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MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

Jahrgänge 71 — 74<br />

Schriftleitung:<br />

Felix Escher<br />

Dr. Peter Letkemann<br />

Claus P. Mader<br />

Wolfgang Neugebauer<br />

Günter Wollschlaeger<br />

BERLIN 1975-1978


Inhaltsverzeichnis<br />

I. Aufsätze<br />

Arendt, Max (t)<br />

Der Magistrats-Exekutor bei Bismarck<br />

Eine berlinische Episode (2 Abb.) 1<br />

Bader, Frido J. Walter<br />

150 Jahre Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin<br />

(2 Abb.) 480<br />

Bollert, Werner<br />

Tschaikowsky in Berlin<br />

(1 Abb.) 484<br />

Cornwall, James E.<br />

Die Geschichte der Photographie in Berlin<br />

Teil I: 1839-1900 (10 Abb.) 113<br />

Eckelt, Klaus<br />

Aus der Geschichte der Charlottenburger Luisenkirche und ihrer Gemeinde<br />

(4 Abb.) 281<br />

Erbe, Michael<br />

Ein Berliner Napoleon-Forscher: Friedrich M. Kircheisen (1877— 1933)<br />

(1 Abb.) 353<br />

Gustav Stresemann 1878-1929<br />

Zum Gedenken an seinen hundertsten Geburtstag am 10. Mai 1978 (2 Abb.) 401<br />

Funk-Bonardel, Käte<br />

Zum Gedenken an die Berliner Schauspielerin Jeannette Bethge<br />

(1875-1943)<br />

(1 Abb.) 96<br />

Gnewuch, Gerd<br />

Es begann in Berlin: Hundert Jahre Fernsprecher (1877— 1977)<br />

(5 Abb.) 333<br />

Grothe, Jürgen<br />

Am Beispiel Spandaus<br />

Der Versuch einer Gegenüberstellung 1975 (9 Abb.) 41<br />

Die Geschichte des alten Spandauer Nikolaikirchhofes<br />

(3 Abb.) 120<br />

Der jüdische Friedhof in Spandau im 19. und 20. Jahrhundert<br />

(2 Abb.) 185<br />

V


Grothe, Jürgen (Forts.)<br />

Zum Abriß des ehemaligen Garnison-Lazaretts in Spandau<br />

(2 Abb.) 314<br />

Bauliche Veränderungen an der Spandauer Zitadelle<br />

Zur Zerstörung von Teilen der historischen Bausubstanz<br />

(3 Abb.) 387<br />

Henning, Eckart<br />

Briefe und Tagebücher der Königin Luise<br />

im Brandenburg-Preußischen Hausarchiv<br />

Zur 200. Wiederkehr ihres Geburtstages am 10. März 1976 (4 Abb.) 141<br />

Hengsbach, Arne<br />

Wann fuhr der erste Omnibus in Berlin?<br />

Eine verkehrsgeschichtliche Studie (1 Abb.) 90<br />

Gewehrfabrik — Kirchenmeierei — Salzhof<br />

Ein altes Industriegebiet an der Havel (4 Abb.) 157<br />

Die Hauptstadt und die Havelstadt<br />

Berlin und Spandau in ihren wechselseitigen Beziehungen (4 Abb.) 375, 440<br />

Holzhausen, Hans-Dieter<br />

Gottlieb Fritz und die städtischen Bibliotheken Berlins<br />

(2 Abb.) 63<br />

Jessen, Hans B.<br />

Gerhart Rodenwaldt<br />

Archäolog und Berliner (1886-1945) (1 Abb.) 151<br />

Kliinner, Hans-Werner<br />

Ein hundertjähriges Buch und seine Vettern<br />

Zu Robert Springers „Berlin - die deutsche Kaiserstadt" (4 Abb.) 433<br />

Letkemann, Peter<br />

Kunstführer — Baubeschreibung — Inventarisation<br />

Zur Entwicklung der kunst- und architekturgeschichtlichen Bestandsaufnahme<br />

im Berliner Raum 235<br />

I.(i«enthat. Ernst G.<br />

Adolph Donath in Berlin<br />

Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages (1 Abb.) 207<br />

Geschehen vor 40 Jahren<br />

Die Beschlagnahme des Logenhauses in der Kleiststraße 317<br />

Mader. Claus P.<br />

Theodor Hosemann zum Gedenken<br />

(4 Abb.) 81<br />

VI


Mader, Claus P. (Forts.)<br />

Adolph Glassbrenner (1810-1876)<br />

Zum Gedenken an seinen hundertsten Todestag (5 Abb.) 177<br />

In memoriam E.T. A. Hoffmann 214<br />

Meinik. Hans Jürgen<br />

Alfred Döblins Versuch der literarischen Verarbeitung<br />

eines Giftmordprozesses in Berlin 1923<br />

(4 Abb.) 465<br />

Mey, Hans Joachim<br />

Herman Grimm zum 150. Geburtstag<br />

6. Januar 1828 bis 16. Juni 1901 (1 Abb.) 407<br />

Mielke, Friedrich<br />

König Friedrich II. und seine Skizzen zum Schloß Sanssouci<br />

(4 Abb.) 127<br />

Oschilewski, Walther G.<br />

„Wahrheit und Freyheit"<br />

Die „Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen",<br />

1740 bis 1874 (1 Abb.) 24<br />

Zwischen Rokoko und Romantik<br />

Zum 250. Geburtstag von Daniel Chodowiecki (3 Abb.) 201<br />

Pierson, Kurt<br />

Louis Schwartzkopff zum 150. Geburtstag<br />

(2 Abb.) 70<br />

Hundert Jahre Orenstein & Koppel 1876— 1976<br />

(5 Abb.) 229<br />

Ein vergessenes Museum<br />

(3 Abb.) 348<br />

Richartz, Heinrich<br />

Die Geschichte der Vorinventarisation in Berlin<br />

und der „Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler der Reichshauptstadt"<br />

in den dreißiger Jahren 240<br />

Rümmler, Gerhard<br />

Neugestaltung des U-Bahnhofs Richard-Wagner-Platz<br />

(11 Abb.) 412<br />

Schütze, Karl-Robert<br />

Charlotte Bara<br />

(2 Abb.) 320<br />

Vll


Sohnsdorf, Hartmut<br />

Künstlerische Objekte in den öffentlichen Grünanlagen Berlins<br />

Die „Denkmalkartei Berlin (West)" (2 Abb.) 244<br />

Stolzenberg, Ingeborg<br />

Heinrich von Kleist zum 200. Geburtstag<br />

Ein Ausstellungsbericht (1 Abb.) 369<br />

Theobald, Rainer<br />

„Melpomenens und Thaliens Günstling"<br />

Zum 200. Todestag des Schauspieldirektors H. G. Koch (4 Abb.) 17, 49<br />

Weiher, Sigfrid v.<br />

70 Jahre Siemens-Archiv Berlin-München<br />

(3 Abb.) 341<br />

Wentzel, Friedrich-Wilhelm<br />

„Ein ganz widerwärtiger Ort"<br />

Jacob Burckhardt (1818 bis 1897) über Berlin (2 Abb.) 449<br />

Wetzel, Jürgen<br />

Die Weingroßhändler-Familie Dalchow in Charlottenburg<br />

(3 Abb.) 28<br />

Das Landesarchiv Berlin<br />

(3 Abb.) 301<br />

Winter, Georg (t)<br />

Die Leitung der Preußischen Archivverwaltung<br />

Herausgegeben und ergänzt von Eckart Henning (9 Abb.) 308<br />

Wollschlaeger, Günter<br />

Karl Schmidt-Rottluff<br />

Zum Tode des großen Künstlers, Mäzens und Berliner Ehrenbürgers (1 Abb.) 209<br />

