Magazin Personalwirtschaft 01/2018
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<strong>Personalwirtschaft</strong><br />
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+++ Special: Compensation & Benefits +++ Interview: Adidas-Personalchefin Karen Parkin +++<br />
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EDITORIAL<br />
Vom Wachsen und Schrumpfen<br />
Eine einigermaßen lustige Eigenschaft des Kapitalismus<br />
ist, dass er immer zugleich wachsen und<br />
schrumpfen will. Dem ewigen Fortschrittsglauben<br />
des „Höher, schneller, weiter“ steht, klein<br />
und knauserig, das Gebot „Schlanker, straffer,<br />
zackiger“ entgegen. Nur zu wachsen, reicht eben<br />
nicht: Wer den Erlös maximieren will, muss<br />
parallel die Kosten drücken. Das sind BWL-<br />
Basics: Es geht um „Effizienz“, „Wirtschaftlichkeit“<br />
und „Optimierung“.<br />
Alles sinnvoll, solange es im Rahmen bleibt.<br />
Solange es mit Bedacht geschieht. Jeder Apfelbauer<br />
schneidet seine Bäume einmal im Jahr, weil sie<br />
dann mehr Ertrag abwerfen – hier steht Wachsen<br />
und Schrumpfen im gesunden Verhältnis.<br />
Genauso weiß aber jeder Hobbygärtner, der zu<br />
ambitioniert die Hecke geschnitten hat: Ein System,<br />
das einmal zu brutal gekürzt wurde, erholt<br />
sich nicht mehr von selbst.<br />
Nun hat eine Querschnittsabteilung wie HR, die<br />
keine direkten Umsätze erzielt, in Kostenrunden<br />
traditionell schlechte Argumente. Harte<br />
Kennzahlen zum Wirkungsgrad der eigenen<br />
Arbeit können da helfen. Doch nicht selten wird<br />
trotzdem die Rosskur verordnet: streichen, kürzen,<br />
auslagern, umschichten, günstiger werden.<br />
Und das alles am besten schnell und im laufenden<br />
Betrieb. Das hat mit „Lean Management“<br />
nicht viel zu tun. „Lean HR“ heißt nicht, blindwütig<br />
zu kürzen, sondern ist darauf bedacht,<br />
Verschwendung zu vermeiden.<br />
In unserem Schwerpunkt ab Seite 32 wird deutlich:<br />
Richtig verstanden, erlaubt Lean Management,<br />
Fragen zu stellen, die HR im Ganzen weiterbringen<br />
können. Was ist unser Auftrag im<br />
Unternehmen? Wofür wollen wir stehen? Welche<br />
unserer bisherigen Jobs machen wir weiter,<br />
was lassen wir künftig sein? Welche Allianzen<br />
schmieden wir dafür im Unternehmen und<br />
außerhalb?<br />
Doch Obacht: Vertiefen Sie sich nicht zu sehr –<br />
zum Schrumpfen bleibt in der Regel wenig Zeit.<br />
Wir müssen ja weiter wachsen.<br />
Cliff Lehnen<br />
Chefredakteur<br />
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INHALT<br />
PERSONALWIRTSCHAFT <strong>01</strong>_2<strong>01</strong>8<br />
3 EDITORIAL Vom Wachsen und Schrumpfen<br />
6 STILKRITIK Martin Schulz: Der Politiker von der traurigen Gestalt<br />
7 ZAHLEN, BITTE Die beliebtesten <strong>Personalwirtschaft</strong>-Beiträge des Jahres 2<strong>01</strong>7<br />
HR & ICH<br />
8 INTERVIEW Adidas-Personalvorstand Karen Parkin im Gespräch<br />
12 CASE STUDY Jotec: Schnelles Wachstum erfordert BGM-Strategie<br />
16 REPORT So macht HR Mitarbeiter zu Botschaftern<br />
20 IN AKTION Ein Tag mit Marion Rövekamp bei der DB Regio<br />
26 PRAXISTRANSFER Change-Kompetenz im mittleren Management<br />
28 PRAXISTRANSFER Recruiting von Fachkräften ohne Studium<br />
30 LEBENSLÄUFE Wolfgang Goebel im CV-Check<br />
TITEL: LEAN HR<br />
32 ANALYSE Simplify your Personalmanagement<br />
38 QUINTESSENZ So entrümpeln Sie HR erfolgreich<br />
SPECIAL: COMPENSATION & BENEFITS<br />
40 ROUND TABLE Die Kunst der richtigen Vergütung<br />
46 INTERVIEW Vom Team entwickeltes Vergütungssystem bei Elobau<br />
48 STUDIE Anforderungen der Generationen Y und Z an das Gehalt<br />
RECHT & POLITIK<br />
52 ANALYSE Arbeitsrechtliche Folgen der Insolvenz bei Air Berlin<br />
56 BAG & CO. Skurriles und Relevantes aus dem Gerichtssaal<br />
TECHNIK & TOOLS<br />
58 INTERVIEW Professor Dietmar Kilian über eine humanzentrierte Arbeitswelt 4.0<br />
60 CASE STUDY Der Rolling Forecast der Deutschen Bank<br />
63 UPDATE Software und Dienstleister für den Job HR<br />
FORSCHUNG & LEHRE<br />
64 STUDIE So messen Sie Führungsqualität mit nur einer Frage<br />
66 INTERNATIONAL Professor Karlheinz Schwuchow über aktuelle US-Forschung<br />
EVENT & SZENE<br />
68 TREFFPUNKT Learntec: Interview mit Keynote-Speaker Nikil Mukerji<br />
72 SESSELWECHSEL Stephan Grabmeier und Karl-Heinz Reitz im Interview<br />
74 BÜCHER Titel im Praxistest: „Innovationskultur der Zukunft“<br />
76 STELLENMARKT Aktuelle Jobs für Personalmanager<br />
80 HR BUZZWORD BINGO Warum mancher Manager einen Schatten hat<br />
81 VORSCHAU Was Sie in der Februar-Ausgabe erwartet<br />
81 IMPRESSUM<br />
82 BLICK VON AUSSEN Peter Kreuz über giftige Kennzahlen<br />
4<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
8<br />
16<br />
Foto: Adidas AG<br />
Foto: Maya Claussen<br />
20<br />
73<br />
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STILKRITIK<br />
Von der traurigen Gestalt<br />
„Asozial“ und „verantwortungslos“ nennt es SPD-Chef Martin Schulz, wenn Siemens Milliardengewinne<br />
einfährt und zugleich Tausende Stellen abbaut. Damit hat er sich leider wieder einmal verrannt.<br />
VON CLIFF LEHNEN<br />
u Vielleicht wäre eine Biografie wie die des Josef Käser aus<br />
Arnsbruck im Bayerischen Wald ohne die SPD gar nicht möglich<br />
gewesen: Dass es der Arbeitersohn aus dem 2000-Seelen-<br />
Dorf in den Siebzigern an die Fachhochschule nach Regensburg<br />
schaffte, das war gelebte Bildungsgerechtigkeit. Dass er 1980<br />
bei Siemens ein- und dort aufsteigen konnte, den Konzern<br />
schon bald im Ausland repräsentieren durfte: ein Beispiel für-<br />
Chancengerechtigkeit. In den Neunzigern ging es für ihn im<br />
Auftrag des Unternehmens in die USA, und von dort kam er<br />
als gemachter Mann zurück: als „Joe Kaeser“ nämlich. Aus<br />
Josef war Joe geworden, ganz amtlich, ganz offiziell, und vor<br />
allem: ohne Umlaut. International ist das einfach<br />
praktischer. Und zielführender.<br />
Seit viereinhalb Jahren nun ist Joe Kaeser CEO<br />
von Siemens. Davor war er sieben Jahre Finanzvorstand.<br />
Er hat es ganz nach oben geschafft,<br />
weil er durch und durch Stratege ist. Und er<br />
ist bereit, einschneidende Entscheidungen zu<br />
treffen, wenn sie dem großen Ganzen dienen.<br />
So kühl wie er einst seinen Namen auf die<br />
wichtigsten Elemente reduzierte, so kündigte<br />
er auch jüngst an, in der Kraftwerks- und<br />
Antriebstechnik weltweit 6900 Stellen zu<br />
streichen.<br />
Welcher Aspekt dieser Stellenstreichung hat SPD-Schlachtross<br />
Martin Schulz wirklich auf die Palme gebracht, so sehr, dass er<br />
das Verhalten der Siemens-Oberen lautstark „verantwortungslos“<br />
und „asozial“ nannte? Waren es die Milliardengewinne, die<br />
Siemens gleichzeitig verbuchte? Waren es die Einzelschicksale<br />
der Arbeiter in Mülheim, Görlitz oder Berlin? Oder trieb ihn<br />
bloß die Hoffnung auf späte – zu späte – Gunst aus dem Volk?<br />
All das mag seinen Furor verstärkt haben, doch zuvorderst<br />
dürfte es die Kaeser’sche Kühle gewesen sein, an der er sich stieß.<br />
Schulz ist Bauchmensch, Gerechtigkeitsfanatiker, im Wahlkampf<br />
hat er die soziale Gerechtigkeit zu seinem Thema gemacht.<br />
Schulz wollte mehr Wärme. Dafür hat er sich aufgerieben,<br />
damit ist er böse auf die Nase gefallen.<br />
Und auch diesmal ging es schief. Kaesers Antwort fiel standesgemäß<br />
nüchtern aus: Siemens habe allein in den vergangenen<br />
fünf Jahren mehr als 20 Milliarden Euro an Steuern, Abgaben<br />
und Sozialversicherungsbeiträgen an den deutschen Staat überwiesen;<br />
in Deutschland gebe es wegen der Energiewende kaum<br />
mehr Nachfrage für Gas- und Kohlekraftwerke; und überhaupt<br />
solle sich Schulz „dabei auch überlegen, wer wirklich verantwortungslos<br />
handelt: diejenigen, die absehbare Strukturprobleme<br />
proaktiv angehen und nach langfristigen Lösungen suchen,<br />
oder diejenigen, die sich der Verantwortung und dem Dialog<br />
entziehen.“ Ein empfindlicher Wirkungstreffer für den Wahlverlierer<br />
und zunächst trotzigen GroKo-Verweigerer Schulz.<br />
Martin Schulz: Der Politiker von der traurigen Gestalt. Stets<br />
bemüht, stets emotional, doch nichts will ihm recht gelingen.<br />
Das lässt ihn verbissen wirken, manchmal auch verbittert.<br />
Dagegen wirkt Kaeser, der kühle Stratege, aufgeräumt und klar.<br />
Man würde denken, der neue Joe Kaeser –<br />
der erfolgreiche Mann von Welt – habe alle<br />
Verbindungen in die alte Heimat Niederbayern<br />
gekappt. Doch dem ist nicht so. Noch<br />
heute wohnt er dort, geht zum Gemeindefest,<br />
engagiert sich für die Freiwillige Feuerwehr.<br />
Alte Freunde rufen ihn „Sepp“, Executives<br />
nennen ihn „Joe“. Martin Schulz hingegen<br />
nennen alle bloß Martin. Oder „Machtin“, so<br />
klingt das im Rheinland. Martin, der Verwurzelte.<br />
Martin, der Hoffnungsträger. Martin,<br />
der gefallene Stern.<br />
Martin, der geprügelte Hund, dessen Bissigkeit erst wieder aufblitzte,<br />
als die Wahl vorbei war. Eine Langzeitreportage im<br />
„Spiegel“ zeigte kurz darauf, dass es Parteikollegen, Berater,<br />
Redenschreiber und andere vermeintliche Helfer waren, die ihn<br />
um ein besseres Ergebnis brachten – weil sie ihn Stück für<br />
Stück von seinen Ideen und Werten entfernten, ihn in ein schief<br />
sitzendes Kampagnenkorsett steckten. Die inhaltlichen Wurzeln<br />
waren längst gekappt. Was blieb, war die Wurzel Heimat:<br />
Würselen bei Aachen. Die Buchhandlung, das Bürgermeisteramt,<br />
die B-Jugend-Vizemeisterschaft – all diese lokalen Spezifika<br />
hat uns die Wahlkampagne so lange vorgebetet, bis wir sie<br />
auswendig konnten. Martin Schulz kann man gar nicht denken<br />
ohne die totale Verortung. So wurde in kaum einem Jahr<br />
aus Deutschlands profiliertestem Europapolitiker ein bräsiger<br />
Provinzler. Eine Abstiegsbiografie – auch diese übrigens ohne<br />
die SPD undenkbar.<br />
Martin, das Bauernopfer. Wieder einmal hat er sich verrannt.<br />
„Die Leute sind ja nett zu mir, aber sie sind es aus Mitleid“, meint<br />
Schulz an einer Stelle im Spiegel-Porträt. Leider hat er damit<br />
recht.<br />
p<br />
6<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
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Alle Beiträge zum Nachlesen unter<br />
www.pwgo.de/best-of-2<strong>01</strong>7<br />
Recruiting<br />
• Special: Die wichtigsten Recruiting-KPIs<br />
• Bilderstrecke: Round Table Employer Branding<br />
• Deutscher <strong>Personalwirtschaft</strong>spreis: Die HR-Macher des Jahres<br />
• Studie: Azubi-Report 2<strong>01</strong>7<br />
• News: Ab 2<strong>01</strong>8 weniger Leiharbeiter<br />
• Studie: Die Recruiting-Trends von morgen<br />
• News: Active Sourcing – Direktansprache wird wichtiger<br />
• News: Recruiting-App Talentcube macht den Deal bei der „Höhle der Löwen“<br />
Quelle: Eigene Auswertung. Grundlage sind die Beiträge mit den meisten Klicks in den fünf am stärksten frequentierten HR-Themenbereichen auf www.personalwirtschaft.de.<br />
Außerdem wurden die über die Social-Media-Kanäle am stärksten frequentierten Beiträge in den fünf Themenbereichen berücksichtigt.<br />
HR-Organisation<br />
+ HR-Software<br />
Arbeitsrecht<br />
• Interview: Ärztin Dr. Mirriam Prieß über HR als Burn-out-Falle<br />
• News: Das sind „Deutschlands Beste Arbeitgeber 2<strong>01</strong>7“<br />
• Bilderstrecke: Der Status quo der Führungskräfteauswahl<br />
• Studie: Warum das Arbeitsklima der wichtigste Kündigungsgrund ist<br />
• Studie: Sozialkompetenzen der Führungskräfte entscheiden über Mitarbeiterbindung<br />
• News: Warum manche Unternehmen kein Homeoffice anbieten<br />
• Checkliste: Die sechs häufigsten Fehler bei der HR-Digitalisierung<br />
• Bilderstrecke: Sieben Schritte zur HR-Digitalisierung<br />
• Marktanalyse: Die 25 umsatzstärksten HR-Softwareanbieter in Deutschland<br />
• Special: Verdienen Sie genug? Der große HR-Gehältercheck<br />
• News: Die Viel- und Wenigverdiener 2<strong>01</strong>7<br />
• News: Die beliebtesten Firmenwagen 2<strong>01</strong>7<br />
• Interview: „Das neue Mutterschutzgesetz braucht kein Mensch“<br />
• Urteil: 40-Euro-Pauschalstrafen für Arbeitgeber bei verspäteter Lohnzahlung<br />
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<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 7
HR & ICH INTERVIEW<br />
Mit Herz und Hirn<br />
In Herzogenaurach bleibt kein Stein auf dem anderen. Mit einem ambitionierten Plan will sich<br />
Adidas dem Wettberwerber Nike weiter an die Fersen heften. Hierzu soll HR mit einem neuen<br />
Konzept entscheidend beitragen, wie Personalvorstand Karen Parkin im Gespräch erläutert.<br />
INTERVIEW: WINFRIED GERTZ<br />
Fotos: Adidas AG<br />
Zur Person:<br />
Nachdem sie bereits drei Jahre als weltweite Personalchefin des Sportartikelherstellers amtiert hatte, wurde die<br />
Britin Karen Parkin (52) am 12. Mai 2<strong>01</strong>7 zum Personalvorstand der Adidas AG in Herzogenaurach berufen.<br />
Parkin blickt auf eine rund zwanzigjährige Karriere bei Adidas zurück. Zehn Jahre nach dem Einstieg als Sales Director UK<br />
wechselte sie in die USA, wo sie in der Niederlassung in Portland, Oregon, mehrere Führungspositionen innehatte.<br />
Ehe sie HR-Verantwortung übernahm, war sie als Senior Vice President Supply Chain Management für die gesamte<br />
Wertschöpfungs- und Lieferkette vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden zuständig. Die studierte Pädagogin ist<br />
verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter.<br />
8<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
u <strong>Personalwirtschaft</strong>: Frau Parkin, in Deutschland schreibt das<br />
Gesetz für den Aufsichtsrat eine Frauenquote vor. Womöglich<br />
wird sie bald auch für den Vorstand eingeführt. Wie steht es um<br />
die Frauenförderung bei Adidas?<br />
Karen Parkin: Die Vorgabe für den Aufsichtsrat haben wir längst<br />
erfüllt. Zudem sieht eine freiwillige Selbstverpflichtung vor, den<br />
Anteil von Frauen im Vorstand sowie auf den zwei Führungsebenen<br />
darunter deutlich zu erhöhen. Diese Ziele haben wir fast alle<br />
erreicht: Mit mir haben wir 2<strong>01</strong>7 die erste Frau in den Vorstand<br />
berufen. Auch den Frauenanteil der ersten Führungsebene unterhalb<br />
des Vorstands konnten wir wie geplant auf 18 Prozent erhöhen.<br />
Lediglich unser drittes Ziel, den Frauenanteil der zweiten Führungsebene<br />
unterhalb des Vorstands auf 30 Prozent zu heben,<br />
haben wir ganz knapp verfehlt. Ich habe immer gesagt, dass wir<br />
bei Frauen noch Nachholbedarf haben, bin aber sicher, dass wir<br />
bis 2020 den Frauenanteil in Führungspositionen weiter erhöhen<br />
werden.<br />
HR ist nach längerer Abwesenheit wieder im Vorstand vertreten.<br />
Schlüpfen Sie auch in die Rolle des Arbeitsdirektors, wie etwa Janina<br />
Kugel bei Siemens?<br />
Bisher oblag diese Rolle dem Finanzvorstand. Zwar bin ich mit der<br />
HR-Organisation für die Beziehungen zu den Betriebs- und Sozialpartnern<br />
zuständig. Dennoch belassen wir es bei der bisherigen Aufteilung.<br />
Ich bin Engländerin und spreche kein Deutsch – ein Grund,<br />
das bewährte Verfahren beizubehalten.<br />
Welchen Einfluss hatte Ihre Vorstandsberufung auf die HR-Organisation?<br />
Mit meiner Berufung haben wir die Aufstellung<br />
des Aufgabenbereichs grundlegend<br />
geändert. Seit Bekanntgabe der Zentralisierung<br />
der HR-Funktion im Juli<br />
berichten alle HR-Abteilungen nun direkt<br />
an mich als Executive Board Member HR.<br />
Mit der konsequenten Umstrukturierung<br />
verfolgen wir das Ziel, eine neue Unternehmenskultur<br />
zu entwickeln, um so<br />
Talente weltweit über ein konsistentes<br />
Angebot und Arbeitsumfeld gewinnen und an uns binden zu<br />
können. Ein weiterer Punkt auf unserer Agenda ist, die Unternehmensstrategie<br />
„Creating the New“ mit HR-Initiativen zu<br />
unterstützen. Dies ist ohne ein geeintes Team nicht möglich. Im<br />
Moment klären wir noch Details, wie neue Rollen und Verantwortlichkeiten.<br />
Doch unsere Agenda steht.<br />
Worauf legen Sie Ihr Augenmerk als Personalvorstand?<br />
Was ich beitragen kann, ist untrennbar mit meinem beruflichen Weg<br />
verknüpft. Ich komme aus dem Business und bin sozusagen keine<br />
Personalerin. Aufgabe von HR ist für mich, die richtigen Tools und<br />
Programme bereitzustellen, damit jeder sein Bestes geben und sich<br />
die neue Unternehmenskultur auch entfalten kann. Nur so können<br />
wir unseren ambitionierten Plan erfüllen. Dem werde ich mich mit<br />
Leidenschaft widmen.<br />
„Wenn die Mitarbeiterstrategie<br />
das Herz ist,<br />
ist HR der Kopf, der diese<br />
mit Leben erfüllt und die<br />
entsprechenden Werkzeuge<br />
und Programme bereitstellt.“<br />
Studien zeigen, dass Unternehmen oft ihre Kultur vernachlässigen.<br />
Sie wollen es besser machen, aber wie?<br />
Unsere Mitarbeiterstrategie ruht auf vier Säulen. Zunächst einmal<br />
geht es um Talente: Wir wollen die Besten gewinnen und ans Unternehmen<br />
binden. Ein weiteres Augenmerk legen wir auf die Führungskultur.<br />
Führungskräfte sollen Vorbilder sein und Mitarbeiter<br />
inspirieren, ihr Bestes zu geben. Drittens wollen wir das immense<br />
Potenzial erschließen, das im Facettenreichtum der Belegschaft<br />
steckt. Die vierte Säule ist ein kreatives und kollaboratives Arbeitsumfeld<br />
sowie die Unternehmenskultur. Sie ist geprägt von Selbstvertrauen,<br />
Zusammenarbeit und Kreativität.<br />
Wie sind Mitarbeiter- und HR-Strategie bei der strategischen Planung<br />
bis zum Jahr 2020 miteinander verzahnt?<br />
Wenn die Mitarbeiterstrategie das Herz ist, ist HR der Kopf, der die<br />
Mitarbeiterstrategie mit Leben erfüllt und die entsprechenden<br />
Werkzeuge und Programme bereitstellt. Dazu tragen Talent Management<br />
sowie Anreiz- und Entgeltsysteme ebenso bei wie Führung.<br />
Adidas will mehr Umsatz erzielen, den Gewinn erhöhen und mit<br />
der Konkurrenz gleichziehen. Gehen HR-Strategie und Geschäftsstrategie<br />
Hand in Hand?<br />
„Creating the New“ ist ein ehrgeiziger, aber realistischer Plan, der<br />
den Grundstein für das beschleunigte Umsatz- und Gewinnwachstum<br />
bis 2020 legt. Beispielweise wollen wir uns stärker auf Metropolen,<br />
den nordamerikanischen Markt und die Digitalisierung<br />
fokussieren. Um die Strategie erfolgreich umzusetzen, ist es Aufgabe<br />
von HR, den Mitarbeitern die entsprechenden Programme,<br />
Richtlinien, Tools und Dienstleistungen an die Hand zu geben.<br />
Sie sagten einmal, direkt zu kommunizieren<br />
würde dazu beitragen, das Tempo zu<br />
erhöhen. Wie stellen Sie sich die Zukunft<br />
der Arbeit bei Adidas vor?<br />
Ich bin überzeugt, dass die Arbeitsumgebung<br />
ständig verbessert werden kann. Unser<br />
agiles Arbeitsplatzkonzept „My Arena“<br />
ist auf die verschiedenen Aktivitäten der<br />
Mitarbeiter ausgerichtet und fördert Zusammenarbeit,<br />
Kreativität, Innovation und Produktivität. Die neuen<br />
Gebäude und die „World of Sports“ werden so konzipiert, dass es<br />
zahlreiche Treffpunkte zum zwanglosen Austausch geben wird.<br />
Immer mehr Beschäftigte sind doch gar nicht mehr im Büro.<br />
Richtig. Viele Mitarbeiter sind geschäftlich unterwegs oder arbeiten<br />
außerhalb des Campus. In einer zunehmend digitalisierten Welt<br />
sollten alle Mitarbeiter ihren Aufgaben flexibel nachgehen können.<br />
Dennoch ist unser Ziel, Mitarbeitern das bestmögliche Arbeitsumfeld<br />
zu bieten. Sie sollen gerne zur Arbeit gehen.<br />
Wie fördern Sie das?<br />
Mit tollen Büros, zahlreichen Sportplätzen und einem großen Fitnessstudio.<br />
Mit gesundem Essen im Mitarbeiterrestaurant und<br />
einem „Maker Lab“, wo Mitarbeiter ihre Kreativität ausleben kön-<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 9
HR & ICH INTERVIEW<br />
konnte ich mir selbst Wissen aneignen und Erfahrungen sammeln,<br />
um mich für meine aktuelle HR-Aufgabe zu empfehlen. Mit dem<br />
Programm „Talent Carousel“ ermöglichen wir jungen Talenten,<br />
einen funktionsübergreifenden, internationalen Karriereschritt zu<br />
machen. Alle Teilnehmer wechseln für 24 Monate in eine neue<br />
Funktion an einen anderen Standort. Wo man näher am Kunden<br />
ist, werden Entscheidungen anders getroffen als im Headquarter.<br />
Nicht nur Karen Parkin, sondern der gesamte Adidas-Vorstand gibt sich mitarbeiternah.<br />
Diese Kultur der Offenheit soll ins gesamte Unternehmen ausstrahlen.<br />
nen. Hier finden sie spezielle Werkzeuge wie<br />
Laserschneider oder 3D-Drucker vor und<br />
können auf das Know-how ihrer Kollegen<br />
zurückgreifen, um eigene Ideen in Form<br />
von Prototypen zu verwirklichen. Seine<br />
Wurzeln hat das Maker Lab im Hacker-<br />
Space-Konzept, das allen Mitarbeitern die<br />
Freiheit einräumt, ihre eigenen Ideen zum<br />
Leben zu erwecken.<br />
Ist es Teil der Markenbildung, dass der Campus in Herzogenaurach<br />
mit Nachdruck ausgebaut wird?<br />
Mit der Erweiterung unterstreichen wir einmal mehr unser Bekenntnis<br />
zum historischen Firmensitz. Aktuell errichten wir ein neues<br />
Gebäude für etwa 2000 Mitarbeiter, das die oben skizzierten kulturellen<br />
Prinzipien praktisch umsetzt und Anfang 2<strong>01</strong>9 bezogen wird.<br />
Ist der Vorstand in dieses Konzept einbezogen oder residieren Sie<br />
selbst noch in einem von Sekretärinnen abgeriegelten Büro?<br />
Die Zeiten sind vorbei. Alle Vorstandsmitglieder arbeiten gemeinsam<br />
in einer komplett verglasten, transparenten Umgebung. Von<br />
meinem Platz aus kann ich den Blick über den gesamten Campus<br />
schweifen lassen. Umgekehrt kann mich auch jeder sehen und<br />
beobachten. Wir sind ein sehr sichtbarer Vorstand. Diese Offenheit<br />
gilt für das ganze Unternehmen.<br />
Erfahrung sammeln zu können ist Bestandteil jedes ambitionierten<br />
Förderungsprogramms für den Führungskräftenachwuchs.<br />
Worauf legen Sie Wert?<br />
Mit einer funktionsübergreifenden Struktur und einer Vielzahl<br />
von Standorten bieten wir hierfür gute Voraussetzungen. Nur so<br />
„Alle Vorstandsmitglieder<br />
arbeiten gemeinsam<br />
in einer komplett verglasten,<br />
transparenten Umgebung.<br />
Wir sind ein sehr sichtbarer<br />
Vorstand.“<br />
Was bedeutet das für die junge Generation?<br />
Ihre Erwartung ist, sich ständig zu bewegen. Anders als bei traditionellen<br />
Karriereverläufen wollen junge Menschen auf dem Weg<br />
zur Führungskraft möglichst viel aus verschiedenen internationalen<br />
Aufgabenbereichen mitnehmen. Sie suchen gezielt Arbeitgeber<br />
aus, die ihnen solche gewissermaßen disruptiven Bedingungen<br />
eröffnen.<br />
Unterhält Adidas neben dem Führungsnachwuchsprogramm<br />
auch ein Nachfolgeprogramm für C-Level-Kandidaten?<br />
Definitiv, zumal wir solche Positionen bevorzugt mit Führungskräften<br />
aus eigenen Reihen besetzen. Auf eigene Führungskräfte mit breiter<br />
Erfahrung in verschiedensten Märkten und Funktionen zurückgreifen<br />
zu können, hilft uns enorm. Wir haben eine Core Leadership<br />
Group von etwa 25 internationalen Kandidaten,<br />
die eng mit dem Vorstand zusammenarbeitet.<br />
Einmal im Monat kommen<br />
wir mit ihnen zusammen und tauschen<br />
uns intensiv über verschiedene Themen<br />
aus.<br />
Waren Sie auch Teil dieses Programms?<br />
Wie wurden Sie auf Ihre neuen Aufgaben<br />
vorbereitet?<br />
Als ich vor drei Jahren die HR-Führung übernahm, gab es ein solches<br />
Programm noch nicht. Die Auswahl lief über einen Headhunter.<br />
Grundsätzlich geht es stets darum, den besten Kandidaten<br />
für jede Aufgabe zu finden.<br />
Wechseln wir die Perspektive vom Vorstand zum Nachwuchs,<br />
den Sie ja bei aller Zuwendung für Führungskräfte nicht vernachlässigen<br />
dürfen. Wie viele junge Leute bilden Sie aus, wie viele übernehmen<br />
Sie?<br />
Ende 2<strong>01</strong>6 befanden sich insgesamt 63 junge Leute in der Ausbildung<br />
– beispielsweise zum Fachinformatiker, Einzelhandelskaufmann<br />
oder Schuhtechniker. Gleichzeitig absolvierten 35 Talente<br />
duale Studienprogramme, etwa in den Bereichen Finanzdienstleistungen,<br />
Digitaler Handel oder International Business. Zu Beginn<br />
des neuen Ausbildungsjahres stießen 22 Azubis und 15 duale Studenten<br />
hinzu. Sofern die Leistung stimmt, bieten wir jedem eine<br />
Übernahmegarantie. Dabei dürfen wir die zahlreichen Praktikanten<br />
nicht aus dem Auge verlieren. Gut 600 Studenten haben im<br />
letzten Jahr für drei oder sechs Monate erste Erfahrungen bei uns<br />
gesammelt. Die jungen Menschen sind auch unsere Kunden und<br />
spiegeln somit unsere Zielgruppe wider. Eine ideale Konstellation:<br />
Man lernt voneinander, und viele kehren nach dem Schulabschluss<br />
10<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
oder dem Examen wieder zurück. Dies weiter auszubauen, ist ein<br />
wichtiger Teil der HR-Strategie.<br />
Bleiben wir beim dualen Studium. Solche Programme erfreuen<br />
sich zunehmender Nachfrage in der deutschen Wirtschaft. Was<br />
schätzen Sie daran?<br />
Der große Vorteil liegt darin, dass wir exakt jene Mitarbeiter<br />
ausbilden können, die wir benötigen. Durch Rotation innerhalb<br />
der Organisation sind sie sehr gut im Unternehmen vernetzt<br />
und – im Unterschied zu externen Talenten – bereits mit unseren<br />
Prozessen und der Kultur vertraut. Grundsätzlich haben diese<br />
Programme eine große Auswirkung auf das Lernen in der Organisation.<br />
Wir dürfen nicht aufhören zu lernen, nicht zuletzt von<br />
jenen, die mit frischen Ideen von den Hochschulen zu uns kommen.<br />
DIE WICHTIGSTEN<br />
ÄNDERUNGEN<br />
AUF EINEN BLICK!<br />
Welche Perspektiven eröffnen sich jungen Menschen, sobald sie<br />
nach Schule oder Studium einen Arbeitsvertrag unterschreiben?<br />
Wie schnell kommen diese auf der Karriereleiter voran?<br />
Sobald jemand einsteigt, wird er unabhängig von Qualifikation<br />
und Werdegang genauso wie alle anderen Kollegen behandelt<br />
und respektiert. Jeder erhält zahlreiche Chancen, schnell voranzukommen<br />
und sich weiterzuentwickeln. Auf diesem Weg erhält<br />
er regelmäßig Feedback und kann sich seinerseits auch stets zu<br />
seinen Wünschen und Zielen äußern. Gerade bei jungen Menschen,<br />
die erstmals im Berufsleben stehen und sich von Grund<br />
auf neu orientieren müssen, begleiten wir diese Entwicklung sehr<br />
achtsam.<br />
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Als Marke strahlt Adidas tief in die Welt von Sport, Lifestyle, Fitness<br />
und Gesundheit hinein. Wie wirkt sich das intern aus?<br />
Durch Sport, davon sind wir überzeugt, können wir Leben verändern.<br />
Sport hilft uns, zu wachsen und Leistung zu bringen. Vorausgesetzt,<br />
man ist gesund. Aber das Angebot muss auch angenommen<br />
werden. Zu informieren, wie es dem Einzelnen nützt, ist<br />
Aufgabe von HR. Wir helfen Mitarbeitern, sich gesund zu ernähren,<br />
und unterstützen sie, die richtige Balance bei der Arbeit zu finden<br />
und mit Stress umzugehen.<br />
Krankheitsbedingte Ausfälle sollen sich in Grenzen halten, lautet<br />
der Business Case. Will Adidas auf diesem Gebiet ein Vorbild<br />
für andere Unternehmen sein?<br />
Exakt. Mit Unterstützung eines Dienstleisters messen wir, wie gut<br />
sich unsere Mitarbeiter fühlen, und zwar in jeglicher Hinsicht: Puls,<br />
Atmung, Fitness oder Ernährung. Das nehmen wir sehr ernst.<br />
Schlägt sich der Fitnessgrad von Mitarbeitern und wie Führungskräfte<br />
auf deren Wohlbefinden eingehen in deren Einkommen nieder,<br />
etwa in Form von variabler Vergütung?<br />
Nein. Wer zu Adidas kommt, identifiziert sich mit der Kultur. Führungskräfte<br />
sollen in jeder Hinsicht Vorbild sein. Wer allerdings nicht<br />
davon überzeugt ist, dass Sport die Kraft besitzt, ein Leben zum<br />
Positiven zu verändern, würde sich auch nicht wohlfühlen. Das ist<br />
unsere DNA, daraus schöpfen wir die Kraft für den Erfolg. p<br />
DIESE ÄNDERUNGEN ZUM JAHRESWECHSEL<br />
MÜSSEN SIE KENNEN<br />
Mit der Broschüre Personalrecht 2<strong>01</strong>8 verschaffen Sie sich<br />
einen schnellen Überblick:<br />
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<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 11
HR & ICH BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANAGEMENT<br />
Wachstum darf nicht krank machen<br />
Durch ein rasantes Wachstum sah sich die Jotec GmbH plötzlich mit erhöhten Fehlzeiten<br />
konfrontiert. Mit viel Engagement und einem ausgeklügelten Gesundheitsmanagement ist es<br />
gelungen, das Arbeiten für die Mitarbeiter deutlich zu verbessern und die Produktivität zu steigern.<br />
CASE STUDY<br />
u Das Medical Valley liegt am Fuß der Schwäbischen Alb.<br />
Hier – in Hechingen und Umgebung – haben sich rund<br />
70 international vernetzte Unternehmen angesiedelt, die<br />
zur Speerspitze der innovativen Medizintechnik gehören.<br />
Die Jotec GmbH ist einer dieser stillen Global Player.<br />
Der Hersteller von Gefäßprothesen und endovaskulären<br />
Implantaten hat sich in wenigen Jahren vom Start-up zu<br />
einem Unternehmen entwickelt, das jährlich um gut 20<br />
Prozent wächst.<br />
Wachstum ist schön, aber Wachstum in einer so kurzen<br />
Zeit muss auch verdaut werden. So bedeutete die ständig<br />
steigende Nachfrage vor allem für die Mitarbeiter in<br />
der Produktion eine besondere Belastung. Damit ergaben<br />
sich Fehltage, was die Belastung der anderen nochmals<br />
erhöhte, da sie die Kapazität der Fehlenden zusätzlich<br />
übernehmen mussten. Als sich 2<strong>01</strong>1 eine klar<br />
erkennbare negative Tendenz bei den Fehlzeiten abzeichnete,<br />
beschloss man, ein Gesundheitsmanagement zu<br />
Jotec GmbH<br />
Die Jotec GmbH (Unternehmensschreibweise: JOTEC) entwickelt und produziert mit 375<br />
Mitarbeitern ein breit gefächertes Spektrum an Gefäßprothesen und endovaskulären Implantaten<br />
sowie Zubehör für Gefäß- und Herzchirurgen, interventionelle Radiologen und Kardiologen.<br />
Das Unternehmen wurde 2000 gegründet, 2<strong>01</strong>6 betrug der Umsatz rund 40 Millionen Euro.<br />
etablieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die junge Führungsmannschaft<br />
Gesundheitsangebote eher intuitiv<br />
organisiert. So gab es zum Beispiel Gymnastikpausen<br />
und einmal im Monat ein kostenloses Gesundheitsfrühstück.<br />
Zunächst wurde nun ein dreiköpfiges Projektteam BGM<br />
aufgestellt. Dort sind die beiden Unternehmensbereiche<br />
Administration und Produktion jeweils durch ihre<br />
Leitung vertreten. Zum Projektteam gehört außerdem die<br />
Leitung der Personalabteilung. Hier ist das BGM inzwischen<br />
angegliedert. Neben dem Kernteam wurde auch<br />
der Betriebsarzt Dr. Michael Brill voll eingebunden.<br />
Entscheidung für ein strukturiertes Vorgehen<br />
Schnell war klar, dass man als Erstes durch eine Befragung<br />
den genauen Ursachen für die Fehlzeiten auf die<br />
Spur kommen musste. „Die Durchführung einer solchen<br />
Befragung muss meiner Meinung nach immer mit<br />
einem unabhängigen Partner geschehen“, sagt Florian<br />
Tyrs, Leiter der Produktion bei Jotec. „Zum einen will<br />
man ja den Mitarbeitern das Gefühl geben, dass sie ehrlich<br />
antworten können, ohne irgendwelche negativen<br />
Dinge für sich befürchten zu müssen. Zum anderen sollte<br />
der Aufbau der Fragen, die Auswertung und auch die<br />
Zusammenfassung der Ergebnisse von Experten durch-<br />
12<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Produktivitätsverluste in der Produktion Abbildung 1<br />
in Tagen pro MA pro Jahr<br />
Stress 3,6<br />
7,1<br />
Rückenschmerzen 0,8<br />
4,5<br />
Depressive Verstimmungen 0,8<br />
4,1<br />
Andere Probleme 1,2<br />
2,5<br />
Schlafprobleme 2,0<br />
3,3<br />
Erkältung 0,2<br />
2,5<br />
Kopfschmerzen 1,8<br />
2,7<br />
Verdauungsprobleme 2,5<br />
3,3<br />
Allergien 0,3<br />
1,3<br />
Gelenkschmerzen 1,3<br />
2,4<br />
Grippe 1,6<br />
1,6<br />
Gesamtverlust 2<strong>01</strong>5: 17,0 Tage<br />
Gesamtverlust 2<strong>01</strong>2: 35,7 Tage<br />
Quelle: HDP Health Development Partners, 2<strong>01</strong>7<br />
Die Analyse bei Jotec zeigt<br />
eine eindeutige Abnahme<br />
der krankheitsbedingten<br />
Fehltage in der Produktion<br />
innerhalb von drei Jahren.<br />
geführt werden, die viel Erfahrung auf diesem Gebiet<br />
haben.“<br />
Für die Umsetzung der Erhebung wurde das Vital-<br />
Work-Programm des Königsteiner Unternehmens HDP<br />
Health Development Partners ausgewählt. Das Programm<br />
analysiert mit einer Befragung die Produktivitätsverluste<br />
durch gesundheitliche Probleme. Dabei<br />
werden nicht nur die Fehlzeiten erfasst, sondern auch<br />
die Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz beziehungsweise<br />
der Präsentismus. Neben den gängigen Gesundheitsproblemen<br />
wie zum Beispiel Rückenschmerzen,<br />
Schlafstörungen und Stress (siehe Abbildung 1) können<br />
auch Themen ermittelt werden wie psychische Verfassung,<br />
Arbeitsfähigkeit, Burn-out oder der Einfluss<br />
von firmenspezifischen Arbeitsumgebungsfaktoren auf<br />
die Gesundheit.<br />
Mit der hohen Teilnahmequote von 72 Prozent war die<br />
Befragung 2<strong>01</strong>2 ein voller Erfolg. Dazu hat sicherlich<br />
beigetragen, dass die Abteilungsleiter gebrieft und eingebunden<br />
wurden. Wichtig war aber vor allem ein Schreiben,<br />
das die Mitarbeiter vorab über die Hintergründe der<br />
Befragung informierte und den Willen der Geschäftsführung<br />
zum Ausdruck brachte, etwas gegen die Probleme<br />
zu tun. Vital Work erhöht die Teilnahmequote außerdem<br />
durch Broschüren zu den 13 wichtigsten Gesundheitsproblemen,<br />
die als Anreiz zur Teilnahme direkt nach<br />
der Befragung erhältlich sind. Gleichzeitig bietet es eine<br />
erste Intervention im Bereich der genannten Gesundheitsthemen.<br />
Die Auswertung ergab gute und auch überraschende<br />
Erkenntnisse. Obwohl die Fehlzeiten in der Produktion<br />
bekannt waren, lagen die gesamten Produktivitätsverluste<br />
– also Fehlzeiten und Verluste am Arbeitsplatz – mit<br />
16,2 Prozent unerwartet hoch. Als wichtigste Auslöser<br />
wurden identifiziert: Stress, Depression, Schlafstörungen<br />
beziehungsweise Müdigkeit, Rücken- und Kopfschmerzen<br />
sowie Schwächen bei den Arbeitsumgebungsfaktoren.<br />
20 Prozent der Mitarbeiter generierten 70 Prozent<br />
der Verluste. Im Bereich der Administration lagen die Verluste<br />
dagegen mit 5,6 Prozent deutlich unter den üblichen<br />
Durchschnittswerten.<br />
Wo hat es im Projekt gehakt?<br />
STOLPERSTEINE<br />
• Fehlende Expertise: Man hatte erwogen, die Befragung selbst zu erstellen, entschied sich dann<br />
aber, die Erfahrung und Kompetenz eines externen Dienstleisters einzukaufen, der gleichzeitig<br />
Anonymität garantiert.<br />
• Maßnahmen werden nicht angenommen: Selbst wenn Mitarbeiter Maßnahmen selber vorgeschlagen<br />
haben, muss man bei der Implementierung nochmals informieren und auf die Vorteile<br />
hinweisen.<br />
• Problemlose Bereiche vernachlässigen: In der Befragung gut abschließende Bereiche muss<br />
man weiter im Auge behalten und regelmäßig prüfen, sonst drohen irgendwann Probleme.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 13
HR & ICH BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANAGEMENT<br />
Quelle: HDP Health Development Partners, 2<strong>01</strong>7<br />
Gesamtverlust pro Mitarbeiter 2<strong>01</strong>2 und 2<strong>01</strong>5 Abbildung 2<br />
in Tagen pro MA pro Jahr<br />
25,2<br />
14,7<br />
10,5<br />
17,4<br />
11,8<br />
5,6<br />
2<strong>01</strong>2 2<strong>01</strong>5<br />
Gesamt<br />
Absentismus<br />
12,3<br />
9,5<br />
18,8<br />
13,6<br />
2,8 5,2<br />
2<strong>01</strong>2 2<strong>01</strong>5<br />
Administration<br />
Präsentismus<br />
35,7<br />
18,9<br />
16,8<br />
16,0<br />
9,3<br />
6,7<br />
2<strong>01</strong>2 2<strong>01</strong>5<br />
Produktion<br />
Die Ergebnisse der Befragung stellte der Betriebsarzt<br />
den Mitarbeitern im Rahmen der nächsten Mitarbeiterversammlung<br />
vor. Das war schon vor der Befragung<br />
angekündigt worden. Denn das Schlimmste, was man<br />
machen kann, so Florian Tyrs, ist, Mitarbeiter nicht über<br />
die Ergebnisse zu informieren und/oder keine entsprechenden<br />
Maßnahmen auf den Weg zu bringen.<br />
Für das Projektteam begann jetzt die eigentliche Arbeit.<br />
Ausgehend von der detaillierten Auswertung des Vital-<br />
Work-Programms galt es nun, passgenaue Maßnahmen<br />
zu definieren. Dazu wurden die einzelnen Abteilungen<br />
der Produktion eingeladen, auf freiwilliger Basis und<br />
unter Zusicherung der Anonymität mit dem Betriebsarzt<br />
über die Ergebnisse der Umfrage zu sprechen – ohne<br />
Beteiligung einer Führungskraft. Zur allgemeinen Überraschung<br />
nahmen 90 Prozent der Belegschaft dieses<br />
Angebot wahr. Aus den Gesprächen ergaben sich konkrete<br />
Ansatzpunkte und klare Aufgaben, die in zehn<br />
Kernthemen zusammengefasst und priorisiert wurden.<br />
Als Erstes wurden die großen Probleme bewältigt. So<br />
klagten viele der Mitarbeiter über Müdigkeit. Hierzu<br />
muss man wissen, dass die Produktion im Reinraum<br />
stattfindet. Ein Reinraum wird so konstruiert, dass die<br />
Anzahl luftgetragener Teilchen, die in den Raum eingebracht<br />
werden oder dort entstehen, so gering wie möglich<br />
ist. Einige Bereiche der Arbeitsplätze hatten zu wenig<br />
Tageslicht. Also stattete man diese mit tageslichtimitierenden<br />
Lampen aus. Die Lichtfarbe empfanden viele der<br />
Betroffenen zunächst jedoch als ungewohnt und damit<br />
als unangenehm. Als dann die Mitarbeiter aber nochmals<br />
