E_1936_Zeitung_Nr.055
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JSP> 55 — DIENSTAG, 7 JULI <strong>1936</strong><br />
F E U I L L E T O N<br />
Der Seewolf.<br />
Von Jack London.<br />
43. Fortsetzung.<br />
«Nun?» fragte er ungeduldig.<br />
Ich versuchte vergebens, meinen Finger zu<br />
krümmen, und ebenso vergebens versuchte<br />
ich, ein Wort herauszubringen.<br />
«Warum schiessen Sie nicht?» fragte er.<br />
Ich räusperte mich, konnte aber nicht sprechen.<br />
«Hump», sagte er langsam. «Sie können<br />
es nicht. Sie sind ohnmächtig. Ihre konventionelle<br />
Moral ist stärker als Sie. Sie sind ein<br />
Sklave Ihrer alten Anschauungen, der Gesetze,<br />
die Ihrem Schädel eingehämmert worden<br />
sind, seit Sie die ersten Worte stammelten,<br />
und all Ihrer Philosophie und meinen Lehren<br />
zum Trotz können Sie einen unbewaffneten,<br />
widerstandslosen Menschen nicht töten.»<br />
«Das weiss ich», sagte ich heiser.<br />
«Und Sie wissen auch, dass ich einen Unbewaffneten<br />
ebenso leicht töten würde, wie<br />
ich eine Zigarre rauche», fuhr er fort. «Sie<br />
kennen mich und schätzen mich von Ihrem<br />
Standpunkt aus ein. Schlange, Tiger, Hai,<br />
Ungeheuer und Kaliban haben Sie mich genannt<br />
Und doch können Sie mich nicht töten,<br />
Sie Waschlappen, wie Sie eine Schlange oder<br />
einen Hai töten würden, weil ich Hände,<br />
Füsse und einen Körper habe, der dem Ihren<br />
ähnlich geformt ist. Ich hätte mehr von Ihnen<br />
erwartet, Hump!»<br />
Er überschritt die Laufbrücke und trat zu<br />
mir.<br />
«Nehmen Sie das Gewehr herunter. Ich<br />
möchte einige Fragen an Sie richten. Ich<br />
habe noch keine Gelegenheit gehabt, mich<br />
umzuschauen. Was für ein Ort ist dies? Wo<br />
liegt die ,Ghost'? Wieso sind Sie so nass?<br />
Wo ist Maud, — Verzeihung, Fräulein Brewster<br />
— oder muss ich Frau van Weyden<br />
sagen?»<br />
loh war zurückgetreten und hätte weinen<br />
mögen, dass ich unfähig war, ihn niederzuschiessen,<br />
aber ich war doch nicht so töricht,<br />
die Büchse abzusetzen. In meiner Verzweiflung<br />
hoffte dch, dass er eine Feindseligkeit<br />
begehen, den Versuch machen würde, mich<br />
zu schlagen oder zu würgen, denn ich wusste:<br />
nur dann war ich imstande, zu schiessen.<br />
«Dies ist die Mühsalinsel», sagte ich.<br />
«Nie den Namen gehört>, unterbrach er<br />
mich.' .-.. -- -.<br />
«So nennen wir sie wenigstens», berichtete<br />
ich.<br />
«Wir?» fragte er. «Wer ist ,wir'?»<br />
«Fräulein Brewster und ich. Und die<br />
.Ghost' liegt, wie Sie selbst sehen können, mit<br />
dem Bug gegen den Strand.»<br />
«Es sind Robben hier», sagte er. «Sie haben<br />
mich mit ihrem Gebell geweckt, sonst würde<br />
ich noch schlafen. Ich hörte sie schon, als<br />
ich gestern abend hier hereintrieb. Sie zeig-»<br />
ten mir an, dass eine Küste in Lee war. Es<br />
ist eine Rookery, so etwas, wie ich es seit<br />
Jahren gesucht habe. Dank meinem Bruder<br />
Tod bin ich hier auf ein Vermögen gestossen.<br />
Es ist eine Goldgrube. Wie ist die Lage der<br />
Insel?»<br />
«Keine Ahnung», sagte ich. «Aber Sie müssen<br />
es doch, wissen. Was haben Ihre letzten<br />
Beobachtungen ergeben?»<br />
Er lächelte unergründlich, antwortete aber<br />
nicht.<br />
«Und wo sind all Ihre Leute?» fragte ich.<br />