Zur Entwicklung Friedenaus<br />

(7 Abb.) 265<br />

II. Kleine Beiträge, Notizen,<br />

Berichte, Exkursionen<br />

250 Jahre Militärwaisenhaus zu Potsdam . 8 Stadtbezirksarchiv Pankow 167<br />

Vertrauenswerbung für Berlin 35 Franz-Neumann-Archiv 167<br />

Zehn Jahre „Mitteilungen" - Neue Folge 73 Berlin-Brunnen in München 167<br />

Die Porzellan-Plaketten der KPM Gymnasiast als Berlin-Botschafter 168<br />

1975'76 132 Themenheft „Städte + Landschaften" ... 188<br />

Die Dressel'sche Chronik von Charlotten- Ein Bachfest in Berlin 189<br />

bürg 166 Wiederaufbau am Gendarmenmarkt .... 189<br />

VIII


Um die Denkmalpflege in Ost-Berlin .... 190<br />

Der 21. Stadtbezirk Berlins<br />

Zur Denkmalspflege und Stadtplanung in<br />

218<br />

Ost-Berlin<br />

Das „Königin-Luise-Jahr'* 1976 im Rück­<br />

256<br />

blick 257<br />

Autographen berühmter Berliner Autoren 258<br />

Der „Bär von Berlin", Band 25 258<br />

Landesarchiv Berlin in neuem Domizil . . . 259<br />

Die Visitenkarte der Post - 160 Jahre<br />

Poststempel in Preußen 291<br />

Umweltprobleme und Heimatschutz ....<br />

Schadow-Statue Friedrichs des Großen für<br />

292<br />

das Charlottenburger Schloß<br />

Historisches Archiv der Technischen<br />

324<br />

Fachhochschule Berlin<br />

Restaurierungsarbeiten an historischen<br />

324<br />

Bauten in Potsdam<br />

Denkmalschutz für das Holländische<br />

325<br />

Viertel in Potsdam 325<br />

Stadtteilschreiber in Hamburg 360<br />

Nachlese zur 15. Europäischen Kunstausstellung<br />

1977 „Tendenzen der zwanziger<br />

Jahre" 389<br />

Rund um den Tiergarten<br />

Edvard Munch - Der Lebensfries in Max<br />

418<br />

Reinhardts Kammerspielen<br />

Bismarek - Autographen im Geheimen<br />

418<br />

Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz . . .<br />

Das Kaufhaus des Westens - ein Stück<br />

453<br />

Berliner Geschichte 455<br />

Zehn Jahre Humboldt-Zentrum Berlin . .<br />

Arbeiten zur Geschichte Berlins in Ost-<br />

456<br />

Berlin 457<br />

Spittel-Kolonnaden entstehen neu 457<br />

Europa Nostra 457<br />

Um den Döblin-Platz 487<br />

70 Jahre Märkisches Museum<br />

Dorfanger Friedrichsfeldc unter Denkmal­<br />

488<br />

schutz 488<br />

110. Stiftungsfest des Vereins 34<br />

Studienfahrt 1974 nach Celle (Bericht) . . 7<br />

Studienfahrt 1975 nach Hann. Münden<br />

(Programm) 78<br />

(Bericht)<br />

Studienfahrt 1976 nach Duderstadt<br />

99<br />

(Programm) 199<br />

(Bericht)<br />

Studienfahrt 1977 ins Wendland<br />

217<br />

(Programm) 331<br />

(Bericht)<br />

Studienfahrt 1978 nach Goslar<br />

393<br />

(Programm)<br />

462<br />

(Bericht)<br />

Mitglieder-Jahreshauptversammlungen<br />

488<br />

(1975)73, (1976)188, (1977)323, (1978) 458<br />

III. Hinweise und Informationen<br />

Kleinere Mitteilungen:<br />

8, 35, 75, 100, 134, 168, 188, 189, 219,<br />

324,360, 393, 394, 398,419,454,457<br />

259.<br />

Veranstaitungskalender:<br />

16, 40, 80, 112, 140, 176, 200, 228, 264, 300,<br />

332, 368,400,432,464, 500<br />

Literaturhinweise:<br />

14, 15, 110, 111, 198, 226, 227, 367, 399,<br />

427,428,431,462,498,499<br />

IV. Personalien<br />

Würdigungen:<br />

Erich Borkenhagen 422<br />

Karl Bullemer 134<br />

Gertrud Doht 359<br />

Käte Haack 359<br />

Walter Hoffmann-Axthelm 421<br />

Walter Mügel 169<br />

Walther G. Oschilewski 325, 459<br />

Kurt Pomplun 74, 168<br />

Nachrufe:<br />

Alfred Braun 420<br />

Walter Jarchow 219<br />

Kurt Pomplun 357<br />

Walter Rieck 9<br />

Walter Schneider-Römheld 395<br />

Johannes Schultze 254<br />

P. F.-C. Wille 35<br />

Kurzmitteilungen:<br />

9, 36, 75, 100, 134, 135, 169, 190, 219, 220,<br />

259, 294,325, 360, 395,423,460,489,490<br />

Neue Mitglieder:<br />

15, 39, 79, 80, 111, 139, 175, 198, 227, 263,<br />

299,330, 366, 398,429,462,498<br />

IX


V. Buchbesprechungen<br />

Artelt/Heischkel-Artelt: Christian Mentzel<br />

u. der Hof des Großen Kurfürsten als<br />

Mittelpunkt weltweiter Forschung, 1976<br />

(Hoffmann-Axthelm) 396<br />

Atterbom: Reisebilder aus dem romantischen<br />

Deutschland, 1970 (Schultze-<br />

Berndt) 225<br />

Aust: Stadtgeographie ausgewählter Sekundärzentren<br />

in Berlin (West), 1970<br />

(Escher) 13<br />

Baar: Die Berliner Industrie in der industriellen<br />

Revolution, 1966/74 (Escher) .. 223<br />

Baedeker: Berlin-Spandau, 1977 (Escher) 494<br />

Bahnsen/O'Donnell: Die Katakombe,<br />

1975 (Escher) 193<br />

Bandel/Machule (Hrsg.): Die Gropiusstadt,<br />

1974 (Escher) 426<br />

Berlin - Chronik der Jahre 1957-1958,<br />

1974 (Letkemann) 36<br />

Berlin - Chronik der Jahre 1959- 1960,<br />

1978 (Letkemann) 490<br />

Berlin 1974 - Das Jahr im Rückspiegel,<br />

1974 (Letkemann) 101<br />

Berlin und seine Bauten, IV: Wohnungsbau,<br />

Bd. B u. C, 1974-75 (Wollschlaeger)<br />

102<br />

Berlin vor hundert Jahren, 1975 (Letkemann)<br />

197<br />

Berlin wie es lacht, 1971 (Schultze-<br />

Berndt) 174<br />

Berlin-Fibel, 1975 (Letkemann/Mader) . . 262<br />

Berlin-Literatur, 1976 (Letkemann) 220<br />

Berliner Abendblätter, 1973 (Nachdr.<br />

1810-1811/1925) (Mey) 171<br />

Berliner Malerpoeten, 1974 (Mader) .... 14<br />

Berliner Wände, 1976 (Schultze-Berndt) 329<br />

Berndal: Berliner Balladen, o.J.(Schultze-<br />

Berndt) 427<br />

Bethsold: Schöneberg - eine Gegend in<br />

Berlin, 1977 (Schultze-Berndt) 497<br />

Boeckh: Alt-Berliner Kirchen, 1975<br />

(Drese) 101<br />

Börsch-Supan: Marmorsaal und Blaues<br />

Zimmer, 1976 (Mader) 222<br />

Börsch-Supan/Kühne/Reelfs: Berlin -<br />

Kunstdenkmäler und Museen, 1977<br />

(Mader) 495<br />

Brandt: Begegnungen und Einsichten,<br />

1976 (Oschilewski) 326<br />

Braulich: Max Reinhardt, 1969 (Theobald)<br />

172<br />

Breitenborn: Berliner Wasserspiele, 1974<br />

(Schultze-Berndt) 77<br />

X<br />

Brinitzer: Die Geschichte des Daniel Ch.,<br />

1973 (Gießler) 361<br />

Brink: Es geschah in Berlin, 1970 (Mader) 78<br />

Carle: Das hat Berlin schon mal gesehn,<br />

1975 (Letkemann) 298<br />

Cauer: Oberhofbankier und Hofbaurat,<br />

1973 (Escher) 103<br />

Cornelsen: Gebaut in 25 Jahren - Berlin<br />

(West), 1973 (Schultze-Berndt) 107<br />

Das Wohnen und die Kirche, 1977<br />

(Escher) 364<br />

Dehnert: Daniel Chodowiecki, 1977<br />

(Letkemann) 493<br />

Denkler/Kittsteiner u. a.: Berliner Straßenecken-Literatur<br />

1848/49. 1977 (Escher) 425<br />

Deutscher Evangelischer Kirchentag Berlin<br />

1977 - Dokumente, 1977 (Krauß) ... 426<br />

Deutscher Planungsatlas, Bd. 9: Berlin<br />

(West), Lief. 1, 1975 (Escher) 328<br />

Döblin: Die Geschichte vom Franz Biberkopf,<br />

1976 - Ein Kerl muß eine Meinung<br />

haben, 1977 (Meinik) 492<br />

Döblin: Griffe ins Leben, 1974 (Meinik) 193<br />

Dörrier: Pankow, 1971 (Escher) 12<br />

Dronke: Berlin, 1974 (Mey) 136<br />

Duntze: Der Geist, der Städte baut, 1972<br />

(Escher) 364<br />

Enders: Historisches ürtslexikon f. Brandenburg,<br />

III, 1972 (Escher) 11<br />

Enders/Beck: Desgl., IV, 1976 (Escher) 295<br />

Engelmann: Heinrich Berghaus, 1977<br />

(Escher) 424<br />

Eschenburg/Frank-Planitz: Gustav Stresemann,<br />

1978 (Erbe) 494<br />

Fischer: Brandenburgisches Namenbuch,<br />

T. 4, 1976 (Escher) 295<br />

Fontane: Briefe aus den Jahren 1856 —<br />

1898, 1975 (Mader) 226<br />

Fontane: Reisebriefe vom Kriegsschauplatz<br />

Böhmen 1866, 1975 (Fricke) 75<br />

Friedrich: Weltstadt Berlin, 1973 (Letkemann)<br />

9<br />

Frommhold: Otto Nagel, 1974 (Schultze-<br />

Berndt) 224<br />

50 Jahre Wintergarten, 1975 (Nachdr.<br />

1938) (Mader) 106


Gelandet in Berlin, 1974 (Escher) 138<br />

Geschichte der Naturwissenschaften und<br />

der Technik im 19. Jh., 1970 (Escher) ... 173<br />

Gilbert (Hrsg.): Bankiers, Künstler und<br />

Gelehrte, 1975 (Lowenthal) 171<br />

Glaßbrenner: Altes gemütliches Berlin. -<br />

Wie war Berlin vergnügt, 1977 (Schultze-<br />

Berndt) 461<br />

Glaßbrenner: . . . ne scheene Jejend is det<br />

hier!, 1977 (Mader) 260<br />

Gottwaldt: Eisenbahn-Brennpunkt Berlin,<br />

1976 (Schiller) 196<br />

Grieben-Reiseführer Deutschland, Bd. 6:<br />

Berlin, 1973 (Escher) 104<br />

Groehler: Das Ende der Reichskanzlei,<br />

1976 (Schultze-Berndt) 329<br />

Grote: Berlin im Blickfeld der Philatelie,<br />

1975 (Schultze-Berndt) 197<br />

Grunewald-Chronik, 1974 (Lctkcmann) 78<br />

Hengsbach: Die Siemensstadt im Grünen,<br />

1974 (Escher) 108<br />

Herking: Das Beste aus meiner berlinerischen<br />

Witze- und Anekdotensammlung.<br />

1975 (Schultze-Berndt) 225<br />

Hermann: Kubinke, 1974 (Mey) 173<br />

Heym: 5 Tage im Juni, 1974 (Mader) ... 192<br />

Hilkenbach/Kramer/Jeanmaire: Berliner<br />

Straßenbahnen, 1973 (Schiller) 38<br />

Hilkenbach/Kramer/Jeanmaire: Berliner<br />

Straßenbahngeschichte II, 1977 (Schiller) 423<br />

Hitzig: Gelehrtes Berlin im Jahre 1825 /<br />

Büchner: Biographische und literarische<br />

Nachrichten . . ., 1973 (Nachdr. 1826/<br />

1834) (Escher) 365<br />

E. T. A. Hoffmann. Hrsg. von F. Schnapp,<br />

1974 (Mader) 261<br />

Hoff mann-Axthelm: Das abreißbare Klassenbewußtsein,<br />

1975 (Posener) 363<br />

Hofmeister: Berlin. Eine geographische<br />

Strukturanalyse, 1975 (Escher) 259<br />

Industrialisierung und Gewerbe im Raum<br />

Berlin-Brandenburg, Bd. 2. 1977 (Escher) 362<br />

Jaeger: Das Mittelrad-Damplschiff „Prinzessin<br />

Charlotte von Preußen" 1816,<br />

1977 (Schiller) 364<br />

Jaene: Kreuzpunkt Berlin, 1974<br />

(Mader) 77<br />

Jungmann (Hrsg.): Berliner Gassenhauer-<br />

Büchlein, 1977 (Schultze-Berndt) 497<br />

Kasmalski: Ein Berlin-Plan, 1973 (Wetzel) 135<br />

Kehrl: Berliner Kind, 1972 (Escher) 223<br />

Kladderadatsch, 1970 (Faks.-Nachdr.<br />

1848) (Mader) 104<br />

Kleberger: Berlin unterm Hörrohr, 1976<br />

(Hoffmann-Axthelm) 298<br />

Klünner: Potsdam - so wie es war, 1975<br />

(Escher) 260<br />

König: Mit Pille, Spritze und Skalpell,<br />

1975 (Hoffmann-Axthelm) 172<br />

Koner: Gelehrtes Berlin im Jahre 1845,<br />

1973 (Nachdr. 1846) (Escher) 365<br />

Kraus: Berlin zu Fuß, 1973 (Escher) 104<br />

Kuhn: Märkische Sagen und Märchen,<br />

1974 (Nachdr. 1843) (Mader) 105<br />

Lange: Berlin zur Zeit Bebeis und<br />

Bismarcks, 1972 (Escher) 298<br />

Lange: Das Wilhelminische Berlin, 1967<br />

(Escher) 298<br />

Lazarus/Steinthal - Die Begründer der<br />

Völkerpsychologie in ihren Briefen, 1971<br />

(Lowenthal) 109<br />

Lehnartz: Bilder aus der Mark Brandenburg,<br />

1975 (Escher) 296<br />

Liang: Die Berliner Polizei in der Weimarer<br />

Republik, 1977 (Escher) 361<br />

Löschburg: Ohne Glanz und Gloria, 1978<br />

(Schlenk) 496<br />

Ludwig Lewin und die Lessing-Hochschule,<br />

1975 (Lowenthal) 260<br />

Lundgreen: Techniker in Preußen während<br />

der frühen Industrialisierung, 1975<br />

(Escher) 137<br />

Machalet: Die Berliner Bezirksverwaltung,<br />

1973 (Wetzel) 10<br />

Märkisches Viertel Berlin - Plandokumentation,<br />

1972 (Escher) 426<br />

Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland,<br />

1973 (Wetzel) ..". 135<br />

March - Ein schöpferischer Berliner<br />

Architekt an der Jahrhundertwende. 1972<br />

(Wollschlaeger) 137<br />

Mechow: Berliner Studenten. 1975<br />

(Escher) 195<br />

Mechow>: Die Ost- und Westpreußen in<br />

Berlin, 1975 (Letkemann) 326<br />

Mechow: Frohnau - die Berliner Gartenstadt,<br />

1977 (Schultze-Berndt) 424<br />

Melms: Chronik von Dahlem, 1978<br />

(Escher) 461<br />

Mendelssohn: Neuerschlossene Briefe an<br />

Friedrich Nicolai, 1973 (Stolzenberg) 105<br />

Mendelssohn-Studien, Bd. 2, 1975" (Stolzenberg)<br />

175<br />

Mühlenhaupt: Haus Blücherstraße 13.<br />

1976 (Schachinger) 261<br />

Mühlenhaupt: Ringelblumen, 1974 (Schachinger)<br />

107<br />

XI


Mühlenhaupt/Zerna: Inmitten von Berlin,<br />

1973 (Schachinger) 107<br />

Müller: Kampftage in Berlin, 1973<br />

(Meinik) 13<br />

Nagel: Die Gemälde und Pastelle. 1974<br />

(Schultze-Berndt) 224<br />

Neumann: Schwarzer Jahrmarkt. 1975<br />

(Oschilewski) 106<br />

Nicolas: Berlin zwischen gestern und<br />

heute, 1976 (Letkemann) 495<br />

Obst: Der Berliner Beichtstuhlstreit, 1972<br />

(Weichen) 297<br />

Oehlmann: Das Berliner Philharmonische<br />

Orchester, 1974 (Streu) 170<br />

Oschilewski: Ein Mann im Strom der Zeit<br />

- R. Timm, 1975 (Escher) 192<br />

Oschilewski: Zeitungen in Berlin, 1975<br />

(Mader) 220<br />

Pfankuch (Hrsg.): Hans Scharoun - Bauten.<br />

Entwürfe, Texte, 1974 (Wollschlaeger)<br />

39<br />

Pierson: Lokomotiven aus Berlin, 1977<br />

(Schiller) 295<br />

Polewoi: Berlin 896 km, 1975 (Escher) . . 193<br />

Polyglott-Reiseführer DDR, 1976<br />

(Schultze-Berndt) 261<br />

Reich (Hrsg.): Berlin, 1974 (Schultze-<br />

Berndt) 103<br />

Reinhardt: Schriften, 1974 (Theobald) . . 195<br />

Ribbe: Die Aufzeichnungen des Engelbert<br />

Wusterwitz, 1973 (Escher) 37<br />

Riha: Die Beschreibung der „Großen<br />

Stadt", 1970 (Meinik) 14<br />

Robinson: Berlin wie ich es liebe, 1976<br />

(Schultze-Berndt) 496<br />

Rohrlach: Historisches Ortslexikon für<br />

Brandenburg, V, 1977 (Escher) 423<br />

Ruland: Das war Berlin, 1972 (Letkemann)<br />

9<br />

Ryan: Der letzte Kampf. 1975 (Schultze-<br />

Berndt) 194<br />

Schattenriß von Berlin, 2 Teile 1974/75<br />

(Nachdr. 1788) (Mader) ;<br />

138<br />

Scherff: Luftbrücke Berlin, 1976 (Escher) 197<br />

Schinkel: Berlin-Bauten und Entwürfe,<br />

1973 (Escher) 495<br />

Schmädeke: Das Fernsehzentrum des<br />

SFB, 1973 (Escher)<br />

Schmidt/Mehring: Neuestes gelehrtes<br />

139<br />

Berlin, 1973 (Nachdr. 1795) (Escher) ... 365<br />

XII<br />

Schneidereit: Paul Lincke und die Entstehung<br />

der Berliner Operette, 1974<br />

(Streu) 37<br />

Schreckenbach: Bibliographie zur Geschichte<br />

der Mark Brandenburg, III und<br />

IV, 1972/74 (Escher) 170<br />

Schröter: Alfred Döblin, 1978 (Meinik) . . 492<br />

Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische<br />

Sendung. 1977 (Neugebauer) 491<br />

Scurla: Begegnungen mit Rahel, 1971<br />

(Mey) '. 13<br />

Sichelschmidt: Berliner Originale, 1974<br />

(Wirsig) 77<br />

Sichelschmidt (Hrsg.): Berlin 1900, 1977<br />

(Escher) 397<br />

Sichelschmidt: Berlin in alten Ansichtskarten,<br />

1975 (Schultze-Berndt) 327<br />

Sichelschmidt: Berühmte Berliner, 1973<br />

(Wirsig) 12<br />

So schön ist Berlin: Aus der Luft . . .,<br />

o.J. (Schultze-Berndt) 427<br />

Sperlich/Börsch-Supan: Schloß Charlottenburg<br />

- Berlin - Preußen, Festschrift<br />

für M. Kühn. 1975 (Wollschlaeger) 191<br />

Springer: Berlin, 1976 (Nachdr. 1861)<br />

(Letkemann) 396<br />

Stahl/Wien: Berlin von 7 bis 7, 1974/75<br />

(Schultze-Berndt) 38<br />

Sticker: Agnes Karll, 1977 (Stürzbecher) 297<br />

Stresemann: Schriften, 1976 (Erbe) .... 494<br />

Stützle: Kennedy und Adenauer in der<br />

Berlin-Krise 1961-62, 1973 (Wetzel) ... 135<br />

Tümmers (Bearb.): Kataloge und Führer<br />

der Berliner Museen, 1975 (Mader) .... 174<br />

Volk: Berlin [Ost] . . ., Historische Straßen<br />

und Plätze heute, 1973 (Letkemann) 11<br />

Weber: Die jungen Götter, 1974 (Mader) 174<br />

v. Weiher: Berlins Weg zur Elektropolis,<br />

1974 (Escher) 108<br />

Werner: Stadtplanung Berlin. T. I, 1976<br />

(Escher) 221<br />

Wille: Berliner Landseen, 1974 (Escher) 76<br />

Wolf: Unter den Linden, 1974 (Mader) . . 76<br />

Zimelien. Abendländische Handschriften<br />

(Katalog). 1975 (Letkemann) 222<br />

Zisterzienser-Studien, Bd. I, 1975 (Wollschlaeger)<br />

328<br />

Zivier: Der Rechtsstatus des Landes<br />

Berlin, 1974 (Wetzel) 135<br />

Zuckerrohr, Über das - und seine Verarbeitung,<br />

1977 (Nachdr. 1720) (Schultze-<br />

Berndt) 425


•<br />

A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

71.Jahrgang Heft 1 Januar 1975<br />

Wilhelmstraße 76, ein Teil des Auswärtigen Amtes<br />

1862 bis 1875 Bismarcks Amtswohnung (Foto: Hürlimann)


Der Magistrats-Exekutor bei Bismarck<br />

Eine berlinische Episode<br />

Von Dr. Max Arendt f<br />

Vorbemerkung: Der Text dieses Artikels stammt aus dem Nachlaß des 1971 verstorbenen<br />

früheren Direktors der Berliner Ratsbibliothek. Im Jahre 1942 erfolgte ein Abdruck<br />

in der „Frontzeitung der Reichshauptstadt Berlin", Hauptverwaltung, Nr. 3. Da diese<br />

Veröffentlichung kaum noch zugänglich oder auch bekannt sein dürfte, erscheint eine<br />

Wiedergabe gerechtfertigt. Neben geringfügigen Korrekturen wurden in den Anmerkungen<br />

zusätzliche Erläuterungen gegeben. Die Schriftleitung<br />

Daß Otto von Bismarck im Bundeskanzlerpalais - Wilhelmstraße 76 - keineswegs nur<br />

frohe, sorgenfreie Tage verlebt hat, ist hinlänglich bekannt. Viele Gegner haben sich nach<br />

Kräften bemüht, ihm das amtliche Leben schwer zu machen. Selten mit Erfolg, denn der<br />

Angegriffene wußte das Florett oder, wenn es sein mußte, auch den Pallasch meisterhaft<br />

zu führen und mit der Abwehr den Angriff zu verbinden.<br />

Auch der Berliner Magistrat, vielmehr seine „Servis- und Einquartierungsdeputation",<br />

hat Bismarck einmal Fehde angesagt. Diese Feststellung ergibt sich aus einem Aktenheft,<br />

das nach langen Jahren kürzlich im Antiquariatshandel aufgetaucht und als Geschenk<br />

des Ratsherrn Justizrat Dr. Reinhard Neubert an seinen Ursprungsort, das „Berlinische<br />

Rathaus", zurückgekehrt ist.<br />

Das Studium dieser Akten, die mehrere Schreiben mit Bismarcks eigenhändiger Unterschrift<br />

enthalten, ist ebenso interessant wie lehrreich, vor allem unter dem Gesichtswinkel:<br />

wie man es nicht machen soll.<br />

Das Konvolut - bei der Makulierung anscheinend aus dem Aktenbande entnommen, so<br />

daß die berühmten „Vorgänge" schmerzlich entbehrt werden müssen -, beginnt mit<br />

einer Eingabe des Legationsrats von Bismarck-Bohlen* vom August 1869 an die erwähnte<br />

Deputation und enthält eine Beschwerde über unrichtige Einstufung des Ministerpräsidenten<br />

zur Gemeindeeinkommensteuer; Graf Bismarck sei in die 30. Stufe eingeschätzt,<br />

sein Einkommen rechtfertige aber nur die Einstufung in die 28. Stufe. Sein Gehalt bestehe<br />

aus 12 000 Talern für Preußen, 4000 für Lauenburg, 2000 für die Dienstwohnung, in<br />

Summa 18 000 Talern, wovon noch Stempelgebühren in Höhe von 15 Talern in Abzug<br />

zu bringen seien. Das Privatvermögen des Bundeskanzlers entziehe sich der Berliner<br />

Besteuerung, weil es als Betriebskapital für die Bewirtschaftung der Güter diene und<br />

seiner Natur nach so wechselnd sei, daß sein Betrag mit einiger Sicherheit nicht angegeben<br />

werden könne. Im Auftrag des Ministerpräsidenten beantragte der Legationsrat die<br />

Berichtigung der Einstufung und die Zurückerstattung der zuviel gezahlten Beträge.<br />

1 Karl Graf von Bismardc-Bohlen (1832-1878), der Sohn eines Vetters von Otto v. Bismarck.<br />

Abb. S. 3 Einkommensteuerbesdieid für Bismardt auf das Jahr 1866<br />

(Geh. Staatsarchiv Berlin, Rep. 94 Nr. 331)<br />

2


.,V . tftfVC beg aotaftcrä.<br />

ICiefe stummw ift in «Ben


Im Rathause fragte man beim staatlichen Einkommensteuerbüro an und erhielt die Auskunft,<br />

Graf von Bismarck sei mit einem Einkommen von 12 000 Talern zur 18. Staatseinkommensteuerstufe<br />

veranlagt. Auch über seine Güter und ihren Ertrag wußte das<br />

Büro genauestens Bescheid. Graf Bismarck besäße im Kreise Naugard das Rittergut<br />

Kniephof mit 2161 Morgen, im Kreise Jerichow das Gut Schönhausen mit 1361 Morgen,<br />

im Kreise Schlawe das Rittergut Varzin mit 9204 Morgen sowie die Güter Wussow mit<br />

3441 und Wendisch-Puddigen mit 9460 Morgen; der Ertrag der Güter wurde mit 14 20C<br />

Talern, die Hypothekenschulden mit 149 200 Talern zu 5 v. H., 22 625 Talern zu 4<br />

v. H. angegeben.<br />

Daraufhin wurde im Rathause ein Antwortschreiben aufgesetzt, das zunächst die fehlende<br />

Vollmacht des Herrn Legationsrats höflich bemängelte und dann genauestens nachwies,<br />

daß von einer Zurückzahlung zuviel gezahlter Beträge keine Rede sein könne, Graf<br />

Bismarck vielmehr pro Vierteljahr 48 Taler nachzuzahlen habe, was zu veranlassen Seine<br />

Exzellenz ergebenst ersucht wurde. Nun griff der Ministerpräsident selbst in die Debatte<br />

ein. Das seine Unterschrift tragende Schreiben vom 28. September 1869 bestreitet die<br />

rathäusliche Auffassung der Sachlage und weist seinerseits nach, daß 42 Taler Steuern<br />

überzahlt seien, da man im Rathause die Bestimmung nicht beachtet hätte, daß Beamte<br />