aufgeklärt und informiert wurden, stellte sich heraus,<br />
dass plötzlich keiner mehr müde war.<br />
Florian Tyrs empfiehlt deshalb: „Beim Umsetzen von<br />
Maßnahmen ist eines der wichtigsten Dinge, darüber<br />
zu sprechen nach dem Motto ,Tue Gutes und rede darüber’.<br />
Denn der Mensch ist so ein Gewohnheitstier, dass<br />
er erst einmal mit allem Neuen Probleme hat.“<br />
Vermittler bei Problemen<br />
Den Mitarbeitern in der<br />
Administration sind keine BGM-<br />
Maßnahmen zuteil geworden.<br />
Die Folge: Der Krankenstand<br />
hat sich von 2<strong>01</strong>2 bis 2<strong>01</strong>5<br />
verschlechtert. Die Fehltage<br />
in der Produktion sind<br />
demgegenüber eindeutig<br />
zurückgegangen.<br />
UNTERM STRICH<br />
Individuelle Lösungen bringen Erfolg<br />
Was hat das Projekt gebracht?<br />
• Rückgang der Produktivitätsverluste im gewerblichen Bereich von 16,2 Prozent auf<br />
7,3 Prozent. Durch die Reduktion der Fehlzeiten verringerte sich automatisch die Arbeitsbelastung<br />
aller Mitarbeiter.<br />
• Angenehmeres Arbeiten und damit gesteigerte Zufriedenheit der Mitarbeiter<br />
• Geringere Stressbelastung durch flexiblere Arbeitszeitmodelle<br />
• Etablierung eines Frühwarnsystems, das es ermöglicht, Probleme zeitnah zu identifizieren<br />
und schnell in den Griff zu bekommen<br />
Eher unkonventionell war eine andere Maßnahme: Im<br />
Reinraum besteht immer eine ideale Arbeitsumgebung<br />
mit perfekter Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Trotzdem<br />
hatten die Leute wohl aufgrund der hermetischen Atmosphäre<br />
immer das Gefühl, dass die Luft in ihrem Arbeitsbereich<br />
schlecht war. Die Intervention bestand darin, in<br />
jedem Produktionsbereich Anzeigen mit Angaben zur Luftqualität<br />
im Ampelmodus anzubringen – eine ganz simple<br />
Sache, die aber einen durchschlagenden Erfolg hatte.<br />
Eine dritte Intervention bestand darin, dass in der Produktion<br />
die Führungsebene des Teamleiters eingezogen<br />
wurde. Dazu wurden Mitarbeiter entsprechend ausgebildet.<br />
Sie fungieren als Sprachrohr und Vermittler bei<br />
Problemen in beiden Richtungen zwischen dem Abteilungsleiter,<br />
dessen Arbeitsplatz sich nicht im Reinraum<br />
befindet, und den Mitarbeitern in ihren Teams.<br />
Sobald die vorrangigen Probleme abgearbeitet waren,<br />
hieß es dranbleiben und weitermachen. BGM ist ein<br />
kontinuierlicher Prozess, so Florian Tyrs, der ständig<br />
weitergelebt werden muss – denn auf Dauer ergeben<br />
sich Erfolge aus der Summe vieler kleiner Dinge.<br />
Deutliche Verbesserungen, aber<br />
auch unerwartete Ergebnisse<br />
Die Befragung mit Vital Work wurde nach drei Jahren,<br />
also 2<strong>01</strong>5, wiederholt. Da in der Zeit zwischen erster<br />
und zweiter Umfrage in der Produktion viel verbessert<br />
und eingeführt wurde, sind die Produktivitätsverluste<br />
von 16,2 Prozent auf 7,3 Prozent zurückgegangen. In<br />
der Administration, die in den drei Jahren zeitversetzt<br />
deutlich gewachsen war, gab es keine BGM-Maßnahmen.<br />
Dort stiegen die Verluste von 5,6 auf 8,5 Prozent<br />
(siehe Abbildung 1 und 2). Besonders auffallend war,<br />
dass dort 40 Prozent der Befragten über eine schlechte<br />
Work-Life-Balance berichteten.<br />
Um diese Entwicklung abzufangen, wurden nun auch die<br />
Mitarbeiter der Administration zu Gesprächen mit zuge-<br />
14<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
sicherter Anonymität eingeladen. Als wichtigste Maßnahme<br />
ergab sich eine Veränderung der Arbeitszeitmodelle,<br />
die den Mitarbeitern eine flexiblere Gestaltung ihrer<br />
Arbeitszeit ermöglicht.<br />
„Als Erkenntnis aus der zweiten Befragung muss man<br />
ganz klar festhalten, dass es richtig ist, den Fokus auf ausgewiesene<br />
Optimierungspotenziale zu richten. Aber dabei<br />
darf man gerade in dynamischen Wachstumsphasen nicht<br />
vergessen, die bisher gut abschließenden Bereiche auch<br />
weiterhin im Auge zu behalten und regelmäßig zu prüfen,<br />
sonst wird irgendwann aus einem guten Bereich ein<br />
Problembereich“, erklärt Florian Tyrs. „Denn wer aufhört,<br />
besser zu werden, hört irgendwann auf gut zu sein.“<br />
Die Befragung ist mittlerweile bei Jotec ein wichtiges<br />
Tool, um Probleme zu identifizieren und entsprechend<br />
zu handeln. So kann man Verbesserungsmaßnahmen<br />
rechtzeitig einleiten und nicht erst, wenn es zu spät ist<br />
beziehungsweise ein großes Problem entstanden ist.<br />
Der Aufwand zahlt sich aus<br />
Hat sich der Aufwand gelohnt? Für Jotec besteht daran kein<br />
Zweifel. Die positiven Rückmeldungen, die Verbesserung<br />
der Mitarbeiterzufriedenheit und der Rückgang der Fehlzeiten<br />
rechtfertigen die eingesetzten Ressourcen auf jeden<br />
Fall. Dabei muss man aber ganz klar sehen, betont<br />
Florian Tyrs, dass die Erfolge nur aufgrund des strukturierten<br />
Vorgehens mit dem stufenweisen Aufbau zu erreichen<br />
waren – Hauruckaktionen hält er für deplatziert.<br />
Der erste Schritt sollte immer eine schriftliche Befragung<br />
sein, damit man ein Fundament hat, von dem aus man<br />
arbeiten kann. Im nächsten Schritt hat es sich bewährt,<br />
diese Erkenntnisse durch Gespräche mit Mitarbeitern mit<br />
Leben zu füllen. Erst dann sollte man mit der Planung und<br />
Implementierung von Maßnahmen anfangen.<br />
Bei Jotec ist man davon überzeugt, dass das Ziel auf keinen<br />
Fall sein darf, die Firma durch das BGM komplett<br />
umzukrempeln, um irgendwelche tollen Umfragewerte<br />
zu erreichen. Das Unternehmen soll und muss seine<br />
Identität bewahren. Den Verantwortlichen sollte außerdem<br />
klar sein, dass jede Firma für sich selbst den besten<br />
Weg finden muss – einen Königsweg gibt es leider<br />
nicht. Es ist nicht möglich, ein Konzept, das bei einer Firma<br />
gut funktioniert, einfach über eine andere zu stülpen<br />
und dann zu hoffen, dass damit alles gut wird. Wer dies<br />
tut, kann lange auf Erfolg warten.<br />
p<br />
AUTORINNEN<br />
Dr. Kerstin Ragnitz,<br />
Leitung Sales & Marketing,<br />
JOTEC GmbH, Hechingen,<br />
kerstin.ragnitz@jotec.com<br />
Monika Titze, Fachautorin<br />
für Gesundheitsthemen,<br />
freie Mitarbeiterin bei<br />
HDP Health Development Partners,<br />
info@vitalwork.de<br />
LEARNTEC 2<strong>01</strong>8 | 26. Internationale Fachmesse und Kongress<br />
Leitmesse für digitale Bildung<br />
Schule | Hochschule | Beruf
HR & ICH EMPLOYER BRANDING<br />
Mitarbeiter als Botschafter<br />
Authentizität und Transparenz lauten die Zauberworte für erfolgreiches Recruiting und<br />
Employer Branding. Immer mehr Unternehmen setzen Mitarbeiter als Testimonials ein.<br />
Ob internationaler Konzern oder Wohlfahrtsverband – das Konzept scheint aufzugehen.<br />
VON BARBARA SOMMERHOFF<br />
Diakonie Düsseldorf<br />
u Kündigt ein börsennotiertes Unternehmen an, die Zahl<br />
seiner Mitarbeiter zu reduzieren, steigt der Aktienkurs –<br />
Personal gilt bei Anteilseignern als Kostenblock. Strategisch<br />
ausgerichtete HR-Verantwortliche sehen die Sache differenzierter.<br />
Und entdecken den Wert der Mitarbeiter nicht<br />
nur mit Blick auf ihre Fachkompetenz, sondern darüber<br />
hinaus als Botschafter für ihr Unternehmen und dessen<br />
Marktpräsenz: Mitarbeiter als Testimonials im Employer<br />
Branding und in der internen Kommunikation, als Vermittler<br />
der Nachhaltigkeitsstrategie und als Akteure des Qualitätsmanagements<br />
– die folgenden Beispiele zeigen, was sie<br />
bewirken können.<br />
Diakonie Düsseldorf: „Mitreißend menschlich“<br />
Massiver Personalbedarf, eine heterogene Belegschaft und<br />
ein wenig prägnantes Arbeitgeberimage: Das war die Ausgangssituation<br />
für Katja Quakatz, als sie im vergangenen Jahr<br />
die Leitung Personal bei der Diakonie Düsseldorf über-<br />
Die Aufgabe:<br />
Employer-Branding-Kampagne, die von allen Teilen<br />
der Belegschaft entwickelt und mitgetragen wird<br />
Das Ziel:<br />
Diakonie als Arbeitgeber für sieben Arbeitsbereiche<br />
authentisch darzustellen<br />
Die Umsetzung:<br />
• interaktiv, demokratisch<br />
• mehrmonatiges Zeitbudget<br />
Katja Quakatz,<br />
• umfassende Befragung der Mitarbeiter<br />
Personalleiterin<br />
• Workshops mit Führungskräften und Mitarbeitern<br />
• kontinuierliche interne Kommunikation von Zwischenergebnissen<br />
• Produktion von Plakaten, Videos, Vernetzung von Kommunikationsmedien<br />
• Mitarbeiter gestalten ihre Rolle als Botschafter in Eigenregie<br />
Foto: Maya Claussen<br />
nahm. Das Qualifikationsspektrum der 2500 Mitarbeiter<br />
reicht vom Angelernten bis zum Akademiker, von der<br />
Pflegehilfskraft bis zum Arzt. Die gesellschaftliche Anerkennung<br />
für Menschen in sozialen Berufen ist sehr hoch,<br />
die Neigung, selbst einen solchen Beruf zu ergreifen, dagegen<br />
wenig ausgeprägt.<br />
Das zu ändern und die Attraktivität, Vielfalt und Chancen<br />
aufzuzeigen, die die Diakonie Düsseldorf als Arbeitgeber<br />
bietet, ist das Ziel von Katja Quakatz. Dazu hat sie mit<br />
ihrem Team, dem Referat Öffentlichkeitsarbeit und Marketing<br />
und externer Unterstützung eine Employer-Branding-<br />
Kampagne entwickelt und umgesetzt. „Botschafter dieser<br />
Kampagne ist zunächst HR. Aber der Prozess geht über auf<br />
unsere Mitarbeitenden, die in Schulen, auf Berufsorientierungsmessen,<br />
im Familien- und Freundeskreis und in sozialen<br />
Medien ihre Erfahrungen mit der Diakonie als Arbeitgeber<br />
schildern“, beschreibt Quakatz das Konzept.<br />
Die besondere Herausforderung liegt in den mannigfachen<br />
Arbeitsbereichen innerhalb der Diakonie. Betreut<br />
werden Menschen aller Altersstufen, aus unterschiedlichen<br />
sozialen und kulturellen Milieus, körperlich und psychisch<br />
Kranke, Menschen die nur vorübergehend Hilfe und Unterstützung<br />
benötigen, und solche, die dauerhaft betreut werden.<br />
„Diese Komplexität wollten wir für die Arbeitgeberkampagne<br />
so fokussieren, dass ein homogenes und<br />
authentisches Bild nach außen entsteht und zugleich die Vielfalt<br />
der Möglichkeiten nicht verloren geht“, so die Personalleiterin.<br />
Eine Mitarbeiterbefragung lieferte die Basisdaten für die<br />
Kampagne. In anschließenden Workshops diskutierte HR<br />
mit Führungskräften und Mitarbeitern aus allen Bereichen<br />
Ansätze für einen Hauptclaim, dem jeder Arbeitsbereich<br />
innerhalb der Diakonie Düsseldorf Subclaims hinzufügen<br />
sollte. „Das war ein mehrstufiger sehr interaktiver und<br />
demokratischer Prozess“, betont Quakatz.<br />
Als Ergebnis wurde „Mitreißend menschlich“ zum Hauptclaim<br />
erklärt. Als Subclaims entwickelten die Mitarbeiter<br />
für den Altenpflegebereich „Momentbewahrerin“, für den<br />
16<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
u Kündigt ein börsennotiertes Unternehmen an, die Zahl seiner Mitarbeiter<br />
zu reduzieren, steigt der Aktienkurs. Personal gilt bei Anteilseignern<br />
als Kostenblock. Strategisch ausgerichtete HR-Verantwortliche<br />
sehen die Sache differenzierter. Und entdecken den Wert der<br />
Mitarbeiter nicht nur mit Blick auf ihre Fachkompetenz, sondern<br />
darüber hinaus als Botschafter für ihr Unternehmen und dessen<br />
Marktpräsenz: Mitarbeiter als Testimonials im Employer Branding<br />
und in der internen Kommunikation, als Vermittler der Nachhaltigkeitsstrategie<br />
und als Akteure des Qualitätsmanagements – die<br />
folgenden Beispiele zeigen, was sie bewirken können. p<br />
Erzieherbereich „Farbkleckszauberer“, für den Gesundheitsbereich<br />
„Zukunftsentwickler“. „Diese augenzwinkernden<br />
und trotzdem tiefgründigen Botschaften passen gut zu<br />
der ernsten, aber auch sehr emotionalen Arbeit der Diakonie“,<br />
sagt Katja Quakatz.<br />
Die Resonanz innerhalb der Mitarbeiterschaft sei erfreulich<br />
positiv. Viele Kollegen lassen sich auf Postkarten, Infobroschüren<br />
und Plakaten abbilden und geben der Kampagne<br />
in Videos ihr Gesicht. Auf Messen, in Schulen und<br />
sozialen Medien berichten sie über die Arbeit bei der Diakonie.<br />
Die Vielzahl und Vernetzung der Medien und Kommunikationskanäle<br />
habe bereits nach kurzer Zeit eine starke<br />
Wirkung entfaltet. Geschult werden die Mitarbeiter<br />
dafür nicht. „In internen Diskussionen haben wir festgestellt,<br />
wie klar das Verständnis unserer Mitarbeitenden von<br />
ihrer Arbeit und von ihrem Arbeitgeber ist. Da muss man<br />
gar keine Vorgaben machen“, sagt Quakatz.<br />
Vodafone Deutschland: Offenheit<br />
kommt auch intern an<br />
Kommunikationsprofis wissen: Alles, was intern kommuniziert<br />
wird, geht auch nach draußen. Dass es ebenso umgekehrt<br />
funktioniert, hat Vodafone Deutschland erfahren. Das<br />
Telekommunikationsunternehmen und derzeit größter Fernsehanbieter<br />
Deutschlands mit 14 000 Mitarbeitern hatte vor<br />
drei Jahren seine Employer-Branding-Kampagne relauncht.<br />
Anstelle von Modellen wurden Mitarbeiter als Testimonials<br />
für Plakate und Videoclips ausgewählt – und das möglichst<br />
divers. „Uns ist wichtig, dass wir alle Facetten unserer Mitarbeiter<br />
darstellen. Alter, Geschlecht, Herkunft, Ausbildung“,<br />
sagt Employer-Brand-Managerin Anja Bank.<br />
Die Kampagne, die für den Außenauftritt und zur Unterstützung<br />
des Recruitments konzipiert worden war, beflügelt<br />
inzwischen auch die interne Kommunikation nachhaltig.<br />
Das spürt jeder Besucher, wenn er auf den Fluren,<br />
in Besprechungsräumen oder auf Videowänden die Abbildungen<br />
von Mitarbeitern sieht. „Jede Konferenz startet bei<br />
uns mit Bildern unserer Belegschaft“, sagt Pressesprecherin<br />
Tanja Vogt. Die Botschaft: Vodafone, das sind wir.<br />
Der Synergieeffekt für die interne Kommunikation ist nach<br />
Ansicht ihrer Kollegin Bank eingetreten, weil die Mitarbeiter<br />
mit der externen Kampagne positive Erfahrungen<br />
gemacht hatten. Ein Erfolg von HR und das Ergebnis solider<br />
Vorarbeiten. „Wir haben jeden Mitarbeiter, der sich als<br />
Testimonial zur Verfügung gestellt hat, gut auf seine Rolle<br />
vorbereitet“, so Bank.<br />
„Wer sich öffentlich über seinen Arbeitgeber äußert, wird<br />
vermutlich häufiger gegoogelt. Deshalb haben wir uns die<br />
Xing-, Linkedin-und Facebook-Auftritte dieser Mitarbeiter<br />
angeschaut und, falls nötig, Empfehlungen gegeben,<br />
wie sie diese optimieren können.“ Außerdem hat HR<br />
Social-Media-Trainings veranstaltet. „Wir haben Hinweise<br />
gegeben, wie man heikle Themen souverän umschifft,<br />
dass wir uns als Unternehmen zu Themen wie Religion<br />
und Politik nicht äußern und wie man mit Kritik umgeht.“<br />
Regieanweisungen für das, was jeder im Rahmen des Videoclips<br />
sagt, gab es aber nicht. Diese Offenheit hat sich unmittelbar<br />
auf die interne Kommunikation ausgewirkt, ist Tanja<br />
Vogt überzeugt. Über das soziale Netzwerk Yammer wird<br />
längst nicht nur an gemeinsamen Projekten gearbeitet.<br />
Vodafone Deutschland<br />
Die Aufgabe:<br />
Unterstützung für das Recruitment<br />
Das Ziel:<br />
Vitalisierung der internen und externen Kommunikation<br />
Die Umsetzung:<br />
• Videoclips mit Mitarbeitern als Testimonials<br />
• Medientraining<br />
• Diskussion über Werte des Unternehmens<br />
• Visualisierung der Belegschaft im gesamten Unternehmen<br />
• soziales Netzwerk Yammer für beruflichen und privaten Austausch<br />
Anja Bank,<br />
Employer-Brand-Managerin<br />
Foto: Daniel Koebe<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 17
HR & ICH EMPLOYER BRANDING<br />
Henkel<br />
Die Aufgabe:<br />
Das Thema Nachhaltigkeit im gesamten Konzern zu verankern<br />
Das Ziel:<br />
Jeden der weltweit 50 000 Mitarbeiter zum Botschafter<br />
für Nachhaltigkeit zu schulen<br />
Die Umsetzung:<br />
• Pilotprojekt mit Führungskräften<br />
• Ausweitung der Schulung konzernweit für alle Mitarbeiter<br />
• Entwicklung von Schulungsmaterial als E-Learning und für<br />
Schulungen vor Ort und Übersetzung in 30 Sprachen<br />
• transparente interne Kommunikation<br />
Auch der private Austausch ist rege, offen und transparent.<br />
„Unsere Mitarbeiter sind Botschafter nicht nur fürs<br />
Recruitment, sondern sie sind authentische Stimmen für<br />
alle Belange des Unternehmens.“ Das gelte auch für den<br />
Bereich der Pressearbeit, so Vogt. „Wenn ich Anfragen<br />
erhalte, suche ich Mitarbeiter, die das angefragte Thema<br />
anschaulich aus ihrer Perspektive und ihrem Erleben darstellen<br />
können.“<br />
Henkel: Nachhaltigkeit verankern<br />
Uwe Bergmann,<br />
Head of Sustainability<br />
Management<br />
Der Markenartikelhersteller Henkel gehört zu den ersten<br />
Großunternehmen, die kontinuierlich über Ressourcenverbrauch<br />
und Verantwortung für Mensch und Umwelt<br />
forschen und berichten. Aber nicht nur bei der Produktion<br />
von Klebstoffen, Wasch- und Reinigungsmitteln oder<br />
Kosmetika ist Nachhaltigkeit ein Thema. „Jeder unserer<br />
weltweit 50 000 Mitarbeiter in der Produktion, im Vertrieb,<br />
als tariflich Beschäftigter oder als Führungskraft kann<br />
zur Nachhaltigkeit beitragen und etwas zugunsten von<br />
Mensch und Umwelt tun“, sagt Uwe Bergmann, Leiter<br />
Nachhaltigkeitsmanagement.<br />
Aus dieser Erkenntnis haben Henkel-Mitarbeiter das „Nachhaltigkeits-Botschafter-Projekt“<br />
entwickelt, das als Pilot<br />
Ende 2<strong>01</strong>2 im Bereich Wasch- und Reinigungsmittel an<br />
den Start gegangen war. 500 Mitarbeiter hatten sich freiwillig<br />
gemeldet. Ende 2<strong>01</strong>6 waren es bereits 10 000, die an<br />
einer Schulung als Nachhaltigkeitsbotschafter teilgenommen<br />
haben. Die Teilnehmer diskutieren über die globalen<br />
Herausforderungen, denen sich das Unternehmen stellen<br />
muss; sie erörtern, wie Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungskette<br />
umsetzbar ist und welchen Beitrag jeder<br />
Einzelne leisten kann. „Wir möchten alle Mitarbeiter trainieren<br />
und sie motivieren, sich noch intensiver mit diesem<br />
wichtigen Thema zu beschäftigen“, erklärt Bergmann.<br />
In der Pilotphase fanden die Trainings auf Englisch statt und<br />
waren an Führungskräfte adressiert. Mittlerweile wurde<br />
das Programm in 30 Sprachen übersetzt. „Zusätzlich zum<br />
Foto: privat<br />
Online-Angebot haben wir ein Schulungskonzept für ein<br />
eineinhalbstündiges Training entwickelt, das überall auf<br />
der Welt eingesetzt wird“, erläutert Bergmann. Weil nicht<br />
alle Mitarbeiter einfachen Zugriff auf E-Learnings haben,<br />
finden Trainings für angehende Botschafter auch vor Ort<br />
statt. „Wenn man eine solche Initiative in einem Konzern<br />
unserer Größenordnung umsetzen will, muss man klein<br />
anfangen, stetig nachjustieren und bereit sein, Dinge immer<br />
wieder auf den Prüfstand zu stellen“, so Bergmann.<br />
Kooperationen mit Schulen bilden einen Schwerpunkt des<br />
Programms. „Kinder in der dritten oder vierten Klasse<br />
sind offen und aufgeschlossen für das Thema. Ihnen machen<br />
die Diskussionen mit unseren Botschaftern Spaß“, so Bergmann.<br />
Das gilt auch umgekehrt. Gut gelaunt kämen die Botschafter<br />
nach den einstündigen Diskussionen mit den Schülern<br />
ins Unternehmen zurück und motivierten mit ihren<br />
Schilderungen Kollegen, sich ihrerseits an dem Programm<br />
zu beteiligen. „Dabei achten wir strikt darauf, nicht das<br />
Unternehmen in den Mittelpunkt zu stellen“, betont Bergmann.<br />
Alles andere würde die Glaubwürdigkeit untergraben<br />
und die Kooperation mit Schulen sofort beenden. Bis<br />
Ende 2<strong>01</strong>6 hat Henkel mehr als 84 000 Schulkinder in 47<br />
Ländern erreicht.<br />
Um alle Mitarbeiter weltweit mitzunehmen, hat das Unternehmen<br />
sogenannte „Champions“ benannt, die im Konzern<br />
für das Botschafterprogramm werben und für eine dichte<br />
Vernetzung sorgen. Bis zum Sommer hatten 30 000<br />
Mitarbeiter an einer Schulung teilgenommen. Das Ziel, bis<br />
zum Jahresende jeden der 50 000 Henkel-Mitarbeiter zum<br />
Botschafter für Nachhaltigkeit auszubilden, rückt in greifbare<br />
Nähe.<br />
Deutsche Bahn: dezentral und praxisnah<br />
Change-Projekte haben bei der Deutschen Bahn Konjunktur,<br />
was zu gewissen Ermüdungserscheinungen in der<br />
Belegschaft führen kann. Gerade die gilt es mit „Zukunft<br />
Bahn“ zu vermeiden. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, aus<br />
diesem Programm eine Bewegung zu machen und in jedem<br />
Mitarbeiter den Ansporn zu entfachen, selbst etwas Konkretes<br />
zu tun, um Verbesserungen in der Qualität, Pünktlichkeit<br />
und Verlässlichkeit unserer Leistungsversprechen<br />
für unsere Kunden zu erreichen“, sagt Per Wiek, Leiter<br />
Personalstrategie und Personalprozesse – angesichts der<br />
200 000 Mitarbeiter an mehr als 3500 Standorten in Deutschland<br />
keine Kleinigkeit.<br />
„Uns war klar, dass wir das Programm nicht auf einen<br />
Schlag im gesamten Konzern ausrollen können. Deshalb<br />
haben wir ein mehrstufiges Konzept entwickelt, vor Ort,<br />
basisnah und konkret“, so Wiek. Den Auftakt bildete im<br />
Frühjahr 2<strong>01</strong>6 der jährliche Konzerntreff mit dem Bahnvorstand<br />
und 3500 Führungskräften der obersten Ebene.<br />
Sie diskutierten die Grundzüge des Programms „Zukunft<br />
Bahn“.<br />
18<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Ein halbes Jahr später folgte ein „Befähigungsevent“, wie<br />
Wiek formuliert. Zielgruppe waren 1000 Mitarbeiter aus<br />
dem operativen Bereich, die als Multiplikatoren das Programm<br />
in alle Teile des Konzerns tragen und für seine konkrete<br />
Umsetzung sorgen sollen. „Wir hatten vor allem<br />
betriebliche Führungskräfte, Meister und Teamleiter nach<br />
Berlin eingeladen. Aufgrund ihrer Funktion nah an der<br />
Basis sind sie besonders gut in der Lage, eine Multiplikatorenrolle<br />
zu übernehmen“, erklärt Wiek. Die Botschafter<br />
erhielten Materialien, um sich im Team mit dem Programm<br />
„Zukunft Bahn“ auseinanderzusetzen und gemeinsam mit<br />
ihren Mitarbeitern vor Ort kreative Lösungen für Probleme<br />
zu entwickeln. Außerdem bekam jeder Botschafter ein<br />
Budget in Höhe von 500 Euro, um zum Beispiel Kosten für<br />
Workshops zu begleichen. Nach der Konferenz hatten die<br />
Multiplikatoren sechs Monate Zeit, konkrete Maßnahmen<br />
zu definieren, mit denen sie das Programm „Zukunft Bahn“<br />
in ihrem Betrieb oder in ihrer Abteilung umsetzen wollen.<br />
Inzwischen läuft die dritte Stufe des Programms: die sogenannten<br />
Aktionswerkstätten. Teilnehmer sind die Multiplikatoren<br />
der ersten Generation sowie von diesen neu<br />
gewonnene Multiplikatoren. An fünf Standorten der Bahn<br />
werden die konkreten Umsetzungen der Qualitätsinitiative<br />
diskutiert und Impulse für die weitere Arbeit als Multiplikator<br />
gegeben. „Ziel ist, dabei zu bleiben und den Schwung<br />
aus der Startphase zu erhalten“, sagt Wiek.<br />
HR ist dabei kompetenter Ansprechpartner und sorgt für<br />
Transparenz. Eine Hotline steht zur Verfügung, falls es Probleme<br />
gibt, und für die „Zukunft Bahn“-Multiplikatoren ist<br />
im Intranet eine eigene Seite eigerichtet. Dort stellt HR<br />
regelmäßig Arbeitsmaterialien ein, etwa für Schnittstellenanalysen<br />
und bereichsübergreifendes Arbeiten. „Wir stellen<br />
stetig Best Practice auf der Seite ein“, sagt Wiek. Das<br />
Deutsche Bahn<br />
Die Aufgabe:<br />
Das Programm „Zukunft Bahn“ im gesamten Konzern bekannt<br />
zu machen und die Umsetzung vor Ort zu gewährleisten<br />
Das Ziel:<br />
Multiplikatoren zu befähigen, selbstständig „Zukunft Bahn“ in<br />
den Arbeitsalltag zu übersetzen, Maßnahmen zu initiieren,<br />
bereichsübergreifend zu arbeiten und Erfolge unternehmensweit<br />
zu kommunizieren<br />
Die Umsetzung:<br />
• Top-down-Konferenz in Berlin<br />
• Befähigungsevents mit Trainings und Arbeitsmaterialien für<br />
die Multiplikatoren<br />
• Intranet-Seite mit Arbeitsmaterialien und Best Practice<br />
• Hotline für Problemsituationen<br />
• monatlicher Aktionsletter mit Tipps, Impulsen und aktuellen Informationen zum Programm<br />
• dezentrale Veranstaltungen mit Multiplikatoren und von diesen empfohlenen Mitarbeitern<br />
(„Bring your Friends“-Prinzip)<br />
• transparente interne Kommunikation<br />
erleichtere die Ideenfindung. „Wir haben im guten Sinn<br />
einen Wettbewerb unter den Mitarbeitern ausgelöst, indem<br />
wir zeigen, was Betriebe und Abteilungen vor Ort auf die<br />
Beine stellen.“ Auch die Multiplikatoren posten ihre Ideen<br />
und Erfahrungen.<br />
Eine Aktion erreichte unmittelbar nach einer Konferenz in<br />
Berlin sogar direkt die Bahn-Kunden: In einem ICE war<br />
wegen Krankheit des Personals das Bordbistro geschlossen.<br />
Als die Lautsprecherdurchsage kam, meldeten sich vier<br />
Konferenzteilnehmer, die mit dem Zug nach Hause fuhren,<br />
beim Zugpersonal und sagten: „Wir machen das Ding jetzt<br />
auf.“ Wieks Fazit: „Wir sind auf einem guten Weg.“ p<br />
Per Wiek,<br />
Leiter Personalstrategie<br />
und Personalprozesse<br />
Foto: Jet-Foto Kranert<br />
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HR & ICH IN AKTION<br />
Fotos: Gottfried Stoppel<br />
Die Erfrischende<br />
Egal, wo Marion Rövekamp in Deutschland ist: Sie begegnet ihren Mitarbeitern auf<br />
Schritt und Tritt. Als Personalvorstand der DB Regio laufen bei ihr die Fäden des bundesweit<br />
agierenden Unternehmens zusammen. Wir begleiteten sie einen Tag lang bei ihrer Arbeit.<br />
VON DAVID SCHAHINIAN<br />
20<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
u Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen<br />
und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Das Zitat von Albert<br />
Einstein hängt in einem Büro im fünften Stock des sogenannten Hindenburgbauses<br />
am Stuttgarter Hauptbahnhof. Der Sitz des Verkehrsbetriebs<br />
Baden-Württemberg ist lediglich für diesen Tag Marion<br />
Rövekamps Basisstation, und doch passt das Bonmot zu ihr, wie sich<br />
noch herausstellen wird. Als Personalvorstand des Mobilitätsdienstleisters<br />
DB Regio AG ist sie Reisen, zumal mit der Bahn, gewohnt. Die<br />
Unternehmenszentrale ist in Frankfurt am Main, am Wochenende fährt<br />
sie in ihre Heimat München.<br />
Rövekamp ist für sämtliche personalpolitischen Themen auf nationaler<br />
Ebene zuständig, trägt Verantwortung für rund 37 000 Mitarbeiter.<br />
Viele davon sind Lokführer, Zugbegleiter – oder Busfahrer.<br />
Die DB Regio ist nicht nur im Schienenverkehr aktiv, sondern auch<br />
größter Busbetreiber in Deutschland. Kerngeschäft ist der öffentliche<br />
Linienverkehr. Es sind aber derzeit vor allem Lokführer, die dringend<br />
gesucht werden: Auf dem Markt gibt es kaum ausgebildete Lokführer<br />
und die Arbeitszeiten sind regelmäßig unregelmäßig. Was die<br />
Arbeit nicht einfacher macht: Jeder fühlt sich beflissen, mitzureden,<br />
transportiert die DB Regio doch täglich rund sieben Millionen Menschen.<br />
Pünktlichkeit wird vorausgesetzt, bei Störungen im Betriebsablauf<br />
wird schnell Kritik laut. Mit dieser Anspruchshaltung muss man<br />
umgehen können und sie erfüllen wollen.<br />
Führungskräften zur Seite stehen<br />
Beim ersten Termin am Morgen hört die studierte Juristin zunächst<br />
einmal zu. Martina Kneuer, Regionalleiterin Personal Region Baden-<br />
Württemberg und S-Bahn Stuttgart und ihr Team von rund 20 Personalverantwortlichen<br />
berichten über den Status aktueller Projekte,<br />
aber auch über ihre Sorgen und Nöte. Die Diskussion ist überraschend<br />
offen und konstruktiv. „Die Zahlenhörigkeit wird immer größer“,<br />
kritisiert ein Mitarbeiter. Schnell wird das Gespräch ein grundsätzliches<br />
über Personalarbeit in den kommenden Jahren. Eine zentrale<br />
Aufgabe der Kollegen sieht Rövekamp in der Rekrutierung, Personalplanung<br />
und der Steuerung nach der Planung: „Das ist die Basis unseres<br />
Jobs – dafür zu sorgen, dass das Geschäft läuft und wir motivierte<br />
Mitarbeiter mit der richtigen Qualifikation am richtigen Platz<br />
haben.“ Das ist in Zeiten der digitalen Transformation und der demografischen<br />
Entwicklung in Deutschland aber harte Arbeit. Noch eine<br />
Aufgabe kommt hinzu: „Sie müssen den Führungskräften erklären,<br />
was wir machen, um sie zu unterstützen. Ihr Job ist es, neben ihnen<br />
zu stehen und ihnen zu helfen, ihren Job gut zu machen.“<br />
HR als strategischer Partner – das funktioniert nur, wenn man diese<br />
Rolle einfordert und gute Argumente auf seiner Seite hat. Ein Beispiel<br />
ist das Know-how, wie man Teams aufstellt und mit verschiedenen<br />
Menschentypen umgeht: „Wenn wir das gut machen, bekommen wir<br />
auch die Akzeptanz. Und die Zahlen müssen stimmen, daran werden<br />
wir gemessen“, schwört sie die Mitarbeiter auf ihren Kurs ein. Das<br />
ändert zwar zunächst wenig an den alltäglichen Problemen, die manch<br />
einen drücken: ein hoher Krankenstand etwa oder die Tatsache, dass<br />
1000 Lokführer gesucht werden. Sind sie aber adressiert und argumentativ<br />
unterfüttert, wird der Handlungsdruck auch bei den Entscheidern<br />
deutlicher.<br />
Wo Zukunft auf Eisenbahn-Romantik trifft<br />
Personaler zu sein, kann bedeuten, viel Zeit im Büro zu verbringen.<br />
Als Personalvorstand bei der DB Regio AG, einem der bundesweit<br />
dezentralisiertesten Unternehmen, ist das ein wenig anders. Patrick<br />
Schaber, stellvertretender Leiter Werkstätten Stuttgart, wartet schon:<br />
Gemeinsam stehen Besuche in den Werkstätten Stuttgart-Rosenstein<br />
und Stadtpark auf dem Programm. Auf der Fahrt dorthin verweist er<br />
auf die imposanten Baustellen, die einen Teil der Stadt durchziehen:<br />
Das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, einst ein großer Aufreger, nimmt<br />
hier nun unverkennbar Formen an.<br />
Und es hat unmittelbar mit dem Ziel der Fahrt zu tun, denn es besiegelt<br />
sein Ende. Die Werkstatt Rosenstein, in der Lokomotiven gewartet,<br />
inspiziert und instand gesetzt werden, wurde 1919 gebaut. Schon<br />
der Papa manch eines Mitarbeiters hat in dem Werk gearbeitet. Ein<br />
Stück Eisenbahn-Romantik, das ebenso wie die zweite Werkstatt im<br />
Stadtpark aufgegeben wird, wenn bestehende Verträge auslaufen. Ob<br />
das nicht für Unruhe bei den Mitarbeitern sorgt? „Wir haben ja noch<br />
ein paar Jahre vor uns“, verneint Schaber. Zudem wird es eine Vielzahl<br />
an weiteren Einsatzmöglichkeiten für sie geben.<br />
Hoch hinaus geht es in den Führerstand einer E-Lokomotive, für<br />
Kenner: einer 147 008. Rövekamps zupackende Art zeigt sich auch<br />
hier, als es gilt, mit einigen kräftigen Klimmzügen ins Führerhaus zu<br />
klettern. Vor sich sieht sie lediglich einige Monitore, Hebel und Knöpfe.<br />
Wer manchmal am Bahnhof steht und die Lokführer beobachtet,<br />
sieht meist entspannt wirkende Menschen, die diese Regler bedienen.<br />
Was leicht aussieht, ist eine höchst anspruchsvolle Arbeit. Die Lokführer<br />
tragen große Verantwortung. „Wir schulen sie regelmäßig“,<br />
betont Schaber. Zusatzqualifikationen und regelmäßige Fortbildungen<br />
sind nur ein Teil des kontinuierlichen Schulungsbedarfs.<br />
Marion Rövekamp hört aufmerksam zu, spricht mit den Mitarbeitern<br />
und weiß auch mit Kritik an der Gesamtsituation umzugehen. Hier<br />
zeigt sich praktisch, was bereits in der morgendlichen Konferenz zur<br />
Fakten zum Personalmanagement bei der DB Regio<br />
Der Personalbestand bei der DB Regio gesamt lag im Dezember 2<strong>01</strong>6 bei 37 853<br />
Mitarbeitern. Die größte Berufsgruppe sind die Triebfahrzeugführer mit rund<br />
12 000 Mitarbeitern im Bereich Schiene und gut 7500 Busfahrern im Busbereich.<br />
Bei der Berufsgruppe der Triebfahrzeugführer herrscht die größte Not: Für das Jahr<br />
2<strong>01</strong>7 hatte die DB Regio einen Rekrutierungsbedarf von circa 1100 Mitarbeitern,<br />
davon wurden bis Ende September für bereits 940 Stellen die Verträge unterschrieben.<br />
In 2<strong>01</strong>8 gibt es einen erneuten Bedarf von knapp 1000 Triebfahrzeugführern.<br />
Derzeit befinden sich bei DB Regio fast 900 Auszubildende über alle Lehrjahre<br />
hinweg in Ausbildung. Zudem sind noch weitere 122 Nachwuchskräfte (wie duale<br />
Studenten, Praktikanten, Werkstudenten und Trainees) bei DB Regio beschäftigt.<br />
In 2<strong>01</strong>7 wurden 288 Azubis und dual Studierende übernommen.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 21
HR & ICH IN AKTION<br />
„Je besser ich vorbereitet<br />
bin, desto besser ist es für<br />
die Kollegen. Auf meiner<br />
Ebene kann ich einiges<br />
abfedern.“<br />
Gemeinsam mit Patrick Schaber, stellvertretender Leiter Werkstätten Stuttgart, (Foto unten<br />
links) besucht Marion Rövekamp die Werkstätten in Stuttgart-Rosenstein und Stadtpark. Dort<br />
spricht sie mit den Mitarbeitern (Sven Gutzeit, oben rechts) und setzt sich auch schon mal in<br />
den Führerstand einer E-Lokomotive.<br />
Der Tag<br />
8.00<br />
Büro/Organisation<br />
9.00<br />
Gespräch mit Martina Kneuer,<br />
Regionalleiterin Personal<br />
Region BW und S-Bahn<br />
Stuttgart, und ihrem Team<br />
11.00<br />
Besuch Werkstätten Stuttgart-<br />
Rosenstein und Stadtpark mit<br />
Patrick Schaber, stellvertretender<br />
Werkstattleiter<br />
13.00<br />
Mittagessen mit<br />
Kollegen<br />
14.00<br />
S-Bahn-Fahrt zurück in den<br />
Stuttgarter Unternehmenssitz<br />
14.30<br />
Gespräch mit der<br />
Redaktion der<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong><br />
22<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Sprache kam: Qualifizierte Mitarbeiter sind gesucht, aber rar gesät. Der Personalvorstand<br />
kann auf Hilfe aus dem Konzern bauen: Die Deutsche Bahn AG holte<br />
jüngst mit ihrer Arbeitgeberkampagne „Willkommen, Du passt zu uns“ den<br />
Gesamtsieg des <strong>Personalwirtschaft</strong>spreises dieses <strong>Magazin</strong>s.<br />
Eingefahrenes überdenken<br />
Die Werkstatt Stadtpark wirkt heller und weitläufiger als Rosenstein. An der Wand<br />
neben den drei Instandhaltungsgleisen hängen Zettel, die eine kleine Revolution<br />
bedeuten und ins Mark des Personalmanagements treffen. Ihr Name: OPEX. Mit<br />
dem Programm Operative Exzellenz will die Deutsche Bahn schneller und effizienter<br />
werden und so in fünf Jahren mehr als eine Milliarde Euro bei Reparatur<br />
und Wartung von Netz und Loks einsparen. Die Medienberichte über das als<br />
intern klassifizierte Papier sorgten Ende des vergangenen Jahres für Verunsicherung<br />
in der Belegschaft. Mittlerweile ist wieder Ruhe eingekehrt.<br />
Unter anderem wurde die Zusammenarbeit auf neue Füße gestellt. Beispiel Fehlerkultur:<br />
Die Mitarbeiter sind dazu aufgefordert, bei Problemen mit ihren Chefs<br />
zu sprechen, sie auch auf Missstände hinzuweisen. Nicht sie, sondern der Kunde<br />
ist König, wie auch das große Mammutprogramm „Zukunft Bahn“ vermittelt.<br />
„Das erfordert Mut, das war man nicht überall gewohnt. Und es war auch emotional<br />
für viele kein einfacher Prozess“, so Rövekamp.<br />
Vor allem nicht dort, wo die Hierarchien noch in Stein gemeißelt waren. Ihre<br />
Aufgabe sieht sie an dieser Stelle unter anderem darin, die Teamleiter von bürokratischen<br />
Themen zu entlasten, damit sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren<br />
können. Eingefahrenes überdenken, darum geht es. Bereits 2<strong>01</strong>5 wurde<br />
die DB Regio Info-App eingeführt, um die interne Kommunikation zu verbessern.<br />
Sie liefert aktuelle Informationen zum Geschäftsfeld DB Regio sowie Neuigkeiten<br />
aus der Region. Und sie befähigt die Führungskräfte auch, auskunftsfähig<br />
zu sein. Große Veränderungen erfordern allerdings einen längeren Atem. Dass<br />
Rövekamp Marathonläuferin ist, schadet dabei sicher nicht. Ihre Bestzeit liegt bei<br />
beachtlichen vier Stunden und 26 Minuten.<br />
PERSONAL<br />
AKTEN<br />
EFFIZIENT<br />
MANAGEN<br />
Kein Kuschelkurs, aber ein offenes Ohr<br />
Nach dem Mittagessen – in Stuttgart geht es nicht ohne Maultaschen – bleibt ein<br />
wenig Zeit für ein persönliches Gespräch. Ihr sei relativ früh klar gewesen, dass<br />
sie im Personalbereich arbeiten will, erzählt die studierte Juristin. Für sie ist der<br />
Job eine perfekte Kombination aus betriebswirtschaftlicher Ausrichtung und der<br />
konkreten Arbeit mit Menschen. Zur Bahnfahrerin ist sie aus Überzeugung geworden.<br />
15 Jahre lang hat sie bei der Deutschen Telekom gearbeitet, 60 000 Kilometer<br />
im Jahr im Auto zurückgelegt. „Irgendwann wollte ich etwas Neues machen.“<br />
Sie machte sich 2005 selbstständig, verantwortete aber bereits seit 2009 interimsweise<br />
die Leitung des Change Managements im Programm „Zukunftsfähigkeit<br />
Regio“.<br />
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<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 23
HR & ICH IN AKTION<br />
Die Vita<br />
bis 1990<br />
Studium der Rechtswissenschaften<br />
an der<br />
Universität Passau<br />
1990–2005<br />
Diverse Führungsfunktionen<br />
im HR-Bereich bei der<br />
Deutschen Telekom AG<br />
2005–2<strong>01</strong>1<br />
Geschäftsführerin Taxo<br />
Management Consulting<br />
GmbH<br />
seit 2<strong>01</strong>1<br />
Vorstand Personal bei der<br />
DB Regio AG und Leiterin<br />
Personal Personenverkehr<br />
bei der ehemaligen DB<br />
Mobility Logistics AG<br />
Offensichtlich zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber: 2<strong>01</strong>1<br />
gab sie ihre Tätigkeit als geschäftsführende Gesellschafterin<br />
der Taxo Management Consulting GmbH auf und wurde<br />
Vorstand Personal der DB Regio. Was die Mobilität<br />
betrifft: Als Vorständin bei der DB hat sie natürlich eine Bahncard<br />
