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Pietà II<br />
30<br />
Da ist etwas verrutscht. Oder gespalten. Und doch<br />
scheint es unauflöslich zusammenzugehören. Getrennt<br />
und doch verbunden. Zerteilt und doch aneinander<br />
gewiesen. Zwei Gestalten, gespalten aus einem<br />
Stück. So wurde diese Skulptur geschaffen: Mutter<br />
und Sohn, einst eins im Mutterleib, dann abgenabelt,<br />
getrennt. Doch <strong>auch</strong> wenn sich Bindungen lockern,<br />
Verbindungen bleiben – bis der Tod sie scheidet und<br />
darüber hinaus. Diese Innigkeit wird hier wahr: Zwei<br />
Körper, zwei Gesichter, aneinander geschmiegt. Der<br />
eine hoch aufgereckt, ein gebrochener Arm, aber Blick<br />
und Mund unversehrt zum Himmel erhoben. Der andere<br />
sterbend nach unten verrutscht, seine Gestalt in<br />
sich zusammengesackt, tödlich verletzt an Seele und<br />
Leib. Nur sein großes Ohr scheint noch zu horchen.<br />
Um zu lauschen, ob da einer ist, dem es die Sprache<br />
nicht verschlägt, weil es heißt: Stark wie der Tod ist<br />
die Liebe.<br />
Something has slipped here. Or it may have been<br />
split. And yet it seems to belong together indissolubly.<br />
Separated and yet connected. Divided and yet<br />
dependent on each other. Two figures, cleft from<br />
one piece. This is how this sculpture was conceived:<br />
Mother and son, once one in the mother’s body, then<br />
separated. Yet even if the bonds are loosened, the ties<br />
remain – until parted by death, and beyond. This intimacy<br />
comes true here: two bodies, two faces, clinging<br />
to each other. One stands upright, with one arm broken,<br />
but with eyes and mouth unscathed and raised<br />
towards the heavens. The other, dying, has slipped to<br />
the ground, slumped together, mortally wounded in<br />
body and soul. Only his large ear still seems to hear,<br />
listening if anyone is there whose words do not fail<br />
them, for it is said: Love is as strong as death.<br />
eRBe 12<br />
Ein Mensch. Aufrecht sitzend. Fast schon majestätisch.<br />
Sei Körper ebenmäßig und stark. Brust und<br />
B<strong>auch</strong> ästhetisch geformt. Doch es fehlen die Arme.<br />
Nur die Hände sind da. Wie nachträglich hingelegt.<br />
Auf den Schoß. Es scheint, als sei ihm etwas aus<br />
den Händen geschlagen worden. Doch er hält still.<br />
Er lässt sich davon weder irritieren, noch aus der<br />
Ruhe bringen. Sein Blick geht hinein in den Raum.<br />
Ein Auge offen, das andere zusammengekniffen. Als<br />
wollte er sie nicht verschließen, sondern im Gegenteil,<br />
schärfer sehen: Leben und Sterben, Liebe und<br />
Tod, Verletzung und Heilung, Gott und Welt. Er ist<br />
der Erbe, hat alles ererbt, wird es weiter vererben.<br />
A man. Sitting upright. Almost majestically. His<br />
body well-proportioned and strong. Chest and stomach<br />
aesthetically shaped. But the arms are missing.<br />
Only the hands are there. As if placed there retrospectively.<br />
In his lap. Something appears to have been<br />
knocked out of his hands. Yet he keeps still. He does<br />
not allow himself to be unsettled or disquieted. He<br />
is looking into the space ahead. One eye is open, the<br />
other tightly closed. It is as if he wants not to close<br />
them, but, on the contrary, to see more clearly: life and<br />
dying, love and death, injury and healing, God and the<br />
world. He is the heir; he has inherited everything; he<br />
will leave it to his heirs. As all have done before him.