- zu ihnen rechne auch der Ministerpräsident - nur die Hälfte des ermittelten Steuerbetrages<br />

zu zahlen verpflichtet seien. Die Einstufung zur Staatseinkommensteuer sei 1868<br />

ungefähr richtig gewesen, aber heute nicht mehr. „Ich habe", so lautet der Schlußabsatz<br />

des Schreibens, „seitdem das verpachtet gewesene Gut Kniephof verkauft und für den<br />

Ertrag, mit Einschluß meines früheren Kapitalvermögens, das größere, bisher aber ertraglose<br />

Gut Seelitz und mehrere kleinere Besitzungen angekauft, auch das frühere Pachtgut<br />

Misdrow mit einem Aufwände von 20 000 Talern in eigene Administration nehmen<br />

müssen. Diese Erwerbungen haben mein Kapitalsvermögen absorbiert, und kosten zur<br />

Zeit mehr als sie einbringen. Für 1870 werde ich daher auch hinsichtlich der Staatssteuer<br />

eine geringerte Einschätzung beantragen."<br />

Man kann sich unter dem Eindruck dieser Ausführungen des beklemmenden Eindrucks<br />

nicht erwehren, daß Bismarck im Herbst 1869 schon seine privaten Sorgen gehabt haben<br />

muß; mit restlos „absorbiertem" Privatvermögen Besitzer oder Pächter von Gütern, die<br />

nichts einbrachten, sondern nur kosteten, und dann noch die hohen Gemeindesteuern, auf<br />

deren pünktlicher Zahlung das Rathaus unerbittlich bestand!<br />

Ob für 1870 der beabsichtigte Antrag auf Herabsetzung der Staatseinkommensteuer gestellt<br />

worden ist, geht aus dem Aktenheft nicht hervor. Aus dem Jahre 1869 datiert noch<br />

ein Schreiben der Servisdeputation, das in der Wilhelmstraße sicher Überraschung ausgelöst<br />

hat: es waren tatsächlich 24 Taler Gemeindeeinkommensteuer überzahlt, deren<br />

Abhebung zu veranlassen Seiner Exzellenz ergebenst anheimgestellt wurde. Aber dann!<br />

Vermutlich hat Bismarck über die Ereignisse des Sommers 1870 den ganzen verwickelten<br />

Steuerkomplex vergessen. Im Schlachtendonner von Sedan war die französische Kaiserkrone<br />

zerbrochen, Bismarck hatte bei Donchery die bekannte Unterredung mit Napoleon<br />

gehabt. Am 10. September 1870 befand er sich in Reims und hatte die Nachricht<br />

erhalten, daß in Paris die Republik ausgerufen worden sei. In Berlin aber hatte am Vormittag<br />

dieses Tages der Exekutor Schmidt in der Wilhelmstraße 76 10 Taler rückständige<br />

Mietssteuer einkassieren wollen, hatte jedoch die Zahlungsaufforderung nicht „präsentieren"<br />

können, „weil", wie sein Aktenvermerk lautet, „der Herr Graf mit ins Feld gerückt<br />

ist und die Frau Gräfin nach Nauheim zur Pflege Ihres Sohnes abgereist ist (Graf Her-<br />

4


ert Bismarck war bei Mars la Tour verwundet worden und lag nun in Nauheim). 2 Laut<br />

Aussage des Portiers ist Niemand beauftragt, die Miethssteuer zu entrichten".<br />

Es wird ewig zu bedauern sein, daß der Wortlaut dieser Unterredung zwischen dem<br />

Exekutor Schmidt und dem bestallten Hüter des Hauses Wilhelmstraße 76 nicht der<br />

Nachwelt überliefert worden ist! Die Servis- und Einquartierungsdeputation aber war<br />

nun vor die schwierige Frage gestellt, wie und von wem die 10 Taler Mietssteuer einzuziehen<br />

seien. Es fand sich der Ausweg, der sich dem Vernehmen nach früher in Amtsstuben<br />

in schwierigen Situationen bestens bewährt haben soll, ein Verfahren, das auch<br />

Bismarck selbst nicht unbekannt gewesen und von ihm als „dilatorisch" bezeichnet worden<br />

ist: man legte die Sache auf Termin, „Wiedervorlage nach sechs Wochen". Dieses<br />

nützliche Verfahren hat noch einige Male wiederholt werden müssen, bis am 5. Mai 1871,<br />

nach Eingang der Zahlung, die Unterschrift des Dezernenten unter die ad-acta-Verfügung<br />

gesetzt werden konnte.<br />

Inzwischen war Bismarck Fürst, Kanzler des von ihm geschaffenen deutschen Kaiserreiches<br />

und, am 16. März 1871, Ehrenbürger der jungen Reichshauptstadt geworden.<br />

Aber mit der pünktlichen Zahlung seiner Mietssteuer hat es auch weiterhin gehapert. Am<br />

1. August 1871 war wieder der Exekutor Schmidt aus der Scharrenstraße 12 in der Wilhelmstraße<br />

76 mit einer Mahnung über 10 Taler rückständiger Mietssteuer zuzüglich<br />

4 Silbergroschen Mahngebühren erschienen. Der Mahnzettel - Fol. 53 Nr. 105 - enthielt<br />

die Aufforderung, „den Rückstand binnen 8 Tagen in den Vormittagsstunden von 9 bis<br />

IV2 Uhr an die Restbuchhalterei im Berlinischen Rathaus, Parterre, Zimmer Nr. 5 und 6,<br />

bei Vermeidung der Pfändung und der sonst zulässigen Zwangsmittel zu zahlen". Auch<br />

diese Mahnung ist an dem Portier des Reichskanzlerpalais abgeprallt, sie ist nicht zu<br />

„präsentieren" gewesen, wie Exekutor Schmidts Aktenvermerk lautet, da „derselbe<br />

(= Seine Durchlaucht) sich außerhalb Berlins befindet und für denselben keiner beauftragt<br />

ist, die Zahlung zu leisten". Wieder mußte das dilatorische Verfahren angewendet<br />

werden, ohne daß aus den Akten zu erkennen wäre, ob es zum Erfolg geführt hat.<br />

„Derselbe", nämlich Fürst und Ehrenbürger Bismarck, war inzwischen selbst im Rathause<br />

erschienen, zwar nicht im Parterre, Restbuchhalterei, Zimmer 5 und 6, sondern in<br />

den Repräsentationsräumen des soeben fertiggestellten neuen städtischen Prachtbaus. Am<br />

17. April 1871 hatten die städtischen Körperschaften im Rathaus den Mitgliedern des<br />

jungen deutschen Reichstages einen festlichen Empfang gegeben, zu dem mit dem Kaiserhause<br />

alles erschienen war, was in Berlin Rang und Namen hatte, alle überragend Fürst<br />

Bismarck in seiner Kürassieruniform. Kochhann, der damalige Stadtverordnetenvorsteher<br />

und spätere Ehrenbürger Berlins, beschrieb in seinen Erinnerungen dieses Fest ausführlich<br />

und fügte zum Schluß hinzu, Fürst Bismarck habe seine Vorliebe für gutes bayerisches<br />

Bier offensichtlich zu erkennen gegeben und selbst die feinsten Weine verschmäht. 3<br />

Bei dem guten bayerischen Trunk im strahlend erleuchteten Festsaal dachte der Ehrenbürger<br />

Berlins vermutlich nicht mehr an sein offenes Konto in Zimmer 5 und 6 des Erdgeschosses.<br />

Aber die Steuer- und Einquartierungsdeputation war sich der Tatsache völlig<br />

bewußt, daß Ehrenbürger nach der Städteordnung von 1853 keineswegs ihrer Steuer-<br />

2 Es ist nicht ersichtlich, ob diese Beifügung in Klammern so im Aktenvermerk enthalten war<br />

oder vom Verfasser eingesetzt worden ist.<br />

3 Heinrich Eduard Kochhann, Aus den Tagebüchern, hrsg. von Albert Kochhann, Teil 5:<br />

„Aus der großen Zeit 1862-1874", Berlin 1908, S. 66 ff. Siehe auch J. J. Hässlin, Berlin.<br />

5. Aufl. München 1971, S. 46 f.<br />

5


pflichten ledig waren, und bearbeitete das Konto ,14 110 Bi' unbeirrt weiter. Man hatte<br />

nach vielem Hin und Her zwischen den einzelnen Steuerbüros den Fürsten doch in der<br />

28. Stufe der Gemeindeeinkommensteuer belassen und sah nun, wie das Schreiben vom<br />

18. Dezember 1871 lautet, einer Restzahlung von 30 Talern für 1871 entgegen. Fürst<br />

Bismarck war keineswegs gesonnen, dieser im Rathaus gehegten Erwartung zu entsprechen.<br />

In einem längeren, sechs Folioseiten umfassenden Schreiben vom 2. Weihnachtsfeiertage<br />

1871 bestritt er die Veranlagung in die 28. Stufe als den Gesetzen widersprechend.<br />

Sein steuerbares Diensteinkommen bestehe aus 12 000 Talern Gehalt und 2000<br />

Talern Mietwert der Amtswohnung; die Gesamtsumme von 14 000 Talern gehört in<br />

Steuerstufe 27. Außerdem sei das Gesetz vom 11. Juli 1822 nicht beachtet worden; es<br />

bestimme, daß das Diensteinkommen der Staatsdiener bei einer Gemeindeeinkommensteuer<br />

nur mit der Hälfte zur Quotisierung gebracht werden sollte. „Ich bin jetzt noch<br />

Preußischer Minister-Präsident und Preußischer Minister der auswärtigen Angelegenheiten,<br />

und in meinem Gehalt als Reichskanzler, welches um nichts höher ist als das<br />

Diensteinkommen, welches ich vor Errichtung des Norddeutschen Bundes resp. des Deutschen<br />

Reiches bezog, ist für die verschiedenen Functionen, welche ich zu erfüllen habe,<br />

keine Unterscheidung oder Sonderung möglich." Bismarck schloß mit einer Aufstellung,<br />

nach der 145 Taler Gemeindeeinkommensteuer von ihm überzahlt worden seien.<br />

Da die Steuerdeputation auf ihrem ablehnenden Standpunkte verblieb, beantragte Bismarck<br />

am 3. Februar 1872, seine Reklamation vom 26. Dezember der Regierung in Potsdam<br />

zur Entscheidung zu übersenden. Er fügte hinzu, daß er seit dem 1. Januar als<br />

Minister für Lauenburg kein Gehalt mehr beziehe und sein Vorgehen alle in gleicher<br />

Lage befindlichen Beamten des Auswärtigen Amtes umfasse.<br />

Das Verhalten der Steuerdeputation in dieser Streitsache ist nicht recht verständlich.<br />

Sie befleißigte sich in ihren Entgegnungen zwar eines sehr höflichen Tones, lehnte aber<br />

ein Eingehen auf die Darlegungen des Fürsten mit Hinweisen auf Bestimmungen und<br />

Regulative ab, die ihren Standpunkt zu stützen schienen; dem Antrag des Fürsten, seine<br />

Reklamation vom 26. Dezember der Potsdamer Regierung zur Entscheidung weiterzuleiten,<br />

wurde nicht stattgegeben, da eine nicht fristgemäß im Rathause eingegangene<br />

Reklamation nicht als solche, sondern nur als „Remonstration" betrachtet werden könnte.<br />

Dies Verhalten führte jedoch in die Sackgasse. Eine - nicht in den Akten erhaltene -<br />

Entscheidung des Ministers des Innern bestätigte die Anschauung Bismarcks, daß für die<br />

Besteuerung der Staatsdiener das Gesetz vom 11. Juli 1822 bindende Kraft hätte. Daraufhin<br />

erfolgte eine Einstufung Bismarcks in die Steuerstufe 27 und die Rückzahlung der<br />

überhobenen Beträge an Gemeinde- und Mietssteuern von zusammen 130 Talern.<br />

Damit endete der Schriftwechsel zwischen Bismarck und den städtischen Steuerdeputationen.<br />

Mit einer Anfrage bei der Staatlichen Steuer-Einschätzungskommission nach den<br />

Kriterien, nach denen die Heranziehung des Fürsten zur Staatseinkommensteuer 1873<br />

erfolgen würde, schließt der erhaltene Aktenfaszikel.<br />

Das Intermezzo mit den Steuerdeputationen hat Bismarcks Verhältnis zu Berlin nicht<br />

getrübt. Nach dem Ausscheiden aus seinen Ämtern hat der Altreichskanzler auf der<br />

Durchreise durch Berlin Studenten, die ihm huldigend zujubelten, geschildert, was Berlin<br />

ihm in seinem Leben bedeutet habe, und hat seine kurze Ansprache mit den Worten beendet:<br />

„Berlin ist mir jetzt über den Kopf gewachsen, wirtschaftlich und politisch. Politisch<br />

bin ich ja vielleicht in manchen Beziehungen mit der Mehrheit der Berliner auseinandergekommen,<br />

aber mein Heimatgefühl für Berlin und seine Umgebung ist immer<br />

6


dasselbe geblieben. Ich bin ein alter Kurbrandenburger. Und unsere Stadt Berlin, der<br />

ich den größten Teil meines Lebens als Bürger angehörte, sie mag werden, wie sie will -<br />

ich wünsche ihr Gedeihen und Wohlergehen. Sie lebe hoch!" 4<br />

4 Vollständiger Text u.a. in: Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, hrsg. von Horst<br />

Kohl, Bd. 13, Stuttgart/Berlin 1905, S. 265 f.<br />

Nachrichten<br />

Studienfahrt nach Celle<br />

Es war ein Doppeldecker-Reiseomnibus, der dazu noch ein Dortmunder Kennzeichen hatte und<br />

vor der falschen Bank parkte, der die mehr als 70 Teilnehmer an der Studienfahrt 1974 unseres<br />

Vereins am Freitag, 6. September 1974, einlud. Zwar machte sich bei der Ankunft in Celle die<br />

Enge der mittelalterlichen Stadt mit ihren heutigen Verkehrsproblemen bei der Aufteilung der<br />

Gäste auf die vier Hotels bemerkbar, doch fanden sich alle pünktlich zur Besichtigung des<br />

Bomann-Museums ein. Frau Dr. Ingeborg Wittichcn war eine ebenso sachkundige wie aufgeschlossene<br />

Führerin durch die Schätze ihres Museums, wobei sie von Oberaufseher Meier<br />

assistiert wurde. Hatte man auf diese Weise mit der Vergangenheit Celles und seines Umlandes<br />

Fühlung aufgenommen und Historie, Heimatkunde, Volkskunde, aber auch Militärgeschichte<br />

kennengelernt, so führten die Besuche im Gartenbaubetrieb H. Wichmann, dem größten Orchideen-Züchter<br />

Europas, und im Niedersächsischen Landgestüt in die Bereiche der belebten Natur.<br />

Niemand ließ aber die abendliche Aufführung der Komödie „Was ihr wollt" von William<br />

Shakespeare im traditionsreichen Schloßtheater Celle aus, die sich als ein sehr munteres Spiel<br />

offenbarte, bei dem die Heiterkeit auch freundliche Pannen einbezog (ein gezogener Degen, bei<br />

dem die Klinge in der Scheide steckenblieb).<br />

Am nächsten Tage war es Museumsdirektor Dr. Dieter-Jürgen Leister einer Erkrankung wegen<br />

leider nicht möglich, die Führung durch das Schloß Celle selbst zu übernehmen. Die beiden<br />

Schloßführer entledigten sich ihrer Aufgabe aber kenntnisreich und ohne jeden Anflug von<br />

Routine. Zur Exkursion zu den Klöstern Wienhausen und Isenhagen und zur Fahrt in das<br />

Niederungsgebiet der Oberaller stieg Stadtarchivar a. D. Dr. Jürgen Ricklefs in das doppelstöckige<br />

Gefährt. In Wienhausen feierten manche Reisende Wiedersehen mit diesem mittelalterlichen<br />

Kleinod, andere zeigten sich beim ersten Besuch nicht minder begeistert. Es lag nicht am<br />

Mittagessen, sondern an der mangelnden Tragfähigkeit einer Brücke, wenn die Teilnehmer vor<br />

der Weiterfahrt nach Hankensbüttel noch einmal den Omnibus verlassen mußten. Das viel zu<br />

wenig bekannte Kloster Isenhagen, unter der jungen Äbtissin von Oertzen jetzt aus einer Art<br />

Dornröschenschlaf erwacht, braucht sich hinter der vornehmeren Schwester Wienhausen nicht zu<br />

verstecken, was die Freundlichkeit und Ausführlichkeit anbelangte, mit der die Stiftsdamen<br />

ihren Lebensbereich vorführten. Eine Kaffeetafel in Hankensbüttel, ein Besuch der dortigen<br />

Kirche sowie schließlich noch eine abendliche Besichtigung der Dorfkirche zu Eidingen beschlossen<br />

diesen erlebnisreichen Tag. Pfarrer Opitz verstand es, seine Gäste so von seinem Gotteshaus<br />

einzunehmen, daß Mitreisende nach dem Abschied spontan den Wunsch äußerten: „Hier hätten<br />

wir eine Andacht halten sollen!" Wenn uns in Celle auch niedersächsischer Landregen empfing,<br />

so beeinträchtigte dies die Stimmung des großen runden Tisches keineswegs, der sich im Ratskeller<br />

zusammengesetzt hatte.<br />

Am Sonntagmorgen führte ein Lichtbildervortrag des jungen Architekten Hild vom Planungsamt<br />

der Stadt Celle in die Probleme ein, deren sich ein vitales Gemeinwesen gegenübersieht,<br />

wenn es dem Menschen dienen, Vergängliches bewahren und Künftiges vorbereiten will. Gerade<br />

am Beispiel einer solchen übersehbaren Stadt, die das Geschehen des letzten Weltkrieges überlebt<br />

hat, vermochte man Aufgaben der Stadtplanung und -Sanierung zu erkennen und zu würdigen.<br />

Der ansdiließende Stadtrundgang litt etwas unter der großen Zahl der Mitreisenden und dem<br />

unterschiedlichen Schrittmaß, doch fanden sie sich in der erst vor wenigen Monaten neu geweihten<br />