100. Für den Reporter der <strong>Personalwirtschaft</strong> wird<br />
selbstverständlich eine S-Bahn-Fahrkarte am Automat gezogen,<br />
die an diesem Tag auf ihre Kosten geht. Rövekamp<br />
genießt den Luxus, während längerer Fahrten Zeitung lesen<br />
oder am stets griffbereiten Tablet arbeiten zu können.<br />
„Ich versuche, jede Region mindestens einmal im Jahr zu<br />
besuchen“, sagt sie, am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Kollegin<br />
Kneuer wartend. Zusammen geht es per S-Bahn in eine<br />
Gastwirtschaft zwecks Mittagspause. 13 Regionen sind es im<br />
Schienen-, fünf beim Busverkehr. Jede davon hat eine Regionalleitung,<br />
die für das gesamte Geschäft an Ort und Stelle verantwortlich<br />
ist. Der persönliche Austausch mit ihnen ist ihr<br />
wichtig. „Je besser ich vorbereitet bin, desto besser ist es für<br />
die Kollegen. Auf meiner Ebene kann ich einiges abfedern.“<br />
Zudem seien die Mitarbeiter loyaler, wenn sie wüssten, dass<br />
man sich auf sie verlassen könne. Was sie gibt, fordert sie<br />
jedoch auch ein, von einem Kuschelkurs kann keine Rede sein:<br />
„Ich spreche Dinge deutlich an“, stellt Rövekamp klar.<br />
Auf die Frage nach ihrem Führungsstil antwortet sie schnell<br />
und mit einem Lächeln: „Erfrischend.“ Nach kurzem Überlegen<br />
ergänzt sie: „Und mitreißend.“ Zudem sei sie menschlich<br />
offen, aber sie habe auch eine große Erwartungshaltung.<br />
Sie schaue sich Dinge genau an, bevor sie Entscheidungen<br />
treffe, diskutiere auch gern kontrovers. In bestimmten Situationen,<br />
wenn die Diskussionen auszuufern drohen, treibt sie<br />
ihre Entscheidungen aber zielstrebig voran. „Ich weiß, was<br />
ich will und lasse es kalibrieren“, umschreibt sie ihr Vorgehen<br />
mit einem schönen Bild. Am Ende müsse klar sein,<br />
wohin die Reise geht – und diese angetreten werden: „Ich<br />
bin kein Mensch, der ewig auf einer Sache rumkaut.“<br />
Projekt „Zukunft der Personalarbeit“<br />
Einmal mehr betont sie, wie sehr sich die Personalarbeit im<br />
Wandel befindet. Eines ihrer Lieblingsthemen ist das Thema<br />
Rekrutierung und seine Transparenz in Daten und Fakten,<br />
um seine Komplexität besser in den Griff zu bekommen.<br />
„Ich muss wissen, was ein Krankenstand von sieben<br />
Prozent konkret bedeutet – und Lösungen umsetzen“, erklärt<br />
sie an einem Beispiel. Sie und alle Personalverantwortlichen<br />
müssten dafür sorgen, dass die Organisation arbeiten kann.<br />
Keine einfache Aufgabe, zumal, wenn man Schlagworte<br />
wie Digitalisierung, Qualifizierung, Mitarbeiterbindung<br />
berücksichtigen muss. Und Wettbewerb, mit dem sich der<br />
Konzern mehr denn je auseinandersetzen muss. Für den<br />
Betrieb des vor der Haustür liegenden, durch Stuttgart führenden<br />
Netzes hat die Tochter des britischen Unternehmens<br />
Go-Ahead den Zuschlag erhalten, 2<strong>01</strong>9 wird der<br />
Wechsel vollzogen.<br />
„Alle haben erst einmal Angst vor Veränderung“, weiß Rövekamp.<br />
Den Herausforderungen im HR-Bereich nimmt sich<br />
das Projekt „Zukunft der Personalarbeit“ an. Ziel ist es, eine<br />
zukunftsfähige Personalorganisation aufzubauen. Dazu war<br />
zunächst eine Neuaufstellung von HR notwendig: Sie unterstützt<br />
das Geschäft als strategischer Partner und Berater.<br />
Im Mittelpunkt steht die Stärkung der Führungsverantwortung,<br />
Effizienzsteigerung und die Qualität der HR-Produkte.<br />
Gleich beginnt eine Webko mit den beiden Umsetzungsverantwortlichen<br />
Stephanie Korn und Christian Lukaß.<br />
Wenn dieser Artikel erscheint, soll das brandneue Personalportal<br />
gerade online gegangen sein – nach vielen Monaten<br />
der Vorbereitung. Dabei handelt es sich um ein Dashboard,<br />
ein Steuerungsinstrument für Führungskräfte zum schnellen<br />
Überblick zu relevanten Personalkennzahlen.<br />
Handlungssicherheit durch Vernetzung<br />
Die Mitarbeiter berichten von dem Kommunikationskonzept,<br />
das sie für die Einführung entwickelt haben, denn<br />
auch innerhalb von Unternehmen wollen erst einmal Mehrheiten<br />
für sinnvolle Neuerungen organisiert werden. Personalverantwortliche<br />
konnten das Portal frühzeitig evaluieren,<br />
es wurden User-Experience-Workshops abgehalten.<br />
Zehn Prozent der gesamten Führungsmannschaft waren als<br />
Test-User in die Entwicklung eingebunden. Sie können<br />
und sollen später auch als Multiplikatoren fungieren. Die<br />
Projektverantwortlichen stellen Rövekamp den Kommunikationsplan<br />
auch deshalb sehr ausführlich vor, weil sie sich<br />
beim Rollout der vollen Unterstützung der Führungsmannschaft<br />
sicher sein wollen. „Prinzipiell fein“, urteilt sie zu<br />
diesem frühen Zeitpunkt, „aber mir fehlen noch deutlichere<br />
Hinweise, warum wir die neuen HR-Produkte einführen,<br />
welche Ziele wir damit verfolgen.“ Das Team verspricht,<br />
das zu berücksichtigen.<br />
„Die Vernetzung spielt eine große Rolle, das ist als sehr<br />
hilfreich wahrgenommen worden“, berichtet Korn weiter.<br />
Es folgt ein Blick darauf, wie das HR-Dashboard zum derzeitigen<br />
Planungsstand konkret aussieht. Ein Ziel, die Handlungssicherheit<br />
zu stärken, dürfte auf jeden Fall erreicht<br />
werden: Die Ansicht ist individuell konfigurierbar und<br />
zeigt auf Knopfdruck sämtliche Informationen an, die Personaler<br />
für ihre Arbeit brauchen: Durchschnittsalter von<br />
Abteilungen, Krankenstände, Grafiken, Vergleiche zum<br />
Vorjahr ... Geplant ist ein gestaffelter Rollout, damit das System<br />
performant bleibt – auch in anderen Bereichen wie<br />
der DB Netz AG soll es zum Einsatz kommen.<br />
Die Zeit fliegt: Um 16 Uhr beginnt bereits die nächste Telko.<br />
Davor ist es jedoch Zeit, sich zu verabschieden. Thema<br />
des folgenden Gesprächs sind die betriebsverfassungsrechtlichen<br />
Tarifverträge – nichts, was für die Öffentlichkeit<br />
bestimmt wäre. Eine Stunde später will Rövekamp die Fahrt<br />
zurück in ihr Frankfurter Büro antreten. Natürlich mit der<br />
Bahn.<br />
p<br />
24<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Fachkraft gefunden!<br />
Das Inklusionsbarometer Arbeit untersucht die Situation für<br />
Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.<br />
Mehr erfahren Sie unter www.aktion-mensch.de/inklusionsbarometer.<br />
In Kooperation mit:<br />
Mehr unter www.aktion-mensch.de/inklusionsbarometer
HR & ICH PRAXISTRANSFER<br />
Mittelmanager im Zeitalter der Ambidextrie<br />
Eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Change-Beratung<br />
Penning Consulting zeigt die veränderte Positionierung des mittleren Managements in<br />
deutschen Unternehmen auf. Die zentrale Herausforderung lautet Ambidextrie.<br />
Die Studie<br />
u Tagesgeschäft, Projekte, Innovation. Das ist der Dreiklang,<br />
aus dem heute die Arbeitswoche von Führungskräften<br />
auf der mittleren Ebene besteht. Wir beobachten:<br />
Einen Großteil der Arbeitszeit nehmen mittlerweile<br />
Veränderungsprojekte ein, gleichzeitig müssen Mittelmanager<br />
ihr Tagesgeschäft steuern. Diese Ambidextrie,<br />
also die Gleichzeitigkeit von Alltags- und Projektgeschäft,<br />
ist heute zum permanenten Standard in vielen<br />
Unternehmen geworden. Gemeinsam mit dem unabhängigen<br />
Markt- und Meinungsforschungsinstitut Forsa<br />
wollten wir verstehen: Wie stellt sich die Projektdichte<br />
in Unternehmen heute wirklich dar? Wie gehen<br />
insbesondere Mittelmanager damit um? Und inwieweit<br />
verändert dies ihre Rolle im Unternehmen – oder<br />
hat es das bereits getan?<br />
1. Permanente Veränderungsprojekte sind heute Realität<br />
und belasten das Mittelmanagement<br />
Fakt: 88 Prozent der durch Forsa befragten Unternehmen<br />
haben in den vergangenen drei Jahren mindestens<br />
ein größeres Transformations- beziehungsweise Veränderungsprojekt<br />
durchgeführt. 56 Prozent haben angegeben,<br />
mehr als sechs Projekte durchgeführt zu haben,<br />
Die hier präsentierten Zahlen stammen aus der Studie „Führungsbarometer 2<strong>01</strong>7: Die<br />
strategische Bedeutung des mittleren Managements“, die Forsa im Auftrag der Change-<br />
Beratung Penning Consulting durchgeführt hat. Dazu wurden 90 HR-Chefs aus Unternehmen<br />
unterschiedlicher Größe befragt. In den Folgemonaten werden weitere Zahlen veröffentlicht,<br />
unter anderem zu Führungszeit und -stil, Unternehmenskultur und zu strategischer Einbindung<br />
des mittleren Managements. Mehr dazu auf www.penning-consulting.com<br />
34 Prozent mehr als elf und acht Prozent sogar mehr<br />
als 51 Projekte. Die Projektedichte hat in den vergangenen<br />
Jahren damit deutlich zugenommen. Schwerpunkte<br />
bei laufenden Projekten bilden aktuell Prozessveränderungen<br />
(84 Prozent), Projekte im Kontext<br />
von Digitalisierung (81 Prozent) und Innovation (78 Prozent).<br />
An einer Veränderung von Geschäftsmodell<br />
(49 Prozent) oder Führung (40 Prozent) arbeiten derzeit<br />
weniger als die Hälfte der befragten Unternehmen.<br />
Während ein Teil der mittleren Manager mit dieser<br />
spürbaren Belastung adäquat umgehen kann, hat die<br />
Forsa-Untersuchung ergeben, dass insgesamt 44 Prozent<br />
der befragten HR-Chefs angegeben haben, dass<br />
ihre mittlere Führungsebene sich stark belastet fühle.<br />
Zehn Prozent halten die Belastungsgrenze für überschritten.<br />
Transfer: Die Realität der Transformation kann man<br />
nicht ausblenden. In Anbetracht der Belastungsgrenzen<br />
sollten die Unternehmen prüfen, wo genau die<br />
belastenden Faktoren für das Mittelmanagement liegen.<br />
Auch wir haben diese Frage in der Studie gestellt:<br />
Was unterscheidet nun die Gruppe der stärker Belasteten<br />
von den weniger Belasteten?<br />
2. Die Qualität von Führung ist ein entscheidender<br />
Belastungsfaktor<br />
Fakt: Betrachten wir zunächst die individuelle Ebene:<br />
Es ist auffällig, dass die sich weniger belastet fühlenden<br />
Manager 48 Prozent ihrer Führungszeit in gestaltende<br />
statt reagierende Führungsaufgaben investieren. Bei<br />
denjenigen, die sich höher belastet fühlen, sind dies<br />
nur 39 Prozent. Auch die Gesamtzeit für Führungsaufgaben<br />
liegt bei den weniger Belasteten rund zehn Pro-<br />
26<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
zent höher. Sie nutzen zudem mehr Zeit für menschenals<br />
für aufgabenbezogene Führung sowie zur Selbstführung.<br />
Laut den Forsa-Daten gelingt 86 Prozent der weniger<br />
belasteten Mittelmanager in den befragten Unternehmen<br />
der Einsatz von Mitarbeitern gemäß ihrer individuellen<br />
Stärken und Schwächen – das ist der beste<br />
erzielte Wert. Eine besondere Diskrepanz lässt sich auf<br />
kommunikativer Ebene feststellen: Nur 55 Prozent der<br />
Mittelmanager mit hoher Belastung gelingt es, ihren<br />
Mitarbeitern ihren Wertbeitrag zum großen Ganzen und<br />
damit den Sinn ihrer Arbeit adäquat zu vermitteln. Bei<br />
den weniger Belasteten ist das bei 76 Prozent der Fall.<br />
Transfer: Die weniger Belasteten entscheiden sich –<br />
bewusst – für einen Führungsansatz, der vor allem<br />
Coaching, individuelle Befähigung und Entwicklung von<br />
Mitarbeitern in den Mittelpunkt rückt und zugleich<br />
Zeiträume zur Selbstreflexion und Eigenentwicklung<br />
enthält. Hierauf sollten die Unternehmen in ihrer Führungskräfteentwicklung<br />
also achten. Im Alltagsgeschäft<br />
sollten Mittelmanager zudem individuell zugeschnittene<br />
Trainings- und Verbesserungsprogramme für einzelne<br />
Mitarbeiter ermöglichen.<br />
3. Mittelmanager brauchen Entscheidungskompetenzen<br />
und Freiheiten<br />
Fakt: Auffallend ist dabei, dass neun von zehn Unternehmen<br />
mit weniger belasteten Führungskräften angeben,<br />
dass sich ihre Mittelmanager heute vor allem als<br />
Berater und Entwickler sich selbst steuernder Teams verstehen,<br />
bei denen mit hoher Belastung sind es fast 30<br />
Prozent weniger. Ebenso haben die Mittelmanager in<br />
Unternehmen mit niedrigerer Belastung mehr Entscheidungskompetenzen<br />
erhalten, haben gleichzeitig<br />
mehr Entscheidungen auf die Mitarbeiterebene übertragen<br />
können.<br />
Transfer: Diese Ergebnisse zeigen, dass nicht allein die<br />
Anzahl an Projekten und damit die Arbeitsintensität<br />
darüber entscheiden, ob sich das mittlere Management<br />
überlastet fühlt. Sondern die Qualität von Führung ist<br />
ein zentraler Faktor für die gleichzeitige Bewältigung<br />
von Projekt- und Alltagsgeschäft. Es trägt die Mittelmanager<br />
aus der Kurve, wenn sie zu wenig Zeit in Führung<br />
und zu viel Zeit in operative Management- oder<br />
gar Fachaufgaben investieren. Denn nur eine Intensivierung<br />
und eine pro-aktive Ausgestaltung der Führungszeit<br />
ermöglicht eine adäquate Delegation von<br />
Aufgaben an die Mitarbeiterebene.<br />
Die Rollendefinition des mittleren Managements ist<br />
keine Aufgabe für den einzelnen Manager. Sie ist eine<br />
strukturelle Fragestellung, die zunächst einmal vom<br />
Topmanagement zu beantworten ist. Diese muss das<br />
ganz bewusst entscheiden, in den meisten Fällen muss<br />
dazu auch die oberste Führungsebene die eigene Positionierung<br />
neu denken. Um dem mittleren Management<br />
eine Rolle als Coach und Berater der Mitarbeiter<br />
zu ermöglichen, muss das Topmanagement dies gegenüber<br />
seinen Führungskräften selbst leben.<br />
4. Starke Mittelmanager wirken aktiv an der Unternehmensstrategie<br />
mit<br />
Fakt: Die weniger belasteten Manager schneiden in der<br />
Frage ihres Beitrags zur Unternehmensstrategie erneut<br />
durchweg besser ab als die stärker Belasteten.<br />
Transfer: Das bedeutet jedoch nicht, die Gesamtverantwortung<br />
für Veränderung einfach an die nachgelagerte<br />
Ebene abzugeben. Das Gegenteil ist der Fall:<br />
Vorstände und Geschäftsführung müssen in ihrer Verantwortung<br />
bleiben. Sie müssen die entsprechenden<br />
Prioritäten setzen und auch entscheiden, welches Projekt<br />
eine Chance auf Umsetzung hat – und welches nach<br />
hinten priorisiert oder gar eingestellt werden sollte. Wir<br />
erleben in unserer Beratungspraxis häufig eine Illusion,<br />
was die inhaltliche und quantitative Machbarkeit<br />
anbelangt, die sich aufgrund von sachlichen Notwendigkeiten<br />
ergibt. Diese Illusion gilt es für das Topmanagement<br />
auszuräumen und damit seinen Führungskräften<br />
eine effektive Lösung der wichtigen und<br />
zugleich realistisch umsetzbaren Projekte zu ermöglichen.<br />
Das Ressourcenmanagement gehört auf die<br />
Topebene. So schafft die Unternehmensführung den<br />
notwendigen Rahmen für die Umsetzung von Veränderungsprojekten.<br />
Das Topmanagement muss sich also als Sozialarchitekt<br />
der Organisation in Bezug auf ein professionelles<br />
Change-, Projekt- und Ressourcenmanagement sowie<br />
ein für die Mittelmanager umsetzbares Organisationsdesign<br />
verstehen.<br />
p<br />
Eine Bilderstrecke mit<br />
Grafiken und weiterführenden<br />
Infos finden Sie auf<br />
www.personalwirtschaft.de<br />
in der Rubrik „Führung“.<br />
AUTOR<br />
Stephan Penning, Geschäftsführer,<br />
Penning Consulting GmbH, Köln,<br />
s.penning@penning-consulting.com<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 27
HR & ICH PRAXISTRANSFER<br />
Sicherheit wichtiger als Karriere und Gehalt<br />
Eine aktuelle Studie von meinestadt.de zeigt, auf welche Aspekte Personaler verstärkt achten<br />
müssen, wenn sie Fachkräfte ohne Studium erreichen möchten. Ein zentrales Ergebnis:<br />
Fachkräfte mit Berufsausbildung verfolgen andere Arbeits- und Lebenskonzepte als Akademiker.<br />
Die Studie<br />
u Die deutsche Wirtschaft klagt über einen massiven<br />
Fachkräftemangel. Für knapp zwei Drittel der offenen<br />
Stellen werden Fachkräfte mit Berufsausbildung gesucht.<br />
Längst führen ausgeschriebene Stellen für Lokomotivführer,<br />
LKW-Fahrer und Altenpfleger das Negativ-Ranking<br />
der längsten Vakanzzeiten in Deutschland an – weit<br />
vor den akademischen Berufen. HR-Verantwortliche in<br />
Unternehmen sind häufig selbst Akademiker, denen<br />
die Lebens- und Gedankenwelt von Fachkräften in der<br />
Regel fremd ist. Somit scheinen sie Schwierigkeiten zu<br />
haben, sich in deren Wünsche und Bedürfnisse hineinzuversetzen.<br />
Unternehmen und Recruiter müssen<br />
umdenken. Nur wer sich flexibel zeigt, wird vakante Stellen<br />
für Fachkräfte effizient besetzen können.<br />
1. Zielgruppe der Fachkräfte kennen und verstehen<br />
Fakt: Für die Employer-Branding-Studie wurden 2042<br />
Fachkräfte befragt, welche Aspekte für sie über die<br />
Wahl eines neuen Arbeitgebers entscheiden. Die beiden<br />
wichtigsten Kriterien sind aus Fachkräftesicht die<br />
Sicherheit des Arbeitsplatzes (63,7 Prozent „sehr wichtig“-Nennung)<br />
und die pünktliche Gehaltszahlung (60,3<br />
Prozent). Nicht einmal jede fünfte Fachkraft legt Wert<br />
auf ein überdurchschnittliches Gehalt.<br />
Die Employer-Branding-Studie wurde von meinestadt.de im Sommer 2<strong>01</strong>7 durchgeführt.<br />
Für diese Pilotstudie wurden 2042 Fachkräfte mit Berufsausbildung befragt, welche Aspekte<br />
für sie über die Wahl eines Arbeitgebers entscheiden. Die meisten Befragten stammen aus den<br />
Branchen Logistik, Handwerk, Handel und Gesundheitswesen. Der Lehrstuhl von Professor<br />
Dr. Matthias Baum von der Technischen Universität Kaiserslautern hat die Ergebnisse der<br />
Umfrage wissenschaftlich ausgewertet.<br />
Transfer: Da Sicherheitsaspekte von der Mehrheit der<br />
Befragten unmissverständlich als am wichtigsten bewertet<br />
werden, muss dieses Thema auch in einer Stellenanzeige<br />
als Attraktivitätstreiber im Vordergrund stehen,<br />
um Interesse zu wecken. Für den Großteil der<br />
Akademiker eine Selbstverständlichkeit, wird von den<br />
Fachkräften neben dem sicheren Arbeitsplatz die Pünktlichkeit<br />
der Gehaltszahlung sehr hoch priorisiert. Für<br />
Fachkräfte ist es auch tendenziell wichtiger, ein Gehalt<br />
zu bekommen, von dem sie gut leben können, als überdurchschnittlich<br />
entlohnt zu werden. Das ging aus vielen<br />
Freitextfeldern hervor. Stattdessen ist ihnen die<br />
Work-Life-Balance wichtiger – darauf sollte stärker<br />
eingegangen werden.<br />
2. Relevante Inhalte kommunizieren<br />
Fakt: Auch das Arbeitsklima ist ein entscheidender<br />
Faktor: Neben einer guten Beziehung zu den Kollegen<br />
(43 Prozent „sehr wichtig“-Nennung) geben 48,7 Prozent<br />
an, dass ihnen eine gute Unternehmenskultur und<br />
gute Stimmung im Unternehmen sehr wichtig seien. 49,5<br />
Prozent finden die Anerkennung der Arbeit durch den<br />
Chef oder die Chefin „sehr wichtig“. Ein weiteres spannendes<br />
Ergebnis: Gute Arbeitswerkzeuge (38,1 Prozent<br />
„sehr wichtig“-Nennungen) und guter Arbeitsschutz<br />
(37,9 Prozent „sehr wichtig“-Nennungen) sind wichtiger<br />
als „spannende Arbeitsinhalte“. In vielen Stellenanzeigen<br />
und auf Karriereseiten wird das Thema Arbeitsschutz<br />
allerdings kaum oder gar nicht thematisiert.<br />
Transfer: HR-Verantwortliche müssen sich schon bei<br />
der Formulierung einer Stellenanzeige und anschließend<br />
auch im Bewerbungsprozess viel stärker in die tatsächliche<br />
Zielgruppe hineinversetzen. Die bei akademischen<br />
Zielgruppen seit Jahrzehnten eingesetzten Leis-<br />
28<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
tungsversprechen sowie Begriffe und Bilder für die<br />
Zielgruppe der Fachkräfte zu recyceln, bringt langfristig<br />
keinen Erfolg. Fachkräfte mit Berufsausbildung<br />
möchten sich und ihre Fähigkeiten einbringen. Dem<br />
Großteil der Kandidaten ist Wertschätzung und eine<br />
kollegiale Atmosphäre wichtig. Auch das Thema<br />
Arbeitssicherheit sollte in Stellenanzeigen berücksichtigt<br />
werden. Dies dürfte insbesondere für handwerkliche<br />
Berufe, Jobs im Gesundheitswesen und Stellen in<br />
der Produktion von großer Bedeutung sein.<br />
Für Erzieher ist es zum Beispiel wichtig zu wissen, wie<br />
groß die Gruppen im Kindergarten sind, ob die Einrichtung<br />
eine U3-Betreuung anbietet und wie groß der<br />
administrative Teil in Form von Lernberichten ist. Eine<br />
Pflegekraft möchte wissen, ob sie Mitspracherecht bei<br />
der Erstellung der Dienstpläne hat. All diese Spezifika<br />
der jeweiligen Branchen und Berufsfelder sollten beim<br />
Thema Employer Branding mehr Beachtung finden.<br />
Um ein realistisches Bild über die spezifischen Erwartungen<br />
und Bedürfnisse potenzieller Mitarbeiter zu<br />
bekommen, sollten am besten die eigenen Kollegen im<br />
Unternehmen befragt werden.<br />
3. Weg mit dem Karriere-Wording<br />
Fakt: Ein Großteil der Unternehmen setzt immer noch<br />
auf den klassischen Karrierebegriff, wenn es darum<br />
gehen soll, potenzielle Mitarbeiter anzulocken. Ein<br />
schwerer Fehler, wenn man sich die Ergebnisse der Studie<br />
vor Augen führt: Nur für 19,2 Prozent der Befragten<br />
spielen gute Aufstiegschancen innerhalb des Unternehmens<br />
eine wichtige Rolle.<br />
Transfer: In der gesamten HR-Kommunikation dreht<br />
sich alles um Karrieretage, Karriere-Websites und Karrierechancen.<br />
Viel wichtiger als Karriere sind Fachkräften<br />
die Unternehmenskultur, die Arbeitsatmosphäre<br />
sowie die Möglichkeit, ihre eigenen Fähigkeiten einbringen<br />
zu können. Deswegen kann beim Employer<br />
Branding und in der HR-Kommunikation mit nicht<br />
akademischen Fachkräften auf die klassischen Karrierebegrifflichkeiten<br />
zukünftig ganz verzichtet werden.<br />
4. Andere Kanäle verwenden<br />
Fakt: Für Akademiker mögen Karriere-Websites eines<br />
der wichtigsten Employer-Branding-Tools sein, für<br />
Fachkräfte sind sie es aber zweifelsfrei nicht. Nur 15,6<br />
Prozent gaben an, dass für sie Karriere-Websites<br />
sehr wichtig seien, um einen guten Arbeitgeber zu<br />
identifizieren. Am wichtigsten sind für mehr als zwei<br />
Drittel immer noch der persönliche Eindruck im<br />
Vorstellungsgespräch (68,8 Prozent) sowie Berichte<br />
und Empfehlungen aus dem persönlichen Netzwerk<br />
(58,4 Prozent). 29,1 Prozent stufen Arbeitgeber-<br />
Bewertungsplattformen bei der Identifikation eines<br />
guten Arbeitgebers als wichtig ein.<br />
Transfer: Bei der Rekrutierung von Fachkräften mit<br />
Berufsausbildung müssen Unternehmen andere Kanäle<br />
als Karriere-Websites verstärkt nutzen. Hier sind zum<br />
Beispiel mobile Wege eine gute Möglichkeit, Kandidaten<br />
direkt über das Smartphone zu erreichen und durch<br />
einfache Prozesse möglichst schnell in den entscheidenden<br />
persönlichen Kontakt zu kommen. Denn der persönliche<br />
Eindruck zählt, das gilt auch heute noch. Daher<br />
sollten Hürden für den Erstkontakt möglichst gering<br />
gehalten werden. Langfristige HR-Strategien müssen<br />
dafür sorgen, dass sich eine authentische, positive Unternehmenskultur<br />
auf Arbeitgeber-Bewertungsplattformen<br />
widerspiegelt. Ebenfalls wichtig ist in diesem Kontext<br />
Empfehlungsmarketing, denn die Meinung von<br />
Bekannten und der Familie sowie ein guter Ruf des<br />
Unternehmens motivieren Fachkräfte viel eher, sich<br />
auf eine Stelle zu bewerben.<br />
5. Fachkräfte regional ansprechen<br />
Fakt: Regionalität spielt besonders bei den nicht<br />
akademischen Fachkräften eine entscheidende Rolle.<br />
45,2 Prozent geben an, dass für sie die Nähe des Arbeitsplatzes<br />
zum Wohnort ein „sehr wichtiger“ Faktor bei<br />
der Arbeitgeberwahl ist, für weitere 43 Prozent ist der<br />
Aspekt „wichtig“.<br />
Transfer: Die Mobilität ist schon unter Akademikern<br />
nicht besonders groß – bei Fachkräften ist sie noch einmal<br />
deutlich geringer. Krankenpfleger, Busfahrer, Kassierer<br />
und Co. suchen in ihrer Region nach einem Job.<br />
Ein Umzug dagegen ist meistens nur durch private<br />
Gründe motiviert. Fachkräfte suchen lokal, also muss<br />
auch dort um sie geworben werden. Denn Fachkräfte<br />
haben heute in immer mehr Mangelberufen die Wahl<br />
direkt vor der eigenen Haustür.<br />
p<br />
Eine Bilderstrecke mit<br />
Grafiken und Infos zur<br />
Studie finden Sie auf<br />
www.personalwirtschaft.de<br />
in der Rubrik „Recruiting“.<br />
AUTOR<br />
Georg Konjovic, Geschäftsführer,<br />
meinestadt.de, Köln,<br />
georg.konjovic@meinestadt.de<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 29
HR & ICH LEBENSLÄUFE<br />
„Das war für mich absolutes Neuland“<br />
Wolfgang Goebel hat bei Mc Donald’s die komplette Karriereleiter erklommen –<br />
von „ganz unten“ bis zum Personalvorstand. Dann der Bruch: Studium in Münster,<br />
jetzt Franchisenehmer bei L’Osteria. Sein Lebenslauf im Check.<br />
LEBENSLAUF<br />
Wolfgang Goebel<br />
Ehemaliger Personalvorstand von Mc Donald’s Deutschland<br />
Personalien<br />
Geburtsdatum:<br />
Familienstand:<br />
31. Juli 1961 in Wiesbaden<br />
Verheiratet, 2 Kinder<br />
Ausbildung und Studium<br />
1981–1983 Deutsches Rotes Kreuz, Zivildienst<br />
1983–1985 Kaufhof AG, Verkäufer inklusive Prüfung zum<br />
Einzelhandelskaufmann & Handelsassistenten<br />
April 2<strong>01</strong>6–August 2<strong>01</strong>7 Westfälische Wilhelms-Universität Münster,<br />
Master-Studiengang „Nonprofit-Management and Governance“<br />
Beruflicher Werdegang<br />
Seit September 2<strong>01</strong>7 Training zum Franchise-Nehmer bei L’Osteria<br />
Mc Donald’s Deutschland Inc.<br />
Mai 2007–März 2<strong>01</strong>6 Vorstand Personal<br />
Januar 2006–April 2007 Vorstand Operations<br />
2002–2005 Regionaldirektor Nordrhein-Westfalen<br />
2000–20<strong>01</strong> Krankheitsbedingte Unterbrechung<br />
1999–2000 Regionaldirektor Hessen & Baden-Württemberg<br />
1995–1999 Regionaldirektor Berlin & neue Bundesländer<br />
1985–1995 Durchlaufen der klassischen Operationslaufbahn<br />
Ehrenämter<br />
2007–März 2<strong>01</strong>6<br />
2007–März 2<strong>01</strong>6<br />
2009–März 2<strong>01</strong>6<br />
Mitglied im Stiftungsrat der Mc Donald’s Kinderhilfe Stiftung<br />
Präsident Bundesverband der Systemgastronomie (BdS)<br />
Mitglied im Präsidium Bundesvereinigung der Deutschen<br />
Arbeitgeberverbände (BDA)<br />
30<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Sie haben sich nach Ihrer Zeit bei<br />
Mc Donald’s an der Uni Münster als<br />
ordentlicher Student eingeschrieben<br />
und auch Ihren Abschluss gemacht. Was<br />
hat Sie am Studiengang „Nonprofit-<br />
Management and Governance“ gereizt?<br />
Das Lernen und Leben als Student, das ich<br />
leider vorher nie genossen hatte. Ich habe<br />
viel über junge Menschen gelernt. Außerdem<br />
war es auch eine tolle Erdung: Meine Mitstudierenden<br />
haben mir schnell klargemacht:<br />
Du bist hier nur Kommilitone und eben<br />
nicht der Manager, der du früher warst.<br />
Zudem habe ich eine Menge über Prozesse<br />
und wissenschaftliches Arbeiten gelernt.<br />
Ist es für Sie ausgeschlossen, in Zukunft<br />
nochmals in einer ähnlich verantwortlichen<br />
HR-Position wie bei Mc Donald’s<br />
zu arbeiten?<br />
Das kann ich mir nicht vorstellen, weil ich<br />
ja jetzt den Schritt in die Selbstständigkeit<br />
gemacht habe und als Franchisenehmer<br />
von L‘Osteria in Mittelhessen tätig werde.<br />
Das Training war richtig hart: Ich habe am<br />
Pizzaofen gestanden, Schichten wie jeder<br />
andere Angestellte gemacht. Das hätte ich<br />
nicht machen müssen, aber ich fand es<br />
wichtig. So schließt sich für mich der Kreis.<br />
Beschreiben Sie Ihren Lebenslauf mit drei<br />
Adjektiven.<br />
Überraschend, zielstrebig und erfüllend.<br />
Gibt es Sackgassen, in die Sie geraten sind?<br />
Siehe die Frage nach besonderen Herausforderungen.<br />
Als ich zum Personalvorstand<br />
berufen wurde, musste ich mir erst vieles<br />
erarbeiten. Gleichzeitig war ich ja auch noch<br />
Präsident des Bundesverbandes der Systemgastronomie.<br />
Aber es gab einen Ausweg aus<br />
dieser Sackgasse: Ich habe mich ein halbes<br />
Jahr zurückgezogen und unter anderem bei<br />
der DGFP eine Seminarreihe für Führungskräfte<br />
im Personalbereich belegt. Sehr geholfen<br />
hat mir auch mein Coach und Mentor<br />
Dr. Walter Jochmann.<br />
Hand aufs Herz: Fehlt Ihnen Ihre alte Aufgabe<br />
manchmal?<br />
Nein. Am Anfang haben mir die Kollegen<br />
gefehlt, die mir besonders am Herzen<br />
gelegen haben. Aber ich habe gemerkt,<br />
dass mein Herz groß genug ist für neue<br />
Verbindungen.<br />
Was war in Ihrer beruflichen Laufbahn als<br />
Personaler Ihre größte Herausforderung?<br />
Die Tätigkeit als Personalvorstand zu<br />
übernehmen, ohne von Vornherein die<br />
nötige Fachkompetenz zu haben. Das war<br />
für mich schon absolutes Neuland.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 31
TITEL LEAN HR<br />
32<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Simplify your<br />
Personalmanagement<br />
HR hat zuletzt viel Akzeptanz eingebüßt. Der Vorwurf der Kundschaft: Die Prozesse<br />
sind viel zu kompliziert, unsere Arbeit wird dadurch nicht erleichtert. Lean HR steht also<br />
auf dem Programm für 2<strong>01</strong>8. Gute Beispiele gibt es genug.<br />
VON WINFRIED GERTZ<br />
u Anfang November erhält Josef Wissinger, Geschäftsführer<br />
des Rationalisierungs- und Innovationszentrums der Deutschen<br />
Wirtschaft (RKW) in München, ungewöhnlich viel<br />
Post. Personalleiter aus rund 300 mittelständischen Betrieben<br />
teilen ihm mit, welche Themen ihnen besonders auf den<br />
Nägeln brennen. Diese „Shortlist“ fließt sukzessive in die<br />
Planung der Personalleitertreffen für das folgende Jahr ein,<br />
wo die HR-Experten ihr Wissen gezielt auffrischen und berufliche<br />
Erfahrungen austauschen. Die Agenda legen die Personalleiter<br />
selbst fest: Nach Big Data und Active Sourcing ist<br />
nun die Lean-HR-Administration auf Platz eins vorgerückt.<br />
Wissinger, der zahlreiche Personalleitertreffen selbst moderiert,<br />
kennt die Beweggründe seiner Klientel ziemlich genau.<br />
Ist von Lean Management die Rede, geht es gemeinhin um<br />
die Beschleunigung von Abläufen mit dem Ziel höherer Qualität,<br />
also um die Verbesserung von Effizienz. „Wertschöpfung<br />
rauf, Kosten runter“, lautet der Schlachtruf. Jede Form von<br />
Verschwendung, Fehlern und unnötigen Kosten gerät auf<br />
den Prüfstand. Dieses Instrument aus dem Managementbaukasten<br />
schlägt nun auf den Wirkungskreis von HR durch –<br />
auch in kleinen und mittleren Betrieben, wie Wissinger beobachtet.<br />
Dabei entfaltet die Digitalisierung ihre treibende Kraft:<br />
„Sie wirkt sich deutlich auf das Recruiting und vor allem die<br />
Administration aus.“<br />
Soweit die Ausgangslage. Der Knackpunkt: Zwar wollen Personalleiter<br />
ihre Prozesse verbessern, doch ihnen fehlt es an<br />
Wissen und Unterstützung. Auch an übertragbaren Best<br />
Practices mangelt es im Mittelstand. „Man könnte überspitzt<br />
sagen: Viele Personaler fühlen sich alleingelassen“, bringt<br />
Wissinger die Stimmungslage auf den Punkt. Wie Lean<br />
Management aufgesetzt wird und welche Methoden sich hierzu<br />
anbieten, dieses Know-how wollen sie sich unbedingt<br />
aneignen.<br />
Redundanzen mit Standardisierung begegnen<br />
Praxisbeispiel 1<br />
Mayser GmbH & Co. KG<br />
Foto: privat<br />
Standardisierung hat sich Personalleiter<br />
Winfried Wanka auf die Fahne<br />
geschrieben.<br />
>> Weiter auf Seite 34<br />
Umso wichtiger sind erfolgreiche Beispiele aus dem eigenen<br />
Netzwerk. Einen Schritt voraus ist zum Beispiel Winfried<br />
Wanka, vor wenigen Monaten in den RKW-Vorstand berufen<br />
und in der Geschäftsführung der Mayser GmbH & Co.<br />
KG für HR und Recht zuständig. Zu der Fusion zweier deutscher<br />
Standorte trägt auch HR sein Scherflein bei. Bei der<br />
Anpassung zentraler Prozesse zwischen Bewerberansprache,<br />
Einstellung und Onboarding favorisiert Wanka die „Standardisierung<br />
als eine wichtige Methode des Lean Managements“.<br />
Tatsächlich stieß Wanka bei der Analyse auf sehr viel Redundanz.<br />
War es mehreren Mitarbeitern nur unter hohem Zeitu<br />
Was im Jahr 1800 als<br />
„Hutmacherey“ begann,<br />
hat sich inzwischen zu<br />
einem Kfz-Zulieferer gemausert,<br />
der vor allem in<br />
Sicherheits- und Schaumstofftechnik<br />
von sich<br />
reden macht. Doch als<br />
stark wachsende Organisation<br />
muss Mayser zentrale<br />
Prozesse anpassen –<br />
etwa im Recruiting. Durch<br />
Standardisierung erzielt<br />
Personalleiter Winfried Wanka schnell die gewünschten<br />
Effekte. Nach Installation eines Bewerbermanagementsystems<br />
sinkt der Aufwand in nennenswertem Umfang. „Mit der<br />
Sichtung des Bewerbungseingangs ist künftig ein Mitarbeiter<br />
allein beschäftigt“, so Wankas Bilanz. Dank des gewonnenen<br />
Freiraums befassen sich die HR-Kollegen nun mit<br />
Aufgaben im Gesundheits- und Wissensmanagement. p<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 33
TITEL LEAN HR<br />
Praxisbeispiel 2<br />
Alnatura Produktions- und<br />
Handels GmbH<br />
Foto: privat<br />
Auch wenn er dafür frühere Entscheidungen<br />
rückgängig machen muss: Personalleiter<br />
Joachim Schledt verbessert Prozesse<br />
ganz konsequent.<br />
u Weil die Auslagerung<br />
von zeitaufwendigen Abläufen<br />
nicht alternativlos<br />
sein muss, entschied<br />
sich die Biomarktkette<br />
Alnatura vor sieben<br />
Jahren, die Lohn- und<br />
Gehaltsabrechnung wieder<br />
zu re-integrieren.<br />
„Wir machen es günstiger,<br />
schneller und leaner<br />
als der Dienstleister“<br />
betont Personalleiter<br />
Joachim Schledt. Seither<br />
wird in HR konsequent nach weiteren Verbesserungen<br />
geforscht. Ergebnis Nummer eins: Seit Einführung des<br />
Bewerbermanagementsystems investiert man 60 Prozent<br />
weniger Zeit und Kosten ins Recruiting. Ergebnis Nummer<br />
zwei: Dank Umstieg auf die digitale Personalakte<br />
erzielt Schledt mit unverändertem Personaleinsatz „eine<br />
prozessuale Verbesserung von 30 Prozent“. Ähnliche<br />
Effekte sollen auch E-Learning-Systeme und ein Seminarverwaltungsprogramm<br />
zeitigen.<br />
p<br />
>> Fortsetzung von Seite 33<br />
aufwand möglich, die „E-Mail-Flut“ aus Bewerbungen zu<br />
beherrschen, zeigen sich nach Installation eines Bewerbermanagementsystems<br />
spürbare Effekte: „Dank des hohen<br />
Komforts der Lösung sinkt der Aufwand in nennenswertem<br />
Umfang“, bilanziert Wanka. „Mit der Sichtung des Bewerbungseingangs<br />
ist künftig ein Mitarbeiter allein beschäftigt.“<br />
Wer durch Automatisierung respektive Standardisierung Kosten<br />
sparen will, wird sich primär auf administrative Teilprozesse<br />
konzentrieren. Bisweilen ist sogar möglich, die Qualität<br />
zu erhöhen. „Exakt“, sagt Wanka, könne er noch nicht<br />
beziffern, wie der Umstieg auf das neue Verfahren sich<br />
betriebswirtschaftlich rechnet. Doch der positive Effekt auf<br />
den Personalbereich des stark wachsenden Unternehmens<br />
ist deutlich erkennbar: „Tatsächlich verschaffen wir uns<br />
beträchtliche Freiräume für wichtige Aufgaben wie etwa das<br />
Gesundheits- und Wissensmanagement“, hält Wanka fest.<br />
Und das bei gleichzeitiger Erhöhung der Candidate Experience,<br />
die sich „in schnellerem Response und höherer Prozessqualität“<br />
erweise.<br />
Die Qualität darf nicht abnehmen<br />
So sehr dieses Beispiel nun dazu veranlassen mag, sich dem<br />
Großreinemachen anzuschließen: Das Verschlanken von Prozessen<br />
darf keineswegs zu Qualitätseinbußen führen. Davor<br />
warnt Stephan Kaiser, Professor für Personalmanagement<br />
und Organisation an der Universität der Bundeswehr München<br />
(siehe auch Interview auf Seite 35). Als Beispiel zitiert<br />
er eine durch und durch administrative Aufgabe, die Auslagerung<br />
der Lohn- und Gehaltsabrechnung. Beim Outsourcing<br />
sei darauf zu achten, dass das Gehalt „auch weiterhin<br />
pünktlich überwiesen wird“. Warum absolute Präzision erforderlich<br />
ist, erklärt auch Rupert Felder, Personalchef der Heidelberger<br />
Druckmaschinen AG, mit drastischen Worten:<br />
„Wer besteigt schon ein Flugzeug, in dem es den Menschen<br />
erlaubt ist, Fehler zu machen?“<br />
Tatsächlich revidieren viele Unternehmen ihre einstige Entscheidung.<br />
Aufgrund enttäuschter Erfahrungen mit den jeweiligen<br />
Dienstleistern holen sie ausgelagerte Aufgaben zurück.<br />
Auch die Biomarktkette Alnatura rang sich vor sieben Jahren<br />
zum Insourcing durch, wie Personalleiter Joachim Schledt<br />
rekapituliert. „Wir machen es günstiger, schneller und damit<br />
sozusagen auch leaner als der Dienstleister.“<br />
Schledt ermuntert seine HR-Kollegen, konsequent durchzugreifen<br />
– nicht nur im Recruiting. Jeder Prozess wird geprüft,<br />
ob er effizient und schlank ist oder sich sogar erübrigt. Das<br />
macht auch vor Führungskräften nicht halt, sie wollen das Führen<br />
von kritischen Gesprächen oft auf HR abwälzen. „Das hat<br />
aber bei HR nichts zu suchen, das ist Aufgabe jeder Führungskraft“,<br />
grätscht Schledt dazwischen. Grundsätzlich sollten<br />
Personaler beim Lean Management unbedingt ihre individuellen<br />
Rahmenbedingungen beachten, schreibt ihnen<br />
Patrizia Stock, Leiterin des REFA-Instituts in Dortmund,<br />
ins Stammbuch. Es gebe keine Strategie, „die für alle Personalbereiche<br />
gleichermaßen gilt“. Beim Aufspüren von Optimierungspotenzial<br />
lohne der Blick darauf, so Stock, „wie<br />
Informationen verwaltet, Dokumente verarbeitet und Kommunikationswege<br />
angelegt werden“.<br />
Die Informationsfluten eindämmen<br />
Um Lean HR zum Erfolg zu verhelfen, spricht viel dafür, in<br />
der sehr dokumentenlastigen Personalverwaltung anzusetzen.<br />
Laut Ingenieurin Stock (siehe auch Interview auf Seite 37)<br />
