“ – schwingt da nicht zumindest<br />

ein Hauch von Schwermut mit? Eine Erklärung in Aussicht stellen – d.h. es besteht die hypothetische Möglichkeit<br />

einer Erklärung, keine fundierte. Ich finde es rührend wie bemüht Jung um Oberst Klein zu sein scheint (– „und ihn<br />

dabei nicht alleine lassen“). Eine Art symbolischer Schulterschluss zweier Männer auf der „Abschussliste.“ Jungs Vortrag<br />

dürfte wohl ein Spiegel seiner selbst sein – unstrukturiert und ungeordnet – ganz zu schweigen der gesprochenen<br />

Version, habe ich selbst Schwierigkeiten der Rede in Schriftform zu folgen. Ich lese einen Abschnitt – lese weiter<br />

– komme durcheinander – kehre zurück – lese noch mal – und hangel mich so von Abschnitt zu Abschnitt. Beleg dafür<br />

sind seine zeitlichen Sprünge (4. September, 6. September, 4. September, 5. September, 8. September, 5. oder 6. Oktober,<br />

7. Oktober, 9. September, 14. September) – da könnte selbst der immer aufmerksam zuhörende Abgeordnete der<br />

Grünen Ströbele durcheinander kommen.<br />

Fast als dreist empfinde ich es, dass Jung einerseits noch immer in Frage stellt dass es überhaupt zivile Opfer gegeben<br />

habe, im selben Satz aber betont dies sehr zu bedauern und den Angehörigen sein vollstes Mitgefühl ausdrückt. Eine Art<br />

prophylaktisches Mitgefühl – sozusagen, für den Fall dass. Jung bezieht sich auf den Kurzschluss der Untersuchungskommission<br />

mit der ISAF-Delegation und der Auskunft der Dorfbewohner „dass alle Getöteten zu den Taliban und deren<br />

Verbündeten gehören.“ Womöglich betreibe ich Haarspalterei wenn ich das Wörtchen „ausschliesslich“ vermisse – das<br />

keiner der Taliban oder deren Verbündeter überlebt hat, davon gehe ich aus, bei 125 Opfern von denen die Washington<br />

Post berichtete. Dann die Tatsache sich im letzten Drittel der Rede dunkel zu erinnern, über einen Feldjägerbericht<br />

informiert worden zu sein – diesen aber nicht gelesen sondern unverzüglich weitergeleitet zu haben – erscheint mir<br />

mehr als unglaubwürdig. Es ist mir unverständlich, von einem solchen Bericht zu erfahren, aber kein Interesse daran<br />

zu haben was genau Gegenstand des Berichtes ist – allein schon aus Neugierde. Dann doch lieber gar nicht erst in die<br />

Situation kommen etwas sagen zu müssen – weil man ja gar nichts wusste. Klingt nachvollziehbar, oder?<br />

„Ich stimme an: Nehmt Abschied, Brüder, ungewiß ist alle Wiederkehr, die Zukunft liegt in Finsternis und macht das<br />

Herz uns schwer. Der Himmel wölbt sich übers Land, Ade, Franz Josef Jung!“<br />

Lukas Glittenberg studiert im 9. Semester Kommunikationsdesign an der FH Potsdam. Der Artikel enstand im Rahmen des Kurses<br />

„Man spricht Deutsch …“ unter Leitung von Klaus Pokatzky im Wintersemester 2009 / 2010.

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