Synagoge an versteckter Stelle wieder ein, um sich vom amtierenden Rabbiner in die Ge-<br />

7


schichte des Hauses und in den Kult einweisen zu lassen. In der Stadtkirche Celle konnte man<br />

Superintendent Manzke zu diesem Gotteshaus und seiner baulichen Neugestaltung nur gratulieren!<br />

Wenn man überdies wie schon in Eidingen von Zahl und Leben der Gemeinde erfuhr,<br />

so kam ein weiteres Moment der Hochachtung hinzu. Auch der Weifengruft galt ein Besuch.<br />

Das Mittagessen wurde noch in Celle eingenommen, Wolfsburg mußte als Rastplatz für die<br />

Kaffeepause herhalten, und nach langer Heimfahrt wurden die Gäste wieder in der Hardenbergstraße<br />

abgesetzt. Dank sei allen Gastgebern gesagt, unter denen die hohe Zahl von Ostpreußen,<br />

Pommern und Brandenburgern auffiel (es gibt aber auch eingeborene Celler), nicht<br />

minder aber auch den Mitgliedern, die sich während der Fahrt und bei der Bewältigung des<br />

zeitlich genau eingeteilten Programms als überaus verständnisvoll und diszipliniert erwiesen.<br />

Die nächste Studienfahrt wirft ihre Schatten schon voraus: Hannoversch-Münden soll das Reiseziel<br />

sein, nicht nur deshalb, weil der dort beerdigte Dr. Eisenbart und unser Vorsitzender dieselbe<br />

Facultas haben. H. G. Schultze-Bcrndt<br />

250 Jahre Militärwaisenhaus zu Potsdam<br />

Am 1. November 1724 wurde mit dem Erlaß eines General-Reglements das „Königliche Große<br />

Militair-Waisenhaus zu Potsdam" eröffnet. Die Anregung zum Bau dieser Anstalt hatte König<br />

Friedrich Wilhelm I. bei August Hermann Franckc in Halle und den dortigen caritativen Einrichtungen<br />

empfangen. Das Potsdamer Waisenhaus war eine öffentliche Anstalt unter der Schirmherrschaft<br />

des preußischen Königs und nahm nur Waisen auf, deren Väter Soldaten oder Kriegsteilnehmer<br />

gewesen waren. Auch nach dem Ende der Hohenzollernmonarchie bestand das Militärwaisenhaus<br />

fort und wurde erst 1945 aufgelöst.<br />

Das Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem zeigt gegenwärtig (bis Ende Januar 1975) in einer<br />

kleinen Schau Bilder, Dokumente, Zeugnisse und sonstige Erinnerungsstücke aus der Anstalt, die<br />

vorwiegend aus dem Besitz von Herrn Ewald Mertins, einem ehemaligen Schüler des Waisenhauses,<br />

stammen.<br />

Das III. Fernsehen des SFB beginnt am 10. Januar 1975 um 19.15 Uhr mit der Ausstrahlung<br />

einer 13teiligen Serie unter dem Titel: „Wie die ersten Menschen . . .". Die Fortsetzungen werden<br />

jeweils freitags zum gleichen Zeitpunkt gesendet. In dem Film, der unter der Leitung von Prof.<br />

Dr. Adriaan von Müller gedreht wurde, werden weitgehend die neueren Berliner archäologischen<br />

Ausgrabungen dargestellt.<br />

In Berlin starb vor hundertfünfundzwanzig Jahren Johann Gottfried Schadow am 27. Januar<br />

1850. Hier war er am 20. Mai 1764 geboren worden. Erinnert sei an seine Hauptwerke in der<br />

Nationalgalerie auf der Museumsinsel, an das Grabmal für den Grafen von der Mark, an die<br />

Marmorgruppe der Prinzessinnen Luise und Friederike sowie an die Quadriga mit der Viktoria<br />

auf dem Brandenburger Tor.<br />

Am 20. Dezember 1974 eröffnete die Gruppe der Berliner Architektur-Maler ihre diesjährige<br />

Weihnachtsausstellung in der Kongreßhalle unter dem Thema „Ausflugsziele der Berliner". Die<br />

Ausstellung ist vorerst bis zum 12. Januar 1975 zu besichtigen.<br />

8


Von unseren Mitgliedern<br />

Walter Rieck f<br />

Wer den Mitgliederversammlungen unseres Vereins beiwohnte, wird sich des Alterspräsidenten<br />

Walter Rieck wohl zu erinnern wissen, der mit seiner charakteristischen Stimme um Entlastung<br />

für den Vorstand nachsuchte, auch Worte der Anerkennung und der Kritik fand, und dann<br />

würdevoll die Wahlhandlung für den neuen Vorstand leitete. Jetzt müssen wir von unserem<br />

Nestor Walter Rieck, Rektor, Stadtrat, Bezirksbürgermeister und Senatsrat a. D., Abschied nehmen.<br />

Im neunzigsten Jahr seines Lebens ist er am 15. November 1974 in seiner Vaterstadt Berlin<br />

gestorben, in der er am 28. Oktober 1885 das Licht der Welt erblickt hatte. Zehn Jahre lang übte<br />

Walter Rieck, von Hause aus Volksschullehrer, von 1923 an das Amt eines Rektors und zugleich<br />

ehrenamtlichen Stadtrats auf dem Wedding aus. Der dienstentlassene Sozialdemokrat mußte sich<br />

von 1933 bis 1945 als Hausverwalter und Gesdiäftsführer eines Lichtspieltheaters durchschlagen<br />

und mehrere Verfahren vor der Gestapo über sich ergehen lassen. Seine Hilfe, die er in dieser<br />

Zeit immer wieder Juden zuteil werden ließ, die er vielfach auch versteckte, wurde nach 1945<br />

von der Jüdischen Gemeinde in der Weise gewürdigt, daß sie ihn als „Gerechten" ehrte.<br />

Walter Rieck, der vor 1933 Vorsitzender der Lehrer an den weltlichen Schulen Berlins war,<br />

wirkte sehr aktiv im Bund der freien Schulreformer, in der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer<br />

Lehrer und im Bund der freien Schulgesellschaften mit. Nach Kriegsende wurde er Rektor<br />

in Lankwitz und von 1946 bis zum 30. Mai 1950 Bürgermeister des Bezirks Wilmersdorf. 1947<br />

gehörte er bei der Wiedergründung der Freien Volksbühne dem Gründungsausschuß an und war<br />

Vorstandsmitglied der Freien Volksbühne für den britischen Sektor. Nach der Spaltung Berlins<br />

amtierte er auch als Vorstandsmitglied der Freien Volksbühne Berlins.<br />

Walter Rieck, ein vielseitig gebildeter Mensch mit verhaltenem Charme und ein aufrechter Verfechter<br />

seiner Meinung, die ihn sogar einen Bruch mit seiner Partei nicht scheuen ließ, verkörperte<br />

in seinem Leben ein Stück Berliner und deutscher Geschichte. Zu seinem neunzigsten Geburtstag<br />

wollten wir ihn auch im Verein für die Geschichte Berlins ehren. Er wird uns fehlen.<br />

H. G. Scbultze-Berndi<br />

*<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Herrn Hans Schiller, Herrn Max Göhler, Frau Gertrud Schroth, Frau Gertrud<br />

Kahl, Herrn Albert Brauer, Herrn Dr. Hans Beerbohm, Herrn Paul Weihe; zum 75. Geburtstag<br />

Frau Erna von Wolff, Herrn Dr. Karl BergerhofF, Frau Magdalena Bellee, Herrn Dr.<br />

Albert Brandes, Frau Gertrud Warzccha, Frau Gertrud Hartmann, Herrn Erich Kemnitz; zum<br />

80. Geburtstag Herrn Karl Lortzing, Herrn Dr. Hermann Fricke.<br />

Buchbesprechungen<br />

Otto Friedrich: Weltstadt Berlin. Größe und Untergang 1918-1933. München: Des* 1973.<br />

328 S. m. Abb., Leinen, 29,80 DM.<br />

Bernd Ruland: Das war Berlin. Erinnerungen an die Reichshauptstadt. Bayreuth: Hestia 1972.<br />

317 S. m. 86 Abb., brosch., 28 DM.<br />

Kaum eine andere Epoche der Berliner Geschichte ruft in der Beurteilung einen größeren Zwiespalt<br />

der Meinungen hervor als die der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts. Ein einhelliges<br />

Urteil über sie fällt schwer, kommt wohl nicht ohne Differenzierungen aus, und zwar nicht nur<br />

wegen ihrer relativen Nähe zur Gegenwart: Vielen unserer Zeitgenossen sind diese Jahre noch in<br />

Erinnerung, und der Blickpunkt des Betrachters setzt die Akzente. Begeisterung und Verdammnis,<br />

Schrecken und Bewunderung treffen gleichermaßen zu. Bringt man noch die Kausalitäten mit<br />

hinein - die 20er Jahre etwa als permanenter Befreiungsakt vom geistig-kulturellen Getto des<br />

Kaiserreichs oder als Trittbrett für den „Anfang vom Ende" 1933 - so gesellen sich zu den bekannten<br />

Schlagworten noch jene Pauschalurteile hinzu, die den Blick auf die tatsächlichen<br />

Gegebenheiten schon ordentlich trüben können. Fest steht, daß in der Politik nach 1918, und<br />

zwar nicht nur auf deutscher Seite, schwere Fehler gemacht wurden; fest steht auch, daß anderer-<br />

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seits Berlin in jenen Jahren auf den Gebieten der Wissenschaften, Technik und Künste eine einzigartige<br />

Stellung einnahm. Dazwischen lag das ganze Spektrum der Erscheinungsformen einer<br />

pulsierenden Weltstadt als ein immerwährender Anreiz zu literarischer Behandlung.<br />

Der deutschstämmige Amerikaner Otto Friedrich, Jahrgang 1929, Historiker an der Harvard-<br />

Universität, liefert denn auch ein solches Kolossalgemälde, eine Art Kulturgeschichte der Weimarer<br />

Republik unter dem Berliner Aspekt, dabei oft weit über die Stadt hinausgehend. Er berichtet<br />

das, was an anderer Stelle auch schon steht, hat es aber komprimiert und, einem modischen<br />

Trend folgend, etwas feuilletonistisch aufgeputzt, indem er private Erinnerungen und<br />

Urteile von Augenzeugen hineinbringt und dadurch den strengen Reportagestil auflockert. Das<br />

liest sich ohne Zweifel gut und flüssig, und für viele Informationen wird der unbefangene Leser<br />

dankbar sein. Doch spätestens am Ende der Einleitung, wo z. B. der Pianist Abram Chasins „mit<br />

auffallend großen Ohren" vorgestellt wird und einige läppische Bemerkungen über das damalige<br />

Berlin macht, fragt man nach dem Wert solcher „historischen" Beweisaufnahmen, die sich über<br />

das ganze Buch verteilen. In diesen eingeschobenen Erinnerungs- und Gesprächsfetzen, die fortwährend<br />

die aktuelle politische Berichterstattung unterbrechen, häufen sich die banalen Äußerungen,<br />

manchmal in schicksalsschwere Sätze gekleidet, gelegentlich auch nach Klatsch riechend.<br />

Blättert man im Quellenverzeichnis, so entdeckt man eine große Zahl von hierzulande völlig<br />

unbekannten Memoirentiteln, vermißt jedoch zugleich viele grundlegende Werke über jene Epoche.<br />

Hier spürt man den amerikanischen Zuschnitt, mehr aber noch die Ferne vom Ort des Geschehens<br />

- zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten sind die Folge. Auch bei der Beurteilung der<br />

kultur- und geistesgeschichtlichen Tendenzen wird man dem Autor nicht uneingeschränkt folgen<br />

können; so waren z. B. Brecht und George Grosz keineswegs die zentralen Figuren, als die sie<br />

hier erscheinen. Man liest in diesem Buch vieles mit Gewinn (wenngleich nicht nur über Berlin),<br />

muß dabei aber viel Nebensächliches und manches verwirrende Urteil in Kauf nehmen.<br />

Ist in dem Buch Friedrichs von den „goldenen Zwanzigern" nur sehr bedingt die Rede, so verlegt<br />

sich der altgediente Journalist Bernd Ruland in seinen Berlin-Erinnerungen ganz auf die Rolle<br />

der Märchenfee, die von einem fernen Paradies erzählt. „Es war einmal ..." - so beginnt dieses<br />

freundliche Buch über die Jahre 1919 bis 1939, in denen Glanz und Elend so nahe beieinander<br />

lagen und doch nur dem Glanz in der verklärenden Rückschau ein Denkmal gesetzt wird. Die einzelnen<br />

Kapitel handeln denn auch weniger von Politik als von Kunst, Gesellschaft und Sport;<br />

Hunderte von Namen passieren Revue, und die Spitzenleistungen in den Wissenschaftsinstituten<br />

oder Konzertsälen, im Sportpalast oder in den Filmateliers rechtfertigen den Ruf der Reichshauptstadt<br />

als Metropole der Superlative. Abgesehen von dem euphorischen Grundton ist das<br />

Buch mit seiner Fülle von Daten und Fakten akkurat geschrieben; im direkten Vergleich zu<br />

Friedrichs Werk ist Ruland bei der Schilderung vieler Vorgänge, derer sich beide Autoren annehmen,<br />

wesentlich präziser. Beide Bücher verfügen über Namensregister und einen ausgezeichneten<br />

Abbildungsteil. Peter Letkemann<br />

Eberhard Machalet: Die Berliner Bezirksverwaltung. Stuttgart: Kohlhammer 1973. 227 S.,<br />

brosch., 34 DM. (Schriftenreihe d. Vereins f. Kommunalwissenschaften e. V./Deutsches Institut<br />

f. Urbanistik, Bd. 39.)<br />

Die Berliner Bezirke lassen sich nur schwer in das übliche Begriffssystem juristischer Organisationsformen<br />

einordnen und sind wegen ihrer besonderen Ausgestaltung mit anderen großstädtischen<br />

Untergliederungen kaum zu vergleichen. Da sich die in Berlin gewählte Form der bezirklichen<br />

Selbstverwaltung jedoch bewährt hat, kann sie als Modell für andere aufzugliedernde Millionenstädte<br />

herangezogen werden. Zu diesem Ergebnis kommt Eberhard Machalet in seiner Untersuchung<br />

über die Berliner Bezirksverwaltung.<br />

Im ersten Teil behandelt er die Grundlagen der Bezirksverwaltung, die geschichtliche Entwicklung<br />

und die Organisationsprinzipien. Der Verfasser hebt hervor, daß die verfassunggebende<br />

Preußische Landesversammlung gut beraten gewesen sei, als sie 1920 Berlin in nichtrechtsfähige<br />

Verwaltungseinheiten aufgegliedert und das verwaltungsorganisatorische Prinzip der Dezentralisation<br />

mit dem verwaltungspolitischen Gedanken bürgerschaftlicher Mitwirkung verbunden habe.<br />

Dadurch sei auch in der Großstadt eine gewisse Transparenz kommunaler EntScheidungsprozesse<br />

erhalten geblieben und ein wichtiges Postulat der Demokratie verwirklicht worden. Im zweiten<br />

Teil untersucht Machalet die Beteiligung der Bezirke an der Verwaltung Berlins. Ausführlich beschäftigt<br />

er sich zunächst mit dem Begriff der Selbstverwaltung, untersucht dann die Rechtsstellung<br />

der Bezirke und arbeitet schließlich die Unterschiede zwischen den Berliner Bezirken und<br />

den selbständigen Gemeinden heraus. Er kommt dabei zu dem Schluß, daß die Bezirke trotz des<br />

Fehlens dreier Wesensmerkmale kommunaler Selbstverwaltung - Rechtsfähigkeit, Autonomie und<br />

Finanzhoheit - durch einen umfangreichen Aufgabenkreis, durch ihre Universalität, Personalhoheit<br />

und die Befugnis zur Bestellung eigener Organe in erheblichem Maße eigenverantwortlich<br />

an der Verwaltung Berlins beteiligt sind. Im dritten Teil der Untersuchung wird schließlich die<br />

innere Verfassung der Bezirke, die Funktionen der bezirklichen Organe und ihr Zusammenwir-<br />

10


ken behandelt. Die grundsätzlichen Fragen der inneren Bezirksorganisation haben in einem ständigen<br />

politischen und verfassungsrechtlichen Streit gestanden, der weitgehende Reformbestrebungen<br />

ausgelöst hat. Die vorläufig letzte Veränderung ist 1971 durch die Umstellung vom Dreiorgan-<br />

(BA, BVV, Deput.) zum Zweiorgan-System (BA, BVV) erfolgt. In dieser ständigen Umgestaltung<br />

der Bezirksverfassung sieht der Verfasser ein Streben nach Anpassung an die im<br />

Laufe der Zeit mit der Bezirksverwaltung gewonnenen praktischen Erfahrungen.<br />

Es ist zu begrüßen, daß nach mehr als zwanzig Jahren wieder eine umfangreiche Untersuchung<br />

über die Berliner Bezirksverwaltung erschienen ist, zumal - wie Machalet überzeugend dargelegt<br />

hat - das Berliner Organisationsmodell immer stärker in den Blickpunkt rücken wird, je mehr<br />

Stadtlandschaft und Ballungsgebiete unsere zukünftigen Siedlungseinheiten sein werden.<br />

Jürgen Wctzcl<br />

Waltraut Volk: Berlin, Hauptstadt der DDR - Historische Straßen und Plätze heute. 2. Aufl.<br />

(Ost-)Berlin: VEB Verlag f. Bauwesen 1973. 256 S. m. Abb., 3 Skizzenbeilagen, Leinen, 38 M.<br />

Dieses Buch ist aus einer Fotoausstellung des Instituts für Städtebau und Architektur an der Ost-<br />