«Wie kommt es, dass Sie allein sind?»<br />
Ich war darauf vorbereitet, dass er auch<br />
diese Frage unbeachtet lassen würde, und<br />
seine willige Antwort überraschte mich.<br />
«Ehe aohtundwierzig Stunden vergangen<br />
waren, hatte mein Bruder mich gekriegt,<br />
aber es war, weiss Gott, nicht meine Schuld.<br />
Er enterte mein Schiff nachts, als nur ein<br />
Wachtposten an Deck war. Die Jäger Hessen<br />
mich im Stich. Er bot ihnen mehr. Ich hörte<br />
es mit an. Er tat es vor meinen Augen. Die<br />
Mannschaft ging natürlich auch. Das konnte<br />
ich nicht anders erwarten. Alle Mann verliessen<br />
mich, und da stand ich — ausgesetzt<br />
auf meinem eigenen Schiff. Diesmal hatte<br />
mein Bruder Tod gesiegt.»<br />
Er fuhr sich mit der Hand nervös über das<br />
Gesicht, als ob er ein Spinngewebe fortwischte.<br />
Ich war bestürzt. Das alles war so<br />
unähnlich dem Wolf Larsen, den ich kannte.<br />
«Wie steht es mit Ihren Kopfschmerzen?»<br />
fragte ich.<br />
«Die plagen mich immer noch», lautete die<br />
Antwort. «Ich glaube, es geht jetzt gerade<br />
wieder los.»<br />
Er Hess sich ganz zu Boden gleiten. Dann<br />
rollte er sich auf die Seite, stützte den Kopf<br />
auf den Unterarm, während er mit dem Oberarm<br />
seine Augen vor der Sonne schützte. Ich<br />
blickte ihn verwundert an.<br />
«Jetzt ist Ihre Gelegenheit gekommen,<br />
Hump», sagte er.<br />
«Ich verstehe Sie nicht», log ich, denn ich<br />
verstand ihn gut..<br />
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«Ach, nichts», setzte er gleichsam schläfrig<br />
hinzu.<br />
«Sie haben mich jetzt da, wo Sie mich<br />
haben wollten.»<br />
«Nein, das stimmt nicht», erwiderte ich,<br />
«ich wünschte Sie tausend Meilen fort von<br />
hier.»<br />
Er lachte, sagte aber nichts weiter. Als ich<br />
an ihm vorbeischritt, um in die Kajüte hinunterzusteigen,<br />
bewegte er sich nicht. Ich hob<br />
die Falltür im Fussboden und blickte eine<br />
Weile unschlüssig in die Apotheke hinunter.<br />
Ich zögerte. Wie, wenn er sich nur verstellte?<br />
Das wäre in der Tat hübsch, dann sass ich<br />
hier wie die Ratte in der Falle! Ich schlich<br />
mich leise auf die Laufbrücke und blickte<br />
verstohlen auf ihn hinab. Er lag noch da,<br />
wie ich ihn verlassen hatte. Wieder stieg ich<br />
hinunter; ehe ich mich jedoch in die Apotheke<br />
gleiten Hess, beobachtete ich die Vorsicht, die<br />
Klappe herunterzulassen. So konnte die<br />
Falle jedenfalls nicht zuschnappen. Aber<br />
meine Vorsicht erwies sich als überflüssig.<br />
Ich kam in die Kajüte mit einem Vorrat<br />
von allerlei Eingemachtem, Schiffszwieback,<br />
Büchsenfleisch und ähnlichem — soviel ich<br />
zu tragen vermochte — und schloss die Falltüre<br />
wieder.<br />
Ein Blick auf Wolf Larsen zeigte mir, dass<br />
er sich nicht geregt hatte. Ein neuer Gedanke<br />
kam mir. Ich stahl mich in seine Kabine und<br />
eignete mir seine Revolver an. Andere Waffen<br />
fand ich nicht, obwohl ich die drei andern<br />
Kabinen gründlich untersuchte. Um ganz<br />
sicher zu sein, ging ich noch einmal durch<br />
Zwischendeck und Back und nahm alle Messer<br />
an mich. Dann fiel mir das grosse Klappmesser<br />
ein, das er stets in der Tasche trug.<br />
Ich trat zu ihm und sprach ihn zuerst leise,<br />