kennt das Lean Management verschiedene Verschwendungsarten:<br />
Droht in der Produktion die Überproduktion, lauert<br />
in HR die Informationsflut: „Berichte etwa, die keiner liest.“<br />
Felder macht dafür das ausgeprägte Sicherheitsdenken von<br />
HR verantwortlich. „Bloß keine Fehler machen.“ Das Resultat<br />
sind auch zahllose Transaktionsprozesse inklusive Bescheinigungen:<br />
vom Eintritt neuer Mitarbeiter über ihre Beförderung<br />
und Versetzung bis zum Austritt. Bei der Bereinigung<br />
orientiert sich Felder am Kundennutzen und favorisiert das<br />
Pull-Prinzip: „Wer etwas braucht, kann es von HR aufberei-<br />
34<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
tet abrufen.“ Der stets lauernden Gefahr, dass Tools ihr Eigenleben<br />
entwickeln, ist sich auch Thomas Perlitz, Personalleiter<br />
der Gerresheimer AG in Düsseldorf, bewusst. Potenzial<br />
zur Entschlackung sei in allen HR-Prozessen zu finden, nicht<br />
nur in der Administration. Vor übereilten „Rosskuren“ sei<br />
jedoch gewarnt, wie das Beispiel der Zeugniserstellung zeigt.<br />
„Durch Automatisierung bis zur Unkenntlichkeit ist der Wert<br />
des Zeugnisses als wichtiges Dokument im Bewerbungsprozess<br />
tief gefallen“, ärgert sich Perlitz.<br />
Perlitz warnt seine HR-Mitstreiter zudem vor einer grundsätzlichen<br />
Falle. Prioritäten solle man nicht in Abhängigkeit von<br />
„Sinuskurven oder Modewellen“ definieren, sondern allein<br />
nach ihrem Wert fürs Unternehmen sowie für interne und<br />
externe Kunden bemessen. Das gelte auch für Lean HR, stimmt<br />
Hochschullehrer Kaiser ausdrücklich zu. Softwarelösungen aus<br />
dem Bereich People Analytics, wie etwa Matching-Algorithmen,<br />
oder Ansätze, die Stimmerkennung in die Eignungsdiagnostik<br />
einzubeziehen, zögen Personaler teilweise mehr als nötig in<br />
den Bann. „In nennenswertem Umfang eingesetzt werden solche<br />
Verfahren aber noch nicht.“ Patrizia Stock vom REFA-Institut<br />
schließt sich an. HR sollte nicht zu hohe Erwartungen in Algorithmen<br />
setzen. „Der Mensch lässt sich nicht auf einen Lebenslauf<br />
Praxisbeispiel 3<br />
Gerresheimer AG<br />
Foto: privat<br />
Thomas Perlitz setzt als Personalleiter<br />
immer mehr auf Apps, um Prozesse zu<br />
optimieren.<br />
u Lean HR, also die<br />
Suche nach Verbesserungen<br />
oder Kosteneinsparung,<br />
ist für Thomas Perlitz<br />
eine tägliche Aufgabe.<br />
Als Personalchef des börsennotierten<br />
Produzenten<br />
von Glasmaterialien<br />
für die Pharma- und Kosmetikindustrie<br />
mit weit<br />
über 10 000 Mitarbeitern<br />
sieht er vor allem in der<br />
konsequenten Ablösung<br />
schwerfälliger Systeme<br />
aus der einstigen Großrechnerwelt den entscheidenden<br />
Schritt. Sukzessive werden Altsysteme, die etwa bei Mitarbeitergesprächen<br />
oder im Recruiting zum Einsatz kommen,<br />
durch Apps ersetzt. „Sie erhöhen nicht nur die Zufriedenheit<br />
von Anwendern“, betont Perlitz. Dank ihrer<br />
Schnittstellenflexibilität ließen sie jederzeit verknüpfen<br />
oder auch austauschen. Anbieter wie SAP, erwartet Perlitz,<br />
„werden sich schwertun, damit Schritt zu halten“. p<br />
>> Weiter auf Seite 36<br />
Foto: privat<br />
Interview<br />
Prof. Dr. Stephan Kaiser,<br />
Personalmanagement und<br />
Organisation, Universität der<br />
Bundeswehr München<br />
„Man muss<br />
Jobalternativen anbieten“<br />
u Was veranlasst Personaler, sich mit Lean Management<br />
anzufreunden?<br />
Für viele Personaler klingt HR ohne Ressourcenverschwendung,<br />
also operative Exzellenz, zu handwerklich.<br />
Sie befassen sich lieber mit Talent Management oder<br />
Employer Branding. Dass sie nun ihre Prozesse auf<br />
Kosten und Effizienz trimmen wollen, deutet auf einen<br />
gewissen Stimmungswandel hin: Zwar brummt die<br />
Wirtschaft, aber die nächste Krise könnte bald folgen.<br />
Die Digitalisierung übt zusätzlich Druck aus. Welche<br />
Gefahr ist damit verknüpft?<br />
Womöglich trägt Lean HR, kombiniert mit beträchtlicher<br />
IT-Investition, zum Verlust von traditionellen HR-<br />
Aufgaben bei, die letztlich von IT-Dienstleistern übernommen<br />
werden. Während ein Teil intelligenter<br />
HR-Arbeit auf Softwareentwickler übertragen wird,<br />
muss sich HR im Gegenzug für Aufgaben anbieten,<br />
deren Wert in der Verknüpfung von Unternehmens- und<br />
HR-Strategien liegt. Ich glaube jedoch, dass entfallene<br />
Verwaltungsaufgaben nicht vollständig durch höherwertige<br />
Funktionen kompensiert werden können.<br />
Worauf ist besonders zu achten?<br />
Geht es um Personalabbau, muss man Jobalternativen<br />
anbieten oder zumindest ein überzeugendes<br />
Outplacement. Dazu zählt eine glaubwürdige Kommunikation<br />
gegenüber verbleibenden Mitarbeitern.<br />
Unternehmen müssen sicherstellen, dass ihre Leistungsträger<br />
nicht abspringen.<br />
p<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 35
TITEL LEAN HR<br />
Praxisbeispiel 4<br />
Heidelberger<br />
Druckmaschinen AG<br />
Senior Vice President Global HR Dr.<br />
Rupert Felder versucht, Mitarbeitern die<br />
Angst zu nehmen.<br />
Jenseits aller Zuversicht, das eigene Terrain für die Zukunft<br />
zu trimmen, lautet freilich die Gretchenfrage: Ziehen die<br />
Mitarbeiter mit? Im Endeffekt stehen sie mit ihren angestammten<br />
Aufgaben schließlich zur Disposition. Verträgt<br />
sich „lean“ mit der Unternehmenskultur? Ingenieurin Stock<br />
nimmt Personaler in die Pflicht, unbedingt den Rat von Mitu<br />
Infolge eines vom Vorstand<br />
angestoßenen Programms<br />
für Operational<br />
Excellence soll auch HR<br />
seine Prozesse verbessern.<br />
Eine Säule ist die<br />
Standardisierung auf<br />
SAP. Doch HR-Chef Felder<br />
muss auch Personal<br />
abbauen. „Würden wir<br />
etwa die Berufsausbildung<br />
schließen, könnten<br />
wir auf einen Schlag viel<br />
Geld sparen.“ Das könne<br />
Felder zufolge aber nicht im Interesse des Unternehmens<br />
sein. Damit Mitarbeiter Lean HR als Change-Projekt<br />
nicht torpedieren, müsse man ihnen die Angst vor<br />
Jobverlust nehmen. Sie sollten bereit sein, ihr Wissen<br />
einzubringen und nicht bloß zu bewahren. „Der permanenten<br />
Veränderung kann man sich einfach nicht wiedersetzen.“<br />
p<br />
>> Fortsetzung von Seite 35<br />
Foto: Ralf Kolb<br />
reduzieren.“ Ebenso wenig überzeugten Algorithmen Bewerber,<br />
dass es weit und breit keinen besseren Arbeitgeber gebe.<br />
Bei der Verbesserung oder Kosteneinsparung empfiehlt Perlitz,<br />
sich von „schwerfälligen Systemen“ zu verabschieden, wie sie<br />
etwa für Mitarbeitergespräche herangezogen werden. „Führungskräfte<br />
dürfen wir nicht mit Mainframe-Anwendungen behelligen,<br />
die Mitarbeitergespräche als komplizierte und zeitfressende<br />
Tortur erscheinen lassen.“ Was Perlitz beschreibt, kann sich<br />
in der Tat zu einem Bürokratiemonster ersten Grades auswachsen.<br />
Vor allem in Konzernen sind fürs Mitarbeitergespräch Formulare<br />
stattlichen Umfangs auszufüllen, die alle erdenklichen<br />
Beurteilungsdimensionen enthalten. Mit solchen Zeitfressern, garniert<br />
von wuchernden Feedback- und Kennzeichnungsschleifen,<br />
zerrt man bloß an den Nerven aller Beteiligten. Geschuldet sind<br />
solche Auswüchse nicht nur übertriebenem Perfektionismus<br />
und dem Wunsch nach Absicherung. Wer solche Formulare entwirft,<br />
ist auch von tiefem Misstrauen infiziert.<br />
Mehr Qualität verspricht sich Perlitz vom Einsatz kleiner flexibler<br />
Lösungen. Bei der Mitarbeiterempfehlung etwa hat<br />
sich die Automatisierung für Perlitz gelohnt. „Durch Übertragung<br />
der Prozessschritte auf eine App erleichtern wir den<br />
Beteiligten, neue Mitarbeiter anzuwerben. Damit gewährleisten<br />
wir schlanke, schnelle Prozesse sowie eine deutlich<br />
höhere User Experience.“<br />
Erst prüfen, dann digitalisieren<br />
Digitalisierung, moderne IT: Liegt hier der Schlüssel für reibungslose,<br />
entbürokratisierte Abläufe und womöglich auch<br />
für ein verbessertes Standing von HR? Felder zufolge fehlt vielen<br />
Personalern der Anschluss an IT. „Ihr Horizont reicht<br />
manchmal lediglich bis Excel.“ Für Roland Hehn ist die Frage<br />
nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. „Digitalisiert man<br />
schlechte oder unnötige Prozesse, dann bleiben sie schlecht<br />
und unnötig“, sagt der Personalchef der Heraeus Holding<br />
GmbH, Hanau, der aktuell den HR-Bereich nach Antritt eines<br />
neuen CEO sukzessive auf Vordermann bringt.<br />
Bei seiner Mammutaufgabe stützt sich Hehn auf den Methodenreichtum<br />
von Lean Management. Statt einmaliger Kosmetik<br />
geht es um kontinuierliche Verbesserung. Zunächst<br />
rücken alle Prozesse auf den Prüfstand: „Warum sollte HR<br />
selbst Sprachtrainings managen und verwalten, wenn dies<br />
ein Master Vendor zusätzlich zu seinen Leistungen gratis<br />
oder deutlich besser übernimmt?“ fragt Hehn. „Wie sinnvoll<br />
sind etwa Exit-Interviews bei einer Fluktuationsquote von vier<br />
Prozent?“<br />
Kein Personaler, nennt Hehn ein weiteres Beispiel, müsse an<br />
einem Erstinterview teilnehmen, wo es allein um die Prüfung<br />
der fachlichen Qualifikation geht. Neben dem Aussortieren<br />
und Verschlanken geht es bei der systematischen Neuordnung<br />
von Prozessen um Standardisierung. „Wir vereinheitlichen Systeme<br />
und bündeln Synergien auch durch Zentralisierung“,<br />
umreißt Hehn die Strategie. So ist das Shared Service Center<br />
nicht mehr allein für Payroll zuständig, sondern darüber<br />
hinaus für weitere administrative HR-Aufgaben. Fazit: Etliche<br />
Prozesse wurden gestrichen oder dort neu aufgehängt, wo<br />
sie nichts oder weniger kosten – „bei gleicher oder besserer<br />
Qualität“, wie Hehn präzisiert.<br />
Auch Heidelberg unterhält zum Thema Payroll ein Shared Service<br />
Center, um Transaktionen unter Ausschöpfung von Skaleneffekten<br />
zu realisieren. Regelmäßig vergleicht Felder den<br />
internen Leistungs- und Kostenkatalog mit dem Angebot<br />
externer Dienstleister. „Als Personaler muss ich beziffern<br />
können, was interne Prozesse wie etwa Zeugniserstellung<br />
oder eine Versetzung kostet.“<br />
Von der Last zur Lust<br />
36<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
arbeitern einzuholen, zumal sie die Prozesse am besten kennen.<br />
„Kontinuierliche Verbesserung als Bestandteil von Lean<br />
Management kann nur unter Beteiligung der Mitarbeiter<br />
erfolgen.“ Damit sei jede Technologie überfordert, auch künstliche<br />
Intelligenz. Dies sei „elementar“ für die Unternehmenskultur.<br />
Ziehen wir ein Fazit: Dem entschlossenen Aufspüren von<br />
Zeitfressern, Kostentreibern und bürokratischem Ballast sollten<br />
sich mehr Personaler anschließen. Das Selbstverständnis<br />
der hier präsentierten Protagonisten kann vielen HR-Akteuren<br />
dabei als Vorbild dienen. „Wer Lean nicht in seiner DNA<br />
hat, ist falsch in seinem Job – nicht nur in HR“, redet Schledt<br />
der HR-Community ins Gewissen. „Wir müssen von der Last<br />
zur Lust kommen“, lautet Perlitz’ Devise. HR-Prozesse sollten<br />
nicht belastend, sondern unkompliziert sein. „So macht<br />
Führen wieder Spaß.“ Auch das etwas angegriffene HR-Image<br />
könnte profitieren. Genügend Diskussionsstoff für Josef Wissingers<br />
Personalleitertreffen nächstes Jahr bietet sich also<br />
allemal.<br />
p<br />
Dr.-Ing. Patrizia Stock, Leiterin REFA-Institut e. V., Dortmund<br />
Interview<br />
„Unternehmen sollten die<br />
Chancen betonen“<br />
Foto: Fotoart-Momentum<br />
Praxisbeispiel 5<br />
Heraeus Holding GmbH<br />
Foto: privat<br />
Prozesse, die mehr kosten<br />
als sie einbringen, schafft Personalleiter<br />
Roland Hehn einfach ab.<br />
u Nach der Entscheidung,<br />
den Technologiekonzern<br />
Heraeus komplett<br />
neu aufzustellen,<br />
muss auch HR sich reorganisieren.<br />
Die ambitionierte<br />
Vorgabe lautet,<br />
neue Themen mit unverändertem<br />
Headcount<br />
und Budget voranzubringen.<br />
Dabei verfolgt Personalleiter<br />
Roland Hehn<br />
ein dreiteiliges Lean-HR-<br />
Konzept: Prozesse, deren<br />
Kosten höher sind als ihr Mehrwert, werden abgeschafft.<br />
Ferner geraten unnötige Teilprozesse auf den Prüfstand.<br />
Für alle übrigen Prozesse gilt: Sie müssen schlanker werden.<br />
„Lean HR“, so Hehn, „ist quasi Voraussetzung, die<br />
Transformation erfolgreich zu gestalten.“ Neben dem Aussortieren<br />
und Verschlanken von Prozessen werden Systeme<br />
vereinheitlicht (Standardisierung) und Synergien gebündelt<br />
(Zentralisierung).<br />
p<br />
u Worauf sollten Unternehmen, die sich dem Lean<br />
Enterprise verschrieben haben, besonders achten?<br />
Es ist Aufgabe von HR, die Mitarbeiter mitzunehmen.<br />
Den Rahmen setzt eine wertschätzende Kultur.<br />
Ich plädiere dabei für die Kombination aus Können,<br />
Wollen und Dürfen. Können allein, wie vielfach praktiziert,<br />
reicht nicht aus.<br />
Das müssen Sie uns näher erklären.<br />
Werden Routineprozesse verschlankt, wachsen Mitarbeiter<br />
in neue und anspruchsvollere Aufgaben hinein.<br />
Statt Ängste zu schüren, sollten Unternehmen die<br />
Chancen betonen, die sich aus Veränderungen ergeben,<br />
wie sich historisch in industriellen Umbrüchen<br />
immer wieder gezeigt hat. HR muss dafür sorgen,<br />
dass Mitarbeiter bereit sind, zu lernen und sich optimistisch<br />
Veränderungen stellen. Eigentlich wird diese<br />
Aufgabe immer wichtiger.<br />
Wird Technik nicht überbewertet, wenn HR sich zu<br />
Lean bekennt?<br />
Technologie ist sicherlich ein gutes Hilfsmittel, um etwa<br />
Verwaltungsabläufe zu straffen. Sie ist aber nicht<br />
erfolgsentscheidend. Mit Technik allein lassen sich<br />
Lean-Prinzipien nicht realisieren. Um ihnen Gestalt<br />
zu verleihen, braucht man die Mitarbeiter sowie die<br />
passenden Methoden, allen voran Standardisierung<br />
und kontinuierliche Verbesserung. Ohne Mitarbeiterorientierung<br />
und eine tragfähige Unternehmenskultur<br />
funktioniert Lean nicht.<br />
p<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> 12 _ 2<strong>01</strong>7 37
TITEL LEAN HR<br />
Die Quintessenz: So entrümpeln Sie HR erfolgreich<br />
1 Überblick verschaffen<br />
Verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick über die Prozesse in Ihrem Fachbereich: Welche fallen überhaupt an?<br />
Was wird intern gelöst, was extern?<br />
2 Notwendigkeit überprüfen<br />
Sind alle etablierten Prozesse vonnöten? Oder hat sich seit Verfestigung der Abläufe bereits so viel verändert,<br />
dass der eine oder andere hinfällig geworden ist?<br />
3 Effizienz checken<br />
Stellen Sie eine Kosten-Nutzen-Rechnung für jeden Prozess auf: Schafft er tatsächlich Mehrwert oder frisst er nur Nerven,<br />
Zeit und Geld?<br />
4 Zielgruppe einbinden<br />
Was sagen eigentlich die Kunden von HR zu Ihrer Performance? Wo hakt es in deren Augen? Was brauchen sie, was<br />
kann wegfallen? Nehmen Sie sie mit auf die Reise, lassen Sie sie Erkenntnisse und Erfahrungen beisteuern – und ersparen<br />
Sie ihnen Überraschungen.<br />
5 Zuständigkeit prüfen<br />
Gehört der Prozess überhaupt in die Personalabteilung? Oder wäre er in einem anderen Bereich womöglich besser aufgehoben?<br />
Wägen Sie ab und stellen Sie sich eventuell strategisch besser auf.<br />
6 Technische Möglichkeiten nutzen<br />
Technik soll uns dienen. Und das kann sie, wenn sie richtig eingesetzt wird. Welche Tools gibt es auf dem Markt, die Ihnen<br />
helfen könnten? Lassen Sie sich individuell beraten.<br />
7 Alle mitnehmen<br />
Veränderung löst Verunsicherung aus. Information hingegen schafft Vertrauen. Binden Sie die Mitarbeiter in den Prozess<br />
ein und kommunizieren Sie transparent.<br />
8 Flexibel bleiben<br />
Die Welt verändert sich schnell – und damit auch die Voraussetzungen für die Abläufe in Ihrer Abteilung. Was Sie vorgestern<br />
entschieden haben, mag gestern noch richtig gewesen sein. Aber heute? Trauen Sie sich, Ihre Entscheidungen in kurzen<br />
Zeitabständen zu überprüfen und auch mal wieder über den Haufen zu werfen.<br />
9 Personalplanung ankurbeln<br />
Welche Mitarbeiter wären von fälligen Veränderungen in welcher Form betroffen? Wem kann man wo Chancen eröffnen?<br />
Welche Mitarbeiter und welche Qualifikationen brauchen Sie im Zuge der Veränderung vielleicht in Kürze?<br />
0 Konsequent sein<br />
Zu umständlich, zu veraltet, zu langsam, zu teuer? Weg damit!<br />
(wj, cl)<br />
38<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
SPECIAL COMPENSATION & BENEFITS<br />
Die Kunst der<br />
richtigen Vergütung<br />
Marktgerecht, leistungsgerecht, einfach zu verwalten und zudem noch für die<br />
Arbeitswelt 4.0 geeignet – die Anforderungen an Vergütungsmodelle steigen.<br />
Das merken auch die Vergütungsberatungen. Ihr Rat ist gefragt.<br />
VON CHRISTIANE SIEMANN<br />
Christiane Siemann, freie<br />
Journalistin, und Erwin Stickling,<br />
Herausgeber der <strong>Personalwirtschaft</strong>,<br />
moderierten die Diskussion<br />
mit Vergütungsexperten.<br />
uAuch wenn der Dienstwagen oder das Firmenbike<br />
vor der Tür stehen und Besuche des Fitnesscenters<br />
oder die Mahlzeiten im Kantinenrestaurant kostenlos<br />
sind: Die Faktoren Gehaltshöhe und gerechte Bezahlung<br />
haben nichts an Stellenwert für Mitarbeiter verloren.<br />
Und wer meint, gute Rahmenbedingungen für<br />
eine Work-Life-Balance und ein Paket an Zusatzleistungen<br />
wie eine hauseigene Kindertagesbetreuung<br />
oder eine betriebliche Altersvorsorge könnten die Diskussionen<br />
um das individuell als richtig empfundene<br />
Gehalt zum Verstummen bringen, der irrt. Davon<br />
sind zumindest die vier Vergütungsexperten überzeugt,<br />
die auf Einladung der <strong>Personalwirtschaft</strong> über<br />
aktuelle Trends im Bereich Compensation & Benefits<br />
diskutierten.<br />
Es ist nicht einfach für Arbeitgeber, die Vergütungspakete<br />
über verschiedene Geschäftsbereiche so zu gestalten,<br />
dass – neben den wirtschaftlichen Spielräumen –<br />
Gehälter einerseits zu einer halbwegs einheitlichen Vergütungsstrategie<br />
passen und andererseits den unterschiedlichen<br />
Bedürfnissen der Mitarbeiter entgegenkommen.<br />
Die Beratungshäuser werden bei ihren Kunden<br />
mit vielen Fragen konfrontiert: Passt unser Stellenbewertungssystem<br />
noch? Können wir auf individuelle<br />
Boni verzichten? Wie setzen wir das Entgelttransparenzgesetz<br />
um? Mit welchem Vergütungspaket gewinne<br />
ich Talente, die im Zweifel eher zu einem Start-up<br />
gehen?<br />
Der große Irrtum mit dem Vorbild Start-up<br />
Fast reflexartig schauen Unternehmen ins Silicon Valley<br />
oder auf hiesige Start-ups. Doch sind sie ein gutes<br />
Vorbild in Sachen Vergütung? Eher nicht, dämpfen<br />
die Vergütungsberater die Hoffnungen. Der Blick auf<br />
Start-ups offenbare jedoch „eine Sehnsucht“, beschreibt<br />
Alexander Insam von KPMG Law das Phänomen.<br />
Nämlich die Sehnsucht „nach einem spielerischen Spirit<br />
bei der Arbeit“. Leider werde dabei vergessen, dass<br />
die Masse der Start-ups nie zum ROI komme, also<br />
nicht als Modell für die Corporate- und Bankenwelt<br />
taugt, fügt der Arbeitsrechtler an. Trotz allem möchten<br />
Unternehmen verstehen, „warum es so viele Hochqualifizierte<br />
in Start-ups zieht und diese dort bei aller<br />
Armut der Gehaltssysteme überaus engagiert und<br />
intrinsisch motiviert arbeiten“. Vorstände und Personaleiter<br />
wollen sich inspirieren lassen und „einen Teil<br />
des Spirits in ihre Umgebung übertragen“, so Insam.<br />
Das erfordere jedoch eine kulturelle Transformation,<br />
die nicht ad hoc umzusetzen sei. Doch nicht nur der<br />
kulturelle Change wirkt als Bremse. Unternehmen wird<br />
schnell deutlich, dass die Instrumente der Jungunternehmer<br />
oft nicht übertragbar sind, da sie zum Beispiel<br />
„in mitbestimmten Organisationen auch vor der<br />
Herausforderung stehen, den Betriebsrat überzeugen<br />
zu müssen“, ergänzt Neele Siemer, Beraterin bei Kienbaum.<br />
Sich Anregungen bei den Start-ups zu holen, sei<br />
aber durchaus nachvollziehbar und klug.<br />
40<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Die „große Karotte“ lockt<br />
Ein Blick auf empirische Befunde aus Deutschland zeigt:<br />
Eigenständige Start-Ups zahlen häufig nur eine Grundvergütung<br />
an ihre Mitarbeiter, denn sie haben limitierte<br />
finanzielle Mittel. Das fand die HKP-Group heraus, die<br />
eigenständige und konzerneigene Start-ups in Deutschland<br />
nach der Mitarbeitervergütung befragte. Für den<br />
Fall, dass sie profitabel werden oder der entscheidende<br />
Durchbruch kommt, erhalten die Mitarbeiter eine große<br />
Ausschüttung. Björn Hinderlich, HKP-Practice-Leader<br />
Executive Compensation, benutzt ein schönes Bild:<br />
„Den Mitarbeitern wird die große Karotte hingehalten.“<br />
Ähnlich verfahren auch Corporate Start-ups, die<br />
im Erfolgsfall ein großes Sonder-Incentive in Aussicht<br />
stellen. Die Mitarbeiter profitieren daneben sehr häufig<br />
noch von den Vergütungsstrukturen aus dem Konzern,<br />
die analog übernommen oder adaptiert werden.<br />
Das heißt, neben der Grundvergütung erhalten sie in<br />
der Regel noch einen jährlichen Bonus, häufig eine jährlich<br />
gewährte Langfristvergütung und betriebliche Altersversorgung.<br />
Das alles hindert Mitarbeiter nicht daran, wie gebannt<br />
auf die Arbeitsbedingungen in Start-ups zu schauen<br />
und falsche Vorstellungen zu entwickeln. Sie sehen nur<br />
den Kickertisch und assoziieren ihn mit Easy Working<br />
wie und wann es gefällt, möglichst an nicht mehr als vier<br />
Tagen in der Woche. Die Realität sieht anders aus. Vergütungsberater<br />
Ian Karcher, Aon Hewitt: „Die Startups,<br />
die ihr Geschäftsmodell wirklich ‚zum Fliegen‘<br />
brachten, hatten einen Sinn für Urgency, haben 80 Stunden<br />
in der Woche gearbeitet und viel Risikobereitschaft<br />
mitgebracht.“ Diese Mentalität sei in Corporate Startups<br />
oftmals nicht zu finden. Karcher, Director Rewards<br />
& Performance Central Europe, warnt im Übrigen<br />
Unternehmen davor, bei dem Kauf eines Start-ups ungeprüft<br />
deren Vergütungsmodell zu übernehmen. Häufig<br />
holten sie sich „immense Kosten ins Haus, ohne den entsprechenden<br />
Output zu erzielen“.<br />
Wann ist Vergütungsexpertise gefragt?<br />
Eines der Kerngeschäfte der Vergütungsberatungen liegt<br />
in Benchmarking-Projekten. Da frei zugängliche Gehaltsdatenbanken<br />
in der Regel keine belastbaren Informationen<br />
anbieten, können sie nicht als Spiegel der Marktvergütung<br />
gelten. Spätestens wenn HR mit der<br />
Geschäftsführung über Gehaltsbänder diskutiert, „werden<br />
die selbst recherchierte Daten in Frage gestellt und<br />
deren Validität angezweifelt“, begründet Kienbaum-<br />
Beraterin Siemer die Notwendigkeit einer fundierten<br />
Datenbasis. Ebenso kommen die Berater nach Mitarbeiterbefragungen,<br />
die zutage fördern, dass die Beschäftigten<br />
die Bezahlung als nicht fair erleben, zum Einsatz.<br />
In einer solchen Situation möchten Unternehmen<br />
wenigstens überprüfen, ob ein Nachsteuern nötig ist.<br />
Neben Benchmarking-Analysen erkunden Unternehmen<br />
bei den Vergütungsprofis auch die Gehälter spezieller<br />
Funktionen. Zwar haben Großunternehmen meistens<br />
akzeptable Daten vorliegen, aber bei sogenannten<br />
Hot Jobs wie Solutions Architects, Full Stack Developer<br />
oder Cyber-Security-Spezialisten oder bei Seniormanager-Positionen<br />
fehlt ihnen oftmals Erfahrung und<br />
ein Verständnis dafür, wie sich der Markt entwickelt, weiß<br />
Aon-Hewitt-Berater Karcher. Ein weiterer Grund, Compensation-Experten<br />
zu befragen, sei der Wunsch nach<br />
hoher Performance der Mitarbeiter. Mit richtigen Ansätzen<br />
könne beispielweise die Sales Force durch Operational-Excellence-Training<br />
wieder auf die Erfolgsspur<br />
gesetzt werden. Allerdings müsse das Unternehmen<br />
auch bereit sein, „seinen besten Performern auch die besten<br />
finanziellen Anreize zu bieten“.<br />
Wenn Recht und Gesetz bestimmen<br />
Wenn der Gesetzgeber in Vergütungsfragen eingreift,<br />
sei es bei den Vorschriften zur Entgelttransparenz oder<br />
der Bankenvergütung, sind Vergütungsfachleute besonders<br />
gefragt. Aktuell treibt das Entgelttransparenzgesetz<br />
die Unternehmen um; sie müssen sich mit ihrer Vergütungssystematik<br />
intensiv auseinandersetzen. Dabei<br />
stoßen die Berater auf Betriebe, in denen Stellenbewertungen<br />
fehlen. „Insbesondere wenn keine Systematiken<br />
vorhanden ist, sind die Unternehmen nun gefordert zu<br />
definieren, was in ihrer Organisation gleichwertige Tätigkeiten<br />
sind“, beschreibt Kienbaum-Beraterin Siemer die<br />
dringend zu lösenden Aufgaben des Gesetzes. Neben<br />
dieser Erhebung müssen Unternehmen sich auch damit<br />
befassen, ob und inwiefern bestehende Strukturen Frauen<br />
unter Umständen benachteiligen können. Dabei wird<br />
„Auch wenn Unternehmen die<br />
Abschaffung der individuellen<br />
Leistungskomponente im Bonus<br />
pressewirksam kommunizieren:<br />
Genauso viele haben ihre<br />
individuelle Differenzierung<br />
eher gestärkt.“<br />
Dr. Björn Hinderlich, Partner, Practice Leader<br />
Executive Compensation, hkp Group<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 41
SPECIAL COMPENSATION & BENEFITS<br />
„Am Ende des Tages zeichnet<br />
ein Grading-System auch eine<br />
Landkarte der Macht; eine<br />
Stellenneubewertung ist eine Art<br />
Restrukturierungsprozess, weil<br />
Vergütung die Personalkosten und<br />
-planung massiv beeinflusst.“<br />
Dr. Alexander Insam, Fachanwalt für Arbeitsrecht,<br />
Rechtsanwalt, Partner und CHRO, KPMG Law<br />
Geld oder Leben?<br />
Bei den klassischen Benefits präferieren die Mitarbeiter Firmenhandy (97 Prozent),<br />
Firmenwagen (93 Prozent), Homeoffice (90 Prozent) und betriebliche Altersvorsorge<br />
(90 Prozent). Mit Abstand folgen dann Zuschüsse zur Gesundheitsvorsorge (60 Prozent).<br />
Die Betriebs-Kita liegt auf dem letzten Platz mit 27 Prozent.<br />
Bei den innovativen Nebenleistungen rangieren temporäre Arbeitszeitregelungen<br />
(94 Prozent), anlassbezogene Freistellungen (83 Prozent) und kostenlose Snacks/Getränke/<br />
Abendessen (57 Prozent) auf den vorderen Plätzen. (Quelle: Kienbaum und Capital, Studie<br />
Innovative Benefits, 2<strong>01</strong>7)<br />
Arbeitgeber verstärken ihre Angebote der Nebenleistungen in Bezug auf die Flexibilisierung<br />
der Arbeitszeit, IT-Ausstattung, Work-Life-Balance und Wellness/Health. (Quelle: HKP-Group,<br />
Trendmonitor Nebenleistungen, 2<strong>01</strong>7)<br />
in der Regel nicht die unmittelbare Benachteiligung das<br />
Problem darstellen, sondern vielmehr die mittelbare<br />
Benachteiligung. Ihr dringender Rat: Vergütungsprozesse<br />
und Bewertungsverfahren müssen auf den Prüfstand.<br />
Die Banken haben bereits Erfahrungen mit einer neuen<br />
Regulation vor sieben Jahren gemacht, als sie in Reaktion<br />
auf die Finanzmarktkrise mit gesetzlichen Regeln<br />
der Institutsvergütungsverordnung konfrontiert wurden.<br />
Womit zunächst keiner rechnete: Es entstanden sinnvolle<br />
personalpolitische Impulse. Für viele Verantwortliche<br />
und Mitarbeiter war der Wegfall der diskretionären<br />
Boni und gleichzeitig die verzögerte Auszahlung<br />
von variabler Vergütung, das sogenannte Deferral,<br />
zunächst „eine Horrorvision“. Bankenberater und<br />
Arbeitsrechtler Alexander Insam von KPMG Law konnte<br />
„einen hohen Leidensdruck und große Abwehrbewegungen“<br />
beobachten. Wie sollte im Einzelfall weiterhin<br />
gerecht vergütet werden? In der Folge haben viele Institute<br />
die Regulierung allerdings als Chance begriffen,<br />
alte Strukturen aufzubrechen und „eine personalpolitisch<br />
sinnvolle Diskussion um Performance und Motivation<br />
zu führen“. Heute seien erste Vergütungssysteme<br />
entstanden, von denen das Business profitiere, „gerade<br />
weil das Thema Zielvereinbarungen aufgewertet wurde<br />
und konkrete, nachhaltige Zielvereinbarungen zu<br />
mehr unternehmerischem Denken bei Führungskräften<br />
und Mitarbeitern führen“.<br />
Spagat zwischen Zahlen und Kultur<br />
Ob interner oder externer Compensation- und Benefit-<br />
Berater – eine breite Expertise, Marktwissen und analytische<br />
Fähigkeit sind unabdingbare Voraussetzungen für<br />
sein Wirken. Doch Vergütung ist ein Aspekt, der sich<br />
nicht von der Unternehmenskultur trennen lässt. „Ein Stellenbewertungssystem<br />
ist keine rein technische Analyse“,<br />
betont Ian Karcher von Aon Hewitt. Oftmals sei es ein<br />
sehr politisches Thema, welcher Mitarbeiter welcher<br />
Klassifizierung zugeordnet wird. „Machtgefüge können<br />
sich verändern, da müssen wir sensibel vorgehen.“ Compensation<br />
& Benefits fängt für den Berater schon beim<br />
Hiring an. Was zahlt ein Arbeitgeber einem IT-Spezialisten?<br />
Wenn der Bewerber keinen Uni-Abschluss vorweisen<br />
kann, sieht der mit dem Pay-Band-System verlinkte<br />
Grade beispielweise nur ein Jahresgehalt 50 000<br />
Euro vor. Aber der Bewerber kann auf dem Arbeitsmarkt<br />
80 000 bis 100 000 Euro realisieren, wenn er über das<br />
Internet seine Skills transparent macht. Das setze Arbeitgeber<br />
unter Druck. „Hier fehlt es an Dynamik in deutschen<br />
Unternehmen, zudem der Betriebsrat eine solche<br />
Abweichung nach oben blockieren kann.“<br />
Auch wenn die Berater nicht in ein bestehendes Stellenbewertungssystem<br />
eingreifen, sondern ein Vergütungssystem<br />
neu designen beziehungsweise aufstellen, „sind<br />
sie immer gleichzeitig Kulturberater und Mediator, da<br />
Konflikte vorprogrammiert sind“, definiert Alexander<br />
Insam, KPMG Law, die Rolle. Denn: „Am Ende des Tages<br />
zeichnet ein Grading-System auch eine Landkarte der<br />
Macht.“ Mit zwei verschiedenen Schnittstellen: zum Vergütungssystem<br />
und zum Performance Management. Die<br />
Ursache: Die Bewertung einer Stelle tangiert immer den<br />
entsprechenden Stellenplan und wirft die Frage auf, wie<br />
viele Grades im Geschäftsbereich X sinnvoll und finanzierbar<br />
sind. Dies führt automatisch zum Faktor Arbeitsmenge<br />
und provoziert die Frage, wie viele Mitarbeiter für<br />
die Aufgabe Y notwendig sind, erläutert Arbeitsrechtler<br />
Isam. Daher greifen Vergütungsberater in den Status quo<br />
ein: In einem Unternehmen mit einer Stellenneubewertung<br />
erfolgt „eine Art Restrukturierungsprozess, weil<br />
Vergütung nicht nur die Personalkosten, sondern auch<br />
die Personalplanung massiv beeinflusst“.<br />
Also lieber die Finger davonlassen? Scheut HR das hochpolitische<br />
und konfliktbelastete Thema Stellenwertungssystem?<br />
Eher nicht, in den meisten Unternehmen treibt<br />
es HR voran. Grading ist zwar typischerweise immer<br />
verknüpft mit Vergütungsthemen, aber es geht um mehr.<br />
42<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
„Ob Titel, Benefits, Karrierepfade, Nachfolgeplanung:<br />
Ein Grading ist ein strategisches HR-Instrument, stellt<br />
Compensation-Beraterin Neele Siemer von Kienbaum<br />
klar. Deshalb treibt in der Regel HR die Implementierung<br />
eines Systems voran, weil es seine Arbeit erleichtert und<br />
alle Prozesse an einem solchen System ausgerichtet werden<br />
können. „Stellenbewertung ist ein mächtiges HR-<br />
Instrument für das ganze HR-Management.“<br />
Stellenbewertungssysteme: zu detailliert<br />
und zu starr?<br />
In der modernen Wirtschaft hat sich die Funktionsbewertung<br />
als Basis der Vergütungsgestaltung in vielen<br />
Bereichen etabliert. Wie wichtig sind die Systeme heutzutage<br />
noch, müssen sie grundlegend verändert werden?<br />
Bieten sie eine Antwort auf die Arbeitswelt 4.0?<br />
Kienbaum hat dazu Unternehmen befragt, ob Stellenbewertungssysteme<br />
tatsächlich noch der Arbeitswelt<br />
4.0 gerecht werden. Das Ergebnis lautet: Die Organisationen<br />
arbeiten aktuell damit und sehen in ihnen ein zentrales<br />
Instrument auch für die Zukunft. Gleichzeitig<br />
stellen die Befragten ebenso fest, dass sich ihre Systeme<br />
verändern müssen. Neele Siemer: „Noch sind sie<br />
häufig eine Blackbox, aber sie müssen transparenter<br />
und objektiver werden, auf Daten basieren und auch flexibel<br />
Rollen abbilden können.“ Viele Kunden wollten<br />
derzeit ihr altes System ablösen, da es zu komplex, wenig<br />
pragmatisch und nicht nachvollziehbar sei. „Letztlich<br />
ist es häufig nicht funktional, auch aufgrund zu vieler<br />
Kriterien, die Vorgesetzte und HR beurteilen müssen.“<br />
Ein weiteres Handicap verdeutlicht folgendes Beispiel:<br />
Ein Mitarbeiter besetzt eine Funktion, doch übernimmt<br />
er auch zeitweise die Rolle eines Projektleiters. In dieser<br />
Rolle hat er zusätzliche Aufgaben wie Koordination,<br />
fachliche Führung oder anderes. Wie lässt sich das<br />
im Stellenbewertungssystem abbilden? Notwendig sei,<br />
dass bei der Bewertung der Funktion deren Rollencharakter<br />
betrachtet werde.<br />
Generell sind es jedoch nicht die Grading-Systeme, die<br />
keine Spielräume lassen, sondern das starre Arbeitsrecht,<br />
betont Siemer. Denn es ist nicht ohne Weiteres<br />
möglich, einen Mitarbeiter zum Beispiel für zwölf Monate<br />
als Projektleiter zu entlohnen und nach dieser Zeit,<br />
wenn er diese Rolle nicht mehr ausübt, auf das alte<br />
Gehalt zurückzuführen.<br />
Pragmatische Lösungen<br />
Dax-Unternehmen arbeiten fast alle mit Stellenbewertungssystemen.<br />
Zu diesem Resultat kommt eine<br />
aktuelle HKP-Studie. Sie zeigt auch auf, dass im Mittelstand<br />
mehr als die Hälfte der Unternehmen über kein<br />
Grading-System verfügt. Vergütungsexperte Björn<br />
Hinderlich nennt die Gründe: die relativ hohe Komplexität<br />
und der hohe Aufwand vieler marktgängiger<br />
Systeme. Außerdem müssen Unternehmen, falls vorhanden,<br />
das System mit dem Betriebsrat abstimmen.<br />
Und zu guter Letzt: Die gängigen Methoden der Stellenbewertung<br />
basieren nicht selten auf jahrzehntealten<br />
Systemen. Auch große Konzerne suchen deshalb<br />
mittlerweile nach einfacheren und flexibleren Alternativen.<br />
Eine Möglichkeit, so Björn Hinderlich, liege<br />
darin, einen Rahmen an validierten Referenzpositionen<br />
zu setzen, die mit wenigen ganzheitlichen Kriterien<br />
eingestuft werden und als Orientierung für<br />
weitere zuzuordnende Positionen dienen. Das HKP-<br />
Modell arbeitet mit den vier Faktoren Einfluss, Komplexität,<br />
Kommunikation und Kenntnissen einer Funktion<br />
und verzichtet auf „unzählige Unterkriterien mit<br />
scheingenauen Quantifizierungen“. Ohne Abstriche<br />
bei der Einstufungsgenauigkeit könnten Verfahren<br />
pragmatisch und einfach sein.<br />
Es ist immer wieder der Detaillierungsgrad, der sich<br />
als Problem erweist. Den großen Wunsch der Unternehmen<br />
nach pragmatischen Systemen bestätigt auch Ian<br />
Karcher, Aon Hewitt. Sicherlich habe jeder Stellenbewertungsansatz<br />
seine eigene Systematik, aber letztlich<br />
weichten die Ergebnisse nur rund zehn Prozent voneinander<br />
ab. Aon Hewitt arbeite mit auf den jeweiligen<br />
Wirtschaftsbereich abgestimmten speziellen Systemen,<br />
ob für General Industry, die Finanzindustrie oder für<br />
Hightech. Hier werde das Radford-System verwendet,<br />
um relativ einfach auch IT-Funktionen effektiv einzuordnen.<br />
In Merger-&-Acquisition-Projekten beobachtet<br />
Ian Karcher häufig, dass oftmals keine verlässliche<br />
Stellenbewertung existiert. Ein Fehler, wie er betont.<br />
Unabhängig davon, was ein Unternehmen verwendet,<br />
„eine Systematik schafft immer einen großen Mehrwert<br />
für die Firma“.<br />
„Bei Zielvereinbarungen und<br />
-erfüllung konzentrieren sich<br />
Mitarbeiter oftmals nur auf<br />
sich selbst. Wichtiger ist eine<br />
andere Komponente: Wie hilft<br />
ein Mitarbeiter dem Team, bessere<br />
Ergebnisse zu liefern?“<br />
Ian Karcher, Director Rewards & Performance<br />
Central Europe, Aon Hewitt GmbH<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 43
SPECIAL COMPENSATION & BENEFITS<br />
„Viele Unternehmen wollen ihr altes<br />
Stellenbewertungssystem ablösen, da<br />
es zu komplex, wenig pragmatisch,<br />
nicht nachvollziehbar und häufig<br />
nicht funktional ist, auch aufgrund<br />
zu vieler Kriterien, die Vorgesetzte<br />
und HR beurteilen müssen.“<br />
Dr. Neele Siemer, Projektleiterin Compensation &<br />
Performance, Kienbaum Consultants International<br />
GmbH<br />
Arbeitswelt 4.0 und Zielvereinbarung<br />
Heutzutage haben sich namhafte Konzerne wie Bosch<br />
oder die Deutsche Bahn von klassischen Zielvereinbarungen<br />
und variabler Vergütung verabschiedet. Die<br />
Mehrheit der Unternehmen arbeitet noch damit. Was<br />
ist sinnvoll? Was fördert das Ziel der Zusammenarbeit<br />
in der Arbeitswelt 4.0?<br />
Zielvereinbarungen haben immer zwei Funktionen. Zum<br />
einen implizieren sie ein variables Gehalt, dessen Höhe<br />
in Abhängigkeit von erreichten Zielen mit einem Bonus<br />
oder Tantiemen variiert. Eine Zielvereinbarung kann aber<br />
auch die Funktion einer Klarstellung haben, sodass Mitarbeiter<br />
wissen, wie sie ihre Tätigkeiten priorisieren müssen.<br />
Die Bankenwelt hat es vorgemacht, zeigt Alexander<br />
Insam von KPMG Law auf: Per Regulatorik müssen Zielvereinbarungen<br />
eine unternehmens- und bereichsspezifische<br />
sowie eine individuelle Komponente beinhalten. Die<br />
Dreiteilung soll Anreize für die variable Vergütung setzen,<br />
Teamwork honorieren und nachhaltige Ziele fördern,<br />
sodass nicht zu viele kurzfristige Risiken eingegangen<br />
werden. Bei KPMG selbst hat man sich beispielsweise<br />