Berliner Bauakademie hervorgegangen. Das Interesse, das die Gegenüberstellung alter und neuer<br />

Bausubstanz im alten Stadtzentrum allenthalben hervorrief, bewog die Aussteller schließlich zu<br />

einer Veröffentlichung des Bildmaterials, wobei die große Materialfülle eine Themenbeschränkung<br />

erforderlich machte. Der Band hat daher nur die drei Baukomplexe Unter den Linden, Breite<br />

Straße/Fischerkietz und Alexanderplatz zum Gegenstand, die zugleich drei wichtige städtebauliche<br />

Epochen Berlins repräsentieren.<br />

Auf die architekturgeschichtliche Einleitung, die jeden Gebäudeabschnitt einzeln beschreibt, folgt<br />

ein ausgedehnter Bildteil - rund 400 Abbildungen insgesamt, mit teilweise seltenen Aufnahmen,<br />

alten Grafiken und Entwurfskizzen aus den modernen Wettbewerben. Auch Details wie Türen,<br />

Friese, Treppenhäuser und dekorative Interieurs werden gezeigt. Der bereits genannte Reiz der<br />

Konfrontation von alt und neu, von mittelalterlicher Beschaulichkeit und friderizianischer<br />

Strenge, wilhelminischem Pomp und moderner Glätte kann ihre Wirkung nicht verfehlen. Mehr<br />

noch als der Text, der betont sachlich ist, reflektieren die Bilder das Schicksal von Häusern einer<br />

Stadt, die vielleicht mehr als andere die Etappen der herrschenden Gesinnungen in ihren Fassaden<br />

zum Ausdruck brachte. Die Vielfalt der einst vorhandenen Baustile zeugte indes auch von<br />

dem steten Wandel, der sich auf geistigem oder künstlerischem Gebiet vollzog und der auch nicht<br />

ausschloß, die Stilelemente verschiedener Epochen nebeneinander stehen zu lassen. Die eigentliche<br />

Konfrontation, den radikalen Bruch mit der bisherigen architektonischen Überlieferung ergab erst<br />

das Jahr 1945. Da die alter Berliner Innenstadt fast ein einziges Trümmerfeld war, konnten sich<br />

hier die „Grundsätze sozialistischen Städtebaus" voll entfalten - besonders sichtbar in Alt-Kölln,<br />

wo außer einigen Relikten in der Breitestraße und an der Friedrichsgracht nichts von der alten<br />

Bebauung übrig blieb. Es muß dem Betrachter überlassen bleiben, ob er in den neuen Straßenzügen<br />

so etwas wie ein „Antlitz" dieser Stadt erkennen kann, und wenn ja, welches.<br />

Die vorzügliche Bildausstattung des Buches wird leider durch die verworrene grafische Gestaltung<br />

und die mißverständlich plazierten Bilderläuterungen beeinträchtigt. Peter Letkemann<br />

Lieselott Enders (Bearb.): Historisches Ortslexikon für Brandenburg, Teil III: Havelland.<br />

Weimar: Böhlau 1972. 472 S., 1 Karte, Leinen, 32 M. (Veröff. d. Staatsarchivs Potsdam,<br />

Bd. 11.)<br />

Der 3. Teil des im Staatsarchiv Potsdam bearbeiteten Historischen Ortslexikons für Brandenburg<br />

umfaßt das Gebiet der ehem. Landkreise West- und Osthavelland sowie der ehem. Stadtkreise<br />

Brandenburg, Potsdam und Spandau. Zugrundegelegt werden - wie in den bereits zuvor erschienenen<br />

Teilen I: Prignitz und II: Ruppin - die Kreisgrenzen im Jahre 1900; mitbehandelt<br />

sind also auch die Gebiete, die seit 1920 den Bezirk Spandau von Groß-Berlin bilden.<br />

Im Gegensatz zu dem jüngst erschienenen Handbuch der historischen Stätten Deutschlands,<br />

Bd. 10 Berlin und Brandenburg (vgl. Besprechung in den „Mitteilungen" Jg. 70/1974, Nr. 14,<br />

S. 434 f.) sind die Bände des Historischen Ortslexikons statistisch-topographisch aufgebaut. Beide<br />

Nachschlagewerke ergänzen sich also. Unter den Stichworten „Art und Verfassung der Siedlung",<br />

„Gemarkungsgröße", „Siedlungsform", „erste schriftl. Erwähnung", „Gerichtszugehörigkeit",<br />

„Herrschaftszugehörigkeit", „Wirtschafts- und Sozialstruktur", „kirchliche Verfassung",<br />

„Baudenkmale" und „Bevölkerungsziffern" werden Angaben zu bestimmten Stichjahren, nicht<br />

nur für jede Gemeinde, sondern auch für alle anderen Wohnplätze gemacht. Besonderer Wert<br />

wird auf den Stichpunkt „Wirtschafts- und Sozialstruktur" gelegt; hierunter fallen z. B. die Besitzverhältnisse<br />

im ländlichen Raum sowie die Industrie- und Berufsverhältnisse. Als letztes<br />

Stichjahr ist - außer für den Bereich Berlin (West) - 1968 angegeben. Auch die abgegangenen<br />

Siedlungen (Wüstungen) werden mitbehandelt und noch einmal in einem Register gesondert<br />

aufgeführt.<br />

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Die in den Ortsstichworten gemachten Angaben beruhen weitgehend auf archivalischem Material,<br />

vor allem des Staatsarchivs Potsdam. So bildet das „Ortslexikon" eine vorzügliche Hilfe für<br />

jeden, der sich mit brandenburgischer Geschichte befaßt. Doch gibt es einige Einschränkungen:<br />

In den sonst sehr gründlichen Artikeln zu den heute zu Berlin-Spandau gehörenden Wohnplätzen<br />

fehlt jeder Hinweis auf Industriebetriebe neben den ehem. Rüstungsbetrieben und den Siemenswerken.<br />

Der Artikel „Berlin-Siemensstadt" (das Gebiet gehörte zum Kreis Niederbarnim) ist<br />

ebenfalls außerordentlich dürftig. Der seit 1920 zum Verwaltungsbezirk Spandau gehörige ehem.<br />

Gutsbezirk Ruhleben hätte ebenfalls einen eigenen Artikel verdient. Jedoch kann dies im -<br />

hoffentlich bald erscheinenden - Teil „Teltow" erfolgen. Felix Escher<br />

Gustav Sichelschmidt: Berühmte Berliner. Biographische Miniaturen. Berlin: Rembrandt-Verlag<br />

1973. 115 S., 12 Abb., Leinen, 12,80 DM.<br />

Dem 1972 erschienenen Büchlein „Große Berlinerinnen" (vgl. „Mitteilungen" Jg. 69/1973, H. 11,<br />

S. 331) ließ Sichelschmidt nun eine Sammlung von Kurzbiographien männlicher Vertreter des<br />

„Urbcrlinertums" folgen: In chronologischer Reihung skizziert er die Lebensgeschichten von Paul<br />

Gerhardt, Andreas Schlüter, Friedrich Nicolai, Ernst Ludwig Heim, Karl Friedrich Zelter, Alexander<br />

von Humboldt, Achim von Arnim, Ludwig Devrient, Albert Lortzing, August Borsig,<br />

Theodor Fontane und Otto Lilienthal. Das Interesse gilt also Personen aus gehobenem Bürgertum<br />

und Adel des 17. bis 19. Jahrhunderts, die sich auf dem Gebiet der Literatur und Musik, der<br />

Naturwissenschaften und Technik hervorgetan haben. Bildhauerei und Schauspiel dagegen wurden<br />

in die Randposition verwiesen; Maler oder auch Geisteswissenschaftler - bedeutende Historiker<br />

etwa oder der für Berlin so wichtige Wilhelm von Humboldt - fehlen ganz. Bei dieser<br />

Auswahl ist die Vorliebe für Willens-, Tat- und Erfolgsmenschen auffällig. Allenfalls große<br />

Künstler dürfen sich Extravaganzen leisten. Eine recht populäre Auffassung von „Urberlinertum"<br />

mit den Attributen „Arbeit, Kritik und Wirklichkeitssinn" (S. 29) sowie Goethes Ansicht<br />

über die Berliner (S. 44) stecken den Rahmen ab für die Charakterbilder. Im einzelnen werden<br />

Zielbewußtsein, Eigenständigkeit, Freimut, praktische Veranlagung, Entschlossenheit sowie Mangel<br />

an Sentimentalität als die hinlänglich bekannten Tugenden gerühmt - neue Aspekte bieten<br />

sich dem Leser kaum.<br />

Über die Sprachgebung und den Stil etwas sagen hieße das über die „großen Berlinerinnen" gefällte<br />

Urteil wiederholen. Besonders im ersten und zweiten Kapitel ist die Neigung zu Phrasen<br />

wieder recht störend, und nicht immer ist das Deutsch einwandfrei: Ober die Wittenberger Jahre<br />

Paul Gerhardts z. B. liegt Dunkel, auch die Schatten über seine Mittenwalder Jahre weichen<br />

nicht (S. 9, S. 11); Schlüter hängte gar die Köpfe seiner sterbenden Krieger an Schilden, und<br />

Borsig schließlich residiert wie ein König über ein unübersehbares Heer von Mitarbeitern (S. 16,<br />

S. 95). Wie die Zitate aus ,Eckermann' beweisen, kennt der Autor zwar seinen Goethe gut, doch<br />

verwirrt ihm die Emphase die Grammatik auf recht berlinische Weise. Zudem hätte man gern<br />

statt manchen Goetheworts Auszüge aus den gelegentlich erwähnten eigenhändigen Lebensberichten<br />

Nicolais oder Zelters gelesen. Eva Wirsig<br />

Rudolf Dörrier u.a.: Pankow. Chronik eines Berliner Stadtbezirkes. Herausgegeben vom Rat<br />

des Stadtbezirkes Berlin-Pankow 1971. VIII, 326 S. m. Abb. u. Plänen.<br />

Diese in einer vorzüglichen Ausstattung erschienene Geschichte des Stadtbezirkes Berlin-Pankow<br />

wendet sich an einen breiten Leserkreis. Sie gliedert sich in zwei Teile: Im ersten gibt der Verfasser<br />

einen chronologischen Abriß der Geschichte des Dorfes Pankow sowie der anderen, 1920<br />

zum Bezirk Berlin-Pankow zusammengefaßten Ortsteile von der Vorzeit bis zum Jahre 1948.<br />

Der zweite, umfangreichere Teil ist nach Sachgruppen geordnet. Die Entwicklung 1948 bis 1968<br />

von Dienstleistungen und Handwerk, der Land- und Gartenwirtschaft, der Industrie, des Bau-,<br />

Verkehrs- und Gesundheitswesens, der Volksbildung, der Kulturarbeit und der staatlichen und<br />

gesellschaftlichen Institutionen wird hier vorgestellt.<br />

Besonderes Gewicht wird im ersten Teil auf die Entwicklung der Pankower Ortsteile im späten<br />

19. und dem 20. Jh. gelegt. Ausführlich geht der Autor auf den Gang der Bebauung, die Industrie-<br />

und Verkehrsentwicklung des Gebietes, die Anfänge der Arbeiterbewegung, die Novemberrevolution,<br />

den Widerstand gegen den Fasdiismus und die Zeit während des Zweiten Weltkrieges<br />

ein. Auch der Stellung Pankows in Literatur und Kunst wird breiter Raum gegeben: in Niederschönhausen<br />

wohnte u. a. zeitweilig Arno Holz.<br />

Die unter Mitarbeit von Fachleuten des jeweiligen Gebietes entstandenen Abschnitte des zweiten<br />

Teils geben einen sachlichen Überblick über die Entwicklung der kommunalen und gesellschaftlichen<br />

Einrichtungen des Stadtbezirkes bis 1968. In einem Nachtrag werden die Veränderungen<br />

1968 bis 1970 zusammengefaßt. - Diese Geschichte Pankows ist mit viel Liebe zum heimatkundlichen<br />

Detail geschrieben. Es bleibt zu hoffen, daß auch andere Ostberliner Bezirke eine Chronik<br />

in ähnlicher Form herausbringen. Felix Escher<br />

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Bruno Aust: Stadtgeographie ausgewählter Sekundärzentren in Berlin (West). Berlin: Reimer<br />

1970. 151 S., 32 Abb., 7 Ktn., brosch., 19 DM.<br />

Eine der vielen Besonderheiten des von dem historischen Zentrum der Gesamtstadt abgeschnittenen<br />

West-Berlin ist die Entwicklung neuer zentraler Bereiche. Neben den politisch-administrativen<br />

Zentren in Schöneberg und um den Fehrbelliner Platz konnte am ehesten das Zooviertel<br />

mit einem vielseitigen Angebot an zentralen Dienstleistungen, Vergnügungs- und Kulturstätten,<br />

an Geschäften für den Luxusbedarf sowie als Zentrum der Berliner Konfektionsindustrie Teilfunktionen<br />

der alten City übernehmen. Jedoch nicht in allen Bereichen konnte das Zooviertel<br />

eine Vorrangstellung erringen. Namentlich für den Dienstleistungs- und Einzelhandlungsbereich<br />

entstanden in verschiedenen Stadtteilen weitere Zentren. Der Untersuchung dieser, in anderen<br />

Arbeiten „Nebencities", im vorliegenden Falle zur Unterscheidung vom „Primärzentrum", dem<br />

Zooviertel, „Sekundärzentren" genannten Gebiete ist diese Arbeit gewidmet.<br />

Detailliert werden die drei „Sekundärzentren" Steglitz-Schloßstraße, Charlottenburg-Wilmersdorfer<br />

Straße und Tegel-Berliner Straße behandelt. So werden u. a. Baustruktur, Gebäudenutzung,<br />

Arbeits- und Wohnverhältnisse, Mietpreise und Passantenströme der genannten Bereiche,<br />

insbesondere der Wilmersdorfer Straße, untersucht. Mit Hilfe einer Repräsentativumfrage<br />

ist der Versuch unternommen worden, eine Gliederung von Berlin (West) in Raumeinheiten<br />

nach der Zuordnung zu einzelnen Zentren zu erstellen. Das Ergebnis dieses Versuchs ist eine<br />

Karte der Raumeinheiten. Innerhalb der Einheiten zeigen sich zu einzelnen Angeboten (Warenhaus,<br />

Bekleidungsgeschäft und Luxusgeschäft) weitere Differenzierungen zwischen den insgesamt<br />

11 Sekundärzentren. Es wird so möglich, eine „Hierarchie" der Sekundärzentren aufzustellen. -<br />

Interessant wäre obendrein der Versuch, die Verkehrsverhältnisse der Sekundärzentren mit den<br />

Ergebnissen dieser Arbeit in Beziehung zu setzen. Felix Esdier<br />

Heinz Müller: Kampftage in Berlin. Ein deutscher Antifaschist und Internationalist berichtet.<br />

(Ost-)Berlin: Dietz 1973. 174 S., 11 Abb., Leinen, 6 M.<br />

Der Untertitel des Buches führt mitten in die Problematik hinein. Der junge Luftwaffenoffizier<br />

Müller berichtet aus eigenem Erleben über seinen und seiner Genossen antifaschistischen Kampf<br />

während des 2. Weltkrieges. Der Bericht beginnt mit Müllers abenteuerlicher Flucht in einem<br />

gekaperten Flugzeug nach Rußland im Januar 1944.<br />

Über die antifaschistische Frontschule der 4. Ukrainischen Front gelangte Müller schließlich<br />

nach Moskau und Ende Februar 1944 nach Krasnogorsk. Hier traf er mit Walter Ulbricht<br />

zusammen, der ihn aufforderte, der Bewegung „Freies Deutschland" beizutreten (S. 31). Es galt<br />

vor allem die Propagandaarbeit gegen Hitler unter den Soldaten und Offizieren des deutschen<br />

Heeres aufzunehmen. Müller wurde für diese Arbeit in eigens dafür eingerichteten Instituten<br />

geschult. Ende September 1944 erhielt Müller zusammen mit einigen anderen Antifaschisten den<br />

Auftrag, nach Deutschland zurückzukehren, um „den Stab einer bestimmten faschistischen Dienststelle<br />

ausfindig zu machen und entsprechende Informationen darüber zu geben" (S. 38). Im<br />

Anschluß daran sollten in Berlin Kampfmaßnahmen gegen die Herrschaft Hitlers ergriffen<br />

werden. Hierzu gehörte auch die „Aktion Avus", in deren Verlauf drei SS-Leute den Tod<br />

fanden (vgl. den Abdruck der Dokumente zwischen S. 96 und S. 97).<br />

Charakteristisch für den antifaschistischen Widerstandskampf war die permanente Gefahrensituation,<br />

in der die daran Beteiligten standen. Heinz Müllers Erlebnisbericht schildert dies an<br />

vielen Einzelbeispielen mit großer Eindringlichkeit. Hans Jürgen Meinik<br />

Herbert Scurla: Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin. 5. Aufl. (Ost-)Berlin:<br />

Verlag der Nation 1971. 527 S. mit Abb., Leinen, 12,80 M.<br />

Wie kaum anders zu erwarten, ist dem profunden Kenner der Berliner Klassik und Romantik -<br />

erinnert sei an seine umfassende Darstellung der historischen und geistigen Welt Wilhelm von<br />

Humboldts - in seinem Rahel-Werk ein außerordentlich getreues, den politischen, gesellchaftlichen<br />

und künstlerischen Kräften der Epoche zwischen 1780 und 1830 nachspürendes Zeitgemälde<br />

gelungen. Wir werden nicht nur mit einem anschaulichen, die sozialen Verhältnisse zu Ende des<br />

18. Jahrhunderts farbig widerspiegelnden „Mosaik" Berlins beschenkt, vielmehr auch mit liebevoller<br />

Umsicht in die vielfältigen Beziehungen eingeführt, in die das Leben Raheis und ihres<br />