dann lauter an. Er regte sich nicht. Ich<br />
beugte mich über ihn und zog ihm das Messer<br />
aus der Tasche. Jetzt atmete ich freier.<br />
Er hatte keine Waffe mehr, um mich von<br />
weitem anzugreifen, während ich — jetzt bewaffnet<br />
— imstande war, ihm zuvorzukommen,<br />
wenn er den Versuch machen sollte,<br />
mich mit seinen furchtbaren Gorillaarmen zu<br />
packen.<br />
Ich füllte eine Kaffeekanne und eine Bratpfanne<br />
mit einem Teil, meiner Beute, nahm<br />
etwas Geschirr aus der Anrichte in der<br />
Kajüte, überliess Wolf Larsen sich selbst und<br />
ging an Land.<br />
Maud schlief noch. Ich fachte die glimmende<br />
Asche an und machte mich in fieberhafter<br />
Hast daran, das Frühstück zu bereiten.<br />
Als ich beinahe fertig war, hörte ich<br />
ihre Schritte aus der andern Hütte. Ich hatte<br />
gerade den Kaffee eingegossen, da öffnete<br />
sich die Tür, und sie trat ein.<br />
«Das ist nicht recht von Ihnen!» Mit diesen<br />
Worten begrüsste sie mich. «Sie haben<br />
meine Vorrechte verletzt. Sie wissen doch,<br />
dass das Kochen meine Sache ist und —»<br />
«Nur dies eine Mal», bat ich.<br />
«Wenn Sie versprechen, es nicht wieder zu<br />
tun», lächelte sie. «Es sei denn, dass Sie<br />
meiner geringen Leistungen müde geworden<br />
wären.»<br />
Zu meiner grossen Freude hielt sie nicht<br />
ein einziges Mal Ausschau nach dem Strande,<br />
und ich konnte den Erfolg verzeichnen, dass<br />
sie, ohne etwas zu merken, ihren Kaffee aus<br />
der Porzellantasse trank und sich Marmelade<br />
auf einen Zwieback strich. Aber das dauerte<br />
natürlich nicht lange. Ich sah ihre Ueberrasohung.<br />
Sie hatte gemerkt, dass sie von<br />
einem Porzellanteller ass. Ihre Augen fielen<br />
auf das Frühstück, und nun sah sie eines nach<br />
dem andern. Dann blickte sie mich an und<br />
wandte das Gesicht langsam nach dem<br />
Strande. «Humphrey!» rief sie.<br />
Der alte unsagbare Schrecken stieg in ihre<br />
Augen.<br />
«Ist er ?» fragte sie zitternd. Ich<br />
nickte.<br />
Wir warteten den ganzen Tag, dass Wolf<br />
Larsen an Land käme. Wir befanden uns in<br />
unerträglicher Spannung. Bald sah der eine,<br />
bald der andere angstvoll nach der .Ghost'.<br />
Aber er kam nicht. Er zeigte sich nicht einmal<br />
an Deck.<br />
Wir warteten sowohl den nächsten Tag wie<br />
den darauffolgenden, ohne dass er ein Lebenszeichen<br />
gegeben hätte.<br />
Es sind wohl wieder die Kopfschmerzen»,<br />
sagte Maud am Nachmittag des vierten Tages,<br />
«vielleicht ist er krank, sehr krank, oder<br />
gar tot.»<br />
«Oder er liegt im Sterben», fügte sie hinzu,<br />
nachdem sie einen Augenblick auf meine<br />
Antwort gewartet hatte,<br />
«Um so besser!» erwiderte ich.<br />
«Aber denken Sie, Humphrey, ein Mitmensoh<br />
in seiner letzten einsamen Stunde!»<br />
«Vielleicht», meinte ich.<br />
«Ja, vielleicht», räumte sie ein. «Wir wissen<br />
es nicht. Aber wenn, dann wäre es<br />
schrecklich. Ich würde es mir nie verzeihen.<br />
Wir müssen etwas tun. Sie müssen an Bord<br />
gehen und einmal nachsehen, Humphrey»,<br />
sagte sie. Und wenn Sie mich auslachen wollen,<br />
so haben Sie meine Einwilligung und<br />
meine Verzeihung dazu.» (Forttttzung folot.)<br />
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