dazu entschlossen, die Beurteilung von Leistung personalpolitisch<br />
zu trennen von Lernen und Entwickeln. „Herkömmliche<br />
Systeme erlauben das nicht“, stellt Alexander<br />
Insam klar, der als Partner auch die Rolle des Personalleiters<br />
(CHRO) ausfüllt. „Wenn Entwicklung nichts mit<br />
der Vergütung zu tun hat, darf der Mitarbeiter auch Fehler<br />
machen und an ihnen lernen, ohne dass er finanziell<br />
bestraft wird. So wird Eigenverantwortlichkeit gestärkt,<br />
Lernen gefördert und Fehlertoleranz erhöht, kurz gesagt,<br />
agile Personalpolitik 4.0 gelebt.“<br />
Keinesfalls sollte man sich blenden lassen, wenn namhafte<br />
Konzerne sich von Zielvereinbarungen verabschieden.<br />
So ist es zum Beispiel in einem „Sales-getriebenen<br />
Unternehmen kontraproduktiv, individuelle<br />
Belohnungen abzuschaffen“, merkt Kienbaum-Beraterin<br />
Neele Siemer an. Wer Verhalten steuern wolle, müsse<br />
zunächst die Frage der Unternehmensstrategie beantworten<br />
und dann die Vergütungsinstrumente wählen.<br />
„Wenn die individuelle Zielvereinbarung das richtige<br />
Instrument ist, sollte man nicht dem Trend in einigen<br />
Unternehmen folgen, die sie abgeschafft haben.“<br />
Balance zwischen Ich und Wir<br />
Doch der Trend im Markt, individuelle Ziele zugunsten<br />
von Teamzielen aufzugeben, ist zweifelsfrei vorhanden.<br />
Aon-Hewitt-Berater Ian Karcher: „Bei Zielvereinbarungen<br />
und Zielerfüllung konzentrieren sich die<br />
Mitarbeiter oftmals nur auf sich selbst. Entscheidend ist<br />
aber die Frage: Wie hilft ein Mitarbeiter dem Team,<br />
bessere Ergebnisse zu liefern? Das ist die richtige Philosophie<br />
und nicht die Selbstoptimierung.“ Allerdings<br />
schränkt er ebenso wie seine Kollegen ein: Nur weil<br />
sich namhafte Unternehmen wie Microsoft vom klassischen<br />
Performance-Management-System verabschiedet<br />
haben, müsse dies nicht blind kopiert werden. Nicht<br />
alles passe auf unsere Kultur, aber „wir können einiges<br />
von den Vergütungsstrukturen amerikanischer Unternehmen<br />
und ihrer finanziellen und operativen Effektivität<br />
lernen“.<br />
Was gegen einen eindeutigen Trend von der Bewertung<br />
der Einzelleistung spricht, ist auch die Tatsache,<br />
dass die Abschaffung der individuellen Leistungskomponente<br />
im Bonus pressewirksam publiziert wird, aber<br />
„genauso viele Unternehmen ihre individuelle Differenzierung<br />
eher gestärkt haben“, bekräftigt Björn Hinderlich<br />
von HKP. Ein Blick hinter die Kulissen zeige<br />
darüber hinaus auch, dass diejenigen Unternehmen,<br />
die auf eine individuelle Leistungsbelohnung verzichten,<br />
zwar nicht mehr im Bonus differenzieren, aber<br />
stattdessen in ihren Vergütungsrunden bei den Entgeltsteigerungen<br />
oder bei der Zuteilung von Langfristvergütungen.<br />
Der Grund: „Nur auf Teamanreize zu<br />
setzen, führt zwangsläufig zum Mittelmaß und die Topleister<br />
finden sich nicht wieder.“<br />
Zur Frage, wie hoch die Einzelleistung bewertet werden<br />
soll und wie hoch die Teamleistung, gibt es kein fertiges<br />
Rezept. Keine Differenzierungen vorzunehmen, ist<br />
nicht Erfolg versprechend, ein Zuviel davon allerdings<br />
auch nicht. Vergütungsberater Alexander Insam: „Die<br />
Kunst liegt in der Balance, wie beim Surfen auf einer<br />
Welle.“<br />
Unternehmen müssen sich nun individuell überlegen,<br />
welcher Mix für sie der richtige ist. Die Herausforderung<br />
steigt durch die Komplexität und wird durch die<br />
Arbeitswelt 4.0 nicht weniger. Und die Zufriedenheit der<br />
Mitarbeiter hängt nicht unerheblich an einer als gerecht<br />
empfundenen Vergütung.<br />
p<br />
44<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
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Silke Sulzer, Gruppenleiterin Maschinensicherheit<br />
Norbert Christlbauer, Leiter Personal<br />
„Es war beeindruckend zu sehen,<br />
wie jeder im Laufe des Projekts gewachsen ist“<br />
Die Beschäftigten der Produktion von Elobau haben eigenständig ihr neues Vergütungssystem<br />
entwickelt. Das Projekt schaffte es unter die drei Besten in der Kategorie Leadership des<br />
Deutschen <strong>Personalwirtschaft</strong>spreises 2<strong>01</strong>7. Aber es wurde noch viel mehr erreicht.<br />
INTERVIEW: CHRISTIANE SIEMANN<br />
u<strong>Personalwirtschaft</strong>: Herr Christlbauer, normalerweise<br />
wird ein Entgeltsystem durch die Personalabteilung, die<br />
Geschäftsführung und – falls vorhanden – den Betriebsrat<br />
entwickelt. Bei Elobau haben die Mitarbeiter das Heft<br />
in die Hand genommen. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen<br />
Vorgehensweise?<br />
Norbert Christlbauer: In den regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen<br />
konnten wir eine große Unzufriedenheit mit<br />
dem bestehenden Vergütungssystem feststellen, das in der<br />
Produktion unverändert seit rund 30 Jahren bestand. Es handelte<br />
sich um ein Prämien-Akkord-System nach dem Motto<br />
„Arbeite schneller, dann bekommst du mehr“. Die Grundvergütung<br />
wurde als Stundenlohn gezahlt, der durch eine<br />
individuelle Akkordprämie um bis zu 26 Prozent gesteigert<br />
werden konnte. Das Modell war aus Sicht der betroffenen<br />
Mitarbeitenden intransparent, unfair und belastend. Darüber<br />
hinaus bildete es in keinster Weise die Anforderungen<br />
an moderne Produktionsprozesse ab. Daher haben wir uns<br />
entschieden, das Entgeltsystem neu zu gestalten und externe<br />
Entgeltspezialisten angesprochen. Schnell wurde uns<br />
klar, dass dieser Weg für uns nicht erfolgsversprechend<br />
sein konnte. Insbesondere unsere Geschäftsleitung hatte<br />
von Anfang an den Wunsch, dass es kein System von der<br />
Stange sein darf. Warum also nicht die betroffenen Mitar-<br />
beiter direkt einbeziehen? Da dies aus unserer Sicht aber<br />
nicht ohne externe Unterstützung realisiert werden konnte,<br />
haben wir uns Experten für Kultur- und Organisationsentwicklung<br />
ins Boot geholt. Unser Ziel: Die größtmögliche<br />
Zustimmung zu einem Vergütungsmodell aus der<br />
Belegschaft für die Belegschaft zu bekommen und dabei<br />
marktspezifische Differenzierungskriterien wie beispielsweise<br />
Qualität und Innovation zu stärken.<br />
Frau Sulzer, wie haben Sie und die Kollegen reagiert, als<br />
Sie hörten, dass Sie beim neuen Entgeltsystem mitreden<br />
und dieses entwickeln dürfen beziehungsweise sollen?<br />
Silke Sulzer: Ich habe es in der Mitarbeiterzeitung gelesen<br />
und mich als eine der ersten drei Kolleginnen für das Projekt<br />
gemeldet. Erst nachdem wir in Tandems – eine Führungskraft<br />
und eine Kollegin aus der Produktion – einen<br />
Tag lang durch die Fertigung gelaufen sind und für unser<br />
Projekt geworben haben, konnten wir 56 Freiwillige gewinnen,<br />
die bereit waren, sich ins Projekt einzubringen. Es gab<br />
auch kritische Stimmen meiner Kollegen. Sie gingen in die<br />
Richtung, dass das Ganze nur eine „Show“ sei und „die<br />
Lösung bestimmt schon in der Schublade liege“. Wir haben<br />
daher von Anfang an massiv in Vertrauensaufbau investiert.<br />
Der Schlüssel dazu war größtmögliche Transparenz. Wir<br />
46<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
haben unsere Projektbesprechungen mitten in der Fertigung<br />
durchgeführt sowie Hospitanzplätze, ein Feedback-Gremium<br />
und eine eigens installierte Webplattform mit Blog-<br />
Funktion geschaffen, um zusätzliche Transparenz und<br />
Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen. Auch für uns<br />
im Projektkernteam war es am Anfang sehr ungewohnt, in<br />
dieser neuen Art und Weise zusammenzuarbeiten. Aber<br />
nach den ersten acht Projekttagen, die sich überwiegend um<br />
das Thema Teamfindung drehten, waren wir richtig gut<br />
arbeitsfähig.<br />
Wie ging es weiter?<br />
Christlbauer: Der wichtigste Punkt zu Beginn lag darin,<br />
eine entsprechende Grundlage in der Zusammenarbeit zu<br />
schaffen. Also eine Arbeitskultur herzustellen, in der eine<br />
Mitarbeiterin aus der Produktion mit dem Geschäftsführer<br />
hierarchiefrei die wichtigen Themen besprechen kann.<br />
Systemerwünschtes Verhalten ist hier kein guter Treiber. Wir<br />
haben uns dem Thema zunächst sehr klassisch über Teamspiele<br />
genähert. Viel wichtiger war aber, dass die beteiligten<br />
Führungskräfte bestehende Glaubenssätze bewusst beiseitegelegt<br />
und das Team durch unerwartet offenes Verhalten<br />
ebenfalls zur Offenheit ermutigt haben. Im nächsten Schritt<br />
wurde das Know-how für Vergütungssysteme im Projektteam<br />
aufgebaut, unter anderem durch Exkursionen zu<br />
anderen Firmen, in denen wir uns verschiedene Systeme<br />
anschauen konnten. In der anschließenden Modellentwicklung<br />
mit agilen Projektmethoden haben wir in mehreren<br />
Sprints verschiedene Modelle entwickelt, die wir<br />
direkt vor Ort in der Belegschaft erprobt haben. Dank des<br />
prompten Feedbacks konnten wir schnell die Ideen aussortieren,<br />
die nicht im Sinne der Mitarbeiter waren. Den finalen<br />
Schritt der Implementierung haben wir mit einer Großveranstaltung<br />
gestartet, bei der das Projektteam zusammen<br />
die Modellvorstellung übernommen hat. Nach dem<br />
Abschluss des Projekts im Dezember 2<strong>01</strong>6 hat sich die Projektgruppe<br />
nicht aufgelöst. Bis zu viermal im Jahr finden<br />
regelmäßige Reviews statt.<br />
Wie haben Sie sich in das Thema eingearbeitet und wie<br />
konnten Sie das mit der Arbeitszeit vereinbaren?<br />
Sulzer: Wir, die Mitglieder des Projektkernteams, wurden<br />
für die Dauer des Projekts mit rund 20 Prozent unserer<br />
Arbeitszeit freigestellt. Wir konnten selbst Vorschläge<br />
einbringen, wie und wo wir unser Know-how aufbauen<br />
wollen. Hilfreich war der fachliche Input unterschiedlicher<br />
Firmen. Jeder von uns konnte auch direkt seine<br />
Erfahrungen einbringen, die er aus seinem Umfeld mitbrachte.<br />
Das Unternehmen<br />
Die Elobau GmbH & Co. KG in Leutkirch im Allgäu, ein weltweit agierendes, familiengeführtes<br />
Stiftungsunternehmen, entwickelt und fertigt Sensorik und Bediensysteme für den Maschinenbau<br />
und die Nutzfahrzeugbranche. Das Unternehmen beschäftigt rund 750 Mitarbeiter.<br />
Der Projektaufwand war nicht gering. Sind Sie zufrieden<br />
mit dem Ergebnis?<br />
Christlbauer: Das neue Vergütungssystem wurde am<br />
1. Januar 2<strong>01</strong>7 mit mehr als 96 Prozent Zustimmung eingeführt.<br />
Vom Modell profitieren nun alle rund 750 Mitarbeiter,<br />
da bei Erreichen der Liefertreue und Qualitätsziele<br />
alle Mitarbeitenden die gleiche Prämie erhalten. Aus unserer<br />
Sicht haben wir einen mehrfachen Nutzen erzielt. Zum<br />
einen hat Elobau ein neues Vergütungssystem für seine<br />
Produktionsmitarbeiter, welches zeitgemäß, transparent<br />
und fair ist. Darüber hinaus ist das Vergütungssystem<br />
marktfähig und versetzt uns somit in die Lage, weiterhin<br />
unser Wachstum zu ermöglichen.<br />
Was war für Sie das Wichtigste dabei?<br />
Christlbauer: Für mich persönlich ist am wichtigsten, dass<br />
unser Vorgehen für jedes einzelne Projektteammitglied<br />
eine tiefgreifende Personalentwicklungsmaßnahme war.<br />
Es war beeindruckend zu sehen, wie jeder von uns im Laufe<br />
des Projekts gewachsen ist und wir Dinge erreicht haben,<br />
die für mich im Vorfeld in dieser Form nicht absehbar<br />
waren. Wir alle haben erfahren und erleben dürfen, dass<br />
bei Elobau nicht nur im Unternehmen gearbeitet wird,<br />
sondern vor allem die Arbeit am Unternehmen wertvoll und<br />
machbar ist. Mit den Beiträgen aller Beteiligten haben wir<br />
wesentliche Teile unseres Geschäftsmodells gestaltet und<br />
somit gelebte Unternehmenskultur erfahren. Mit dieser<br />
Erfahrung sind wir in die Lage, zukünftig jegliche Herausforderungen<br />
auf eine gleiche oder ähnliche Art anzugehen.<br />
Wir können sagen: Es ist eine neue Form der Zusammenarbeit<br />
im Unternehmen entstanden.<br />
Sulzer: Für uns als Mitarbeitende in der Produktion war<br />
es am Anfang nicht einfach, mit unseren Chefs auf Augenhöhe<br />
zu sprechen. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis meine<br />
Kollegen und ich das Vertrauen gewonnen haben. Wir<br />
haben viele Eindrücke gewonnen und sind der Meinung,<br />
dass sich die Zusammenarbeit bei uns in der Produktion<br />
spürbar verändert hat. Das Gesamte im Blick zu haben, ist<br />
mittlerweile das A und O, und wir arbeiten viel mehr abteilungsübergreifend.<br />
Ich konnte für mich persönlich viel mitnehmen,<br />
besonders die Erfahrung, was alles möglich ist,<br />
wenn man Vertrauen und Unterstützung genießt.<br />
Was sind die wichtigsten Learnings aus Ihrem HR-<br />
Projekt?<br />
Christlbauer: Veränderungsprozesse brauchen Mut und<br />
Offenheit. „Fail and Learn“ sind zwei wesentliche Begleiter.<br />
Sie bringen uns weiter. Und: Der Erfolg eines Projekts<br />
ist abhängig von einem positiven Menschbild und einer<br />
menschenliebenden Haltung. Unsere Organisation kann<br />
Dinge bewegen, die wir nie für möglich gehalten hätten.<br />
Voraussetzung ist, dass wir unseren Mitarbeitenden die<br />
Chance bieten, in die Verantwortung zu kommen. p<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 47
TITEL SPECIAL NAME COMPENSATION DES BEITRAGS& BENEFITS<br />
Millennials und Digital Natives<br />
gerecht werden<br />
Die Generationen Y und Z haben ihre eigenen Vorstellungen von Jobs, Gehaltsmodellen<br />
und Benefits. Mit einem flexiblen System für Vergütung und Nebenleistungen erreichen Arbeitgeber<br />
alle Mitarbeitergenerationen. Was dabei zu beachten ist.<br />
u „Was verdienst du eigentlich?“ Unter deutschen Arbeitnehmern<br />
ist diese Frage nicht selbstverständlich, bei der<br />
älteren Generation gewöhnlich noch immer verpönt. Jüngere<br />
Arbeitnehmer sehen das wesentlich entspannter. Die<br />
Frage „Was bietet dir deine Firma für deine Arbeit?“ muss<br />
meist gar nicht erst gestellt werden, denn der Firmenwagen,<br />
das gesponserte Smartphone und das genehmigte<br />
Sabbatical sind nach außen hin sichtbar. Der Vergleich mit<br />
anderen, also Transparenz hinsichtlich Gehältern, Boni<br />
und Benefits, ist für die Millennials und Digital Natives<br />
– auch Generation Y und Z genannt –, andere als ein<br />
Tabu. Kein Wunder, sie sind mit dem World Wide Web<br />
aufgewachsen, in dem sich heute alles miteinander vergleichen<br />
lässt.<br />
Die Welt der Arbeit verändert sich, wird zunehmend<br />
flexibler, orts- und zeitunabhängiger sowie digitaler.<br />
Und mit den jungen Mitarbeitergenerationen Y und Z<br />
wird sie auch individueller. Heute fragen und fordern<br />
Mitarbeiter mehr als je zuvor, mal offensiv, mal zurückhaltend.<br />
Was sich nicht ändert: Personalverantwortliche müssen<br />
die besten Mitarbeiter finden, halten und entwickeln. Mit<br />
Blick auf die neuen Generationen von Talenten wird das<br />
allerdings zunehmend schwieriger: Viele der etablierten<br />
Strukturen, Prozesse und Angebote für Mitarbeiter sind<br />
auf ältere Generationen zugeschnitten. Doch welche<br />
Gehaltsmodelle und Benefits sind es, die Millenials und<br />
Digital Natives begeistern können? Was müssen Arbeitgeber<br />
bei der Kommunikation rund um die Vergütung und<br />
Nebenleistungen beachten?<br />
Neue Generationen, neue Anforderungen<br />
Bei der Generation Y stehen Karriereopportunitäten und<br />
kompetitive Gehälter sowie Boni meistens an erster Stelle.<br />
Die Generation Z hingegen nennt die monetären Anreize<br />
bei Umfragen meist nicht innerhalb der Top-Fünf-Gründe<br />
für die Attraktivität von Arbeit und Arbeitgeber. Sie<br />
erwartet eher eine gute, ausgeglichene Work-Life-Balance,<br />
intellektuelle Herausforderung und Jobsicherheit.<br />
In Bezug auf die Benefits zeigen sich ebenfalls Unterschiede<br />
zwischen den beiden Generationen. So hat die<br />
Generation Y die ersten Berufsjahre hinter sich, Erfahrung<br />
gesammelt und fragt nun stärker danach, was sie eigentlich<br />
persönlich für ihre Leistung erhält. Mitarbeiter der<br />
Generation Z zeigen in dieser Hinsicht mehr Zurückhaltung.<br />
Sie möchten vom Arbeitgeber noch an die Hand<br />
genommen werden und sich nicht selbst um diese Dinge<br />
kümmern müssen. Andererseits erwarten sie aber, dass<br />
der Arbeitgeber ihre persönlichen Belange wahrnimmt.<br />
Auch wenn die Ansprüche in mancherlei Hinsicht auseinander<br />
gehen und in vielen Unternehmen zudem auf<br />
etablierte, teils festgefahrene Strukturen treffen, lassen<br />
sich dennoch Vergütungssysteme implementieren, die<br />
gleichzeitig innovativ und praktikabel sind – wenn man<br />
ein paar Aspekte beachtet:<br />
48<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
1 Einfache und transparente Gestaltung der Vergütung<br />
Die Schlüssel zu einem Vergütungssystem, das von den<br />
Mitarbeitern akzeptiert wird, sind Einfachheit und Transparenz.<br />
Das gilt insbesondere für die Generationen Y und<br />
Z, die es dank Google und Wikipedia gewohnt sind, an<br />
alle Antworten schnell und unkompliziert zu gelangen.<br />
Wenn Mitarbeiter zügig erfassen können, wie sich ihre Vergütung<br />
genau zusammensetzt, und wenn die dahinter<br />
stehenden Richtlinien, Grundsätze und Prozesse transparent<br />
und nachvollziehbar sind, werden sie diese leichter<br />
akzeptieren.<br />
2 Lohngerechtigkeit als Voraussetzung<br />
Gerechte Löhne sind keine Option, sondern ein Muss.<br />
Dabei sollte der Fokus aber nicht nur auf der Bezahlung<br />
von Frauen und Männern liegen, sondern auf einer fairen<br />
Vergütung, die sich an den Rollen, Aufgaben und Verantwortlichkeiten<br />
orientiert. Insbesondere die Digital<br />
Natives sehen dabei im Gegensatz zu den vorhergehenden<br />
Generationen die Themen Wettbewerb und variable<br />
Vergütung kritisch. Sie bevorzugen Fixgehälter – und im<br />
Zweifel sollen lieber alle Teammitglieder dasselbe verdienen,<br />
bevor es zu Ungleichheit kommt.<br />
3 Etablierung einer umfassenden Employee Value<br />
Proposition<br />
Die Gesamtvergütung ist Teil einer umfassenden Employee<br />
Value Proposition (EVP), die eine Vielzahl von Faktoren<br />
beinhaltet: die Gestaltung des Arbeitsplatzes, Freizeitangebote<br />
für Mitarbeiter, verschiedene Benefits wie Rabatte<br />
und Essenszuschüsse, flexible Arbeitsmodelle und<br />
Angebote wie Sabbaticals. HR-Verantwortliche sollten<br />
die EVP danach ausrichten, was ihre Mitarbeiter wirklich<br />
wollen und wertschätzen. Das reine Gehalt tritt bei jungen<br />
Mitarbeitern mitunter in den Hintergrund, während<br />
Themen wie Work-Life-Balance oder Weiterbildung wichtiger<br />
werden.<br />
4 Flexible Benefits anbieten<br />
E-Bike oder Jobticket? Sabbatical oder Kinderbetreuung?<br />
Unfallversicherung oder Aktienpaket? Mitarbeiter schätzen<br />
eine breite Palette flexibler Nebenleistungen (siehe<br />
Abbildung 1 auf Seite 50), die sie individuell zusammenstellen<br />
können. Da die Wünsche und Schwerpunkte je<br />
nach Alter und Lebensphase unterschiedlich sind, lässt sich<br />
über ein Cafeteria-System, bei dem die Beschäftigten aus<br />
verschiedenen Benefits wählen können, die gesamte Belegschaft<br />
erreichen. Vor allem jüngere Mitarbeiter wollen<br />
KIENBAUM BENEFITS FORUM 2<strong>01</strong>8<br />
Das Event zu Benefits und Zusatzleistungen in Köln.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Das <br />
am
SPECIAL COMPENSATION & BENEFITS<br />
Pakete schnüren: Zusatzleistungen sind für Mitarbeiter attraktiv Abbildung 1<br />
Viele Benefits werden in<br />
Deutschland steuerlich<br />
begünstigt (pinke Schrift in der<br />
Abbildung). Allen voran<br />
Leistungen aus den Bereichen<br />
Verpflegung, Mobilität und<br />
Gesundheits- und Altersvorsorge.<br />
Quelle: Mercer Deutschland GmbH, 2<strong>01</strong>7<br />
AUTOREN<br />
Rolf Misterek, Principal,<br />
Mercer Deutschland GmbH,<br />
Frankfurt,<br />
rolf.misterek@mercer.com<br />
Stephan Pieronczyk, Principal,<br />
Mercer Deutschland GmbH,<br />
Frankfurt,<br />
stephan.pieronczyk@mercer.com<br />
aber keine Formulare ausdrucken und an die HR-Abteilung<br />
schicken. Das System sollte ebenso flexibel und einfach<br />
strukturiert sein wie die Benefits selbst – die Gewohnheiten<br />
aus dem Online-Shopping lassen grüßen. Dabei<br />
müssen nicht alle Nebenleistungen frei wählbar sein. Personaler<br />
können die Hemmschwelle, sich mit dem Thema<br />
auseinanderzusetzen, verringern, indem sie ein festes<br />
Paket schnüren, das um individuelle Komponenten ergänzt<br />
werden kann. So überfordern sie ihre Mitarbeiter nicht.<br />
5 Durchführung einer modernen Segmentierung<br />
Um die richtigen Benefits und Modelle anbieten zu können,<br />
müssen Personaler ihre Mitarbeiter richtig verstehen.<br />
Einen Anfang machen sie, indem sie die Belegschaft in Segmente<br />
einteilen, um die unterschiedlichen Wünsche und<br />
Präferenzen herausarbeiten zu können. Dabei können<br />
beispielsweise Personae zur Bestimmung von Mitarbeitertypen<br />
mit ähnlichen Eigenschaften und Einstellungen<br />
helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Durch<br />
die Analyse von Mitarbeiterdaten, beispielsweise zum<br />
Wahlverhalten bei flexiblen Benefits, kann die Strategie<br />
validiert und weiter optimiert werden.<br />
Während man den Trend zur Individualisierung im<br />
Bereich betriebliche Nebenleistungen schon in vielen<br />
Branchen sieht, ist dieser Aspekt in Bezug auf die Vergütung<br />
in Deutschland noch recht neu. Aber die klare<br />
Tendenz in Richtung Arbeitnehmermarkt und neue<br />
Anforderungen, die Millennials und Digital Natives an<br />
Arbeitgeber stellen, setzt auch hier eine Entwicklung in<br />
Gang: weg von „one size fits all“ zu einer segmentierten<br />
beziehungsweise personalisierten Vergütung (siehe<br />
Abbildung 2).<br />
6 Richtige Kommunikation<br />
Den tatsächlichen Wert ihrer Gesamtvergütung erkennen<br />
Mitarbeiter erst, wenn er entsprechend kommuniziert<br />
wird. Je nach Zielgruppe bieten sich verschiedene Formate,<br />
Detailstufen und Kanäle an. Wichtig mit Blick auf die<br />
Generationen Y und Z ist die Art der Kommunikation:<br />
Mobile Anwendungen und Apps helfen dabei, junge Mitarbeiter<br />
direkt zu erreichen. Eine einfache, klare und<br />
ansprechende Struktur sowie die Begrenzung der Informationen<br />
auf das Wesentliche sorgen dafür, dass die richtigen<br />
Botschaften gesendet werden. Wichtig ist auch, dass<br />
der Prozess reibungslos abläuft und vom Mitarbeiter intuitiv<br />
durchlaufen werden kann – von der Teilnahme an den<br />
Benefits über die Auswahl von Benefits und Gehaltbausteinen<br />
bis hin zur Beschaffung.<br />
50<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Vergütung der Zukunft: von Standardisierung zu Individualisierung Abbildung 2<br />
Heute<br />
Morgen<br />
Mitarbeiter als<br />
Ziel von Vergütungsstrategien<br />
Eigenschaften<br />
Tools<br />
One size fits all<br />
Vermögenswerte<br />
Mitarbeiter anziehen, binden und<br />
motivieren<br />
• Vereinfacht und auf Manager fokussiert<br />
• Standardisiert und levelorientiert<br />
• Auf externen Faktoren basierend<br />
• Konsolidierte globale Pläne<br />
• Grading und Level<br />
• Betriebliche Rahmenbedingungen<br />
Segmentierte, flexible Vergütung<br />
Partner<br />
Bedürfnissen und Anforderungen gerecht<br />
werden<br />
• Mitarbeitergruppenorientiert<br />
• Fokus auf Mitarbeiterservice<br />
• Cluster-Analysen<br />
• Angebote und Kommunikation je nach<br />
Segment<br />
• Do-it-yourself-Bereiche bei den Benefits<br />
Personalisierte Vergütung<br />
Freiwillige<br />
Gesundheit, Wohlstand und<br />
Karriere fördern<br />
• Individuell an die Lebensentwürfe der<br />
Mitarbeiter angepasst<br />
• HR mit beratender Unterstützung zu<br />
Gesundheit, Wohlstand und Karriere<br />
• Do it yourself flexible Vergütungspakete<br />
• Bei Bedarf HR-Beratungsgespräche für<br />
die Mitarbeiter<br />
Quelle: Mercer Deutschland GmbH, 2<strong>01</strong>7<br />
7 Sofortige Anerkennung guter Leistungen<br />
Junge Mitarbeiter sind mit der Spontanität und schnellen<br />
Reaktionsfähigkeit in den sozialen Medien aufgewachsen.<br />
Direktes Feedback und die sofortige Anerkennung<br />
von guten Leistungen sind deshalb geeignete Maßnahmen,<br />
mit denen HR-Verantwortliche und Führungskräfte den<br />
Generationen Y und Z Wertschätzung zeigen können.<br />
Damit einhergehend sollten sie Benefits, die außerhalb typischer<br />
Zyklen oder halbjährlich gewährt werden können,<br />
stärker als Vergütungsinstrument nutzen. p<br />
Die Strategien entwickeln<br />
sich vom One-size-fits-all-<br />
Ansatz hin zu personalisierten<br />
Vergütungspaketen, bei denen<br />
die Bedürfnisse der Mitarbeiter<br />
viel stärker berücksichtigt<br />
werden.<br />
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RECHT & POLITIK UNTERNEHMENSINSOLVENZEN<br />
Harte Landung<br />
Mit Air Berlin hat im August 2<strong>01</strong>7 die zweitgrößte deutsche Fluggesellschaft Insolvenz angemeldet.<br />
Ende Oktober stellte die Gesellschaft den Flugbetrieb ein, am 1. November wurde das Insolvenzverfahren<br />
eröffnet. Daraufhin entbrannte ein Streit zwischen Arbeitgeber und -nehmern, der es in sich hatte.<br />
52<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
u Unmittelbar vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens<br />
hatte die Arbeitnehmervertretung der Flugbegleiter<br />
nämlich den Versuch unternommen, zumindest einige<br />
der Maßnahmen aufzuhalten oder wenigstens mehr<br />
Informationen über das geplante weitere Vorgehen des<br />
Insolvenzverwalters zu erhalten. Vor dem Arbeitsgericht<br />
Berlin forderten die Flugbegleiter, dem Unternehmen<br />
im Einstweiligen Rechtschutz die Einstellung des Flugbetriebs<br />
sowie den Ausspruch von Kündigungen zu<br />
untersagen und der Arbeitnehmervertretung Informationen<br />
über Angebote zur möglichen Übernahme oder<br />
Fortführung von Unternehmensteilen zu gewähren.<br />
Obwohl Restrukturierungen gelegentlich von kollektivrechtlichen<br />
Streitigkeiten begleitet werden, unterscheidet<br />
sich das vorliegende Verfahren in zweierlei Weise<br />
von üblichen Umstrukturierungen.<br />
Personalvertretungen<br />
bei Luftfahrtunternehmen<br />
Die erste Besonderheit liegt im anwendbaren Recht:<br />
Bei Luftfahrtunternehmen wie Air Berlin gilt das<br />
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) lediglich für das<br />
Bodenpersonal. Dementsprechend sind bei Air Berlin<br />
für Arbeitnehmer der Landbetriebe auch Betriebsräte<br />
nach dem BetrVG gewählt, nicht jedoch bei der hier<br />
aktiv gewordenen Kabinenbesatzung.<br />
Eine direkte Anwendung des Gesetzes für das Flugpersonal<br />
kommt daher nicht in Betracht. Für die Bordbesatzungen<br />
können Arbeitnehmervertretungen<br />
lediglich durch<br />
Tarifvertrag errichtet werden, was<br />
bei Air Berlin jedoch geschehen ist.<br />
Sowohl für das Cockpit- als auch für<br />
das Kabinenpersonal hat Air Berlin<br />
jeweils Haustarifverträge mit<br />
den verschiedenen Gewerkschaften geschlossen, die<br />
die Errichtung sogenannter Personalvertretungen regeln.<br />
Die beiden Tarifverträge regeln neben den Wahlmodalitäten<br />
zudem die Rechte und Pflichten von Personalvertretungen<br />
und Arbeitgeber, wobei sich die Tarifverträge<br />
unter Berücksichtigung unternehmensspezifischer<br />
Besonderheiten an das BetrVG anlehnen. Insbesondere<br />
ist in den §§ 80ff. der beiden Tarifverträge die Zusammenarbeit<br />
zwischen Arbeitgeber und Personalvertretung<br />
bei Betriebsänderungen vergleichbar den Vorgaben<br />
der §§ 111 ff. BetrVG vereinbart. Schließlich soll in<br />
strittigen Fragen die höchstrichterliche Rechtsprechung<br />
Das Verfahren<br />
unterscheidet sich<br />
von üblichen<br />
Umstrukturierungen.<br />
zum Betriebsverfassungsgesetz beachtet werden. Mit<br />
Ausnahme der Anspruchsgrundlage (Haustarifvertrag<br />
statt Betriebsverfassungsgesetz) ergeben sich daher<br />
nach dem Wortlaut kaum Unterschiede bei der Beteiligung<br />
der Arbeitnehmervertretung an geplanten<br />
Betriebsänderungen.<br />
Betriebsänderungen und Interessenausgleich<br />
§ 111 BetrVG sieht vor, dass der Betriebsrat in Betrieben<br />
mit mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern<br />
über geplante Betriebsänderungen zu informieren<br />
ist und diese Betriebsänderungen mit ihm zu beraten<br />
sind. Die Stilllegung des ganzen Betriebs oder von<br />
Betriebsteilen, die Spaltung von Betrieben sowie die<br />
grundlegende Änderung der Betriebsorganisation<br />
stellen derartige Betriebsänderungen dar. All das sind<br />
Maßnahmen, die typischerweise auch in einem Insolvenzverfahren<br />
geschehen können: Die bisherige unternehmerische<br />
Tätigkeit wird ganz oder vollständig eingestellt,<br />
das Unternehmen (teilweise) zerschlagen und<br />
gegebenenfalls für einzelne Unternehmensteile eine<br />
neue Bestimmung gefunden.<br />
Lediglich bei einer vollständigen Übertragung des bisherigen<br />
Betriebs auf einen Erwerber mit allenfalls<br />
geringfügigen Änderungen der Betriebsorganisation<br />
läge keine Betriebsänderung vor. Derartige Fälle sind<br />
jedoch in Insolvenzverfahren eher selten und entstehen<br />
etwa, wenn ein im Übrigen funktionierendes Unternehmen<br />
aufgrund erheblicher<br />
Ansprüche eines einzigen Gläubigers<br />
„über Nacht“ zahlungsunfähig<br />
wird und durch Befreiung von<br />
dieser Verbindlichkeit weiter existieren<br />
kann, insbesondere bei einem<br />
Verstoß gegen besondere Rechte<br />
dieses Dritten (gewerbliche Schutzrechte wie Patente,<br />
Vertragsstrafen et cetera).<br />
Die Zielrichtung des Gesetzgebers geht dahin, das Ob<br />
und Wie von Betriebsänderungen (also die Art und<br />
Weise sowie den Zeitpunkt) zwischen den Betriebspartnern<br />
zu verhandeln und möglichst vereinbaren zu<br />
lassen. Erst wenn der Abschluss eines Interessenausgleichs<br />
über die Betriebsänderung selbst noch in einer<br />
Einigungsstelle scheitert, kann der Arbeitgeber die<br />
geplanten Betriebsänderungen ohne Zustimmung der<br />
Arbeitnehmervertretung umsetzen. Derartige Verhandlungen<br />
können allerdings mehrere Monate in Anspruch<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 53
RECHT & POLITIK UNTERNEHMENSINSOLVENZEN<br />
Die zweite Besonderheit im Vergleich zu sonstigen<br />
Umstrukturierungen ergibt sich aus dem Umstand,<br />
dass über das Vermögen der Air Berlin das Insolvenznehmen.<br />
Daneben und grundsätzlich losgelöst von den<br />
Interessenausgleichsverhandlungen kann ein Sozialplan<br />
verhandelt werden, der eine Milderung der den<br />
betroffenen Arbeitnehmern durch die Betriebsänderung<br />
entstehenden Nachteile bezweckt. Das Ergebnis<br />
der Sozialplanverhandlungen – insbesondere deren<br />
Abschluss – ist für die Umsetzung der Betriebsänderung<br />
dagegen unerheblich.<br />
Einstweiliger Rechtschutz<br />
Den Anspruch auf Beteiligung, also auf Unterrichtung<br />
und Beratung zur Betriebsänderung, kann der Betriebsrat<br />
im einstweiligen Rechtschutz gegen den Arbeitgeber<br />
sicherstellen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers<br />
maßgeblich sind die Information des Gremiums<br />
und die Beratung vor der Durchführung<br />
der Betriebsänderung. Damit gibt<br />
es für einen Eilrechtsschutz zwei<br />
Ansatzpunkte: den Anspruch auf<br />
Erteilung der Informationen und<br />
das vorübergehende Untersagen<br />
der Vornahme geplanter Maßnahmen.<br />
Beide Ansprüche hat die<br />
Arbeitnehmervertretung der Air<br />
Berlin geltend gemacht. Die Personalvertretung forderte<br />
sowohl eine Untersagung der Einstellung des<br />
Flugbetriebs und des Ausspruchs von Kündigungen<br />
sowie die Erteilung weitergehender Informationen über<br />
die Angebote von Kaufinteressenten für Teile des Unternehmens.<br />
Problematisch wäre es, wenn bereits die Einstellung des<br />
Flugbetriebs von einer Einigung zwischen Arbeitgeber<br />
und Arbeitnehmervertretung abhängen würde. Dann<br />
müsste selbst ein verlustreiches Unternehmen zunächst<br />
fortgeführt werden und dabei neue, gegebenenfalls<br />
absehbar verlustbringende Verbindlichkeiten eingehen.<br />
Insbesondere in einer Insolvenzsituation wäre das kaum<br />
nachvollziehbar. Hier hilft das Bundesarbeitsgericht<br />
einem Arbeitgeber beziehungsweise Insolvenzverwalter,<br />
da es die Stilllegung des Betriebs erst in der Aufgabe<br />
des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der<br />
Betriebsorganisation für eine unbestimmte, nicht nur<br />
vorübergehende Zeit sieht. Maßnahmen zur Umsetzung<br />
dieser Betriebsänderung liegen danach erst vor,<br />
wenn unumkehrbare Schritte zur Auflösung der betrieblichen<br />
Organisation ergriffen und damit schließlich<br />
vollendete Tatsachen geschaffen werden. Das ist jedenfalls<br />
beim Ausspruch von Kündigungen zum Zwecke der<br />
Betriebsstilllegung oder der aktiven Weggabe unternehmenswichtiger<br />
Vermögensgegenstände der Fall.<br />
Die bloße tatsächliche Einstellung der betrieblichen<br />
Tätigkeiten stellt dagegen ebenso wenig eine Maßnahme<br />
zur Betriebsstilllegung dar wie eine lediglich wider-<br />
Für die Bordbesatzungen<br />
können Arbeitnehmervertretungen<br />
lediglich<br />
durch Tarifvertrag<br />
errichtet werden.<br />
rufliche Freistellung von Arbeitnehmern. Damit wäre<br />
jedenfalls eine lediglich vorübergehende Einstellung<br />
des Flugbetriebs noch keine Betriebsänderung, die das<br />
Arbeitsgericht untersagen könnte. Zudem hat das Unternehmen<br />
nicht zu erkennen gegeben, dass es betriebsbedingte<br />
Kündigungen vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen<br />
aussprechen würde. Damit<br />
drohte keine Beeinträchtigung der Beteiligungsrechte<br />
der Arbeitnehmervertretung, sodass auch kein Grund<br />
für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zur vorläufigen<br />
Untersagung bestimmter Maßnahmen bestand.<br />
Damit bleiben die Ansprüche der Arbeitnehmervertretung<br />
auf Information und Beratung, die ebenfalls<br />
im Eilrechtsschutz durchgesetzt werden können. Dabei<br />
besteht eine erste Schwierigkeit darin, dass einstweiliger<br />
Rechtschutz lediglich eine vorübergehende Regelung<br />
treffen, eine Entscheidung in der Hauptsache<br />
jedoch nicht vorwegnehmen soll.<br />
Dem trägt eine vorübergehende<br />
Untersagung der Durchführung<br />
einer Betriebsänderung Rechnung,<br />
während eine Anordnung zur Erteilung<br />
von Informationen an den<br />
Betriebsrat einer dauerhaften Regelung<br />
gleichkommt. Daher werden<br />
hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung von<br />
Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund gestellt –<br />
dass also überhaupt ein Anspruch der Arbeitnehmervertretung<br />
auf Übermittlung der konkret begehrten<br />
Informationen besteht und dass die ausstehende Übermittlung<br />
zum aktuellen Zeitpunkt einen gravierenden<br />
Nachteil darstellt. Zudem ist wegen der lediglich vorübergehenden<br />
Regelung eine Folgenabschätzung vorzunehmen:<br />
Ist der derzeitige Nachteil und die Verpflichtung<br />
zu einer Herausgabe der begehrten Informationen<br />
wichtiger als die Nachteile, die sich ergeben können,<br />
wenn sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass die<br />
Informationen nicht herauszugeben waren?<br />
Ein solcher gravierender Nachteil fehlt regelmäßig,<br />
wenn schon keine Schritte zur einseitigen, vorzeitigen<br />
Umsetzung der Betriebsänderung durch das Unternehmen<br />
drohen, der Arbeitgeber also durch unzureichende<br />
Informationen das Beteiligungsverfahren der<br />
Arbeitnehmervertretung nur selbst verzögert. Da im Fall<br />
von Air Berlin der Informationsanspruch der Personalvertretung<br />
nicht abschließend gefährdet war, bestand<br />
schon kein Grund, den Arbeitgeber zur Erteilung<br />
bestimmter Informationen zu verpflichten.<br />
Vereinfachungen im Insolvenzverfahren<br />
54<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
verfahren eröffnet wurde. Das langwierige Verfahren<br />
zum Versuch eines Interessenausgleichs wird dadurch<br />
vereinfacht, dass der Insolvenzverwalter stattdessen<br />
beziehungsweise parallel dazu die<br />
arbeitsgerichtliche Zustimmung zur<br />
Durchführung einer Betriebsänderung<br />
einholen kann. Voraussetzung dafür<br />
ist, dass innerhalb von drei Wochen<br />
nach Verhandlungsbeginn ein Interessenausgleich<br />
zwischen Betriebsrat und<br />
Insolvenzverwalter nicht zustande kam,<br />
obwohl der Insolvenzverwalter den<br />
Betriebsrat rechtzeitig und umfassend über die geplante<br />
Betriebsänderung informiert hat. Das Arbeitsgericht<br />
erteilt dann auf Antrag des Verwalters die Zustimmung<br />
nach Abwägung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens<br />
unter Berücksichtigung der sozialen Belange<br />
der Arbeitnehmer.<br />
Im Ergebnis kann dieses Verfahren zu einer Disziplinierung<br />
der Betriebsparteien führen: Während allein<br />
nach dem BetrVG ein Spiel auf Zeit möglich ist, drohen<br />
im Insolvenzverfahren nach ausreichender Information<br />
des Betriebsrates die möglichen Beratungen<br />
irrelevant zu werden, wenn sie zu lange andauern. Ein<br />
längeres Hinauszögern der Beratungen ist dem Betriebsrat<br />
dadurch nicht möglich.<br />
Für das Bodenpersonal von Air Berlin und die dort gebildeten<br />
Betriebsräte sind diese Modifizierungen durch die<br />
Insolvenzordnung direkt anwendbar. Offen ist dagegen,<br />
ob die Vereinfachung für den Insolvenzverwalter vor<br />
Problematisch wäre<br />
es, wenn bereits die<br />