Mannes eingefügt war: Ob es sich um die diplomatischen Vorbereitungen der deutschen Erhebung<br />

und den endlichen Fall. Napoleons, um die Verbindungen zur damaligen eben gegründeten<br />

Universität mit ihren geistigen Repräsentanten Fichte, Schleiermacher, Hegel handelt, oder um<br />

die der älteren und jungen Romantik von den Brüdern Schlegel bis zu den „Liederbrüdern"<br />

Clemens Brentano und Achim von Arnim. Daß neben Berlin auch Weimar mit seinen weit in das<br />

damalige geistige Europa hinausreichenden Fäden in dieser Darstellung seinen gebührenden<br />

Platz findet, bedarf kaum einer Betonung. Summa summarum: Ein dankenswertes Werk, das<br />

den Leser mit einem reichen Schatz an Informationen und vielfältigen Anregungen für eine<br />

weitere Beschäftigung mit dieser Epoche entläßt. Hans Joachim Mey<br />

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Karl Kiha: Die Beschreibung der „Großen Stadt". Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der<br />

deutschen Literatur (ca. 1750 - ca. 1850). Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich: Gehlen 1970.<br />

182 S., Leinen, 28 DM. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik, Bd. 11.)<br />

Riha bietet in dieser Studie zunächst einen detaillierten Überblick zum Stand der Stadt-<br />

Forschung in der Literatur (S. 7-19, 20-38). Über die bisherigen Forschungsansätze zu dieser<br />

Thematik geht er dann hinaus, indem er das „Beobachtungsfeld" erweitert und „bewußt solche<br />

außerliterarischen Texte, eine scheinbar abseitige, auch unterströmige Literatur" in den Rahmen<br />

seiner Untersuchungen mit einbezieht (S. 18). Zum Komplex des „Stadt-Erlebnisses" heißt es<br />

eigens (S. 40): „Unser besonderes Interesse gilt den außer- und vorliterarischen Formen, in die<br />

diese Erlebnisse gefaßt sind, und dem Weg, auf dem sie in die Literatur kommen."<br />

Zur Zeit der Drucklegung dieser Arbeit erschien allerdings gerade die bedeutsame Arbeit von<br />

Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis<br />

Döblin, München 1969. Riha hofft indessen, daß sich „dem großen europäischen Rahmen bei<br />

Klotz" die eigene Arbeit „im engeren motivischen Bereich der deutschen Literatur als konkretisiertes<br />

Detail" einfügt (S. 19, Anm. 59). In der Tat breitet Rihas Studie eine Fülle von Details<br />

zum Motiv- und Stoffkomplex der „Großen Stadt" aus. Bei der Rubrizierung der verschiedenen<br />

Romane zum Thema der Stadt ergeben sich allerdings einige methodische Schwierigkeiten<br />

(S. 29 f). Dies wird deutlich bei dem Vergleich beispielsweise so grundverschiedener Werke wie<br />

Fontanes Berliner Romane und etwa Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz". Im letztgenannten<br />

Roman wird die Stadt selbst zum erzählten Subjekt. Berlin erscheint als „Moloch", der das<br />

Schicksal der Menschen beeinflußt und ihre Lebenssphäre prägt.<br />

Interessante Aspekte - auch im Hinblick auf soziale Themenbereiche - werden bei der Behandlung<br />

anderer großer Städte (bes. Paris und London) offengelegt (S. 40 ff,). Bei der Auseinandersetzung<br />

mit den Einzel werken geht es vornehmlich um Adalbert Stifters „Wien und die Wiener",<br />

Friedrich Nicolais „Sebaldus Nothanker", Ludwig Tiecks „William Lovell", E. T. A. Hoffmanns<br />

„Des Vetters Eckfenster", Franz Grillparzers „Der arme Spielmann" und Gottfried Kellers „Der<br />

grüne Heinrich". Hierbei ist es Riha um „Modellanalysen" zu tun, die seine These, „daß die<br />

dichterische Gestaltung des Großstadtstoffes in engem Zusammenhang mit einer allgemeinen<br />

Entwicklung des Stoffes gesehen werden müsse", unterstützen sollen. Hans Jürgen Meinik<br />

Berliner Malerpoeten. Eine Anthologie. Hrsg. v. Aldona Gustas, mit einer Einleitung v. Karl<br />

Krolow. Herford: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1974. 148 S., 54 z.T. färb. Abb., lam.<br />

Pappbd., 39,50 DM.<br />

Die hier vorliegende Publikation soll beweisen, so wollen es die Editoren, daß z. Z. mehrere<br />

Künstler in West-Berlin leben, denen sowohl die Prosa und Lyrik wie auch die Malerei und<br />

Plastik die Möglichkeit zu künstlerischer Ausdrucksform bietet. Von Günter Bruno Fuchs, Günter<br />

Grass, Aldona Gustas und Roger Loewig über Märchen, Christoph Meckel, Curt Mühlenhaupt<br />

und Karl Oppermann bis Robert Wolfgang Schnell, Wolfdietrich Schurre, Friedrich Schröder-<br />

Sonnenstern, Joachim Uhlmann und Hans-Joachim Zeidler werden dem Leser diese „Doppelbegabungen"<br />

mit ihren Texten und Bildern vorgestellt. Arrivierte stehen neben jenen, die bislang<br />

überwiegend auf der lokalen Kunstszenerie Beachtung fanden. Leider kann dieser Dokumentation<br />

lediglich ein bedingter Erfolg zugestanden werden. Das liegt einmal an der nur sehen vorhandenen<br />

Spontaneität. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es hier mit einem „gewollten"<br />

Buch zu tun zu haben; mit einer gewissen Sterilität als Ergebnis, die z. B. die Bücher der Rabenund<br />

Eremiten-Presse nicht aufweisen.<br />

Sind die Grafiken und Bilder z. T. noch recht amüsant und die Prosatexte - Grass „blechtrommelt"<br />

wieder Sozialkritisches - noch verständlich, so befällt einem bei der modernen Lyrik das<br />

Gefühl, inhaltslosen „Sprachübungen" beizuwohnen. Auch der Vergleich zu E. T. A. Hoffmann,<br />

Goethe, Wilhelm Busch und Alfred Kubin wirkt voreilig, ja überheblich, da hiermit Quantität<br />

gegen Qualität gesetzt wird. Selbst der bis zum Jahresende 1974 gültige Vorzugspreis von 35 DM<br />

dürfte unter diesen Aspekten von den Interessenten als zu hoch empfunden werden.<br />

Klaus P. Madei<br />

Eingegangene Bücher<br />

(Besprechung vorbehalten)<br />

Theodor Fontane. Hrsg. von Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraut Wiethölter.<br />

München: Heimeran 1973. 2 Bände, 842 u. 873 S. (Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 12/1<br />

u. IL)<br />

Kmiecik, Edward: Berliner Victoria. 24. IV.-2. V. 1945. Polnische Soldaten am Brandenburger<br />

Tor. Warschau: Ruch 1972. 69 S. m. Abb.<br />

14


Kupjerberg, Herbert: Die Mendelssohns. Tübingen/Stuttgart: Wunderlich 1972. 304 S. mit Abb.<br />

Das Märkische Museum und seine Sammlungen. Festgabe zum 100jährigen Bestehen des kulturhistorischen<br />

Museums ... im Jahre 1974. (Ost-)Berlin: Mark. Museum 1974. 195 S. m. Abb.<br />

Ribbe, Wolfgang: Die Aufzeichnungen des Engelbert Wusterwitz. Berlin: Colloquium 1973.<br />

264 S. (Einzelveröff. d. Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 12)<br />

Schellenberg, Carl (Hrsg.): Alfred Lichtwark - Briefe an seine Familie 1875-1913. Hamburg:<br />

Christians 1972. 777 S.<br />

Schmidt, Paul: So gingen sie dahin . . . Die Chronik der Familie Kleinschmidt (1876-1946).<br />

Ulm: Hess 1969. 619 S.<br />

Schmidt, Valentin Heinrich, u. Daniel Gottlieb Gebhard Mehring: Neuestes gelehrtes Berlin oder<br />

literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen.<br />

2 Bde. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1795. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1973. 294 u.<br />

308 S.<br />

Schneidereit, Otto: Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette. (Ost-)Berlin:<br />

Henschelverlag 1974. 148 S. m. Abb.<br />

Schönstedt, Walter: Kämpfende Jugend. Roman der arbeitenden Jugend. 2. Aufl. Berlin: Oberbaumverlag<br />

1972. 204 S.<br />

Schreckenbach, Hans-Joachim: Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg. Teil III<br />

(Orte u. Ortsteile, 1). Weimar: Böhlau 1972. 584 S.<br />

v. Weiher, Siegfried: Berlins Weg zur Elektropolis. Berlin: Stapp/Berlin u. München: Siemens AG<br />

1974. 206 S. m. Abb.<br />

Weißhuhn, Gernot: Alternativprojektionen des wirtschaftlichen Wachstums in West-Berlin bis<br />

zum Jahre 1980. Berlin: Duncker & Humblot 1972. 63 S. (DIW-Beiträge zur Strukturforschung,<br />

H. 23.)<br />

Wiebach, Ursula: Hotelpension Mailion. (Ost-)Berlin: Militärverlag der DDR 1973. 224 S.<br />

Zerna, Herta, u. Kurt Mühlenhaupt: Inmitten von Berlin. Düsseldorf/Hamburg: M. v. Schröder<br />

1973. 80 S., 30 Abb.<br />

'Zivier, Ernst R.: Der Rechtsstatus des Landes Berlin. Eine Untersuchung nach dem Viermächte-<br />

Abkommen vom 3. Sept. 1971. Berlin: Berlin Verlag 1973. 263 S.<br />

Im IV. Vierteljahr 1974<br />

haben sich folgende Damen und Herren<br />

Torsten R. Birlem, Dipl.-Soz.<br />

1 Berlin 30, Fuggerstraße 24<br />

Tel. 2 11 77 45 (Schriftführer)<br />

Wilfried Göpel, Journalist<br />

1 Berlin 30,<br />

Prinz Friedr.-Leopold-Straße 34<br />

(Dr. Letkemann)<br />

Edith Hobbing, Beamtin<br />

1 Berlin 62, Meininger Straße 7<br />

Tel. 7 84 74 07 (M. Thiemicke)<br />

Helene Kalbhenn, Kauffrau<br />

1 Berlin 20, Jägerstraße 25<br />

Tel. 3 61 90 48 (R. Koepke)<br />

Elisabeth Knispel, Verw.-Angest.<br />

1 Berlin 19, Wundtstraße 40-44<br />

Tel. 3 06 82 45 (R. Sylvester)<br />

Günther König, Amtsleiter<br />

1 Berlin 61, Tempelhofer Ufer 12<br />

Tel. 2 51 93 38 (R. Koepke)<br />

Edith Lemme, Sozialarbeiterin<br />

1 Berlin 31, Brabanter Straße 16<br />

Tel. 8 22 89 84 (R. Sylvester)<br />

Eva Maria Lüdeke, Oberstud.-Rätin a. D.<br />

1 Berlin 45, Margaretenstraße 36<br />

Tel. 8 32 49 86 (A. Hamecher)<br />

zur Aufnahme gemeldet:<br />

Hildegard Mattusch, Verw.-Angest.<br />

4 Düsseldorf, Karolingerstraße 18<br />

Tel. 34 02 94 (Dr. Leichter)<br />

Johannes Posth, Bankdir. i. R.<br />

Istanbul-Tophane/Türkei, Cli Apt. 5<br />

Izzetpasa so.<br />

Tel. 44 13 39 (Dr. J. Posth)<br />

Margarete Rettig<br />

1 Berlin 22, Niendorfweg 6<br />

Tel. 3 53 49 40 (A. Behrbohm)<br />

Hilde Ribbe, Oberstudiendirektorin<br />

1 Berlin 33, Koenigsallee 34<br />

Tel. 8 26 40 79 (R. Koepke)<br />

Frieda Senger, Reg.-Ob.-Sekr. a. D.<br />

1 Berlin 61, Fürbringerstraße 3<br />

Tel. 6 92 65 10 (K. R. Schütze)<br />

Kurt Smolka, Ing.<br />

1 Berlin 28, Nimrodstraße 20<br />

Tel. 4 11 16 00 (Schriftführer)<br />

Clara-Sybilla Wiegmann, Wirtschaftsleiterin<br />

1 Berlin 33, Nikischstraße 2<br />

Tel. 8 26 20 66 (I. Köhler)<br />

Dr. Heinz Wiegmann, Arzt<br />

1 Berlin 33, Nikischstraße 2<br />

Tel. 8 26 20 66 (I. Köhler)<br />

15


Veranstaltungen im I. Quartal 1975<br />

1. Sonnabend, 11. Januar, 10 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Von Schinkel bis<br />

Mies van der Rohe" in der Sonderausstellungshalle des Museums Dahlem, Eingang<br />

Lansstraße (U-Bahnhof Dahlem-Dorf).<br />

Es führt der Direktor der Kunstbibliothek Berlin, Prof. Dr. Ernst Berckenhagen.<br />

2. Dienstag, 21. Januar, 19.30 Uhr: Gemeinschaftsveranstaltung mit der Gesellschaft<br />

für deutsche Postgeschichte, Bezirksgruppe Berlin: Lichtbildervortrag von Herrn<br />

Gerd Gnewuch, „Aus 125 Jahren Berliner Postgeschichte".<br />

Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

3. Dienstag, 28. Januar, 19 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 110. Jahrestages der Gründung<br />

unseres Vereins im Großen Saal der Hochschul-Brauerei, Amrumer Straße 31<br />

(Ecke Seestraße; U-Bahnhof Amrumer Straße, Busse 16, 64, 65, 89). Es spridit<br />

Alfred Braun.<br />

Anmeldung an Frau Ruth Koepke bis zum 22. Januar (mit evtl. Diätwünschen).<br />

Endpreis pro Gedeck 9 DM.<br />

4. Dienstag, 11. Februar, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Egon Fouquet:<br />

„Die Hugenotten, 2. Teil: Berlin-Brandenburg".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Sonnabend, 22. Februar, 10 Uhr: „Die Bronzezeit und ihre Spuren im Berlin-Brandenburger<br />

Raum". Direktor Prof. Dr. Adriaan v. Müller führt durch das Museum<br />

für Vor- und Frühgeschichte, Schloß Charlottenburg, Langhans-Flügel.<br />

6. Dienstag, 11. März, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Ilse Reicke:<br />

„Berlins berühmte Malerinnen und die von ihnen Porträtierten".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Sonnabend, 22. März, 10 Uhr: Herr Karlheinz Gravc führt durch das Berliner<br />

Post- und Fernmeldemuseum (im Gebäude der Urania).<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen<br />

geselliges Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 24. Januar, 21. Februar und 21. März, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für das Jahr 1974.<br />

Mit dem vorliegenden Heft beginnt eine neue Zählung der Hefte und Seiten. Das Gesamtinhaltsverzeichnis<br />

und das Namensregister für die Jahrgänge 1971 bis 1974 der „Mitteilungen"<br />

wird mit Nr. 2 ausgeliefert.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Ruth Koepke, 1 Berlin 61,<br />

Mehringdamm 89, Ruf 6 93 67 91. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 4 65 90 11. Schatzmeister: Landgerichtsrat a.D. D. Franz, 1 Berlin 41, Grunewaldstraße<br />

5, Ruf 7 91 57 41. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus). Geöffnet: freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Klaus P.<br />

Mader; Günter Wollschlaeger. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

16


- A 20 377 F<br />

J"$$$9^i. d$T u~. ürj^r ^faviibibiiothek<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

71. Jahrgang Heft 2 April 1975<br />

17


„Melpomenens und Thaliens Günstling"<br />

Zum 200. Todestag des Schauspieldirektors H. G. Koch<br />

Von Rainer Theobald<br />

Betrachtet man einerseits die „Kränze", die heute etwa einem vor zwei Jahrhunderten<br />

geborenen Maler der Romantik „geflochten" werden, und sucht andererseits vergebens<br />

nach der bescheidensten Zeitungsnotiz, die an den 200. Todestag eines Bühnenkünstlers<br />

erinnern könnte, so erweist das einst arg strapazierte Schillerwort vom „Mimen" noch<br />

immer seine Gültigkeit. Das Kunstwerk des Schauspiels ist erst in unserem Jahrhundert<br />

konservierbar geworden; was weiter zurückliegt, kann nur aus Spielvorlagen, Bildern<br />

und Berichten höchst unzulänglich vor unserem geistigen Auge wiedererstehen. Vollständig<br />

rekonstruierbar ist es auch mit theaterwissenschaftlicher Methodik nicht, weil das<br />

Element „Publikum", dessen unwägbare Rückwirkung auf das künstlerische Produkt<br />

beim Theater viel größer ist als bei der Rezeption anderer Künste, sich solcher Rekonstruktion<br />

entzieht.<br />

Es nützte Heinrich Gottfried Koch 1 nichts, daß er den prominentesten Theaterkritiker<br />

seines Jahrhunderts, der als erster das Problem der Vergänglichkeit der Schauspielkunst,<br />

der „transitonschen Malerei", systematisch untersuchte, daß er Gotthold Ephraim Lessing<br />

zu seinen vielen Freunden und Verehrern zählen konnte. Als der Direktor der „Kochischen<br />

Gesellschaft Deutscher Schauspieler" am 3. Januar 1775 in Berlin gestorben war,<br />

blieb die Leistung seines Lebens noch im Bewußtsein einer Generation erhalten; im<br />

19. Jahrhundert war Heinrich Gottfried Koch nur noch ein Name, der in literaturwissenschaftlichen<br />

Abhandlungen immer wieder erwähnt werden mußte, wenn von literarischen<br />

Größen der Aufklärung die Rede war. 25 Jahre lang hatte er mit fast allen namhaften<br />