Einstellung des<br />
Flugbetriebs von<br />
einer Einigung<br />
abhängen würde.<br />
Durchführung von Betriebsänderungen auch für das<br />
Flugpersonal und die dort gebildeten Personalvertretungen<br />
gilt. Gegen eine vergleichbare Geltung spricht, dass<br />
die Insolvenzordnung ausdrücklich auf<br />
Betriebsräte und einen Interessenausgleich<br />
nach dem BetrVG verweist,<br />
obwohl bei Aufnahme dieser Regelung<br />
in die Insolvenzordnung die Bereichsausnahme<br />
für den Flugverkehr im<br />
BetrVG bereits galt. Es war also absehbar,<br />
dass auch tarifvertragliche Regelungen<br />
einen Interessenausgleich vorsehen<br />
könnten, ohne dass die Insolvenzordnung darauf<br />
eingeht. Für einen Vorrang der Insolvenzordnung und<br />
damit eine analoge Anwendung sprechen die vergleichbare<br />
Interessenlage bei Luft- und Bodenpersonal, der<br />
fehlende Grund für eine unterschiedliche Behandlung<br />
sowie die abschließend spezialgesetzliche Regelung in der<br />
Insolvenzordnung. Eine abschließende gerichtliche Entscheidung<br />
hierzu steht jedoch noch aus.<br />
Verwalter wird sich durchsetzen<br />
Im Ergebnis hat das Arbeitsgericht Berlin die Anträge der<br />
Arbeitnehmervertretung nachvollziehbar zurückgewiesen.<br />
Es ist zu erwarten, dass sich auch im weiteren<br />
Insolvenzverfahren der Verwalter durchsetzen<br />
wird und die Arbeitnehmervertretung die Zerschlagung<br />
weder verhindern noch nennenswert verzögern<br />
wird.<br />
p<br />
AUTOR<br />
Alexander von Chrzanowski,<br />
Fachanwalt für Arbeitsrecht und<br />
IT-Recht, Rödl & Partner, Jena,<br />
alexander.chrzanowski@roedl.com<br />
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RECHT & POLITIK AUS DEM GERICHTSSAAL<br />
Der skurrile Fall des Monats<br />
Kein Berufsverbot<br />
für Spanner-Zahnarzt<br />
VON DAVID SCHAHINIAN<br />
Urteil des LSG Thüringen<br />
vom 20. November 2<strong>01</strong>7<br />
(Az.: L 11 KA 807/16)<br />
Vorinstanz: Urteil des SG<br />
Gotha vom 23. März 2<strong>01</strong>6<br />
(Az.: S 7 KA 2580/15)<br />
u Der Fall: Er hat überhaupt nicht gebohrt – sondern<br />
etwas viel Verwerflicheres gemacht. 2<strong>01</strong>2 flog auf, dass<br />
im Umkleideraum der Praxis eines in Thüringen zu- und<br />
niedergelassenen Vertragszahnarztes eine versteckte<br />
Kamera installiert war. Ohne das Wissen der bei ihm<br />
beschäftigten Zahnarzthelferinnen hatte er damit Filmaufnahmen<br />
von ihnen angefertigt. In einschlägigen<br />
Medien brachte ihm das schnell den zweifelhaften<br />
Namen „Geraer Spanner-Zahnarzt“ ein.<br />
Das dortige Amtsgericht verurteilte ihn zu zwei Jahren<br />
und vier Monaten Gefängnis. Nicht nur, dass er in 211<br />
Fällen schuldig gesprochen wurde. Der Richter rügte<br />
den Dentisten auch, dass er „ziemlich skrupellos“ vorgegangen<br />
sei und kein Mitgefühl für<br />
die Opfer gezeigt habe. Auf eine Entschuldigung<br />
warteten die acht betroffenen<br />
Frauen im Prozess vergeblich.<br />
Auf den Datenträgern konnten die<br />
Ermittler knapp 7500 Dateien aus<br />
den heimlichen Aufnahmen finden<br />
oder wiederherstellen. Sie reichten bis ins Jahr 2007<br />
zurück. Die Frauen waren leicht bekleidet oder sogar<br />
nackt zu sehen. Ans Licht kam die Sache durch einen<br />
Zufall: Beim Saubermachen hatten die Zahnarzthelferinnen<br />
einen Schlüssel für ein Zimmer gefunden, zu dem<br />
kein Zutritt gestattet war. Als sie trotzdem hineingingen,<br />
trauten sie ihren Augen kaum: Vor ihnen stand eine<br />
„hochtechnisierte Überwachungsanlage“, berichtete<br />
der MDR. Das war Hausfriedensbruch, argumentierte<br />
die Verteidigung des Zahnarztes, und verlangte, dass die<br />
Videos nicht vor Gericht verwertet werden dürfen –<br />
jedoch ohne Erfolg.<br />
Die Haft musste der Arzt jedoch nicht antreten. Er ging<br />
in Berufung und leistete Geldzahlungen an die Betroffenen,<br />
die ihre Strafanzeigen daraufhin zurücknahmen.<br />
Dem Landgericht Gera blieb aufgrund der seinerzeit<br />
noch geltenden, mittlerweile geänderten Rechtslage<br />
nichts anderes übrig, als das Verfahren mit Beschluss<br />
vom 2. Mai 2<strong>01</strong>4 einzustellen. Mehrere Arbeitsgerichtsverfahren<br />
waren nach Zahlung eines Schmerzensgeldes<br />
einvernehmlich beendet worden.<br />
Weiterhin stand aber die berufliche Zukunft des Arztes<br />
auf dem Spiel. Auf Antrag der kassenzahnärztlichen<br />
Vereinigung wurde ein Verfahren eingeleitet, um<br />
ihm die Zulassung zu entziehen: Er sei für die ver-<br />
Auf eine Entschuldigung<br />
warteten die acht<br />
betroffenen Frauen im<br />
Prozess vergeblich.<br />
tragszahnärztliche Tätigkeit ungeeignet. Ein entsprechender<br />
Beschluss folgte am 28. Januar 2<strong>01</strong>5.<br />
Kampf um die Zulassung<br />
Dagegen klagte er. Der Umstand, dass sich das ihm<br />
vorgeworfene Verhalten in den Personalräumen seiner<br />
Praxis abgespielt habe, reiche seiner Meinung<br />
nach für eine drohende Gefährdung der Patienten<br />
nicht aus. Der Fall landete am 23. März 2<strong>01</strong>6 vor dem<br />
Sozialgericht Gotha – und im Zahnärzteblatt Sachsen.<br />
Das Gericht „entschied, dass das Verhalten, welches<br />
die grobe Pflichtverletzung begründet, nicht<br />
unmittelbar mit der vertragszahnärztlichen<br />
Tätigkeit in Zusammenhang<br />
stehen muss“, heißt es darin.<br />
Die Richter folgten damit der Rechtsprechung<br />
des Bundessozialgerichts<br />
(BSG). Indem er die Angestellten<br />
jahrelang „in ihrer Intimsphäre<br />
visuell ausspionierte“, habe er den höchstpersönlichen<br />
und gesetzlich geschützten Lebensbereich dieser<br />
Frauen verletzt, schreibt das Fachorgan weiter.<br />
Das jüngste, aber wohl nicht letzte Kapitel der nunmehr<br />
fünf Jahre andauernden Rechtsstreitigkeiten<br />
wurde am 20. November 2<strong>01</strong>7 geschrieben. Das Thüringer<br />
Landessozialgericht wies die Berufung des<br />
Zahnarztes gegen das Gothaer Urteil zurück. Die<br />
Richter teilten die Einschätzung, dass der Kläger aufgrund<br />
einer „gröblichen Verletzung“ seiner Pflichten<br />
ungeeignet für die Tätigkeit als Vertragszahnarzt<br />
sei. Sein Vorgehen sei von der Schwere genauso zu<br />
werten wie eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.<br />
Die Revision zum BSG aber wurde zugelassen, da<br />
bislang keine Rechtsprechung zu der Frage existiere,<br />
unter welchen Voraussetzungen die Verletzung<br />
des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung<br />
als gröbliche Pflichtverletzung anzusehen ist.<br />
Die Klage des Arztes hat bis zu einer Entscheidung<br />
in letzter Instanz aufschiebende Wirkung, schreibt die<br />
Ostthüringer Zeitung. Das heißt, der Entzug der Kassenzulassung<br />
werde nicht sofort vollzogen: „Der<br />
Mediziner kann also weiterhin als Zahnarzt tätig sein<br />
und Kassenpatienten behandeln.“<br />
p<br />
56<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Europäischer Gerichtshof<br />
Urlaubsanspruch<br />
für Selbstständige<br />
VON SVEN FROST<br />
u Der Fall: Selbstständige, die im Nachhinein von den<br />
Gerichten als Arbeitnehmer eingestuft werden, haben<br />
grundsätzlich einen Bezahlungsanspruch für nicht<br />
genommenen Urlaub. Dies hat der<br />
Europäische Gerichtshof (EuGH)<br />
in einem Verfahren aus Großbritannien<br />
entschieden. Im vorliegenden<br />
Fall arbeitete Conley King von<br />
1999 bis zu seinem Eintritt in den<br />
Ruhestand im Jahr 2<strong>01</strong>2 für The<br />
Sash Window Workshop (SWWL)<br />
auf der Basis eines „Selbstständigen-Vertrags<br />
ausschließlich gegen<br />
Provision“. Gemäß diesem Vertrag erhielt King ausschließlich<br />
Provisionen. Wenn er Jahresurlaub nahm,<br />
wurde dieser nicht bezahlt.<br />
Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte<br />
King von seinem Arbeitgeber die Zahlung einer Vergütung<br />
sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten,<br />
als auch für nicht genommenen Jahresurlaub für<br />
den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung. SWWL<br />
wies die Forderung zurück. Conley King erhob daraufhin<br />
Klage. Am Ende dieses Verfahrens stellte das sogenannte<br />
Employment Tribunal fest, dass King „Arbeitnehmer“<br />
im Sinne der britischen Rechtsvorschriften<br />
sei, mit denen die Arbeitszeitrichtlinie1 umgesetzt wurde,<br />
und einen Anspruch auf Vergütung für bezahlten<br />
Jahresurlaub habe.<br />
Mit dem Unionsrecht vereinbar?<br />
Der in der Rechtsmittelinstanz mit der Sache befasste<br />
Court of Appeal (Berufungsgericht von England und<br />
Wales, Vereinigtes Königreich) hat dem Gerichtshof<br />
mehrere Fragen zur Auslegung dieser Richtlinie vorgelegt.<br />
Insbesondere möchte er wissen, ob es im Fall einer<br />
Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem<br />
Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer<br />
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat, mit dem Unionsrecht<br />
vereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer zunächst<br />
Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er<br />
Anspruch auf Bezahlung für diesen Urlaub hat.<br />
In seinem jetzigen Urteil weist der Gerichtshof darauf<br />
hin, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als<br />
ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts<br />
In seinem Urteil weist der<br />
Gerichtshof darauf hin, dass<br />
der Anspruch auf bezahlten<br />
Jahresurlaub ausdrücklich in<br />
der Charta der Grundrechte<br />
der Europäischen Union<br />
verankert ist.<br />
der Union anzusehen und ausdrücklich in der Charta<br />
der Grundrechte der Europäischen Union verankert<br />
ist. Ein Arbeitnehmer, der mit „Umständen konfrontiert<br />
ist, die geeignet sind, während<br />
seines Jahresurlaubs Unsicherheit in<br />
Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt<br />
auszulösen, ist jedoch nicht in<br />
der Lage, diesen Urlaub voll und<br />
ganz zu genießen“, heißt es in der<br />
Urteilsbegründung. Insoweit stellt<br />
der Gerichtshof fest, dass jede Praxis<br />
oder Unterlassung eines Arbeitgebers,<br />
die eine derartige abschreckende<br />
Wirkung haben kann, gegen das mit dem Recht<br />
auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt.<br />
Anspruch auf finanzielle Vergütung<br />
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht<br />
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten<br />
entgegensteht, nach denen es einem Arbeitnehmer<br />
verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten<br />
Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden<br />
Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers,<br />
diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt<br />
worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines<br />
Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls<br />
anzusammeln. Der Gerichtshof weist insoweit<br />
auf seine Rechtsprechung hin, wonach ein Arbeitnehmer,<br />
der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen<br />
nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten<br />
Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses<br />
auszuüben, Anspruch auf eine finanzielle Vergütung<br />
hat. In den dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden<br />
Rechtssachen waren die betreffenden Arbeitnehmer<br />
wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten an der Ausübung<br />
dieses Anspruchs gehindert.<br />
Was bedeutet das für Personaler: Für Deutschland fallen<br />
Scheinselbstständige unter das Bundesurlaubsgesetz,<br />
insofern ist die Entscheidung hier allerdings nur für<br />
Ausnahmefälle relevant. In Großbritannien agierende<br />
Unternehmen sind hiervon natürlich unmittelbar betroffen<br />
und müssen die Entscheidung entsprechend berücksichtigen.<br />
p<br />
Europäischer Gerichtshof,<br />
Urteil in der<br />
Rechtssache C-214/16<br />
Conley King / The Sash Window<br />
Workshop Ltd und Richard Dollar<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 57
TECHNIK & TOOLS INTERVIEW<br />
„Der Mensch muss<br />
sich weiterentwickeln“<br />
Die Digitalisierung macht vielen Mitarbeitern Sorgen: Was passiert mit mir und meinem<br />
Arbeitsplatz? Professor Dietmar Kilian sieht den Menschen jedoch auch zukünftig als Dreh- und<br />
Angelpunkt der Arbeitswelt. Gleichzeitig ergeben sich neue Aufgaben für HR.<br />
INTERVIEW: CHRISTOPH BERTRAM<br />
u <strong>Personalwirtschaft</strong>: Herr Kilian, Sie sprechen oft von<br />
einer humanzentrierten Arbeitswelt 4.0. Aber gehört<br />
die Zukunft nicht eher den Robotern und Algorithmen?<br />
Dietmar Kilian: Es ist ein Irrglaube, dass der Mensch<br />
durch die Maschinen, künstliche Intelligenz oder die<br />
Digitalisierung weniger wichtig wird. Sicherlich werden<br />
Routinetätigkeiten, die früher Menschen erledigt<br />
haben, künftig noch stärker automatisiert und mittlerweile<br />
eigenständig von technischen Systemen übernommen.<br />
Im Gegenzug benötigen wir aber dringend<br />
Menschen, die diese Systeme bedienen, programmieren,<br />
vernetzen und kontextbedingt anwenden können.<br />
Die Verbindung, Vernetzung, Zusammenarbeit und<br />
der Austausch zwischen Maschine und Mensch sind einfach<br />
unabdingbar. Aber Fragen zur Ethik, etwa bei der<br />
Nutzung von Daten, müssen vom Menschen klar definiert<br />
werden.<br />
An welcher Stelle im Gefüge aus vernetzten Dingen,<br />
Softwaretools und Robotern als Kollegen oder gar<br />
Chefs findet der Mensch künftig seinen Platz?<br />
Der Mensch muss sich weiterentwickeln. Mit den richtigen<br />
Fähigkeiten sitzt er im Zentrum des beschriebenen<br />
Gefüges. Er plant, setzt um, managt und kontrolliert.<br />
Vor allem sind es Menschen, die auch in Zukunft<br />
die Gesamtkonzepte erstellen und Innovationen vorantreiben.<br />
Wie verändern sich die Anforderungen an die Mitarbeiter,<br />
insbesondere was die Soft Skills angeht?<br />
Neben technischen Kompetenzen, etwa im Bereich Cloud,<br />
Datensicherheit, Programmierung, Big Data et cetera, sind<br />
es eben die Soft Skills, die sich ändern. Dazu zählt zunächst<br />
die Fähigkeit zu Kollaboration und Kommunikation.<br />
Mitarbeiter müssen mehr denn je mit den unterschiedlichsten<br />
Zielgruppen kooperieren, und das unternehmens-<br />
und länderübergreifend. Und sie müssen fähig sein,<br />
Foto: PDA Group<br />
Zur Person:<br />
Dietmar Kilian ist Professor und Fachbereichsleiter „Geschäftsprozess und Unternehmensnetzwerk“<br />
am Management Center Innsbruck (MCI). Über 20 Jahre war er bei Unternehmen<br />
wie Nixdorf, Digital Equipment und SAP in Management- und Führungspositionen tätig,<br />
bevor er 2002 als Experte für Prozess-, Projekt- und Informationsmanagement ans Management<br />
Center Innsbruck wechselte. Kilian ist Managing Partner der PDA Group GmbH, Vorsitzender<br />
des Aufsichtsrats der Academy Cube gGmbH sowie als Beirat und Advisor bei IT-Unternehmen<br />
und als Vorstand der Projekt Management Austria (PMA) aktiv.<br />
58<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
in Netzwerken zu denken. Sicherlich werden auch kritisches<br />
Denken, Kreativität und die Eigenschaft, flexibel<br />
auf sich schnell ändernde Herausforderungen und Dynamiken<br />
reagieren zu können, immer wichtiger. Das macht<br />
vielen Menschen Angst.<br />
Und wie sehen die Anforderungen an das Personalmanagement<br />
aus?<br />
Genau hier muss das Personalmanagement ansetzen<br />
und die Mitarbeiter mitnehmen. Der Personalmanager<br />
wird zum Coach, der langfristig strategisch planen<br />
muss, um die Zukunft des Unternehmens zu sichern.<br />
Die digitale Personalakte etwa, die leider in vielen Unternehmen<br />
noch nicht im Einsatz ist, bietet hier ganz neue<br />
Möglichkeiten. So sieht die HR-Abteilung, welche Qualifikationen<br />
fehlen, und sie kann Mitarbeitern Zugang<br />
zu Trainings geben, die abgestimmt sind auf ihre jeweiligen<br />
Vorkenntnisse. Curricula und Lernrouten, die<br />
von intelligenten Algorithmen erstellt werden, ergänzen<br />
dies und holen die Mitarbeiter da ab, wo sie stehen.<br />
In diesem Umfeld muss das Personalmanagement zum<br />
wirklichen Business Partner werden und somit Fachabteilungen<br />
unterstützen und die Entwicklungs- und<br />
Weiterbildungsplanung in Abstimmung mit der Unternehmensstrategie<br />
realisieren. Damit dies möglich ist,<br />
benötigt ein Unternehmen IT-Tools zur Big-Data-Analyse<br />
der Personalinformationen.<br />
Was kann ich als HR-Manager tun, um mich im Unternehmen<br />
neu zu positionieren?<br />
Die Rolle des HR-Managers muss noch strategischer<br />
werden. Ein paar Unternehmen haben das schon<br />
erkannt, aber noch zu wenige. Routinetätigkeiten und<br />
Personalverwaltung werden stärker automatisiert, damit<br />
sich die HR-Abteilung auf die strategische Weiterentwicklung<br />
der Mitarbeiter und das Recruiting konzentrieren<br />
kann und zum Treiber der digitalen Transformation<br />
wird. Die technischen Möglichkeiten gibt es. Es<br />
gilt, sie auch zu ergreifen. Denn der Begriff des Business<br />
Partners muss mit Leben gefüllt werden und nicht<br />
zur leeren Worthülse verkommen.<br />
Wie gut muss sich ein Personaler mit der Technik auskennen?<br />
Gerade als Führungskraft muss ich die Digitalisierung<br />
der eigenen Abteilung aktiv vorantreiben. Das geht<br />
ohne ein technisches Verständnis nicht. Es wird künftig<br />
in den HR-Abteilungen noch mehr Spezialisten<br />
geben, die einen technischen Hintergrund haben, um<br />
die gestiegenen Anforderungen abzudecken. Dennoch<br />
kann ich als HR-Manager nur die richtigen Rahmenbedingungen<br />
und Strategien aufsetzen, wenn ich weiß,<br />
was bei automatisierten Prozessen im Hintergrund passiert.<br />
Und natürlich kann ich auch nur dann Verantwor-<br />
tung übernehmen, wenn einmal etwas nicht glattläuft.<br />
Das Verstehen von Algorithmen ist Führungsaufgabe,<br />
wie es kürzlich Ursula von der Leyen ausgedrückt hat.<br />
Sind Daten der Schlüssel zum Personalmanagement<br />
der Zukunft?<br />
Ja, aber nicht ausschließlich. People Analytics werden<br />
seit einigen Jahren breit diskutiert und gerade in<br />
den USA gibt es beeindruckende Fallbeispiele. Daten<br />
schaffen Transparenz. HR-Manager werden deshalb<br />
auf einen ethischen Umgang mit Daten setzen und<br />
das gezielt nach innen und außen kommunizieren.<br />
Die Transparenz bringt eine Menge Vorteile, auch<br />
für den Mitarbeiter. So können Führungsfehler oder<br />
unbewusste Diskriminierungen, etwa bei Stellenausschreibungen<br />
oder Gehaltserhöhungen, durch Datenanalysen<br />
aufgedeckt werden. Des Weiteren unterstützen<br />
Informationen zu bestehenden Skills im<br />
Zusammenhang mit den Anforderungen der Zukunft<br />
maßgeblich Entscheidungen zur Weiterbildungsplanung<br />
und Umsetzung.<br />
Sie kennen sowohl die deutsche als auch die österreichische<br />
Perspektive. Sind die Unternehmen beziehungsweise<br />
die HR-Bereiche in beiden Ländern in<br />
Sachen Digitalisierung unterschiedlich unterwegs<br />
oder treibt beide dasselbe um?<br />
Als Nachbarn sind wir uns in vielen Dingen ähnlich. Die<br />
Bildungssysteme unterscheiden sich, doch leider gibt es<br />
sowohl in Deutschland als auch in Österreich noch einen<br />
zu geringen Fokus auf die digitale Bildung, speziell in der<br />
schulischen Bildung. Das merken am deutlichsten die<br />
Personalverantwortlichen – in beiden Ländern.<br />
Die digitale Transformation ist ein Langzeitunterfangen.<br />
Aber wie können konkrete schnelle Erfolge für<br />
HR aussehen?<br />
Ein erster Schritt ist aus meiner Sicht die Digitalisierung<br />
der Personalakten, um Datenanalysen standortübergreifend<br />
durchführen zu können und die Kompetenzen<br />
der eigenen Mitarbeiter zu erkennen. Es<br />
gibt Lösungen, die einen raschen Übertrag ermöglichen,<br />
intuitiv sind und mit denen die neuen Compliance-Anforderungen<br />
erfüllt werden können. So lassen<br />
sich viele Routinetätigkeiten automatisieren,<br />
Weiterbildungsprogramme an die Kenntnisse einzelner<br />
Mitarbeiter anpassen und entsprechend der Unternehmensstrategie<br />
entwickeln. Unterstützende Digitalisierungstrainings<br />
sind dann unternehmensweit<br />
umsetzbar. Zusätzlich ist wichtig, dass die Business<br />
Partner das Unternehmen als Gesamtes in den Innovationsvorhaben<br />
mit Know-how unterstützen. Die<br />
Digitalisierung von HR kann jedes Unternehmen<br />
bewältigen. Es muss nur damit anfangen! p<br />
BÜCHER ZUM THEMA<br />
Kai Anderson, Bettina Volkens:<br />
Digital Human. Der Mensch<br />
im Mittelpunkt der<br />
Digitalisierung, Campus 2<strong>01</strong>7,<br />
248 Seiten, 39,95 Euro<br />
Harald Welzer: Die smarte<br />
Diktatur: Der Angriff<br />
auf unsere Freiheit,<br />
Fischer Taschenbuch 2<strong>01</strong>7,<br />
320 Seiten, 10,99 Euro<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 59
TECHNIK & TOOLS STRATEGISCHE PERSONALPLANUNG<br />
Headcount und Personalkosten<br />
einen Schritt voraus<br />
Kein Plan überlebt langfristig den Kontakt mit der Realität, hat man bei der Deutschen Bank<br />
festgestellt. Dennoch bedarf es unbedingt der exakten Planung von Personalbestand und Personalkosten.<br />
Der Rolling Forecast als Lösungsmöglichkeit.<br />
u Einer der größten Kostenblöcke im Bankenwesen<br />
sind die Personalkosten. Die Planung und anschließende<br />
Kontrolle des zukünftigen Personalbestands und<br />
der damit verbundenen Personalkosten ist daher von<br />
entscheidender Bedeutung. Aufgrund der langen Planungsphase<br />
von bis zu einem halben Jahr sind Annahmen<br />
aber oftmals schon überholt, bevor die Planung<br />
überhaupt fertiggestellt ist. In der Praxis führt dies dazu,<br />
dass bei Veränderungen der Marktsituation oder des<br />
regulatorischen Umfelds verspätet reagiert wird und<br />
es zu signifikanten Abweichungen zwischen der geplanten<br />
und der tatsächlichen Entwicklung des Personalbestands<br />
und der Personalkosten kommen kann.<br />
Die Deutsche Bank hat die wachsende Bedeutung eines<br />
realistischen Ausblicks auf die zukünftige Entwicklung<br />
der Mitarbeiterkapazität sowie der Personalkosten<br />
erkannt und daher in die Entwicklung eines „Forecast-<br />
Modells“ investiert. Dabei greift sie auf die im Vertrieb<br />
bereits nicht mehr wegzudenkende Methodik der rollierenden<br />
Planung zurück und überträgt den Ansatz auf<br />
60<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
den Personalbereich. Die Personalabteilung wird damit<br />
zum innovativen und strategischen Berater für zukunftsgerichtete<br />
Personalentscheidungen.<br />
Der Rolling Forecast der Deutschen Bank ist ein dynamischer<br />
Prognoseprozess. Ziel dabei ist es, die Entwicklung<br />
des Personalbestands und der Personalkosten<br />
auf Konzern- und Bereichsebene mit dem<br />
Prognoseziel einer Abweichung zwischen Ist und Forecast<br />
von maximal einem Prozent zu berechnen. Der<br />
Begriff „Rolling“ drückt dabei aus, dass der Forecast<br />
monatlich mit den neuesten Daten aktualisiert wird, um<br />
eine aktuelle Prognose für die nächsten vier Quartale<br />
zu erstellen. Durch einen quartalsweisen Abgleich der<br />
geplanten und prognostizierten Entwicklung gelingt es<br />
der Deutschen Bank, etwaige Abweichungen in den<br />
größten 25 Divisionen und fünf Regionen frühzeitig zu<br />
erkennen sowie Transparenz bezüglich Veränderungen<br />
im Personalbestand und resultierende Kosteneffekte<br />
zu schaffen. Auf diese Weise können Maßnahmen<br />
frühzeitig initiiert werden, sodass unerwünschte<br />
Abweichungen in den Mitarbeiterkapazitäten abgeschwächt<br />
werden können.<br />
Rolling Forecast – der Blick in die Zukunft<br />
Der Rolling Forecast soll den jährlichen Planungsvorgang<br />
nicht ersetzen, sondern ihn um eine Dimension<br />
erweitern. Die jährliche Planung stellt verbindliche<br />
Vorgaben beziehungsweise einen von der Deutschen<br />
Bank gewünschten Zielzustand; der Rolling Forecast<br />
prognostiziert, mit welchen Werten aufgrund der aktuellen<br />
Situation in der Zukunft gerechnet werden sollte.<br />
Um das realitätsnah zu erreichen, wird jeden Monat<br />
ein neues Update des Rolling Forecasts erstellt. Damit<br />
werden die aktuellen Geschehnisse des vergangenen<br />
Monats in den Berechnungen berücksichtigt. Der kürzere<br />
Betrachtungszeitraum sowie die häufigere Durchführung<br />
im Vergleich zur jährlichen Planung führen zu<br />
einer deutlich erhöhten Prognosequalität der Mitarbeiterkapazitäten<br />
und -kosten. Das erleichtert die Steuerung<br />
der Zielerreichung maßgeblich.<br />
Die Methodik für die Erstellung des Rolling Forecasts<br />
ist dabei für den gesamten Konzern vereinheitlicht und<br />
standardisiert worden. Dies ermöglicht einen zentralen,<br />
aggregierten Blick auf Kostentreiber und schafft<br />
die Voraussetzung für ein zentrales Reporting und weitreichende<br />
Szenario-Analysen.<br />
Die Einführung des Rolling Forecasts macht den Einfluss<br />
von Kapazitätsschwankungen und Strukturveränderungen<br />
auf die dazugehörigen Personalkosten für<br />
Deutsche Bank<br />
Die Deutsche Bank bietet Finanzdienstleistungen an, vom<br />
Zahlungsverkehr und dem Kreditgeschäft über die Vermögensverwaltung<br />
bis hin zum Kapitalmarktgeschäft und dem Beratungsund<br />
Finanzierungsgeschäft für Unternehmen. Ihre Kunden sind<br />
Privatkunden, mittelständische Unternehmen, Konzerne, die<br />
öffentliche Hand und institutionelle Anleger. Die Universalbank<br />
ist das nach Bilanzsumme und Mitarbeiterzahl größte deutsche<br />
Kreditinstitut. Sie hat in Europa eine starke Marktposition und ist<br />
in Amerika und der Region Asien-Pazifik maßgeblich vertreten.<br />
2<strong>01</strong>7 beschäftigt die Bank rund 97 000 Mitarbeiter weiltweit.<br />
Wo hat es im Projektverlauf gehakt, was hätte besser laufen können?<br />
Bereichsverantwortliche transparenter. Abteilungsverantwortliche<br />
können so beispielsweise die Auswirkungen<br />
einer erhöhten Abwanderungsquote in ihrem<br />
Bereich quantifizieren und in der Folge datengestützte<br />
Entscheidungen treffen. Die Personalabteilung sorgt<br />
mithilfe des Rolling Forecasts für ein erhöhtes Bewusstsein<br />
über den Einfluss von Personalentscheidungen auf<br />
die Finanz- und Kostenplanungen in anderen Abteilungen.<br />
Dies intensiviert die Zusammenarbeit von Personalbereich<br />
und den Geschäftsbereichen und unterstützt<br />
eine klare Festlegung von Verantwortung und Zuständigkeiten.<br />
90 Prozent Statistik, zehn Prozent Intuition<br />
Um die zu erwartenden Mitarbeiterkapazitäten für die<br />
nächsten vier Quartale zu berechnen, bezieht der Rolling<br />
Forecast Daten von Mitarbeiteraufbau und -abgängen<br />
der vergangenen drei Jahre mit ein.<br />
CASE STUDY<br />
SACKGASSEN<br />
• Komplexität durch Divisionsstruktur und Detaillierungsgrad: Divisionsstruktur und<br />
Detaillierungsgrad sollten gut durchdacht, vorher bekannt und nicht zu komplex gewählt sein,<br />
um das Modell für die Anwender beherrschbar zu lassen.<br />
• Unvorhersehbar hohe IT-Kosten: Es ist entscheidend, sich frühzeitig für ein adäquates IT-Tool zu<br />
entscheiden, um die Implementierung möglichst kostengünstig durchzuführen und IT-Budgets<br />
einzuhalten.<br />
• Hoher Aufwand und damit verbundene Personalkosten: Die Planung und Implementierung<br />
eines solchen Projekts bringt hohe Anforderungen an die Projektsteuerung mit sich. Unbedingt<br />
erforderlich ist daher ein strukturiertes und zielgerichtetes Vorgehen, um den Aufwand für die<br />
Projektmitarbeiter möglichst gering zu halten.<br />
• Kulturwandel erforderlich: Innovationen wie die Einführung eines Rolling Forecasts im<br />
Personalbereich erfordern ein Umdenken und die Bereitschaft zur Veränderung. Die erhöhte<br />
Transparenz muss gewollt und akzeptiert werden.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 61
TECHNIK & TOOLS STRATEGISCHE PERSONALPLANUNG<br />
UNTERM STRICH<br />
Welche Ergebnisse hat das Projekt gebracht?<br />
• Einführung eines global konsistenten Modells zur Prognose des Personalbestands und der<br />
Personalkosten<br />
• Datengestützte Entscheidungen zur Optimierung des Personalbestands<br />
• Identifikation von Kostentreibern im Rahmen des Workforce Managements<br />
• Aktive Einbindung der Geschäfts- und Infrastrukturbereiche in die Gestaltung des<br />
Prognoseprozesses mit klarer Verantwortungsregelung<br />
zwischen dem jeweiligen Geschäftsbereich, dem Personalbereich<br />
sowie der Finanzabteilung erörtert, sodass<br />
über mögliche Gegenmaßnahmen diskutiert und entschieden<br />
werden kann. Später werden die Werte des<br />
Forecasts mit der tatsächlich eingetroffenen Mitarbeiterentwicklung<br />
sowie den tatsächlich eingetroffenen<br />
Personalkosten verglichen, um gegebenenfalls<br />
Anpassungen in der Prognosemethodik vorzunehmen.<br />
Im Verlauf dieses kontinuierlichen Lernprozesses<br />
wurde die Prognosequalität des Trend Forecasts von<br />
anfänglich drei Prozent auf unter ein Prozent Abweichung<br />
auf Gruppenebene verbessert.<br />
AUTOREN<br />
Rainer Braun, Head of Workforce<br />
Planning, Deutsche Bank,<br />
Frankfurt, rainer.braun@db.com<br />
Christian Baier, Partner, 4C GROUP<br />
AG, Düsseldorf,<br />
christian.baier@4cgroup.com<br />
Im ersten Schritt der Erstellung des Rolling Forecasts<br />
werden die aktuellen Beschäftigungszahlen aus dem<br />
Personalsystem der Deutschen Bank in das Excel-Tool<br />
importiert. Einige weitere für die Berechnung des<br />
Forecasts wichtige Daten müssen zuvor einmal jährlich<br />
berechnet werden, wie beispielsweise das durchschnittliche<br />
Fixgehalt pro Corporate Title, in den<br />
Regionen und in den Divisionen.<br />
Je nach aktueller Marksituation<br />
werden die einzelnen Jahre dabei<br />
anhand von unterschiedlichen<br />
Trends gewichtet. Auf Grundlage<br />
dieser Daten berechnet das System<br />
pro Quartal einen Trend Forecast,<br />
der die prognostizierten Beschäftigungszahlen<br />
sowie die damit verbundenen Personalkosten widerspiegelt.<br />
Durch die Berücksichtigung der durchschnittlichen<br />
Personalbewegung derselben Monate in den<br />
Vorjahren wird der Einfluss saisonaler Schwankungen<br />
transparent, zum Beispiel Einstellungstermine von<br />
Hochschulabsolventen. Für die Prognose der Personalkosten<br />
werden fixe Gehaltsbestandteile und Sozialleistungen<br />
pro Division, Region und Corporate<br />
Title verwendet.<br />
Ein wichtiger Aspekt bei der Erstellung des Trend<br />
Forecasts ist – neben der Nutzung von statistischen<br />
Instrumenten – die Berücksichtigung der Strategie<br />
und Marktsituation einer Division. Auf diese Weise<br />
werden auch zukünftige Trendänderungen entsprechend<br />
berücksichtigt, zum Beispiel Wachstums- oder<br />
Konsolidierungsphasen.<br />
Um weitere strategische Aspekte und Informationen<br />
mit einfließen zu lassen, kann der Trend Forecast von<br />
den Verantwortlichen der jeweiligen Geschäftsbereiche<br />
ergänzt werden. Anschließend wird der Forecast<br />
dann den Verantwortlichen der Divisionen sowie Personal-<br />
und Finanzabteilung zur Verfügung gestellt.<br />
Über ein Informationsmodul können die prognostizierten<br />
Werte aus dem Forecast mit den Planzahlen verglichen<br />
werden. Kommt es zu signifikanten Abweichungen,<br />
werden die Gründe für die Abweichung<br />
Prognose und tatsächlich<br />
eingetretene Werte<br />
weichen nur geringfügig<br />
voneinander ab.<br />
Von der Umsetzung zur Planung und<br />
zurück<br />
Das Projekt startete mit dem Entwurf eines Prototyps<br />
in Excel, welcher über die Zeit bis zur Fertigstellung<br />
kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Im Laufe des<br />
Projekts gab es auch Überlegungen, das Excel-Tool<br />
durch eine andere Software abzulösen.<br />
Dafür wurden der Prozess<br />
sowie die fachlichen und systemseitigen<br />
Anforderungen in einem<br />
sogenannten Business Requirement<br />
Document definiert. Die<br />
bei der Dokumentation gewonnenen<br />
Erkenntnisse konnten genutzt werden, um eine<br />
verbesserte Version des Rolling Forecasts in Excel zu<br />
entwickeln. Die durchgeführten Anpassungen ermöglichen<br />
es jetzt, unterschiedliche Trends in der Prognose<br />
zu berücksichtigen. Von der ersten Idee bis zur<br />
finalen Umsetzung und Implementierung des Rolling<br />
Forecasts vergingen knapp zwei Jahre.<br />
Der Personalbereich als Business Partner<br />
für Headcount- und Kostenplanung<br />
Der Rolling Forecast der Deutschen Bank hat sich<br />
bereits in seiner Pilotphase als großer Mehrwert für<br />
die Bank erwiesen. Eingebettet in eine einfach zu nutzende<br />
Plattform, die allen Stakeholdern zugänglich ist,<br />
ermöglicht er, zukünftige Über- oder Unterdeckungen<br />
des Personalbestands frühzeitig zu erkennen. Ein<br />
Vergleich der Prognose mit den tatsächlich eingetretenen<br />
Werten zeigt, dass diese nur geringfügig voneinander<br />
abweichen. Den gestiegenen Anforderungen<br />
an Prognose und Planung des Umfangs der Mitarbeiterschaft<br />
wird die Deutsche Bank damit gerecht und<br />
schafft eine sehr hohe Transparenz. Maßgeblich für<br />
den Erfolg des Rolling Forecasts war dabei die enge<br />
Kooperation der Personal- mit der Finanzabteilung<br />
sowie mit den jeweiligen Geschäfts-und Infrastrukturbereichen.<br />
p<br />
62<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
TECHNIK & TOOLS UPDATE<br />
Software und Dienstleister für den Job HR<br />
Der Marktplatz für Technik, Tools und Arbeitshilfen.<br />
Hier stellen wir neue Softwarelösungen, Anbieter und Dienstleister für HR vor.<br />
Performance Monitoring<br />
Speziell für KMU entwickelt<br />
Personalentwicklung<br />
Digitale Assistenten für Führung<br />
und Entwicklung<br />
Die LS-S Leadership Support GmbH digitalisiert<br />
Workflows für Führung, Personal- und Organisationsentwicklung.<br />
Die Apps und webbasierten Lösungen<br />
unterstützen Personalentwickler, Trainer und<br />
Führungskräfte. Dazu gehören digitalisierte Micro-,<br />
360-Grad- und Mitarbeiterfeedback-Umfragen.<br />
Indicator-Apps wiederum dienen der KPI-Messung<br />
für HR und Change Management und der gleichzeitigen<br />
Umsetzung. Action-Extracts-Apps stellen digitale<br />
Handouts für Seminare zur Verfügung, die im Anschluss<br />
in der täglichen Arbeit weitergenutzt werden können.<br />
www.ls-s.com<br />
Kleine und mittelständische Unternehmen haben spezielle IT-Bedarfe,<br />
auch beim Performance Monitoring. Dem kommt die Coffeecup GmbH<br />
nun mit einer Business-Intelligence-Software nach, die sich besonders<br />
für Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern eignet, die projektbasiert<br />
arbeiten. Die Software entwickelt aus Arbeitszeiten, Personal- und Projektdaten<br />
Analysen und individualisierte Reports. Zentrale Funktionen:<br />
Monitoring, Reporting inklusive digitaler Personalakte, Zeiterfassung<br />
und Abwesenheitsverwaltung. Die Betaversion kann bereits kostenlos<br />
getestet werden, die Vollversion wird im Januar 2<strong>01</strong>8 erhältlich sein.<br />
https://coffeecupapp.com/kostenlos-testen/<br />
Barrierefreiheit<br />
E-Learning für alle<br />
Im öffentlichen Dienst ist die Gewährleistung von Chancengleichheit bei<br />
der Nutzung von IT-basierten Informationsangeboten für Menschen mit<br />
Behinderung per Gesetz verpflichtend. Der Corporate-Learning-Anbieter<br />
Skillsoft will nun in Kooperation mit The Paciello Group (TPG), einem<br />
Beratungsunternehmen für Barrierefreiheit, allen Mitarbeitern von Unternehmen<br />
barrierefreien Zugang zu E-Lernmaterialien ermöglichen. Im<br />
„Access for All“-Programm wird Skillsoft mehr als 500 000 E-Books,<br />
Videos und Micro-Learning-Inhalte und Technologien barrierefrei umrüsten.<br />
Dabei sollen die aktuellen globalen Standards für Barrierefreiheit,<br />
wie die Web Content Accessibility Guidelines 2.0 (WCAG) und die Sektion<br />
508 des US Rehabilitation Acts, eingehalten und übertroffen werden.<br />
www.skillsoft.de<br />
Managementtools<br />
Lotse durch Projektgewässer<br />
Aus der Kooperation des Neuronprocessing Instituts und<br />
der Nudge GmbH ist ein erstes digitales Managementtool<br />
hervorgegangen. Outpace soll Führungskräfte<br />
sowie Projekt- und Teamleiter darin unterstützen, die<br />
Erfahrungen und das Wissen der Teammitglieder in<br />
die Planung mit einzubeziehen. Das Tool analysiert<br />
die aktuelle Situation und führt das Team durch alle<br />
Projektphasen. Es erkennt und analysiert Konflikte und<br />
kritische Erfolgsfaktoren. Darüber hinaus unterstützt<br />
Outpace die Personalentwicklung.<br />
https://outpace.nudge.media/<br />
Internationale Personalprozesse<br />
Cherwell HR Case Management in neuer Version<br />
Die Software HR Case Management 2.0 von Cherwell dient der Automatisierung<br />
länderübergreifender HR-Prozesse. Darüber hinaus soll die<br />
Beschleunigung von Standardaufgaben HR entlasten, etwa durch die<br />
Abwicklung von gängigen Fragen im Selfservice-Portal. Die neue<br />
Version ist komplett in die Cherwell-Service-Management-Plattform<br />
integrierbar und bietet neue Funktionen, darunter: länderbasierte<br />
Kategorisierung und Verwaltung von HR-Fällen, standortspezifische<br />
Optionen und Informationen für HR-Mitarbeiter sowie die automatische<br />
Bereitstellung von Daten und Formularen in einer der unterstützten<br />
Sprachen – abhängig von Standort und Profil des Nutzers.<br />
https://www.cherwell.com/products/enterprise-service-management/hr-case-management<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 63
FORSCHUNG & LEHRE STUDIE<br />
Führungsqualität mit nur einer Frage messen<br />
Stampfen Sie Ihre aufwendigen Umfragen ein: Ab jetzt brauchen Sie nur noch eine Frage,<br />
um die Qualität von Führung zu messen! Klingt nach einer Marketingphrase? Ist es auch.<br />
Aber eine mit Hand und Fuß.<br />
Mehr zum Thema Net Promoter<br />
Score: Frederick Reichheld:<br />
The one number you need to<br />
grow, in: Harvard Business<br />
Review, 81(12), 2003, S. 46-55<br />
u Seit vielen Jahren steht ein Thema immer wieder auf der<br />
Liste der dringlichsten Probleme von Personalabteilungen:<br />
Führungsqualität. In nahezu jeder Umfrage unter Angestellten<br />
wird die Führungsleistung durch den direkten Vorgesetzten<br />
wie auch die Leitungsebene als solche nachdrücklich<br />
beanstandet. Nicht selten taucht dieser Aspekt noch vor<br />
der Zufriedenheit mit der Vergütung auf.<br />
Viele Organisationen haben sich deshalb in den vergangenen<br />
Jahren professionalisiert. Die Messung von Führungsleistung<br />
ist – ab einer gewissen Unternehmensgröße –<br />
inzwischen fast zur Regel geworden, sei es mittels Feedback<br />
durch Vorgesetzte oder komplexerer Modelle (Beispiel 360-<br />
Grad-Feedback: Hier wird auch das Feedback von Mitarbeitern,<br />
Kollegen, Kunden und anderen Stakeholdern einbezogen).<br />
Gleichzeitig stellen viele Akteure fest, dass solche Systeme<br />
nicht leicht aufzusetzen sind: Datensammlung, -aufbereitung<br />
und -interpretation binden erhebliche finanzielle und<br />
personelle Ressourcen, in HR wie auch in den teilnehmenden<br />
Funktionsbereichen. Hinzu kommt der Umstand, dass<br />
es vielen Menschen grundsätzlich nicht geheuer ist, bewertet<br />
zu werden. Kurz: Die zahlreichen Feedbacksysteme<br />
rufen nicht eben Begeisterungsstürme hervor. Also entscheidet<br />
sich das Gros der Unternehmen für seltene Messungen.<br />
Die meisten Unternehmen erfassen die Führungsqualität<br />
offiziell nicht häufiger als einmal pro Jahr – oft ist<br />
der Abstand noch länger.<br />
Dieses Vorgehen birgt allerdings Risiken, denn gute Führung<br />
ist schwierig. Innerhalb eines Jahres kann eine ungeschickt<br />
agierende Führungskraft viel Aufbauarbeit in Recruiting<br />
und Personalentwicklung zunichtemachen, Mitarbeiter<br />
demotivieren und in die Arme des Wettbewerbs treiben.<br />
Wir sollten daher häufiger fragen, welche Aspekte<br />
guter und schlechter Führung wirklich beim Mitarbeiter<br />
ankommen.<br />
Führungsfeedback, schnell und regelmäßig<br />
Wer sich beim Lebenspartner nur einmal im Jahr nach der<br />
Befindlichkeit erkundigt, hat wohl bald keinen mehr. Auch<br />
ihre Kunden befragen Unternehmen in der Regel deutlich<br />
häufiger nach der Zufriedenheit. Wieso wird dem vermeintlich<br />
„wichtigsten Gut des Unternehmens“, dem Mitarbeiter,<br />
so selten Gehör verschafft? Ein Grund ist die bereits<br />
erwähnte Komplexität der Feedbacksysteme. Hierzu möchte<br />
ich einen Vorschlag unterbreiten, der geeignet ist, lange<br />
Fragebogen-Batterien und aufwendige Datensammlungen<br />
zu entschlacken. Er bietet die Chance, deutlich häufiger<br />
entsprechende Rückmeldungen einzuholen.<br />
Tatsächlich handelt es sich um einen Zufallsbefund.<br />
Gemeinsam mit Professor Michael F. Steger von der<br />
Colorado State University habe ich 586 deutsche Arbeitnehmer<br />
online zur Wahrnehmung ihrer direkten Führungskraft<br />
befragt (siehe „Studie kompakt“). Im Rahmen<br />
dieser Studie über Führungsqualität wurde deutlich, dass<br />
eine konkrete Frage zur Führungsqualität die gleiche Aussagekraft<br />
haben kann wie eine deutlich längere multidimensionale<br />
Befragung.<br />
64<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Zum Einsatz kam ein Instrument, welches mittels 24 Fragen<br />
den sogenannten KAARMA-Index der Führungskraft<br />
misst. Das Instrument wurde für die Studie neu entwickelt.<br />
Der von Michael Steger entwickelte KAARMA-Index erhebt<br />
unter anderem, inwieweit die Führungskraft als authentisch<br />
und respektvoll wahrgenommen wird oder ob sie dem Mitarbeiter<br />
genügend Autonomie bei Entscheidungen lässt.<br />
Diese Daten wurden mit verschiedenen Zielvariablen verknüpft<br />
– beispielsweise mit der Jobzufriedenheit, dem Engagement<br />
oder der aktuellen Wechselabsicht. Zusätzlich<br />
stellten wir folgende Frage:<br />
Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie Ihre Führungskraft<br />
einem Freund oder Kollegen weiterempfehlen werden?<br />
(Skala: 0–10, wobei 10 für „äußerst wahrscheinlich“ steht)<br />
Diese Frage hat Methode – und sie hat es in sich. Sie zwingt<br />
uns, aus dem Bauch heraus eine gesamthafte Bewertung vorzunehmen.<br />
Der Fokus auf Freunde und Kollegen drängt uns<br />
außerdem in Richtung einer konservativen Entscheidung.<br />
Wer möchte schon Menschen, die man mag, etwas empfehlen,<br />
von dem man selbst nicht zu 100 Prozent überzeugt<br />
ist? Ergo: Wer hier besonders hohe Werte zugesprochen<br />
bekommt, muss einiges richtig gemacht haben, über längere<br />
Zeit.<br />
Die Frage folgt einem Muster, das zur Messung von Kundenzufriedenheit<br />
zu Anfang des Jahrtausends unter dem<br />
Begriff Net Promoter Score (NPS) popularisiert wurde.<br />
Entwickelt wurde die Methode vom ehemaligen Bain-Berater<br />
Frederick Reichheld. Dieser trat mit dem bewusst überspitzten<br />
Appell an, der auch den Vorspann dieses Beitrags<br />
ziert: „Stampft eure aufwendigen Kundenzufriedenheitsbefragungen<br />
ein. Ab jetzt braucht ihr nur noch eine<br />
Frage!“ (siehe „Mehr zum Thema“, Seite 64).<br />
Quintessenz: Reichheld wies nach, dass Unternehmen,<br />
deren Kunden bei der Weiterempfehlungsbereitschaft für<br />
ein Unternehmen besonders häufig den Wert 9 oder 10<br />
vergaben (relativ zu durchschnittlichen und schlechten<br />
Bewertungen), ein starkes Marktwachstum verzeichneten.<br />
Statt vieler kundenbezogener Performance-Indikatoren<br />
nur noch einen einzigen beobachten? Das erschien vielen<br />
Managern hoch attraktiv. Selbstredend wurde das NPS-<br />
System seit seiner Vorstellung eingehend untersucht und<br />
auch heftig kritisiert. Dennoch erfreut es sich nach wie vor<br />
großer Beliebtheit in Marketing- und Vertriebsabteilungen.<br />
Führungsqualität, über kurz oder lang<br />
Studie kompakt<br />
Forschungsfrage: Welche konkreten Verhaltensweisen in der Führung sind geeignet, das<br />
Sinn-Erleben der Mitarbeiter direkt positiv zu beeinflussen?<br />
Forschungsansatz: Der vorliegende Artikel basiert auf einer umfassenden Erhebung zum<br />
KAARMA-Index, die der Autor gemeinsam mit Prof. Dr. Michael F. Steger von der Colorado<br />
State University vorgenommen und in der Zeitschrift „Organisationsentwicklung“ (04/2<strong>01</strong>7)<br />
vorgestellt hat. Der KAARMA-Index soll einen Beitrag zur sinnvollen Messung von Führungsqualität<br />
leisten. Grundlage der Studie ist eine Online-Befragung. Der Fragebogen wurde<br />
unter anderem auf Netzwerken wie Xing und Linkedin gestreut. Insgesamt 586 Menschen<br />
hinterließen verwertbare Antworten. Die meisten Teilnehmer hatten mindestens einen<br />
Bachelorabschluss und sind im Management tätig, etwa 40 Prozent selbst als Führungskraft.<br />
Forschungsergebnisse: Aus Perspektive der Mitarbeiter kann mittels weniger gezielter<br />
Fragen deutlich zwischen schwachen, durchschnittlichen und erstklassigen Führungskräften<br />
unterschieden werden. Diese Unterschiede in der Führungsqualität sorgen dafür, dass einige<br />
Menschen hoch motiviert und sinnerfüllt bei der Sache sind und für andere das Gegenteil<br />
gilt. Zwischen der Bereitschaft zur Weiterempfehlung der Führungskraft an einen Freund<br />
oder Kollegen und der wahrgenommenen Qualität der Führungskraft anhand des 24 Fragen<br />
umfassenden KAARMA-Indexes besteht eine besonders hohe Korrelation.<br />
Der springende Punkt: Wir ermittelten für die Stichprobe<br />
den statistischen Zusammenhang (Korrelationskoeffizient)<br />
zwischen der Bereitschaft zur Weiterempfehlung der Führungskraft<br />
einerseits – und der wahrgenommenen Qualität<br />
der Führungskraft anhand des 24 Fragen umfassenden<br />
KAARMA-Indexes andererseits. Überraschenderweise<br />
beläuft sich dieser auf 0.83. Zur Erläuterung: eine Korrelation<br />
kann Werte zwischen -1.0 und +1.0 annehmen. Werte<br />
nahe -1.0 bezeichnen einen dezidiert negativen Zusammenhang<br />
(je höher ein Wert, desto niedriger der andere);<br />
ein Wert um 0 spricht für einen Nicht-Zusammenhang.<br />
Werte nahe 1.0 bedeuten, dass die Datenreihen unmissverständlich<br />
miteinander verknüpft sind, und zwar in positiver<br />
Richtung: je höher der eine Wert, desto höher auch der<br />
andere.<br />
Das bedeutet im Klartext: Die singulären Antworten auf die<br />
oben beschriebene Frage zur Weiterempfehlung und der<br />
aufwendige 24-teilige Index zeigen ein außerordentlich<br />
hohes Maß an Übereinstimmung. Anders ausgedrückt:<br />
Beide Verfahren erfassen – annähernd – das gleiche Merkmal.<br />
Somit sind sie substituierbar: Man kann die eine oder<br />
die andere Methode nutzen, um ähnlich wertvolle Informationen<br />
zu erhalten. Ergo: Möchten Sie künftig möglichst<br />
ressourcensparend die Führungsqualität messen, so können<br />
Sie auch schlicht auf die Weiterempfehlungsrate zurückgreifen.<br />
Freilich ist die Aussagekraft beider Methoden nicht identisch.<br />
Nur weil man weiß, dass eine Führungskraft (nicht)<br />
weiterempfohlen wird, versteht man nicht im Detail, warum<br />
dies der Fall ist. Für ein nachhaltiges Management der Führungsqualität<br />
ist es demnach opportun, Verfahren zu kombinieren.<br />
Die Weiterempfehlungsrate kann in kurzen Abständen<br />
erhoben werden, um Handlungsbedarfe frühzeitig zu<br />
erkennen – was aufgrund der Schlichtheit problemlos möglich<br />
ist. Die bislang eingesetzten umfangreicheren Methoden<br />
können in größeren Abständen ergänzend genutzt<br />
werden, um ein tiefenscharfes Bild zu erhalten.<br />
In Summe kann diese Methodenkombination dabei helfen,<br />
einem der dringlichsten Ziele der Personalarbeit Herr zu<br />
werden: unseren Mitarbeitern jene Art von gelungener<br />
Führung angedeihen zu lassen, die sie verdienen. p<br />
AUTOR<br />
Dr. Nico Rose, Forscher und<br />
Berater zu den Themen Positive<br />
Psychologie und Führung,<br />
Hamm/Westfalen,<br />
hello@nicorose.de<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 65
FORSCHUNG & LEHRE INTERNATIONAL<br />
Frauenförderung statt Frauenquote<br />
Die Frauenquote ist ein Flop – sie kaschiert Defizite, ändert aber nichts an den Ursachen. Wie<br />
sehen wirksame Lösungen aus? Managementprofessor Karlheinz Schwuchow präsentiert die Ergebnisse<br />
einer weltweiten Studie und erläutert, was männliche und weibliche Superbosse auszeichnet.<br />
Das Working Paper<br />
„Is Gender Diversity<br />
Profitable? Evidence<br />
from a Global Survey“<br />
wurde vom Peterson Institute<br />
for International Economics<br />
veröffentlicht und steht<br />
auf dessen Website zum<br />
Download bereit:<br />
https://piie.com/publications/working-papers/<br />
gender-diversity-profitableevidence-global-survey<br />
u Von der Politik für Aufsichtsräte in börsennotierten<br />
deutschen Unternehmen bereits verordnet, sorgt die<br />
gesetzliche Frauenquote nicht nur in der Wirtschaft<br />
nach wie vor für kontroverse Diskussionen. Während<br />
Sinn und Nutzen umstritten sind, schafft eine breit<br />
angelegte empirische Erhebung des renommierten amerikanischen<br />
Peterson Institute for International Economics<br />
nun wissenschaftliche Evidenz.<br />
Die Forscher Marcel Noland, Tyler Moran und Barbara<br />
Kotschwar betrachteten insgesamt 21 980 Unternehmen<br />
in 91 Ländern, um herauszufinden, wie sich die<br />
Präsenz von Frauen in Top-Führungspositionen auf<br />
den Unternehmenserfolg auswirkt. 60 Prozent der<br />
erfassten Unternehmen haben keine weiblichen Aufsichtsräte,<br />
54 Prozent keine weiblichen Vorstände und<br />
weniger als fünf Prozent – 945 Unternehmen – eine<br />
weibliche Vorstandsvorsitzende.<br />
Insgesamt liegt die Frauenquote<br />
im Topmanagement bei 14 Prozent,<br />
bei den Aufsichtsräten beträgt<br />
sie elf Prozent. Dabei sind<br />
die Unterschiede bezogen auf Länder<br />
und Branchen in hohem Maße<br />
signifikant. So beträgt der Anteil<br />
weiblicher Top-Führungskräfte in Japan 2,5 Prozent,<br />
während er in Schweden bei 21 Prozent liegt. In Deutschland<br />
sind es 14 Prozent.<br />
Die meisten weiblichen Führungskräfte finden sich mit<br />
Werten zwischen 16 und 18 Prozent im Finanz-, Telekommunikations-<br />
und Gesundheitssektor, während<br />
sich Technologie- und Industrieunternehmen mit zehn<br />
bis zwölf Prozent als wenig frauenfreundlich erweisen.<br />
Allerdings zeigt sich auch, dass zum Beispiel in der<br />
Finanzbranche die Zahlen der männlichen und weiblichen<br />
Berufseinsteiger nahezu gleich sind, sich der<br />
Frauenanteil bis zum Erreichen einer Position im mittleren<br />
Management jedoch halbiert.<br />
Der weibliche Aufstieg beginnt<br />
mit Kita und PISA<br />
Jenseits gesetzlicher Quoten konstatieren die Forscher<br />
einen positiven Zusammenhang zwischen dem Anteil<br />
von Frauen in Führungspositionen<br />
und länderspezifischen<br />
Aspekten, vor allem den PISA-<br />
Ergebnissen von Schülerinnen,<br />
der Möglichkeit der Elternzeit<br />
für Väter, bezahlbaren Kinderbetreuungseinrichtungen<br />
sowie<br />
der gesellschaftlichen Einstellung<br />
gegenüber weiblichen Führungskräften. Dabei<br />
sind die PISA-Ergebnisse – insbesondere die mathematischen<br />
und naturwissenschaftlichen Kompetenzen –<br />
Die Politik ist gefordert,<br />
gesellschaftlich induzierte<br />
Aufstiegsbarrieren für<br />
Frauen zu beseitigen.<br />
66<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
von besonderer Bedeutung, wenn es um den Anteil<br />
von Frauen in Managementpositionen geht.<br />
Während weibliche Aufsichtsräte und Vorstandsvorsitzende<br />
keinen signifikanten Einfluss auf das finanzielle<br />
Ergebnis eines Unternehmens haben, ist der Anteil<br />
der Frauen im Topmanagement<br />
ein nachhaltiger Erfolgsfaktor. Ein<br />
Unternehmen mit 30 Prozent<br />
weiblichen Führungskräften kann<br />
gegenüber einer ansonsten gleichartigen,<br />
aber „frauenlosen“ Firma<br />
eine Gewinnsteigerung um einen Prozentpunkt und<br />
damit eine Verbesserung des Nettoergebnisses um 15<br />
Prozent verbuchen.<br />
Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer entsprechenden<br />
Talent-Pipeline. Eine gesetzliche Quote zeigt hier<br />
keine Wirkung. Sie behebt nicht die Ursachen, sondern<br />
verdeckt die Auswirkungen mangelnder Frauenförderung<br />
– beginnend in Schule und Ausbildung – und unzureichender<br />
öffentlicher Rahmenbedingungen im Hinblick<br />
auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.<br />
Darüber hinaus weisen Noland, Moran und Kotschwar<br />
auf die Tatsache hin, dass es grundsätzlich die Vielfalt<br />
an Fähigkeiten ist, die sich positiv auswirkt – neben<br />
Diversität, auch im Hinblick auf Alter und nationale<br />
Herkunft, spielt der Mix funktionaler Fähigkeiten im<br />
Management ebenso eine Rolle wie die damit verbundenen<br />
gruppendynamischen Prozesse.<br />
Eine Frauenquote für Aufsichtsräte ist, so die Autoren,<br />
nicht nur wirkungslos. Sie kann auch kontraproduktiv<br />
sein. Aufgrund personeller Knappheit besteht – wie am<br />
Beispiel der Quote für weibliche Aufsichtsräte in Norwegen<br />
empirisch belegt ist – die Gefahr negativer Konsequenzen<br />
durch gering qualifizierte Aufsichtsräte oder<br />
wenig engagierte Multi-Aufsichtsräte. Folglich ist die<br />
Politik gefordert, gesellschaftlich induzierte Aufstiegsbarrieren<br />
für Frauen zu beseitigen und diese nicht durch<br />
verpflichtende Quoten zu kaschieren.<br />
Fazit: Ein methodisch anspruchsvolles Working Paper,<br />
das auf breiter Basis vielfältige Impulse vermittelt und<br />
die empirischen Ergebnisse im Kontext einer umfassenden<br />
Literaturanalyse präsentiert.<br />
Die Führungskraft als Talentmagnet<br />
Sydney Finkelstein, Professor an der Tuck School of<br />
Business und Direktor des dortigen Center for Lea -<br />
dership, zählt zu den Thinkers 50, den weltweit führenden<br />
Vordenkern im Management. Nachdem er in seinem<br />
2003 erschienenen Buch „Why Smart Executives<br />
Fail“ in umfassender Weise das Führungsversagen untersucht<br />
hat, betrachtet er nun die andere Seite der Medaille:<br />
„Superbosses“ ist das Ergebnis eines zehnjährigen Forschungsprojektes.<br />
In nahezu jeder Branche<br />
haben viele Superbosse die<br />
gleichen Wurzeln.<br />
Am Anfang stand für Finkelstein die Erkenntnis, dass<br />
in nahezu jeder Branche viele Top-Führungskräfte die<br />
gleichen beruflichen Wurzeln haben. So verließen zwischen<br />
1994 und 2004 neun von elf Topmanagern aus<br />
dem Umfeld des Oracle-Gründers Larry Ellison das<br />
Unternehmen, um eine Vorstandsposition<br />
in einer anderen Firma<br />
zu übernehmen. Auf der Suche<br />
nach den Geheimnissen dieser<br />
menschlichen Inkubatoren führte<br />
Finkelstein 200 Interviews und<br />
identifizierte 18 dieser Superbosse. Dabei erstreckt sich<br />
das Spektrum vom Modeschöpfer Ralph Lauren über<br />
den Star-Wars-Regisseur George Lucas bis zum Intel-<br />
Mitgründer Robert Noyce und zur Kosmetikunternehmerin<br />
Mary Kay Ash.<br />
Finkelstein stellt fest, dass alle Ausgewählten fünf Eigenschaften<br />
gemeinsam haben: starke Zuversicht, Leistungsorientierung,<br />
visionäres Denken, Integrität und Authentizität.<br />
Ähnlichkeiten entdeckte der Tuck-Professor auch<br />
bei den Personalpraktiken, insbesondere bei der Mitarbeiterauswahl<br />
und -entwicklung. Superbosse suchen die<br />
Besten und setzen auf Intelligenz, Kreativität und Flexibilität.<br />
Es geht ihnen nicht um formale Abschlüsse, sie<br />
vertrauen ihrer Intuition – und umgehen dabei regelmäßig<br />
formale Personalprozesse. Ihre Erwartungen an Mitarbeiter<br />
sind hoch, auch sind sie sehr effektiv im Delegieren<br />
und sehen sich als Mitarbeiterentwickler im<br />
klassischen Sinne einer Meister-Auszubildender-Beziehung.<br />
Sie gewähren große Freiräume und fördern gute<br />
Mitarbeiter jenseits klassischer Kompetenzpfade. Gleichzeitig<br />
akzeptieren es Superbosse, wenn talentierte Mitarbeiter<br />
das Unternehmen verlassen, und pflegen dieses<br />
Alumni-Netzwerk.<br />
In seiner weiteren Forschung gelingt es Finkelstein,<br />
drei Cluster zu identifizieren, die jeweils unterschiedliche<br />
Verhaltensweisen und Führungsstile beschreiben.<br />
Da sind die „idealistischen Bilderstürmer“, von ihrer<br />
Vision getriebene kreative Genies, beispielsweise George<br />
Lucas, Ralph Lauren oder Robert Noyce. Daneben gibt<br />
es die „altruistischen Entwickler“, die sich in nahezu<br />
selbstloser Weise als Mentor und Coach sehen und ihre<br />
Mitarbeiter aktiv zu Höchstleistungen führen. Hier ist<br />
zum Beispiel Mary Kay Ash zu nennen. Die letzte Gruppe<br />
bilden die „eigennützigen Egoisten“ wie Larry<br />
Ellison von Oracle. Ihnen geht es um den eigenen Erfolg<br />
und sie wissen, dass sie hierfür die besten Mitarbeiter<br />
benötigen, und fördern diese entsprechend.<br />
Finkelstein vermittelt vielfältige Impulse und konkrete<br />
Handlungshilfen, wie jede Führungskraft ihre Rolle<br />
als Talentmanager neu definieren kann. Trotz seiner<br />
US-amerikanischen Ausrichtung ist das Buch lesenswert<br />
und verbindet solide Forschung mit praktischer<br />
Relevanz.<br />
p<br />
Sydney Finkelstein:<br />
Superbosses – How Exceptional<br />
Leaders Manage the Flow of<br />
Talent, Penguin Random<br />
House 2<strong>01</strong>7, 272 Seiten,<br />
10,49 Euro<br />
Ein Interview des Harvard<br />
Business Review mit Sydney<br />
Finkelstein zum Thema „What it<br />
takes to be a Superboss“ ist unter<br />
https://hbr.org/video/4767335<br />
5160<strong>01</strong>/what-it-takes-to-be-asuperboss<br />
verfügbar. Auf der<br />
Website http://www.superbosses.com<br />
finden sich ergänzende<br />
Materialien zum Buch sowie<br />
zu den Arbeiten von Sydney<br />
Finkelstein.<br />
AUTOR<br />
Prof. Dr. Karlheinz Schwuchow,<br />
CIMS Center for International<br />
Management Studies,<br />
Hochschule Bremen,<br />
karlheinz.schwuchow@<br />
hs-bremen.de<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 67
TREFFPUNKT LEARNTEC 2<strong>01</strong>8<br />
„Man sollte Lernmethoden<br />
kritisch überprüfen“<br />
Unternehmensberater, Philosoph, Skeptiker – Nikil Mukerji zieht so ziemlich alles in Zweifel, was<br />
nicht mit wissenschaftlicher Methodik beweisbar ist. Auf der Learntec 2<strong>01</strong>8 hält er eine Keynote zu<br />
seinen zehn Geboten des gesunden Menschenverstands, die auch als Buch erschienen sind.<br />
INTERVIEW: KIRSTEN SEEGMÜLLER<br />
„Lernen mit gesundem<br />
Menschenverstand“<br />
Public Keynote von<br />
Nikil Mukerji<br />
Donnerstag, 1. Februar 2<strong>01</strong>8<br />
13.15 bis 14.15 Uhr<br />
Learntec, Halle 2<br />
u <strong>Personalwirtschaft</strong>: Herr Mukerji, in Ihrer Keynote<br />
auf der Learntec sprechen Sie von „Lernen mit gesundem<br />
Menschenverstand“. Was verstehen Sie darunter?<br />
Nikil Mukerji: Darunter fällt Verschiedenes. Wer mit gesundem<br />
Menschenverstand lernt, verlässt sich zum Beispiel<br />
nicht auf Mythen, die in Lehrerkreisen und Weiterbildungsorganisationen<br />
populär sind – etwa Edu-Kinestetik/Brain-<br />
Gym oder dass wir nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen.<br />
Vieles davon hat keine wissenschaftliche Grundlage –<br />
ebenso wenig wie die Existenz von Lerntypen.<br />
Sie glauben also nicht, dass Menschen unterschiedlich<br />
lernen?<br />
Doch. Manche lernen schneller, andere langsamer. Und<br />
wer bereits Vorkenntnisse in einem Bereich besitzt,<br />
erwirbt weitere Kenntnisse vermutlich leichter. Die Theorie<br />
der Lerntypen besagt aber, dass manche Menschen<br />
besser lernen, wenn sie hören, sehen, anfassen oder ein<br />
Thema abstrakt und intellektuell angehen. Doch wurde<br />
diese Hypothese jemals wissenschaftlich<br />
überprüft? Ein Forscherteam<br />
um den amerikanischen<br />
Psychologen Harold<br />
Pashler hat herausgefunden,<br />
dass die existierenden Studien<br />
zu Lerntypen praktisch ohne<br />
Aussagekraft sind oder sogar<br />
negative Befunde liefern. Wie man am besten lernt, hängt<br />
nicht vom Lernenden ab, sondern von der Sache. Radfahren<br />
lernt man nicht abstrakt, Mathematik nicht haptisch.<br />
Trotzdem hält sich die Lerntypen-Theorie hartnäckig.<br />
Wie sollte man in Unternehmen unterschiedliche Themen<br />
vermitteln?<br />
„Wissen und Fähigkeiten<br />
sind unterschiedliche<br />
Dinge. Ich kann etwas<br />
wissen, ohne es zu<br />
können – und umgekehrt.“<br />
Ein entscheidender Faktor ist aus meiner Sicht die Motivation.<br />
Man muss verstehen, warum ein Thema wichtig ist.<br />
Dann will man sich damit auch befassen. Denn Menschen<br />
folgen grundsätzlich Anreizen. Allerdings kann das auch<br />
nach hinten losgehen. Bei intrinsisch motivierten Mitarbeitern<br />
können Anreize den Lernerfolg sogar mindern,<br />
denn wenn sie wegfallen, ändert sich das Verhalten in eine<br />
problematische Richtung.<br />
Aber wie mache ich langweilige Pflichtübungen wie etwa<br />
Compliance-Schulungen zu meinem Eigeninteresse?<br />
Diese Schulungen sichern den Arbeitsplatz. Deswegen<br />
haben Mitarbeiter, die in relevanten Bereichen arbeiten,<br />
automatisch ein Eigeninteresse daran. Allerdings sollte man<br />
auch die intrinsische Motivation einbinden. Das tut man<br />
am besten, indem man von vornherein die richtigen Mitarbeiter<br />
auf die richtigen Stellen setzt. Wer sich für seine<br />
berufliche Tätigkeit wirklich interessiert, wird auch unterstützende<br />
Schulungen motivierter angehen.<br />
Wie lernt man auf kluge Weise?<br />
Indem man Methoden verwendet,<br />
die erwiesenermaßen funktionieren,<br />
und keine Zeit mit Dingen verschwendet,<br />
die vermutlich nicht<br />
funktionieren.<br />
Das ist eine Binsenweisheit. Könnten Sie bitte konkreter<br />
werden?<br />
Das dritte Gebot in meinem Buch besagt, dass man von<br />
glaubwürdigen Annahmen ausgehen soll (siehe Kasten,<br />
Seite 70). Wer sich auf die Lerntypen-Theorie stützt, verletzt<br />
dieses Gebot. Entsprechend ist die Annahme, dass<br />
man Lernen optimieren kann, indem man nach Lerntypen<br />
unterscheidet, unglaubwürdig.<br />
68<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Foto: Jan Greune<br />
Zur Person:<br />
Dr. Nikil Mukerji studierte Philosophie sowie Wirtschaftswissenschaften<br />
und promovierte in Philosophie. Er ist Geschäftsführer des<br />
Executive-Studiengangs Philosophie Politik Wirtschaft (PPW) an<br />
der LMU München und als selbstständiger Berater für das Institut<br />
für Argumentation (München) tätig. Er ist außerdem engagiertes<br />
Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von<br />
Parawissenschaften e. V.<br />
Apropos „Gebot“. Ist das nicht ziemlich anmaßend?<br />
Hätten nicht auch „Regeln“ gereicht?<br />
Das habe ich bewusst provokant formuliert. Man kann sie<br />
nennen, wie man will – „Regeln“, „Prinzipien“ oder Ähnliches.<br />
In meinen Augen vermittelt jedoch das Wort „Gebot“<br />
den Verbindlichkeitscharakter besser: Jeder vernünftige<br />
Mensch muss sich daran halten. Sie können das selbst nachvollziehen,<br />
indem Sie Ihre eigene Vernunft befragen und<br />
versuchen, eine plausible Alterative zu einem der Gebote<br />
zu finden. Statt dem ersten Gebot könnten Sie sagen: „Denken<br />
Sie chaotisch.“ Statt dem zweiten Gebot: „Überspringen<br />
Sie wichtige Schritte in Ihrem Denken.“ Wenn Sie das<br />
versuchen, werden Sie sehen, dass die zehn Gebote des<br />
gesunden Menschenverstands unkontrovers sind.<br />
Welche „unklugen“ Lernmethoden sind Ihnen schon<br />
begegnet – und warum sind sie unklug?<br />
Problematisch ist es, wenn sich Menschen bereits mit den<br />
eigenen Ansichten verheiratet haben. Das stellen wir in<br />
vielen Bereichen fest, etwa wenn es um Gender-Themen,<br />
Alternativmedizin, Politik oder Ähnliches geht. Sie sind<br />
mit Herzblut bei der Sache und bleiben bei ihrer Überzeugung,<br />
auch wenn man sie auf Fakten hinweist, die sie widerlegen.<br />
Das kann man sogar bei hochgebildeten, intelligenten<br />
Menschen feststellen.<br />
Wo ziehen Sie die Grenzen zwischen Intelligenz, Bildung<br />
und gesundem Menschenverstand?<br />
Man unterscheidet kristalline und fluide Intelligenz.<br />
Letztere besteht beispielsweise in der Fähigkeit, Muster<br />
zu erkennen, räumlich zu denken, Mathematikaufgaben<br />
zu lösen oder Progressionsreihen weiterzuführen.<br />
Intelligenz in diesem Sinne ist quasi die Rechenleistung<br />
des Gehirns. Wer einen hohen IQ hat, lernt<br />
schnell und merkt sich das meiste leichter. Die kristalline<br />
Intelligenz ist das, was nach der Denkleistung übrig bleibt.<br />
Menschen, die viel gelernt und verstanden haben, verfügen<br />
über viel Wissen. Das wird oft mit Bildung gleichgesetzt.<br />
Aber es gibt auch substanziellere Bildungsbegriffe,<br />
die Aspekte wie Persönlichkeit, Charakter und<br />
Urteilskraft einschließen. Ein solches breites Bildungsverständnis<br />
überlappt mit dem, was ich „gesunden Menschenverstand“<br />
nenne.<br />
Lernen wird oft als Aneignung von Wissen und Können<br />
definiert. Wie lautet Ihre Definition?<br />
Im Duden gibt es verschiedene Definitionen, beispielsweise<br />
die Aneignung von Wissen – wobei „Wissen“ ein technischer<br />
Ausdruck ist. Wer Wissen in diesem Sinne erwer-<br />
Fast Facts zur Kongressmesse Learntec 2<strong>01</strong>8<br />
Termin: 30. Januar bis 1. Februar 2<strong>01</strong>8<br />
Ort: Messe Karlsruhe, Halle 1 und 2<br />
Mehr als 280 Aussteller aus 13 Nationen präsentieren ihre neuesten Anwendungen<br />
und Programme für das Lernen mit IT. Neben Hard- und Software werden auch Konzepte<br />
und Services vorgestellt – etwa Lernportale, virtuelle Klassenzimmer, Talent Management<br />
oder Performance Support. Erwartet werden rund 7500 Fachbesucher aus 25 Ländern.<br />
Wegen der wachsenden Aussteller- und Besucherzahlen findet die Learntec 2<strong>01</strong>8 erstmals<br />
in zwei Hallen statt.<br />
Begleitet wird die dreitägige Messe von einem Kongress, der sich diesmal mit<br />
„Bildung als Motor der Digitalisierung“ befasst. Zu den Schwerpunktthemen gehören<br />
selbstorganisiertes und informelles Lernen, VR- und 3D-Lernwelten, Big Data, Learning<br />
Analytics, Adaptive Learning und vieles mehr. In Vorträgen und Diskussionsrunden<br />
vermitteln mehr als 120 Referenten ihr Wissen an die Kongressteilnehmer. In Workshops<br />
können die Besucher eigene Lösungen entwickeln.<br />
Preise:<br />
Tageskarte Messe: 45 Euro, Dauerkarte Messe: 72 Euro<br />
Tageskarte Kongress: 410 Euro, Dauerkarte Kongress: 665 Euro (jeweils inklusive Messe)<br />
Branchenabend am 30. Januar 2<strong>01</strong>8: 39 Euro (begrenztes Kontingent)<br />
Weitere Informationen, Programme und Tickets unter: www.learntec.de<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 69
TREFFPUNKT LEARNTEC 2<strong>01</strong>8<br />
BUCH ZUM THEMA<br />
Nikil Mukerji:<br />
Die 10 Gebote<br />
des gesunden<br />
Menschenverstands,<br />
Springer 2<strong>01</strong>6<br />
ben will, muss einiges leisten: Er muss etwas verstanden<br />
haben, es glauben, eine Rechtfertigung haben und es muss<br />
wahr sein. Ein alternativer Begriff des Lernens bezieht sich<br />
auf die Aneignung von Fähigkeiten. Wissen und Fähigkeiten<br />
sind unterschiedliche Dinge. Ich kann etwas wissen, ohne<br />
es zu können – und umgekehrt.<br />
Was haben Ihre Gebote mit E-Learning zu tun?<br />
Man sollte Lernmethoden kritisch überprüfen und sich<br />
dabei nicht auf Dogmen verlassen. Heute gibt es die Überzeugung,<br />
Digital Natives seien besonders gut im Multitasking,<br />
weil sie verschiedene Kanäle nutzen – hören, sehen,<br />
schreiben und chatten. Nach allem, was wir wissen, reduziert<br />
Multitasking jedoch die kognitive Leistungsfähigkeit.<br />
Das gilt auch im Bereich des Lernens.<br />
Denn wir können nicht<br />
wirklich zwei Dinge parallel tun.<br />
Das funktioniert nur bei automatischen<br />
Prozessen. Man kann<br />
zum Beispiel spazieren gehen<br />
und sich dabei unterhalten, denn das sind eine unbewusste<br />
und eine bewusste Handlung. Man kann aber nicht<br />
gleichzeitig ein Bild malen und eine Rechenaufgabe lösen,<br />
denn das sind zwei bewusste Handlungen. Wenn Jugendliche<br />
mit dem Smartphone lernen, springen sie schnell zwischen<br />
zwei kognitiven Aufgaben hin und her. Das ist schädlich<br />
für den Lernprozess.<br />
Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands<br />
Erstes Gebot: Bringen Sie Ordnung in Ihr Denken.<br />
Zweites Gebot: Denken Sie lückenlos.<br />
Drittes Gebot: Treffen Sie glaubwürdige Annahmen.<br />
Viertes Gebot: Fragen Sie nach der Beweislast.<br />
Fünftes Gebot: Denken Sie klar und präzise.<br />
Sechstes Gebot: Bleiben Sie logisch sauber.<br />
Siebtes Gebot: Tappen Sie nicht in die Sprachfalle.<br />
Achtes Gebot: Seien Sie schlauer als ein junger Jagdhund.<br />
Neuntes Gebot: Schauen Sie mit beiden Augen hin (wenn Sie müssen).<br />
Zehntes Gebot: Lassen Sie sich keinen Bären aufbinden.<br />
„Wie man am besten lernt,<br />
hängt nicht vom Lernenden<br />
ab, sondern von der Sache.“<br />
Das erste Gebot lautet: „Bringen Sie Ordnung in Ihr<br />
Denken.“ Wie schafft man das bei all den vielen Ablenkungen<br />
wie Internet, Werbung, Smartphone-Apps,<br />
Spiele, Fernsehen et cetera?<br />
Die Antwort steckt schon in der Frage. Es gibt zahlreiche<br />
Ablenkungen: Man macht den Computer an, will eine<br />
bestimmte Sache erledigen, schaut aber zunächst nach den<br />
Mails, nach den neuesten Posts auf Facebook, dann springen<br />
Fenster mit Werbung auf und so weiter. Das Grundübel<br />
ist, dass man diese Ablenkungen zulässt. Man sollte<br />
sein Umfeld so einrichten, dass man nicht abgelenkt wird.<br />
Chefs oder Chefinnen werden oft von Mitarbeitern unterbrochen,<br />
die dringend etwas brauchen. Diese Unterbrechungen<br />
kann man reduzieren, indem man beispielsweise<br />
montags um acht Uhr ins Büro kommt. Dann hat man<br />
in der Regel seine Ruhe und kann einiges wegarbeiten.<br />
Dann stellt man das Smartphone auf lautlos, schaltet das<br />
Mailprogramm aus, macht sich einen Tagesplan und hält<br />
sich strikt daran. Außer natürlich, es passiert etwas Unvorhergesehenes.<br />
Wenn etwa der Computer streikt, muss man<br />
sich natürlich sofort darum kümmern.<br />
Wie sollte ein solcher Tagesplan aussehen?<br />
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine, die ich favorisiere,<br />
ist die Pomodoro-Technik: Man teilt seinen Tag in<br />
Blöcke ein und konzentriert sich in jedem Block nur auf<br />
eine Aufgabe beziehungsweise<br />
eine Art von Aufgabe. Ein Block<br />
dauert 25 Minuten. Nach jedem<br />
Block gibt es fünf Minuten Pause.<br />
Nach vier Blöcken gibt es eine<br />
längere Pause von 30 Minuten.<br />
Hören Sie eine Sekunde vor 25 Minuten auf, dürfen Sie<br />
sich diesen Block nicht anrechnen. Das ist gut für die Selbstdisziplin.<br />
Täglich sollte man mindestens zwölf Einheiten<br />
schaffen, dann arbeitet man wirklich produktiv. Für die<br />
Selbstorganisation gibt es noch weitere hilfreiche Methoden.<br />
Aufgaben, die weniger als zwei Minuten in Anspruch<br />
nehmen, sollten Sie nicht aufschieben, sondern immer<br />
gleich erledigen, und im Mittagstief sollten Sie Ihre Mails<br />
beantworten, weil Sie dazu normalerweise nicht besonders<br />
fit sein müssen. Außerdem gilt: 98 Prozent aller E-Mails kann<br />
man ein paar Stunden verschieben. Wenn man für Mails<br />
ständig seine Arbeit unterbricht, erhöht man die Rüstkosten.<br />
Denn wenn man unterbrochen wird, muss man bereits<br />
geschriebene Absätze neu lesen, bevor man weiterarbeiten<br />
kann.<br />
Als Hundehalterin interessiere ich mich natürlich für<br />
Ihr achtes Gebot. Wie ist man schlauer als ein junger<br />
Jagdhund?<br />
Das ist nur eine Metapher. Jungen Jagdhunden sagt man<br />
nach, sie ließen sich leicht von der Fährte abbringen, weil<br />
sie allen möglichen Gerüchen nachjagen, die sie auf dem<br />
Weg antreffen. Die Buddhisten kennen dieses Phänomen<br />
schon lange und sprechen in diesem Zusammenhang vom<br />
„monkey mind“. Ihre Empfehlung: Meditationsübungen.<br />
Es gibt mittlerweile neurowissenschaftliche Befunde, die<br />
nahelegen, dass Meditation unsere Konzentrationsfähigkeit<br />
verbessern kann. Allerdings reicht das nicht. Sie müssen<br />
außerdem in der Lage sein, zu erkennen, was eine Ablenkung<br />
darstellt, wann Sie von der Fährte abkommen. Um<br />
das zu tun, müssen Sie wiederum eine klare Fragestellung<br />
haben, die Ihr Denken reguliert. Die bekommen sie nicht<br />
von Ihrem Zen-Lehrer. Dafür braucht es gesunden Menschenverstand.<br />
70<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Aber wie ist man nun schlauer als ein junger Jagdhund?<br />
Diese Frage haben Sie sich gerade selbst beantwortet.<br />
Inwiefern?<br />
Na, Sie haben gerade gezeigt, wie man vermeidet, von der<br />
Fragestellung abgelenkt zu werden. Sie haben daran erinnert, was<br />
Ihre Frage war und noch einmal bekräftigt, dass Sie gerne eine<br />
Antwort darauf hätten. Das ist der erste und wichtigste Schritt,<br />
den Sie tun müssen, um schlauer zu sein als ein junger Jagdhund.<br />
Wie sehen die weiteren Schritte aus?<br />
Sie sollten sich mit typischen Beispielen abschweifenden Denkens<br />
vertraut machen, damit Sie diese in Ihrer Praxis zuverlässig<br />
erkennen. Nehmen wir an, wir diskutieren über eine<br />
Frage. Sie bringen Ihre Argumente vor, ich bringe meine Argumente<br />
vor. Nehmen wir an, Sie haben bessere Argumente als<br />
ich und bringen mich ein wenig in die Bredouille. Deswegen<br />
setze ich zum Gegenangriff an und sage plötzlich: „Woher wollen<br />
Sie das denn wissen? Sie haben doch gar nicht die Qualifikation,<br />
um das beurteilen zu können!“ Wenn Sie auf diesen<br />
rhetorischen Trick hereinfallen und beginnen, mir Ihre Qualifikationen<br />
zu schildern, verhalten Sie sich wie ein junger Jagdhund.<br />
Sie folgen einer falschen Fährte und beginnen, mit mir<br />
über eine Frage zu diskutieren, um die es gar nicht ging – nämlich<br />
die Frage nach Ihrer Qualifikation. Diese Frage müssen Sie<br />
aber gar nicht beantworten, solange Ihre Argumente transparent<br />
und stichhaltig sind.<br />
Kann man gesunden Menschenverstand lernen oder ist<br />
er angeboren?<br />
Angeboren ist die Fähigkeit, aber man muss sie entwickeln,<br />
wenn sie einem wichtig ist. In dieser Hinsicht ist der gesunde<br />
Menschenverstand genau wie jede andere Fähigkeit auch. Wer<br />
etwa kein körperliches Handicap hat, besitzt die Fähigkeit zu<br />
laufen. Aber manche können schneller laufen als andere, weil<br />
sie es trainiert haben.<br />
Hat seit der Aufklärung der gesunde Menschenverstand<br />
eher zu- oder abgenommen?<br />
Das lässt sich pauschal nicht beantworten, aber generell bin<br />
ich optimistisch. Allerdings gibt es temporäre Rückschläge.<br />
Immer wenn wir es mit emotional aufgeladenen Debatten zu<br />
tun haben, steigt die Gefahr, dass die Menschen unvernünftig<br />
werden und beginnen, allen möglichen Unsinn zu glauben.<br />
Das konnte man zuletzt bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen<br />
und der Debatte um den Brexit beobachten. p<br />
Prof. Dr. Jutta Rump /S<br />
Silke Eilers (Hrsg.)<br />
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echer.