Bühnenschriftstellern seiner Zeit Hand in Hand gearbeitet; deren Werke können wir<br />

heute noch lesen, angemessen beurteilen können wir sie jedoch nur, wenn wir die Wirkung<br />

in ihrer Zeit betrachten, wenn wir uns die Existenz- und Produktionsbedingungen<br />

der deutschen Wanderbühnen des 18. Jahrhunderts vor Augen führen, die Heinrich Gottfried<br />

Koch einen lange zu wenig beachteten, aber in vieler Hinsicht bedeutsamen Fortschritt<br />

zu verdanken hatten.<br />

1 So lautet die Reihenfolge der Namen korrekt, nicht „Gottfried Heinrich", wie oft zu lesen<br />

ist. - Über Kodi existiert eine unübersehbare Literatur, jedoch, im Gegensatz zu den anderen<br />

bedeutenden Prinzipalen seiner Zeit, keine wissensdiaftliche Gesamtwürdigung. Paul Legband<br />

(vgl. Anmerkung 23) kündigte bereits 1902 eine „auf archivalisches Material sidi stützende<br />

Darstellung" an, die aber nie erschienen ist. Über Kochs Tätigkeit in Leipzig, Hamburg und<br />

Berlin unterrichten die frühen lokalen Theatergesdiichten von H. Blümner (Leipzig 1818),<br />

J. F. Schütze (Hamburg 1794) und C. M. Plümicke (Berlin 1781). Wichtiges Archivmaterial<br />

ist bei Reden-Esbeck („Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen", Leipzig 1881) und vor allem<br />

bei M. Fürstenau („Der Prinzipal Johann Gottfried Heinrich Koch in Dresden 1764 und<br />

1765". In: Almanach d. Genossenschaft dt. Bühnen-Angehöriger, 1875, S. 17-30) abgedruckt.<br />

Einige der zeitgenössischen Quellensdiriften sind in den Anmerkungen 22, 23 und 25 genannt.<br />

Die maschinenschriftliche Dissertation von Elisabeth Prick („Heinrich Gottfried Koch und<br />

seine Schauspielergesellschaft bis zum Bruch mit Gottsched", Frankfurt 1925), die nur die erste<br />

Hälfte seiner Wirkungszeit behandelt, konnte für den vorliegenden Aufsatz nicht benutzt<br />

werden.<br />

IS


Der Begriff der „Wandertruppe" als einer für das deutsche Theater zweier Jahrhunderte<br />

typischen Erscheinung erweckt für den Laien häufig noch die unrichtige Vorstellung von<br />

minderwertigen „Schmierenkomödianten". Die Truppen des deutschsprachigen Berufstheaters<br />

zwischen 1650 und 1800 waren aber weniger aus Mangel an Qualität zum Wandern<br />

gezwungen als aus Mangel an Publikum. Die Gesellschaftsschicht, die genügend Geld<br />

und Zeit zum Theaterbesuch besaß, war der Adel, der sich jedoch fast völlig an französischer<br />

und italienischer Kultur orientierte, oft überhaupt nur mangelhaft deutsch sprach.<br />

Die meisten Höfe hielten sich italienische Opern- und französische Schauspieltruppen; die<br />

Akteure des deutschen Sprechtheaters waren vorwiegend auf ein wohlhabendes bürgerliches<br />

Publikum angewiesen, das aber selbst in den größeren Städten nicht zahlreich und<br />

gebildet genug war, um die Existenz einer stehenden Bühne zu ermöglichen. Durch einen<br />

Teufelskreis von Barrieren wurde das deutsche Theater mit seinen Künstlern bis weit in<br />

das 18. Jahrhundert hinein am Rande der Gesellschaft und der kulturellen Entwicklung<br />

gehalten: Von der Kirche als „weltliches Laster" erbittert bekämpft, durch Feiertage und<br />

-fristen wie Advent- und Fastenzeit oder Landestrauer in den Spielzeiten stark eingeschränkt,<br />

erhielten die Wanderbühnen durch die Räte der Städte, wenn überhaupt,<br />

jeweils nur kurze Aufenthalte bewilligt, die mit Abgaben und Auflagen verschiedenster<br />

Art verbunden waren. Da auch die Eintrittspreise meist durch die Stadtväter festgesetzt<br />

oder zumindest limitiert wurden, war die Truppe, die im Durchschnitt aus 20 bis 25 Personen<br />

bestand, auf äußerste Sparsamkeit angewiesen: Das Theater, ein gemieteter Saal<br />

oder ein eigens errichteter Holzbau, mußte primitiv bleiben, die Dekorationen und<br />

Kostüme, die ohnehin durch den ständigen Transport litten, mußten ärmlich bleiben. Die<br />

Aufführungen mußten, um den kleinen Kreis des Publikums zu unterhalten, in täglichem<br />

Wechsel das bringen, was „ankam": Sensationen und Zoten. Um den Schauspielern das<br />

Existenzminimum zu sichern, blieb das Theater das „Vergnügen des Pöbels", ohne seinem<br />

Inhalt nach wirklich volkstümlich zu sein. Anders als in Frankreich und England hatte<br />

sich aber auch die Literatur weit vom Theater entfernt. Die Truppen mußten sich ihr<br />

Repertoire mühsam aus Übersetzungen zusammenstoppeln, die durch die Einfügung der<br />

„lustigen Person", des Harlekin oder Hanswurst, publikumswirksam zugestutzt wurden.<br />

Das Sprechtheater konnte also von sich aus nicht salonfähig werden und zog sich dadurch<br />

wieder die Verachtung der Reichen, Mächtigen und Gebildeten zu, die in dieser frühbürgerlichen<br />

Phase allein imstande gewesen wären, es zu dem kulturellen Faktor zu erheben,<br />

den es im Ausland darstellte. Erst die Bemühungen des einflußreichen Leipziger<br />

Universitätsprofessors Gottsched, Theater und Literatur zu vereinen, indem er die beste<br />

Schauspieltruppe seiner Zeit dazu bewog, die hanswurstgespickten „Haupt- und Staatsaktionen"<br />

durch „regelmäßige" Stücke nach französischem Vorbild zu ersetzen, leiteten<br />

die Entwicklung ein, die vor allem durch vier hervorragende Theaterpersönlichkeiten,<br />

Friederike Caroline Neuher, Johann Friedrich Schönemann, Konrad Ernst Ackermann<br />

und Heinrich Gottfried Koch, eine stetige ästhetische und gesellschaftliche Aufwertung<br />

der Schauspielkunst bewirkte, bis mit der Gründung der ersten „Nationaltheater" und<br />

dem Beginn der „klassischen" Epoche der Literatur auch das deutschsprachige Theater<br />

seine volle Emanzipation erreicht hatte.<br />

„Die Nachricht von Koch, daß er nach Berlin gehen werde, habe ich der Herzogin von<br />

Weimar gesagt, die sie aber nicht glauben will. Sie versicherte, daß er sich anheischig gemacht,<br />

diesen Sommer wieder nach Weimar zu kommen", schreibt Lessing am 26. Mai<br />

1771 an seinen Bruder Karl nach Berlin. Die Herzogin wurde enttäuscht: Durch den<br />

19


Tod des jüngeren Schuck- wurde das „preußische Privilegium" (d. h. die königliche Spiel-<br />

Konzession für Preußen) frei, und Koch nutzte schnell entschlossen die Möglichkeit, in<br />

einer Berufswelt ruhelosen Existenzkampfes zum vierten Mal eine solide Basis zu errichten,<br />

womöglich hier in stabilen Verhältnissen seine endgültige Wirkungsstätte zu finden,<br />

obwohl gerade Berlin zu den wenigen großen Städten gehörte, deren Publikum er noch<br />

nicht kennengelernt hatte.<br />

1703 in Gera als Sohn eines Kaufmanns geboren, hatte er an der Leipziger Universität<br />

Jura studiert, ehe er, wie so viele Studenten seiner Zeit 3 , in materieller Not über die<br />

gesellschaftlichen Schranken zum Theater wechselte. Anlaß dazu gab das Auftreten der<br />

1727 gegründeten Neuberschen Schauspieltruppe, bei der wir Koch ein Jahr später finden.<br />

Seine Bildung und die vorzügliche Schule der „Neuberin" verhalfen seiner Begabung<br />

zu rascher Entfaltung: Er betätigte sich nicht nur als Schauspieler, sondern auch als<br />

Autor und Übersetzer 4 ; sogar als Dekorationsmaler leistete er Beachtliches 5 . Durch zwei<br />

Dezennien nahm er, zunächst in tragischen, später in komischen Rollen exzellierend, an<br />

den Wanderungen der Neuberschen Truppe, an den Erfolgen und Rückschlägen ihrer<br />

Theaterreform teil. 1737 vermählte er sich mit einem Mitglied ihrer Gesellschaft, einer<br />

Schwägerin des Kupferstechers Bernigeroth, von dem uns Bildnisse Kochs und seiner<br />

zweiten Frau bekannt sind". Der allmähliche wirtschaftliche und künstlerische Niedergang<br />

des Ensembles der berühmten Prinzipalin, die, bei aller bewundernswerten Tatkraft und<br />

von hohem Ethos getragenen Auffassung ihres Berufes in einer feindseligen Umwelt,<br />

nach ihrer Rückkehr aus Rußland und dem Bruch mit Gottsched nicht mehr die Beziehungen,<br />

die Beweglichkeit und Geschäftstüchtigkeit besaß, um veränderten Ansprüchen<br />

und neuen Konkurrenten zu begegnen, veranlaßte Koch 1743, sein Glück bei anderen<br />

renommierten Schauspielgesellschaften in Hamburg 7 und Prag 8 zu versuchen. Doch kehrte<br />

er noch einmal für vier Jahre zur Neuberin zurück, bis er 1748 endgültig die vor dem<br />

Ruin stehende Truppe verließ und sich nach Wien wandte, wo er in Selliers „Entreprise"<br />

den Kampf um das regelmäßige Schauspiel fortsetzte. Da seine erste Frau schon 1741<br />

gestorben war, vermählte er sich in Wien mit der Schauspielerin Christiane Henriette<br />

Merleck, deren Schönheit von den Zeitgenossen enthusiastisch gepriesen wird 9 . 1749 nach<br />

2 Franz Schuch d. J. (1741-1771) übernahm 1764 nadi dem Tode seines Vaters, der als „Hanswurst"<br />

berühmt war, in Breslau das preußische Privileg, kam nach Berlin und errichtete hier<br />

ein massives Theater in der Behrenstraße.<br />

3 Vgl. Karl Konrad: Die deutsche Studentenschaft in ihrem Verhältnis zu Bühne und Drama,<br />

Berlin 1912, S. 96 ff.<br />

4 Er schrieb u. a. die (ungedrudtten) Dramen „Sancio und Sinilde", „Titus Manlius oder Der<br />

Edelmann in der Stadt"; „Der Philosoph auf dem Lande", „Der Tod Cäsar's", „Pigmalion",<br />

„Das Schicksal des Damot", die alle unter Aufsicht Gottscheds entstanden. Viel gespielt<br />

wurde auch Kochs Obersetzung von Voltaires „Verschwenderischem Sohn".<br />

5 Vgl. die Briefe Johann Neubers an Gottsched vom 17. 9. 1730 und vom 21. 7. 1731 (Reden-<br />

Esbeck, S. 97 u. 102).<br />

• 1760 und 1761 nach den Gemälden von E. G. Hausmann. Abbildungen u. a. bei Gerhard<br />

Wahnrau: Berlin, Stadt der Theater (Berlin 1957), S. 117, und in „Spemanns Goldenem Buch<br />

des Theaters" (Stuttgart 1912), S. 113.<br />

7 Bei der Truppe von Sophie Schröder (1714-1793), der späteren Gattin Konrad Ackermanns.<br />

• Bei Joseph Felix Kurz dem Älteren (geb. 1690).<br />

• Vgl. Fürstenau (s. Anm. 1), S. 27 f.; ferner die brieflichen Berichte Karl Lessings über ihr<br />

Berliner Auftreten.<br />

20


Leipzig zurückgekehrt, gelang es ihm mit Hilfe einflußreidier Gönner 10 , vom König die<br />

Ernennung zum „Hof-Comoedianten" mit einem kursächsischen Privilegium 11 neben der<br />

Neuberin zu erwirken.<br />

Er stellte sich nun eine eigene Truppe zusammen und begann am 6. Juli 1750 seine Vorstellungen.<br />

Leipzig bot zu dieser Zeit wohl im gesamten deutschen Sprachraum die günstigsten<br />

Bedingungen für ein regelmäßiges Schauspiel, und die Wandertruppen, von<br />

denen oft zwei gleichzeitig in und vor der Stadt auftraten, kämpften verbissen um jede<br />

Spielmöglichkeit. Drei Messen im Jahr sorgten für Publikum, die Universität und ein<br />

reger Buchhandel hatten bewirkt, daß Leipzig um die Mitte des Jahrhunderts die Hochburg<br />

des literarischen Lebens in Deutschland geworden war. Von den theaterfreundlichen<br />

Universitätsprofessoren seien nur Gottsched, Geliert und Clodius genannt. Aus der Vielzahl<br />

aufstrebender und etablierter Literaten, die dem Theater nahestanden, ragten der<br />

junge Lessing und sein Studienfreund Christian Felix Weiße hervor. Während Lessing<br />

sich zunächst darauf beschränkte, das Theater zu frequentieren und mit den Mitgliedern<br />

der Kochschen Truppe umzugehen, begannen Weiße und Koch eine Zusammenarbeit, die<br />

Kochs Truppe für die nächsten Jahrzehnte ihr besonderes Gepräge verlieh und Weiße<br />

zum beliebtesten deutschen Bühnenautor im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts erhob.<br />

Die Begründung und Verbreitung des deutschen Singspiels ist wohl die bekannteste der<br />

Pioniertaten Kochs, die in die Leipziger Blütezeit seines Wirkens fallen. Er hatte schon<br />

früh den Erfolg bemerkt, mit dem musikalische Intermezzi die ehemalige Funktion des<br />

Harlekin übernommen hatten, das langatmige Pathos der Alexandriner-Tragödien dem<br />

Publikum erträglich zu machen. Zudem war die Oper die angesehenste und am besten<br />

besuchte theatralische Gattung. Koch erkannte eine „Marktlücke" und beschloß, mit seinem<br />

Schauspielensemble Musiktheater zu bieten, das nicht den Aufwand und die Virtuosität<br />

der Oper erforderte, aber neben den ohnehin schon üblichen Balletten nun Gesangspartien,<br />

Lieder von eingängiger Melodik und frischer Natürlichkeit in einem heiteren,<br />

einfachen Handlungsablauf präsentierte, der seine Anziehungskraft teilweise durch sozialkritische<br />

Tendenz des - meist französischen - Stoffes noch erhöhte.<br />

Die derbe ,ballad opera' „The devil to pay", die der Ire Charles Coffey in der Nachfolge<br />

von Gays „Beggar's Opera" verfaßt hatte, war schon von der Schönemannschen<br />

Truppe 1743 in der Übersetzung Borcks 12 und mit der Originalmusik in Berlin gespielt<br />

worden. Da Schönemann Text und Noten seines Erfolgsstücks auch 1750 in Leipzig unter<br />

Verschluß hielt, veranlaßte Koch seinen Freund Weiße zu einer Neubearbeitung des Originals,<br />

die der Korrepetitor der Kochschen Truppe, Johann Georg Standfuß, mit neuen<br />

Melodien versah. Am 6. Oktober 1752 wurde ihre Fassung unter dem Titel „Der Teufel<br />

ist los oder Die verwandelten Weiber" mit durchschlagendem Erfolg zum ersten Mal aufgeführt;<br />

ein Datum, das als Geburtsstunde des deutschen Singspiels gilt. Gottscheds Abneigung<br />

gegen das Stück und der enorme Zulauf des Publikums hatten einen Theater-<br />

10 Vor allem der wohlhabende Magister Steinel, der Koch auch Prologe und Übersetzungen<br />

lieferte, setzte sich für ihn ein.<br />

11 Abgedruckt bei Reden-Esbeck (s. Anm. 1), S. 328.<br />

12 Caspar Wilhelm v. Borck, preußischer Gesandter in London, ist vornehmlich durch seine<br />

Alexandriner-Übersetzung von Shakespeares „Julius Caesar" bekannt geworden, die 1741 in<br />

Berlin bei Ambrosius Haude erschien.<br />

21


krieg zur Folge, der sich in diversen Flugschriften 13 austobte und Gottscheds ohnehin<br />

gesunkenes Ansehen ruinierte, so daß er sich von seiner langjährigen Einwirkung auf die<br />

Bühne gänzlich zurückzog. Nachdem auch für die Fortsetzung des „Devil to pay" Weiße<br />

und Standfuß gewonnen worden waren, wurde die „Operette" zur Spezialität der Kochschen<br />

Truppe, allerdings erst im neuen Theater auf der Rannstädter Bastei und durch<br />

das Schaffen Johann Adam Hillers u , der nach Standfuß' Tod die Kompositionen zu den<br />

Singspielen Weißes lieferte. Insgesamt 9 Operetten entstanden in Zusammenarbeit Weißes<br />

mit Standfuß und Hiller, die alle ihre Uraufführung auf der Kochschen Bühne erlebten:<br />

„Der Teufel ist los" (6. 10. 1752), „Der lustige Schuster" (18. 1. 1759), „Lottchen<br />

am Hofe" (24. 4. 1767), „Die Liebe auf dem Lande" (18. 5. 1768), „Die Jagd" (29. 1.<br />

1770), „Der Aerndtekranz" (1771), „Der Dorfbaibier" (1. 8. 1771), „Der Krieg" (17. 10.<br />

1772) und „Die Jubelhochzeit" (5. 4. 1773).<br />

Hatte schon 1749 die Erteilung des Privilegs, ohne daß Koch eine Truppe besaß, die ungewöhnliche<br />