EVENT & SZENE SESSELWECHSEL<br />
Kienbaum holt Transformations- und Innovationsexperten<br />
Vom Evangelisten zum Officer<br />
Stephan Grabmeier wechselt zum 1. Januar 2<strong>01</strong>8 von der Haufe<br />
Gruppe zum Beratungsunternehmen Kienbaum. Als Chief<br />
Innovation Officer wird er dort die Digitalisierung vorantreiben.<br />
Foto: Haufe<br />
u <strong>Personalwirtschaft</strong>: Wir waren überrascht über die Meldung zu<br />
Ihrem bevorstehenden Wechsel. Nach drei Jahren als Chief Innovation<br />
Evangelist bei Haufe nun der Wechsel zu Kienbaum. Was reizt<br />
Sie an der neuen Ausgabe?<br />
Stephan Grabmeier: Mich reizt das breite Beratungsportfolio bei<br />
Kienbaum, was auf einer sehr starken Marke aufbaut. Zudem befindet<br />
sich Kienbaum in einem starken Wandel und hat mit Fabian<br />
Kienbaum einen überzeugenden Generationenwechsel eingeleitet.<br />
Innovation und Digitalisierung sind Themen, die Fabian Kienbaum<br />
bewusst für das Unternehmen voranbringen will. Diesen Weg kann<br />
ich mit meinen Kompetenzen begleiten.<br />
Ist Ihnen nach drei Jahren bei Haufe langweilig geworden?<br />
Nein, dazu ist auch bei Haufe viel in Bewegung. Wir haben Haufe-<br />
Umantis von einer Software- zu einer Transformationsfirma umgebaut.<br />
Dennoch liegt der Fokus dort auf Software, nicht auf HR-Beratung<br />
oder der Organisationsentwicklung. Da es meine Leidenschaft<br />
ist, die Innovationsthemen breiter zu betrachten, bietet Kienbaum<br />
für mich die spannendere Aufgabe und ein breiteres Portfolio, um für<br />
Kunden Lösungen zu designen.<br />
Wie sind Sie an den neuen Job gekommen?<br />
Kienbaum ist im Geschäftsfeld Executive Search sehr erfolgreich. Jetzt<br />
hat es gepasst.<br />
Sie waren bei Haufe Chief Innovation Evangelist, im neuen Jahr nennen<br />
Sie sich Chief Innovation Officer. Drückt das auch eine Veränderung<br />
der Job-Description aus?<br />
Der Begriff Evangelist ist über die letzten zehn Jahre sicherlich zu<br />
einem Markenzeichen von mir geworden. Die Zeiten des Evangelisierens<br />
sind aber vorbei, da die Wirtschaft mittlerweile einen gewissen<br />
digitalen Reifegrad erreicht hat. Jetzt wird gezielter investiert und<br />
umgesetzt. Ein weiteres Argument: Der Begriff Evangelist löst immer<br />
noch Irritationen aus. Er ist zwar vor über 20 Jahren im Tech-Umfeld<br />
entstanden, aber in der HR-Szene hat er sich nicht etabliert. Innovation<br />
Officer passt mittlerweile einfach besser.<br />
Konnten Sie diese Bezeichnung selber bestimmen?<br />
Das haben wir gemeinsam gemacht. Die Rolle ist neu geschaffen worden,<br />
weil es ein klares Commitment bei Kienbaum dazu gibt, in Innovationen<br />
zu investieren und so das Unternehmen noch erfolgreicher<br />
zu machen.<br />
Was werden Sie konkret tun?<br />
Ich habe zwei Aufgabenbereiche. Zum einen werde ich in die Innovationen<br />
des bestehenden Kienbaum-Portfolios eingebunden, um sie<br />
kontinuierlich zu verbessern. Das ist also die Innovationsrolle nach<br />
innen. Die Rolle nach außen besteht unter anderem darin, neue<br />
Geschäftsmodelle und Services zu entwickeln. Aber auch neue Partnerschaften<br />
und Beteiligungen wie auch ein Technologie-Scouting<br />
aufzubauen. Ich bin ebenfalls für die Investments in HR-Start-ups<br />
verantwortlich. Über die externen Innovationseinflüsse werde ich in<br />
einer Art Innovationsgarage die Kienbaum-Beratungsteams unterstützen,<br />
sich weiterzuentwickeln.<br />
Stichwort Kooperation. In der Pressemeldung stand, dass Kienbaum<br />
mit Haufe kooperiert. Sie werden also wieder mit Ihren alten<br />
Kollegen zusammenarbeiten können.<br />
Die Kooperation gab es vorher schon umgekehrt. Da wir komplementäre<br />
Portfolios haben, können wir die Kooperation sicherlich noch intensivieren.<br />
Haufe hat die Softwarekompetenz im Bereich Talent Management,<br />
Kienbaum hat die Beratungsexpertise.<br />
Wie groß ist die Freude, wieder ins Rheinland zu kommen?<br />
Ich freue mich sehr darauf, privat wieder nach Bonn zu ziehen. In dieser<br />
Stadt habe ich bereits während meiner Telekom-Zeit sechs Jahre<br />
gelebt. Und ich freue mich auch auf das Kölner Büro. Hier, wie auch<br />
an den meisten anderen Standorten, hat Kienbaum sein New-Work-<br />
Konzept überzeugend umgesetzt.<br />
Haben Sie ein Team, das Sie unterstützt?<br />
Ich übernehme das Kienbaum-Digital-Team und werde es um einige<br />
Mitarbeiter und Skills erweitern.<br />
Der Blick auf Ihren Lebenslauf zeigt, dass Sie in unterschiedlichen<br />
Rollen unterwegs waren: als Unternehmer, Berater, Angestellter. Ist<br />
das typisch für einen New Worker?<br />
Ich bin ein Mensch, der sehr viele Freiheiten braucht und in Anspruch<br />
nimmt. Und grundsätzlich ist mir im Job die Aufgabe wichtiger als<br />
der Vertrag. Glücklicherweise habe ich bislang immer die dazu passenden<br />
Arbeitsformen gefunden. Die Erfahrungen bei der Telekom<br />
oder bei Haufe zeigen: Auch als Angestellter konnte ich meine Rebellen-<br />
und Evangelistenrolle ausleben. Und ich bin mir sicher, dass ich<br />
bei Kienbaum den gewünschten Freiraum erhalte, um innovativ für<br />
das Unternehmen und Kunden wirken zu können. (sti) p<br />
72<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Von Unitymedia zu Computacenter<br />
„Wir müssen unsere Kollegen<br />
auf unserem Weg mitnehmen“<br />
Seit einem Vierteljahr ist Karl-Heinz Reitz Geschäftsführer und<br />
Director Human Resources bei Computacenter in Deutschland. Wir<br />
haben nachgefragt, welche Schwerpunkte seine Personalarbeit dort hat.<br />
Foto: Computacenter AG & Co. oHG<br />
u <strong>Personalwirtschaft</strong>: Herr Reitz, warum<br />
sind Sie zu Computacenter gewechselt? Was<br />
hat Sie dort in den ersten Wochen erwartet?<br />
Karl-Heinz Reitz: Computacenter ist einer der<br />
führenden IT-Dienstleister in Europa. Zudem<br />
sind wir ein Hidden Champion unter den<br />
Arbeitgebern. Das Unternehmen wächst seit<br />
Jahren und bietet seinen Mitarbeitern Perspektiven<br />
und Spielraum, Neues zu gestalten.<br />
Besonders beeindruckt haben mich aber<br />
die Willkommenkultur und die tolle Aufnahme<br />
durch meine Kollegen.<br />
Welche Schwerpunkte sehen Sie bezüglich<br />
der Personalarbeit bei Computacenter in<br />
den kommenden Monaten?<br />
Ich gehe offen in den Austausch mit meinem<br />
Team und den Kollegen aus den Businessbereichen.<br />
Dabei lerne ich jeden Tag dazu, was<br />
es braucht, um unser Geschäft weiterhin<br />
nachhaltig für unsere Kunden zu optimieren.<br />
Der Fachkräftemangel geht auch nicht an<br />
der IT-Branche vorbei. Um weiterhin wachsen<br />
zu können, benötigen wir Mitarbeiter in<br />
den unterschiedlichsten Bereichen. Diese für<br />
uns zu gewinnen und Talente auf Dauer zu<br />
binden, wird eine unserer wichtigsten Aufgaben<br />
sein – auch auf lange Sicht. Dazu suche<br />
ich eine enge Zusammenarbeit mit unseren<br />
Sozialpartnern und beschäftige mich intensiv<br />
mit den Themen Leadership und Kultur.<br />
Als eines Ihrer wichtigsten Ziele nennen Sie<br />
auch die Förderung von Diversität. Warum,<br />
und wie wollen Sie dies angehen?<br />
Eingebettet in eine Kultur von Respekt und<br />
Vertrauen kann Unterschiedlichkeit zu besseren<br />
und kreativeren Lösungen führen. Dazu<br />
gehören eine grundsätzliche Offenheit für<br />
neue Ideen und der Mut zum Dialog auf<br />
Augenhöhe. Das ist weder einfach noch konfliktfrei.<br />
Wenn wir aber Diversität und Inklusion<br />
nicht aktiv fördern, verschenken wir<br />
Potenziale. Die Kernfrage lautet: Wie können<br />
wir unsere offene Kultur weiter entwickeln<br />
und noch mehr nach außen tragen?<br />
Veränderungen setzen sich in der IT-Branche<br />
meist besonders schnell durch, werden<br />
oft sogar von ihr angestoßen. Welche besonderen<br />
Herausforderungen stellt das an die<br />
Personalarbeit in einem IT-Unternehmen?<br />
Auch in der IT-Branche gilt: Wir arbeiten<br />
mit Menschen. Selbst wenn eine hohe Technologie-Affinität<br />
gegeben ist, müssen wir<br />
unsere Kollegen auf unserem Weg mitnehmen.<br />
Dazu gehört nicht nur, ihnen Hintergründe<br />
und Entscheidungen zu erklären und<br />
ihr Feedback ernst zu nehmen. Sondern auch,<br />
früher in den Dialog einzusteigen und sie an<br />
der Gestaltung unserer Zukunft zu beteiligen.<br />
Damit geht ein Verständnis von Wandel einher,<br />
der nicht mehr top-down geplant funktioniert.<br />
Daher liegt mein Fokus auf der Arbeit<br />
mit meinem Team. Wir müssen uns fit<br />
machen, damit wir im Unternehmen die richtigen<br />
Lösungen unterstützen können und<br />
unser eigenes Wirken den agilen Prämissen<br />
folgen kann. (ds)<br />
p<br />
Das ausführliche Interview mit Karl-Heinz Reitz<br />
lesen Sie auf www.personalwirtschaft.de<br />
in der Rubrik „Der Job HR>Szene“.<br />
Erstmals unter den 40 führenden HR-Köpfen: <strong>Personalwirtschaft</strong>-Fachbeirätin<br />
Ursula Schütze-Kreilkamp<br />
40 führende HR-Köpfe ausgezeichnet<br />
Antreiber der Personalfunktion<br />
u Bereits zum achten Mal hat das „Personalmagazin“<br />
die „40 führenden Köpfe des<br />
Personalwesens“ gekürt – eine Auszeichnung,<br />
die alle zwei Jahre für Aufsehen in<br />
der Szene sorgt. HR-Manager, -Wissenschaftler<br />
und -Berater werden von der<br />
Redaktion nach ihrem Wirkungsgrad,<br />
ihrer Präsenz und Innovationskraft beurteilt:<br />
ein subjektives „Who’s hot, who’s not?“<br />
der HR-Landschaft.<br />
Besonders unter den Managerinnen gab es<br />
seit 2<strong>01</strong>5 Bewegung. So rückte etwa Contentinal-Vorständin<br />
Ariane Reinhart ins<br />
Tableau; wenige Tage später wurde sie<br />
zudem zur Vorstandsvorsitzenden der<br />
DGFP gewählt. Sie geht nun mit deutlich<br />
veränderter Strahlkraft ins Jahr 2<strong>01</strong>8. Auch<br />
Zalando-Personalchefin Frauke von Polier,<br />
2<strong>01</strong>7 auffällig präsent in Medien und auf<br />
Veranstaltungen, krönt das Jahr mit dem<br />
Einzug in die Top 40. Dort repräsentiert<br />
sie die Fraktion der Start-ups und Digitalunternehmen.<br />
Für die Redaktion der „<strong>Personalwirtschaft</strong>“<br />
besonders erfreulich: Unsere Beirätin Dr.<br />
Ursula Schütze-Kreilkamp, Leiterin Führungskräfteentwicklung<br />
bei der Deutschen<br />
Bahn, findet sich nun ebenfalls unter den<br />
„40 Köpfen“. Seit vielen Jahren ist sie eine<br />
wichtige Stimme in HR, seit zwei Jahren<br />
auch in unserem Fachbeirat (siehe Impressum,<br />
Seite 81). Damit sind alle unserer<br />
neun Beiratsmitglieder im Laufe ihrer Karriere<br />
unter die „40 führenden Köpfe des<br />
Personalwesens“ gewählt worden. Ein Ausweis<br />
der Expertise – von Fachredaktion<br />
zu Fachredaktion. Wir gratulieren allen<br />
Ausgezeichneten! (cl)<br />
p<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 73
EVENT & SZENE BÜCHER IM PRAXISTEST<br />
Innovationskultur der Zukunft<br />
Theoretische Ansätze werden praxisnah<br />
Florian Rustler vertritt in seinem Buch die Ansicht, dass die Digitalisierung agile Strukturen<br />
in Unternehmen erfordert. Ob das Buch auch an Agilität interessierten HR-Praktikern aus größeren<br />
Unternehmen helfen kann, hat Signe Wüstefeld von der DB Vertrieb für uns getestet.<br />
Florian Rustler:<br />
Innovationskultur der Zukunft:<br />
Wie selbstorganisierte<br />
agile Unternehmen die<br />
Digitalisierung meistern,<br />
Midas Management 2<strong>01</strong>7,<br />
288 Seiten, 29,90 Euro<br />
Macht das Buch mit seiner Aufmachung, Haptik<br />
und visuellen Gestaltung Spaß?<br />
Das Buch ist schlicht gestaltet und klar strukturiert.<br />
Durch Schaubilder werden Inhalte und Zusammenhänge<br />
gut visualisiert. Das Format und die Qualität des<br />
Papiers sind angenehm. Besonders praktisch fand ich,<br />
dass in der Kopfzeile der Titel des jeweiligen Abschnittes<br />
vermerkt ist, was mir insbesondere nach Lesepausen<br />
geholfen hat, den roten Faden zu behalten. Kurz:<br />
Die Gestaltung ist ansprechend.<br />
Ist die Gliederung schlüssig?<br />
Ich empfand die Gliederung, den Aufbau des Buches<br />
als sehr logisch. Der Autor verschafft zunächst einen<br />
theoretischen Überblick über die Entwicklung menschlicher<br />
Organisationsformen, die Prinzipien von Selbstorganisation<br />
und Aspekte von Innovation, um diese<br />
dann anhand von Fallstudien zu verdeutlichen. Auf<br />
Basis der Erkenntnisse aus den Fallstudien zeigt er dann<br />
auf, wie ein Transformationsprozess begleitet werden<br />
kann, und nennt konkrete Werkzeuge selbstorganisierter<br />
Unternehmen.<br />
man ein Grundverständnis von agilen Organisationen<br />
und Modellen wie Holacracy und Sociocracy mitbringt.<br />
Die zwölf Fallstudien legen ihren Schwerpunkt jeweils<br />
auf unterschiedliche Aspekte der Selbstorganisation.<br />
Hier kann sich der Leser auf Basis der Gliederung leicht<br />
einzelne Fallstudien herauspicken.<br />
Ist das Buch gut verständlich und haben Sie es<br />
gerne gelesen?<br />
Der Autor nimmt Bezug auf einige Standardwerke<br />
wie „Reinventing Organizations“ von Laloux (2<strong>01</strong>5)<br />
oder „Holacracy“ von Robertson (2<strong>01</strong>5) und geht hier<br />
durchaus in einen theoretischen Diskurs. Wer diese<br />
Werke nicht gelesen hat, oder sich nicht intensiver<br />
mit den Theorien rund um agile Organisationsformen<br />
befasst hat, wird den ersten Teil des Buches möglicherweise<br />
nicht ganz so flüssig lesen. Der Autor<br />
unterstützt aber auch gerade hier durch eine klare<br />
Struktur, die einem die Einordnung in den Gesamtkontext<br />
erleichtert. Gut verständlich sind die prägnant<br />
beschriebenen Kriterien und Werkzeuge im letzten<br />
Teil des Buches.<br />
Ist es möglich, mittendrin einzusteigen und gegebenenfalls<br />
einzelne Aspekte herauszuziehen, oder<br />
muss man das Buch von vorne bis hinten lesen, um<br />
etwas damit anfangen zu können?<br />
Wenngleich die einzelnen Abschnitte aufeinander aufbauen,<br />
ist es durchaus möglich, sich auf einzelne Teile<br />
zu konzentrieren. Voraussetzung ist sicherlich, dass<br />
Welche Elemente haben das Buch praxisorientiert<br />
gemacht? Hat Ihnen etwas gefehlt?<br />
Durch die vielen konkreten Beispiele und Fallstudien<br />
werden die theoretischen Ansätze verdeutlicht und operationalisiert.<br />
Geholfen hat mir, dass der Autor Hindernisse,<br />
Risiken und Misserfolge konkret benennt. So<br />
bekommt man als Leser ein klares Bild, welche Ansätze<br />
74<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
BUCH-TIPPS<br />
HR-Trends 2<strong>01</strong>8<br />
Seit 1990 bringt das Herausgeber-<br />
Duo Schwuchow und Gutmann<br />
ein jährliches Kompendium über<br />
Zukunftsstrategien in HR auf den<br />
Markt. In 39 Best-Practice-Beiträgen<br />
von Vordenkern aus Wissenschaft<br />
und Unternehmen werden<br />
Trends praxisnah vorgestellt.<br />
Neben diesen liefert das über 450 Seiten starke<br />
Werk Literaturtipps, Internetlinks und weiterführende<br />
Studien, die der Leser downloaden kann. Ein<br />
Standardwerk für Personaler – beim Preis gilt es, ein<br />
Auge zuzudrücken.<br />
Karlheinz Schwuchow/Joachim Gutmann (Hrsg.): HR-Trends 2<strong>01</strong>8.<br />
Strategie, Kultur, Innovation. Konzepte, Haufe 2<strong>01</strong>7, 99 Euro<br />
Foto: privat<br />
GASTREZENSENTIN<br />
Signe Wüstefeld ist HR Business Partner Regionalvertrieb<br />
(Agile HR Vertrieb) bei der DB Vertrieb GmbH.<br />
in welchem Kontext überhaupt Erfolg versprechend sein können. Ich persönlich<br />
hätte mir noch ein paar mehr Werkzeuge und Tipps für den Transformationsprozess<br />
hin zur Selbstorganisation gewünscht.<br />
In welchen Bereichen Ihrer täglichen Arbeit kann Ihnen das Buch<br />
ganz konkret nutzen?<br />
Das Buch legt den Schwerpunkt auf den Aspekt der Selbstorganisation in Unternehmen<br />
mit agilen Strukturen. Da ich mich derzeit in meinem beruflichen Kontext<br />
intensiv mit agilen Methoden wie Scrum oder Kanban beschäftige, war das<br />
Buch eine wertvolle Ergänzung. Insbesondere die Inhalte zu den Bewusstseinsleveln<br />
haben mir einen Impuls gegeben und meinen Blickwinkel erweitert.<br />
Fühlen Sie sich nach der Lektüre des Buches gut genug informiert,<br />
um sich des Themas anzunehmen?<br />
Das Buch beschreibt die Grundzüge agiler Organisationen und schafft eine Sensibilität<br />
für die erforderliche Haltung und die notwendigen Voraussetzungen,<br />
um erfolgreich in einer solchen Struktur arbeiten zu können. Darauf aufbauend<br />
braucht es aus meiner Sicht eine intensivere Betrachtung möglicher Methoden,<br />
um einen Transformationsprozess einzuleiten und zu begleiten. Insbesondere<br />
die Frage, wie ein größeres, derzeit noch klassisch hierarchisch<br />
organisiertes Unternehmen in einen solchen Prozess einsteigen kann, kommt<br />
mir persönlich zu kurz.<br />
Abschließendes Fazit: Löst das Buch sein Nutzenversprechen, zu zeigen,<br />
„was Entscheider und Praktiker in Organisationen aller Größen und Branchen<br />
lernen können“ aus dem Klappentext ein und würden Sie es weiterempfehlen?<br />
Das Buch beschreibt eindrucksvoll das Prinzip der Selbstorganisation und<br />
verdeutlicht die Möglichkeiten seiner Anwendung anhand von konkreten Fallstudien.<br />
Mir hat es damit wertvolle Impulse gegeben, von denen ich sicherlich<br />
einige in meine tägliche Arbeit mitnehmen werde.<br />
Trust-based Leadership – Führen durch Vertrauen<br />
Der Trainer und Coach Martin<br />
Schmiedel bricht hier eine Lanze<br />
für die wichtigste Grundlage in<br />
der Beziehung zwischen Führungskraft<br />
und Mitarbeiter: das<br />
Vertrauen. Eigentlich selbstverständlich,<br />
doch zeigt die Realität<br />
häufig ein anderes Bild und deshalb<br />
ist das Thema so wichtig.<br />
Wissenschaftlich fundiert, mit<br />
zahlreichen Grafiken, Checklisten und Beispielen<br />
aus der Praxis ist es ein Buch für jede Führungskraft,<br />
die sich tief in das Thema einlesen und ein<br />
vertrauensvolles Miteinander aufbauen möchte.<br />
Martin Schmiedel: Trust-based Leadership – Führen durch Vertrauen.<br />
Erfolgreiche und leidenschaftliche Mitarbeiter durch Integrität und<br />
Wertschätzung, Springer Gabler 2<strong>01</strong>7, 29,99 Euro<br />
Das Peripetie-Prinzip<br />
Ein Manager, ein Regisseur und<br />
ein Konzerthausintendant – das<br />
sind die Autoren. Nebenbei sind<br />
sie auch noch Brüder. Das an sich<br />
macht das Buch schon interessant.<br />
Hinzu kommt der nicht wirklich<br />
gängige Begriff „Peripetie“ im<br />
Titel, der aus der Theaterwelt<br />
stammt und einen plötzlichen Wandel beschreibt.<br />
Auf das Business bezogen bedeutet das, eine<br />
Führungskraft möchte und sollte etwas bewegen.<br />
Das Autorenteam zeigt anhand von Methoden aus<br />
Theater, Musik und Management kurzweilig, worauf<br />
die Kunst der wirksamen Führung beruht.<br />
Raphael von Hoensbroech/Severin von Hoensbroech/Alexis von<br />
Hoensbroech: Das Peripetie-Prinzip. Die Kunst wirksamer Führung,<br />
Murmann 2<strong>01</strong>7, 24,90 Euro<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 75
STELLENMARKT<br />
76<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 77
STELLENMARKT<br />
78<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser.<br />
3. Deutscher Arbeitsrechtstag<br />
Transparente Unternehmen, transparente Belegschaften<br />
– Möglichkeiten und Grenzen des betrieblichen Compliance-<br />
Managements<br />
vom 17. bis 19. Januar 2<strong>01</strong>8 im Maritim Hotel<br />
Diskussionsforum<br />
Dieser Kongress richtet sich an alle im Arbeitsrecht Tätigen, insbesondere Rechtsanwälte, Richter, Parlamentarier,<br />
Vertreter der Ministerien, Hochschullehrer, Unternehmens- und Verbandsjuristen, sowie – aufgrund<br />
der behandelten Schnittstellen – auch an alle mit Datenschutz, Compliance oder Internal Investigations<br />
befassten Personen ohne genuin arbeitsrechtlichen Schwerpunkt.<br />
Mittwoch, 17. Januar 2<strong>01</strong>8<br />
Termin Mittwoch, 17. Januar 2<strong>01</strong>8, 19.30<br />
Uhr bis Freitag, 19. Januar 2<strong>01</strong>8, 13.30 Uhr<br />
(insgesamt 11,25 Vortragsstunden)<br />
FAO-Bescheinigung gem. § 15 FAO über<br />
11,25 Stunden wird erteilt!<br />
Tagungsort<br />
Maritim Hotel Berlin<br />
Stauffenbergstraße 26<br />
10785 Berlin<br />
Gebühr<br />
395,- EUR Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft<br />
Arbeitsrecht/FORUM Junge<br />
Anwaltschaft<br />
495,- EUR Mitglieder DAV<br />
595,- EUR Nichtmitglieder<br />
USt. frei nach § 4 Nr. 22 a) UStG<br />
Rahmenprogramm<br />
Begrüßungsempfang im Hotel Maritim<br />
Berlin (17. Januar 2<strong>01</strong>8)<br />
25,- EUR inkl. 19 % MwSt. pro Person<br />
(inkl. Getränke)<br />
Abendveranstaltung im Hotel Maritim Berlin<br />
(18. Januar 2<strong>01</strong>8)<br />
75,- EUR inkl. 19 % MwSt. pro Person (inkl.<br />
Getränke)<br />
mM<br />
NZA<br />
Neue Zeitschrift für<br />
Arbeitsrecht<br />
19.30 Uhr Begrüßungsempfang zum 3. Deutschen Arbeitsrechtstag im Tagungshotel<br />
DAV-Vizepräsident Dr. Friedwald Lübbert<br />
Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan Lunk, Vorsitzender des Arbeitsrechtsausschusses des DAV<br />
Donnerstag, 18. Januar 2<strong>01</strong>8<br />
09.15 Uhr Eröffnung<br />
Rechtsanwalt Dr. Johannes Schipp, Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der<br />
Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht im DAV<br />
09.30 Uhr Grußwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales<br />
Annette Kramme, Parlamentarische Staatssekretärin, MdB<br />
09.45 Uhr Eröffnungsvortrag<br />
Prof. Dr. Claudia Schubert, Ruhr-Universität Bochum<br />
10.15 Uhr Vorstellung der Panels<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Universität zu Köln<br />
10.30 Uhr Panel I: Informationsbedarf vs. Persönlichkeitsschutz<br />
• Impulsreferate: Dr. Ruth Schorn, Head of Corporate Compliance, KION Group;<br />
Prof. Dr. Peter Wedde, Universität Frankfurt am Main<br />
• Diskussionsbeiträge: Stephanie Rachor, Richterin am Bundesarbeitsgericht;<br />
Dr. Barbara Reinhard, Rechtsanwältin, KLIEMT.Arbeitsrecht;<br />
n.n., Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales<br />
• Moderation: Prof. Dr. Björn Gaul, Rechtsanwalt, CMS Hasche Sigle<br />
11.30 Uhr Kaffeepause<br />
12.00 Uhr Diskussion Panel I<br />
14.00 Uhr Mittagspause<br />
15.00 Uhr Panel II: Internal Investigations<br />
• Impulsreferate: Hanns W. Feigen, Rechtsanwalt, Feigen Graf;<br />
Dr. Katrin Haußmann, Rechtsanwältin, Gleiss Lutz<br />
• Diskussionsbeiträge: Michael Bartl, Betriebsrat Konzernleitung Deutsche Bahn AG;<br />
Dr. Elke Eller, Vorstand Bundesverband der Personalmanager; Christoph Tillmanns,<br />
Vorsitzender des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit<br />
• Moderation: Prof. Dr. Stefan Lunk, Rechtsanwalt, Latham & Watkins LLP<br />
16.00 Uhr Kaffeepause<br />
16.30 Uhr Diskussion Panel II<br />
18.30 Uhr Ende des ersten Veranstaltungstages<br />
19.30 Uhr Abendveranstaltung im Tagungshotel<br />
Dinnerspeech: Prof. Klaus Bepler, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a.D.<br />
Freitag, 19. Januar 2<strong>01</strong>8<br />
09.00 Uhr Panel III: Arbeitsrechtliche Gestaltungsinstrumente<br />
• Impulsreferate: Holger Dahl, roland lukas Konfl iktlösungen;<br />
Helga Nielebock, Leiterin der Abteilung Recht, DGB<br />
• Diskussionsbeiträge: Dr. Boris Dzida, Rechtsanwalt, Freshfi elds Bruckhaus Deringer;<br />
Dr. Helmut Nause, Präsident des Arbeitsgerichtsverbandes;<br />
Dr. Jyn Schultze-Melling, Rechtsanwalt, Ernst & Young Law;<br />
• Moderation: Dr. Doris-Maria Schuster, Rechtsanwältin, Gleiss Lutz<br />
10.00 Uhr Kaffeepause<br />
10.30 Uhr Diskussion Panel III<br />
12.30 Uhr Gesamtberichterstattung<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Universität zu Köln<br />
13.30 Uhr Ende der Veranstaltung<br />
Information und Anmeldung:<br />
Philipp Arndt<br />
arndt@anwaltakademie.de<br />
Fon 030 / 726153-181<br />
Anwalt der Anwälte<br />
Die Onlineanmeldung fi nden Sie unter:<br />
https://www.anwaltakademie.de/anmeldung/3-deutscher-arbeitsrechtstag<br />
Unter Mitwirkung des<br />
Bundesministeriums<br />
für Arbeit und Soziales
HR BUZZWORD BINGO<br />
Der Spion, der aus HR kam<br />
Hat Ihr Vorstand einen Schatten? Dann treiben Sie in HR wohl auch doppeltes Spiel. Wie die<br />
unauffälligste Abteilung des Unternehmens zum Secret Service wurde: ein Exklusivbericht zur<br />
Geheimoperation „Shadowing“.<br />
VON WIEBKE JOESTER (nach Diktat verreist)<br />
u Psst …! Nicht weitersagen. Und nur im Flüsterton lesen, bitte.<br />
Denn heute berichten wir exklusiv und hochbrisant von einem<br />
Top-Secret-Projekt der weltweiten HR-Gemeinde. Natürlich sind<br />
wir sehr stolz darauf, unseren Lesern dieses unerhörte Material<br />
anbieten zu können. Und das noch vor dem umtriebigen Rechercheverbund<br />
von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung!<br />
Die Rede ist von ausgefuchsten Spionagetätigkeiten. Oftmals unter<br />
den Codenamen „Job Shadowing“ oder „Work Shadowing“ schleust<br />
HR seine Spitzel weltweit in die oberen Etagen ein. Getarnt ist diese<br />
internationale Beschattungsaktion als<br />
Weiterbildungs- oder Coachingmaßnahme.<br />
Hatte der einfache Bürger die Hoffnung<br />
bereits aufgegeben, dass unlautere Machenschaften<br />
in Unternehmen jemals aufgedeckt<br />
werden, korrupten Managern und maßlosen<br />
Vorstandsmitgliedern das Handwerk<br />
gelegt und Wahrheit und Gerechtigkeit Genüge<br />
getan wird, ist HR nun also angetreten,<br />
um solcherart Schattenmoral ans gleißende<br />
Licht der Leuchtstoffröhren zu zerren. Der<br />
Zeitpunkt dafür scheint wohlgewählt, die<br />
Gesellschaft reif für die Mission. Das zeigt<br />
nicht zuletzt der seltene Publikumserfolg<br />
eines Dokumentarstreifens. „Stromberg –<br />
Der Film“ beleuchtete aufrüttelnd die Abgründe<br />
des Vorstands einer großen Versicherungsgesellschaft und<br />
spielte damit zweistellige Millionenbeträge ein. Wer hätte gedacht,<br />
dass es dieses Thema einmal auf die große Leinwand schaffen würde?<br />
Und eben offensichtlich auch auf die 27-Zoll-Bildschirme des Personalwesens.<br />
Ob es sich um eine konzertierte Geheimoperation<br />
von HR-, Marketing- und Compliance-Abteilungen handelt, lässt<br />
sich zum aktuellen Stand der Nachforschungen noch nicht sagen.<br />
Aber die Raffinesse, mit der Personalabteilungen weltweit verdeckt<br />
zu Werke gehen, ist verblüffend. Denn wofür Robert Redford<br />
alias Condor noch drei volle Tage brauchte, das erreichen die<br />
HR-Agenten in einem einzelnen Arbeitstag.<br />
Die Legenden der Spione ähneln sich: Meist weisen sie sich als interessierter<br />
Nachwuchs aus, der sich ein Bild vom Arbeitsalltag der Vor-<br />
stände oder anderer höher positionierter Mitarbeiter machen möchte,<br />
um von diesen zu lernen und sich motivieren zu lassen, in die großen<br />
Fußstapfen zu treten. Laut unseren Informationen funktioniert<br />
das einwandfrei: Die Zielpersonen stellen nicht infrage, warum ein<br />
Mensch einen Tag lang ein Schatten ihrer selbst sein sollte.<br />
Bei der Recherche stießen wir auf weitere Konstellationen. So hieß<br />
es aus gut informierten Kreisen, auch externe Agenten würden in<br />
Unternehmen eingeschleust – dann in der Tarnung als sogenannter<br />
„Coach“. Bisweilen sollen zudem gestandene Mitarbeiter auf<br />
junge Kollegen angesetzt werden, um diese<br />
bei der Arbeit zu überwachen. Die Losung<br />
hier: „Erfahrungen weitergeben“. Noch ist<br />
jedoch nicht abschließend zu beurteilen,<br />
ob es sich dabei um gezielte Irreführungen<br />
handelt, die von der eigentlichen Opera -<br />
tion Shadowing ablenken sollen.<br />
Diese wiederum gilt als hocheffizient. Schon<br />
so manchem Goldlangfinger und Dr. No-<br />
Go sei der Zugang zum vermeintlichen<br />
Casino Royale der Firmengelder endgültig<br />
versperrt worden, wissen wir aus sicheren<br />
Quellen – die verständlicherweise anonym<br />
bleiben wollen. Die meisten dieser Insider<br />
sind Aussteiger im Zeugenschutz, getarnt als<br />
Fachkräfte. Und hier zeigt sich die doppelbödige<br />
zentrale Intelligenz dieser HR-Operation: Indem sie High<br />
Potentials als Special Agent anheuern, tragen die Personaler dem<br />
Wunsch der jungen Bewerbergenerationen nach Compliance,<br />
Gerechtigkeit und moralischem Unternehmertum Rechnung. Die<br />
sie dann durch das Zeugenschutzprogramm mit einer Übernahmequote<br />
von nahezu 100 Prozent langfristig ans Unternehmen binden<br />
– ein brillanter Recruiting-Coup! Die wenigen Abtrünnigen werden<br />
als Mitwisser eliminiert. Damit stehen sie dem Unternehmen<br />
zwar nicht mehr zur Verfügung, können aber auch nicht zur Konkurrenz<br />
abwandern.<br />
Ach ja, eliminieren. Sie haben diesen Beitrag bis zu Ende verfolgt?<br />
Dann gehören Sie jetzt leider ebenfalls zum gefährdeten Personenkreis.<br />
Zu Ihrem eigenen Schutz sollten Sie diese Seite unverzüglich<br />
herausreißen und aufessen. Sicher ist sicher.<br />
p<br />
80<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
VORSCHAU<br />
IMPRESSUM<br />
VERLAG UND REDAKTION<br />
Wolters Kluwer Deutschland GmbH, Luxemburger Straße 449, 50939<br />
Köln, Telefon: 0221/94373-7311, Fax: 0221/94373-7292, E-Mail:<br />
personalwirtschaft@wolterskluwer.com, www.personalwirtschaft.de<br />
HERAUSGEBER<br />
Jürgen Scholl, Erwin Stickling (sti)<br />
CHEFREDAKTEUR<br />
Cliff Lehnen (cl)<br />
REDAKTION<br />
Christoph Bertram (cb), Sven Frost (sff), Elke Schwuchow (es)<br />
KORREKTORAT UND SCHLUSSREDAKTION<br />
Harriet Gehring, Konstantin Schnettler<br />
FREIE MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />
Kai Felmy, Winfried Gertz, Wiebke Joester (wj), Ulli Pesch (up),<br />
David Schahinian (ds), Christiane Siemann (cs), Barbara Sommerhoff<br />
BEIRAT<br />
Roland Hehn, Heraeus; Professor Dr. Wolfgang Jäger, Hochschule<br />
RheinMain; Rudolf Kast, Die Personalmanufaktur; Isabell Krone,<br />
i-Restart; Professor Dr. Gunther Olesch, Phoenix Contact; Thomas<br />
Sattelberger, Publizist und Politiker; Professor Dr. Christian Scholz,<br />
Universität Saarbrücken; Dr. Ursula Schütze-Kreilkamp, DB Mobility<br />
Logistics; Professor Dr. Dirk Sliwka, Universität zu Köln<br />
ABONNEMENT UND EINZELVERKAUF<br />
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Telefon: 02631/8<strong>01</strong>-2222, Fax: 02631/8<strong>01</strong>-2223<br />
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Erscheinungsweise: 12-mal jährlich, 44. Jahrgang 2<strong>01</strong>7<br />
Bezugspreis: Standard-Abo jährlich 189,90 €, Halbjahres-Abo 99,80 €,<br />
Einzelpreis 17,50 €. Für Studierende und Auszubildende jährlich 49,95 €.<br />
Alle Preise zzgl. Versand. Auslandsabonnement auf Anfrage.<br />
ARCHIV<br />
Fachbeiträge aus bereits erschienenen Ausgaben sind verfügbar unter<br />
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Geschäftsführer: Martina Bruder, Michael Gloss, Christian Lindemann,<br />
Adrianus Gerardus Verhoef, Ralph Vonderstein, Stephanie Walter<br />
Handelsregister beim Amtsgericht Köln: HRB 58843<br />
Umsatzsteuer-ID-Nummer: DE 188836808<br />
Zur außergerichtlichen Beilegung von verbraucherrechtlichen<br />
Streitigkeiten hat die Europäische Union eine Online-Plattform<br />
(„OS-Plattform“) eingerichtet, die Sie unter<br />
ec.europa.eu/consumers/odr/ erreichen.<br />
BEILAGENHINWEIS<br />
Mit dieser Ausgabe verteilen wir Beilagen der Haufe Akademie und der<br />
DAPR GmbH. Wir bitten freundlich um Beachtung.<br />
PERSONALWIRTSCHAFT 02_2<strong>01</strong>8<br />
Unsere Topthemen im Februar<br />
TITEL Jobausflüge<br />
Lasst die Talente frei<br />
Konfuzius sagt: „Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir –<br />
für immer.“ Wir wollen mal nicht zu pathetisch sein, dennoch tun Unternehmen<br />
gut daran, Mitarbeitern die Möglichkeit zu bieten auch mal<br />
woanders zu schnuppern. Auch auf die Gefahr hin, dass sie dann gehen.<br />
Was bringen Jobbaticals, Jobswaps, Social Sabbaticals und ähnliche Jobausflüge<br />
dem Unternehmen?<br />
SPECIAL HR Analytics<br />
Daten, die begeistern<br />
Immer mehr HR-Abteilungen beschäftigen sich mit der strukturierten<br />
Erfassung und Aufbereitung von Personal- und Kandidatendaten. Das<br />
Potenzial eines datenbasierten HR-Managements ist immens. Doch<br />
der Weg zu einem schicken Dashboard ist im Zweifel kürzer als der zu<br />
aussagekräftigen Datensätzen. Wir sprechen mit Datenexperten und<br />
stellen Lösungen von Unternehmen vor, die bereits erfolgreich auf People<br />
Analytics setzen.<br />
RECHT & POLITIK<br />
28-Stunden-Woche<br />
Arbeitsmarktpolitische Zäsur?<br />
Die IG Metall fordert neben 6 Prozent mehr Lohn auch die Einführung<br />
der 28-Stunden-Woche. Wie reagieren Personaler auf diesen Vorstoß:<br />
Erkennen sie darin einen innovativen Impuls für mehr Flexibilität im<br />
Interesse der Beschäftigten? Oder sehen sich veranlasst, die gewerkschaftliche<br />
Zuspitzung mit der Androhung von Streiks zum Anlass zu nehmen,<br />
ihre Unternehmen zur Tarifflucht aufzufordern?<br />
Die nächste Ausgabe der <strong>Personalwirtschaft</strong><br />
erscheint am 31. Januar 2<strong>01</strong>8.<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8 81
BLICK VON AUSSEN<br />
Kennzahlen wie giftige Pilze<br />
Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass HR-Kennzahlen hilfreich sein können.<br />
Aber Personaler dürfen sich nicht hinter den Zahlen verstecken.<br />
VON PETER KREUZ<br />
u „Miss es oder vergiss es!“, sagt der Meister zum<br />
Lehrling. „Was du nicht messen kannst, kannst<br />
du nicht lenken“, sagt Management-Guru Peter<br />
Drucker. „Was man messen kann, das existiert“,<br />
sagt Max Planck.<br />
Also wird in Unternehmen gemessen, was messbar<br />
ist – und was nicht messbar ist, wird messbar<br />
gemacht. Wie giftige Pilze überwuchern die Kennzahlen<br />
jeden Winkel des Unternehmens und<br />
erzeugen die Illusion der Kontrolle. Im Personalwesen<br />
beispielsweise werden Kennzahlen erdacht<br />
wie die Know-how-Träger-Quote, die Quote der<br />
Mitarbeiterentwicklungsvereinbarungen, die<br />
Anzahl der eingereichten Verbesserungsvorschläge<br />
je Mitarbeiter, die Entsendungs- und<br />
Rückkehrquote oder die Fluktuationsrate.<br />
Man kann all das bis zur letzten Kommastelle rechnen, in mannigfaltigen<br />
Korrelationen, Medianen oder Standardabweichungen<br />
abbilden und tagesaktuell aufbereiten. Nur: Was sagt es dann<br />
aus? Ein Beispiel: Was bedeutet der Faktor „Fluktuationsquote“?<br />
Dass die Mitarbeiter zufrieden sind? Unzufrieden sind? Dass<br />
sie keine Alternativen haben? Dass die Klugen gehen und die<br />
Schwachköpfe bleiben? Oder umgekehrt? Dass die Mitarbeiter<br />
nicht mobil sind? Dass dem Unternehmen frisches Blut fehlt?<br />
Was soll man jetzt mit den Messdaten, Quoten, Kennzahlen<br />
anfangen? Sind sie Entscheidungsgrundlage? Sind sie entscheidungsrelevant?<br />
Welche Antworten haben Sie damit bekommen?<br />
Und welche eben nicht? Und: Welche Frage haben Sie damit gar<br />
nicht erst gestellt?<br />
Die Praxis des Messens geht von der Objektivität von Zahlen aus.<br />
Doch das ist Unfug. Denn Zahlen sprechen nicht zu uns – wir müssen<br />
sie interpretieren. Es sind also vielmehr wir, die zu den Zahlen<br />
sprechen. Freud soll gesagt haben: „Wer nach dem Sinn fragt,<br />
ist krank.“ Aus der Sicht eines zahlenfixierten Personalwesens ist<br />
das genauso. Denn letztlich besteht der „Sinn“ des ganzen Messens<br />
darin, täglich Zahlenberge zu produzieren. So wird das Messen<br />
zum Selbstzweck, der enorme Ressourcen verschlingt und<br />
alle nicht messbaren Aspekte in den Hintergrund drängt.<br />
Foto: Sebastian Weindel<br />
„Initiative durch<br />
Kennzahlen?<br />
Leidenschaft durch<br />
finanzielle Zielgrößen?<br />
Ein Witz!“<br />
Gefährlich ist auch die Überzeugung, man könne<br />
Menschen mit Zahlen motivieren. Da wird<br />
dann als Ziel eine prozentuale Quote aufgerufen,<br />
woran wiederum Belohnungs- und Anreizsysteme<br />
gekoppelt werden, damit die zu erreichenden<br />
Zahlen in Fleisch und Blut übergehen<br />
und jede Minute des Arbeitslebens darauf ausgerichtet<br />
ist. Das bedeutet nichts anderes, als Menschen<br />
zu konditionieren, nur noch die Dinge zu<br />
tun, die messbar und planbar sind und belohnt<br />
werden können. Wer wird dann noch kreativ<br />
und innovativ sein? Originell und experimentierfreudig?<br />
Agil und risikobereit?<br />
Hinzu kommt, dass die Dinge, die in der Zukunft<br />
– die heute schon begonnen hat – zum entscheidenden<br />
Wettbewerbsvorteil werden, nur schwer<br />
oder gar nicht messbar sind! Wie wollen Sie beispielsweise<br />
messen, wie kreativ und originell die von einem Mitarbeiter<br />
gewählte Problemlösung ist? Durch ein innerbetriebliches<br />
Komitee? Durch eine Casting-Jury? Durch einen standardisierten<br />
Fragebogen? Durch eine datenbasierte Analyse via Stochastiksoftware?<br />
Die Tagesleistung in Form von Stückzahlen des<br />
Akkordarbeiters ist leicht messbar; Kreativität, Engagement und<br />
Leidenschaft sind es nicht. Letztere sind aber genau die Dinge, die<br />
dazu beitragen, dass Ihr Unternehmen auch in Zukunft noch im<br />
Markt mitspielen kann.<br />
Die besten Talente stellen sich auf der Suche nach einem Job, der<br />
sie begeistert, völlig andere Fragen: Gibt es in diesem Unternehmen<br />
überhaupt Ziele außerhalb des Erreichens der Zahlen? Will<br />
ich in einem solchen Unternehmen arbeiten? Und: Habe ich dort<br />
die Chance, mit meiner Arbeit einen Unterschied zu machen?<br />
Beginnen Sie also nicht damit, Dinge zu messen, die es gar nicht<br />
wert sind, gemessen zu werden. Fragen Sie sich lieber, welche Dinge<br />
es überhaupt wert sind, getan zu werden.<br />
p<br />
DR. PETER KREUZ unterstützt Führungskräfte dabei, in einem Umfeld von Digitalisierung,<br />
Disruption und Komplexität erfolgreich zu navigieren. Er hält weltweit Vorträge, ist<br />
Sparringspartner für CEOs und unterstützt Start-ups.<br />
82<br />
<strong>Personalwirtschaft</strong> <strong>01</strong>_ 2<strong>01</strong>8
Didaktik [die] wirkt.<br />
> Meet us @ LEARNTEC 2<strong>01</strong>8
“Inspiring Recruiting Professionals!”<br />
EXPOFESTIVAL für<br />
Lösungen im Recruiting,<br />
Talentmanagement &<br />
Employer Branding<br />
22. März 2<strong>01</strong>8<br />
München Postpalast<br />
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ONLINE<br />
www.talentpro.de<br />
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