Achtung bezeugt, die er am sächsischen Hof genoß (der ihn 1764 auch nach<br />

Dresden berief), so spricht in den folgenden Jahrzehnten die Bereitwilligkeit zahlreicher<br />

Schriftsteller und Künstler, für Kochs Bühne zu arbeiten 15 , für das hohe Ansehen, das<br />

sich der Prinzipal durch seine Persönlichkeit und seine Theaterleitung erworben hatte.<br />

1766 war die Eröffnung seines Schauspielhauses auf der Rannstädter Bastei in Leipzig 10 ,<br />

an dessen Einrichtung neben dem Architekten Georg Rudolf Fäsch und Koch auch der<br />

Direktor der Leipziger Akademie, Adam Friedrich Oeser, wesentlichen Anteil hatte, ein<br />

Ereignis ersten Ranges. Goethe, der wie vor ihm /. E. Schlegel, Klopstock und Lessing<br />

als Student Kochs Auftreten in Leipzig erlebte, beschreibt den von Oeser gemalten Vorhang,<br />

der eine erstaunlich frühe Shakespeare-Apotheose enthielt, im 8. Buch des 2. Teils<br />

von „Dichtung und Wahrheit". Oeser schuf auch eine Reihe von Dekorationen für Kochs<br />

Theater 17 ; daß ein bedeutender Maler in solcher Stellung für eine private deutsche Schauspielbühne<br />

arbeitete, war ein Symptom der Aufwertung des Theaters zu einer bürgerlichen<br />

Bildungsstätte. Ferner porträtierte Oeser die umschwärmte jugendliche Liebhaberin<br />

der Kochschen Truppe, die von Goethe sehr geschätzte Karoline Schulze 18 , nachdem schon<br />

der berühmte Bildnismaler Anton Graff Madame Koch als „Pelopia" in Weißes Trauerspiel<br />

„Atreus und Thyest" verewigt hatte. Graffs Gemälde wurde durch Johann Fried-<br />

1:1 Der größte Teil von ihnen ist besprochen auf S. 375-397 der noch heute maßgebenden Weiße-<br />

Monographie von Jakob Minor: Christian Felix Weiße und seine Beziehungen zur deutsdien<br />

Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Innsbrudt 1880. Vgl. ferner Wilhelm Härtung: Zum<br />

„komischen Krieg" Gottscheds und seiner Anhänger mit dem Schauspieldirektor Kodi (In:<br />

Euphorion 19, S. 792-794).<br />

14 Vgl. Georgy Calmus: Die ersten deutschen Singspiele von Standfuß und Hiller, Leipzig 1908.<br />

15 Zu Weißes beherrschender Stellung in der dramatischen Literatur der „Empfindsamkeit" trug<br />

nicht wenig die Kochsche Truppe bei, die fast alle der mehr als 30 Studie Weißes zur<br />

Uraufführung brachte. Weiße wirkte somit gleichsam als unbestallter „Theaterdichter" Kochs,<br />

eine Funktion, die eine Zeitlang auch Daniel Schiebeier und Karl Franz Romanus ausübten.<br />

Als häufigste Prologschreiber für Kodis Bühne betätigten sich die Professoren Clodius, Engel<br />

und Ramler, in Hamburg auch die Literaten Bode und Dreyer.<br />

'• Vgl. Gertrud Rudloff-Hille: Das Leipziger Theater von 1766 (In: Maske und Kothurn, 1968,<br />

S. 217-238).<br />

17 „26. 9. 1770: Eine sehr schöne Dekoration vom Herrn Professor Oeser ward denselben Abend<br />

zum erstenmal aufgestellt; eine neue Bereicherung des auch im Äußerlichen brillanten<br />

Kochischen Theaters!" (C. H. Schmid: Das Parterr, 1771, S. 264).<br />

1S Vgl. die wertvollen „Lebenserinnerungen der Karoline Schulze-Kummerfeld", hrsg. v. Emil<br />

Beneze. 2 Bde, Berlin 1915.<br />

11


ieh Bauses Kupferstich 19 bekannt und gilt als das erste künstlerisch bedeutende Rolltnbild<br />

der deutschen Theatergeschichte.<br />

Auch in Hamburg, wohin er sich nach Ausbruch des Siebenjährigen Krieges flüchtete,<br />

„interessierten sich einheimische Gelehrte und witzige Köpfe für Kochs Theater", wie<br />

Schütze, der zeitgenössische Hamburger Theaterhistoriker schreibt. „Bode, Lessing und<br />

mehrere gute Köpfe hielten mit Koch und einigen seiner Schauspieler Abendzirkel, in<br />

welchen über Sachen der Kunst und Bühne gesprochen ward. Manches Gute und Bessere<br />

ging aus diesen freundschaftlichen Unterhaltungen auf die Bühne und in das große Publikum<br />

über." 20<br />

In Hamburg erreichte Koch ebenfalls die Kontinuierlichkeit des Theaterbetriebs, der er<br />

in Leipzig ein so hohes Niveau verdankt hatte. Hier wie in Leipzig betonen die Chronisten,<br />

daß sich vor ihm kein Bühnenleiter über einen so langen Zeitraum am Ort habe<br />

halten können 21 . Hier wie dort verschaffte er der Einwohnerschaft durch geschickte, ökonomische<br />

Verwaltung, durch vielseitigen Spielplan und, wenn es nötig war, Abstecher in<br />

die Umgebung den Genuß eines stehenden Repertoiretheaters, obwohl er ohne jeden Zuschuß,<br />

nach rein privatunternehmerischen Prinzipien arbeiten mußte.<br />

Wenn eine Biographie Kochs hervorhebt, ihm sei die Entstehung der Theaterkritik im<br />

heutigen Sinne zu verdanken, so dürfen wir doch den Wert jener ersten Aufführungsberichte<br />

nicht zu hoch veranschlagen. Die „Schildereyen", „Vergleichungen", „Sendschreiben"<br />

und „Beantwortungen", die teils selbständig, teils in Zeitschriften erschienen,<br />

waren zum großen Teil Pamphlete, deren meist anonyme Verfasser sich mit oft sehr geringer<br />

Qualifikation selbstherrlich in dem neuen Beruf des „Kunstrichters" tummelten,<br />

dem Schauspieler in apodiktischem Ton seine „Fehler" vorrechneten und den Vorwurf<br />

der „Partheylichkeit", den der jeweils gegnerische Rezensent automatisch erhob, entrüstet<br />

von sich wiesen, obwohl der Parteigeist, der das Publikum dieser Epoche kennzeichnet,<br />

aus jeder Zeile sprach. Kochs Bühne stand insbesondere im Mittelpunkt der<br />

Fehden dreier Kritiker, deren Schriften 22 , mit Vorsicht benutzt, uns doch einigen Aufschluß<br />

über die Leistungen seiner Akteure geben können: der Erfurter, dann Gießener<br />

Professor Christian Heinrich Schmid, dessen Verdienste als Theaterhistoriker lange durch<br />

seine zwielichtige Rolle in der Literatur verdunkelt waren 23 , sowie der Berliner Christian<br />

August Bertram 2 * und der Hallenser Johann Jost Anton vom Hagen 25 , beide Gegner<br />

** Sehr häufig abgebildet, u. a. bei Wahnrau (s. Anm. 6), S. 117.<br />

20 Joh. Fr. Schütze: Hamburgische Theatergeschichte, Hamburg 1794, S. 310.<br />

21 „Keine Gesellschaft hatte vorher so lange zu Hamburg ausgedauert, keine so viel Beifall eingeärndtet,<br />

keine so viel Ehre genossen, und keine ist so sehr vermißt worden, als sie." (Chronologie<br />

des deutschen Theaters, 1775, S. 129; s. Anm. 23).<br />

22 Eine Zusammenstellung aller z. Z. bekannten zeitgenössischen Flugschriften und sonstigen Broschüren<br />

über Koch und seine Truppe folgt im 2. Teil des Aufsatzes.<br />

23 Vgl. Christian Heinrich Schmid: Chronologie des deutschen Theaters (1775), neu hrsg. v. Paul<br />

Legband, Berlin 1902; eine der wichtigsten theaterhistorischen Quellen, audi zur Kenntnis<br />

der Kochschen Truppe. Schmids Sdirift „Das Parterr", Erfurt 1771, enthält auf S. 255-324<br />

ausführliche Besprechungen der Leipziger Aufführungen Kochs.<br />

24 Herausgeber mehrerer wertvoller Theaterzeitschriften in Berlin. Vgl. über ihn Wilhelm Hill:<br />

Die deutschen Theaterzeitschriften des achtzehnten Jahrhunderts, Weimar 1915, S. 62-72.<br />

25 Vgl. über ihn Hill (s. Anm. 24) S. 38 ff. Sein „Magazin zur Geschichte des deutschen Theaters",<br />

Halle 1773, von dem nur 1 Stück erschien, enthält eine ausführliche, sehr abfällige<br />

Charakteristik der Kochschen Truppe und ihrer „Emilia-Galotti"-Aufführung in Berlin. Hagen<br />

23


Kochs und erbitterte Feinde Schmids. So einseitig und unmaßgeblich ihre Urteile oft sind,<br />

so enthalten sie doch manchen Hinweis auf die Darstellungsweise der Schauspieler, die<br />

uns nun in Kochs Berliner Theater begegnen.<br />

(Der zweite Teil folgt im nächsten Heft)<br />

ist wahrscheinlich der Herausgeber der 1783 erschienenen „Gallerie von teutschen Schauspielern"<br />

(neu hrsg. v. R. M. Werner, Berlin 1910), die ich im folgenden ebenfalls unter<br />

„Hagen" zitiere, obwohl darin meist fremde Kritiken übernommen sind.<br />

„Wahrheit und Freyheit"<br />

Die „Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen", 1740 bis 1874<br />

Von Walther G. Oschilewski<br />

Am 5. Oktober 1723 wurde Ambrosius Haude das königliche Privileg erteilt, die 1614<br />

von den Brüdern Hans und Samuel Kaue gegründete und zuletzt von Johann Christoph<br />

Papen geleitete Buchhandlung in der Straße An der Stechbahn in unmittelbarer Nähe<br />

des Stadtschlosses fortzuführen.<br />

Ambrosius Haude (1690-1748) war ein wohlhabender, tatkräftiger und hochgebildeter<br />

Mann, der unter anderen die lateinische und französische Sprache beherrschte. Zu dem<br />

jungen, literarisch interessierten Kronprinzen, dem späteren König Friedrich //., unterhielt<br />

er enge Beziehungen, die dessen Lehrer, Duhan de Jandin, vermittelt hatte. Der<br />

hartherzige Vater, Friedrich Wilhelm I., hatte dem Kronprinzen nicht nur das Flötenspiel,<br />

sondern auch den Besitz zahlreicher, nach seiner Meinung „verbotener" Bücher untersagt.<br />

Er ließ diese Bücher an Haude verkaufen, der sie aber später dem Kronprinzen<br />

einzeln zurückgab. Als der König die einige tausend Bände umfassende Privatbibliothek<br />

des Kronprinzen, die in einem Hinterzimmer des Haudeschen Ladengeschäftes bewahrt<br />

und von ihm häufig benutzt wurde, entdeckte, ließ er sie in Amsterdam versteigern.<br />

Der junge Friedrich, 1740 nunmehr König, hat Haudes wagemutiger Hilfe auf verschiedene<br />

Art und Weise gedankt. Der Verlagsbuchhändler, der schon seit 1735 den „Potsdamischen<br />

Staats- und Gelehrten Merkurius" herausbrachte, erhielt nun auch den Freibrief<br />

für die Herausgabe einer zweiten Berliner Zeitung, den ihm Friedrich Wilhelm 1.<br />

verweigert hatte. Haude nannte das Blatt „Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten<br />

Sachen"; die erste Ausgabe erschien am 30. Juni 1740 und wurde zunächst dienstags,<br />

donnerstags und sonnabends im Haudeschen Domizil an der Schloßfreiheit gegenüber<br />

dem Schloßportal und auf dem Königlichen Hof-Post-Amt für 6 Pfennige ausgegeben.<br />

Um die gleiche Zeit, nur einige Tage später, erschien auf Veranlassung des Königs<br />

im Haudeschen Verlag auch eine literarisch-politische Zeitschrift in französischer Sprache:<br />

„Journal de Berlin" (2. Juli 1740), das der Prediger und Gymnasialprofessor Jean Henry<br />

Formey leitete.<br />

24


Ao. 1740.<br />

$omtev|!ög,<br />

a&eriinifc&e 9?acf)ri$teit<br />

Ml<br />

€?Uat$* mtt> $elefovtctt


und, mit einem Strohhute auf dem Kopfe gezieret, verkehrt auf einen Esel gesetzt, so,<br />

daß sie ihr Gesichte nach der Extremität des Esels wendete. An ihrem Strohhute las man<br />

vorn und hinten die Worte: Oeffentliche Kupplerin! Der Scharfrichter gab ihr, nach<br />

geschehener Brandmarckung, mit vieler Geschicklichkeit einen tüchtigen Staupbesen, und<br />

alsdenn brachte man sie zur Arbeit in eine Salpeter-Grube. Um nun das Schauspiel desto<br />

beträchtlicher zu machen, mußten 2 junge Opfer-Mägde der Venus und bisherige Brodterwerberinnen<br />

der alten Gelegenheitsmacherin, mit dergleichen Strohhüten geschmückt,<br />

neben dem Esel hergehen, und Trabanten-Dienste tun. Vermutlich werden auch diese<br />

letztern ihren Vorwitz in Salpetergruben beseufzen müssen. Man glaubt hier, daß man<br />

diese besondere und sehr nützliche Art von Schauspielen künftig auch in anderen Ländern<br />

nachmachen möchte" („Berlinische Nachrichten", Nr. 17, 1749).<br />

Erst während des Siebenjährigen Krieges unter der Redaktion von Johann Gottlieb<br />

Krause gewannen die „Berlinischen Nachrichten" an Profil. Krause hatte schon früher<br />

die „gelehrten Artikel" bearbeitet. Bei diesem Teil des Blattes handelte es sich nicht um<br />

literarische Abhandlungen. Er und seine Nachfolger bevorzugten eine bunte Mischung<br />

von Nachrichten und Darstellungen der verschiedenstens Wissens- und Lebensgebiete.<br />

Von den Kriegsereignissen blieben auch die Zeitungen nicht verschont. Die „Berlinischen<br />

Nachrichten" hatten den deutschstämmigen Kommandeur der russischen Truppen, General<br />

Graf Tottieben, einen „Aventurier" [ = Abenteurer im üblen Sinne, Glücksritter] genannt.<br />

Als die fremden Truppen Berlin besetzt hatten, wurde Krause verhaftet und zur<br />

Prozedur eines öffentlichen Spießrutenlaufens auf dem Neuen Markt verurteilt, jedoch<br />

im letzten Augenblick mit einem Verweis begnadigt.<br />

Ambrosius Haude starb 1748 im Alter von 58 Jahren. Buchhandel, Verlag und die Zeitung<br />

kamen in den Besitz der Witwe Susanne Haude und ihres Bruders, des seit 1739<br />

privilegierten Buchhändlers Johann Carl Spener d. Ä., den Haude noch kurz vor seinem<br />

Tode als Teilhaber in das Unternehmen aufgenommen hatte. Die Firma hieß von nun an<br />

„Haude und Spener", als Buchverlag blieb es so bis auf den heutigen Tag.<br />

Auch Spener verstarb bald (1756). Die beiden Witwen Haude und Spener führten zunächst<br />

das Geschäft allein weiter. 1772 übernahm es Speners zweiundzwanzigjähriger<br />

Sohn, Johann Carl Philipp Spener d. ]., und er war damit auch Herausgeber der „Berlinischen<br />

Nachrichten", die er bis 1827 mit Geschick und Niveau redigierte. Er war ein<br />

weitgereister Mann von profunder Bildung, der enge Beziehungen zu bedeutenden Männern<br />

seiner Zeit unterhielt. Ihm ist die Einführung der ständigen Theaterkritik und eines<br />

regelrechten Feuilletons zu verdanken. Spener war aber auch der erste deutsche Verleger<br />

auf dem europäischen Festland, der seine Zeitung seit dem 25. Januar 1823 auf<br />

der von Friedrich König konstruierten Zylinder-Schnellpresse druckte.<br />

Das allgemeine Bild der Berliner Zeitungen bis zur Märzrevolution 1848 ist nicht gerade<br />

imponierend, wenn es auch hier und dort winzige Glanzpunkte aufweist. Der publizistischen<br />

Wirksamkeit der beiden privilegierten Zeitungen waren enge Grenzen gesetzt. Die<br />

noch neben dem „Berliner Intelligenz-Blatt" kurzzeitig bestehenden Blättchen wie „Mercure",<br />

„Spectateur", „Gazette de Berlin", „Berlinische Damen-Zeitung" und die von<br />

dem Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und Pädagogen Johann-Julius Hecker gegründete<br />

„Gelehrte und Politische Zeitung" vegetierten dahin. Der Zensor stand immer wieder<br />

ins Haus. Zu den ärgsten Widersachern des geringen Freiheitsraumes der damaligen<br />

Presse gehörte der Justizminister und Chef des geistlichen Departements, der Rosenkreuzler<br />

Johann Christoph von Wöllner, ein eifernder Gegner der von Frankreich aus-<br />

26


gehenden und gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich auch in Deutschland ausbreitenden<br />

Aufklärung. Wöllner war der Initiator des „Erneuerten Censur-Edicts für die Preußischen<br />

Staaten exklusive Schlesien" vom 19. Dezember 1788, mit dem eine Kabinettsordre<br />

an den Großkanzler von Carmer einherging, in der Friedrich Wilhelm I. glaubte<br />

feststellen zu müssen, „daß die Pressefreiheit in Pressefrechheit ausartet". Dieses „Censur-<br />

Edict" hat entscheidend dazu beigetragen, daß sich die Berliner Zeitungen mit ihrer an<br />

sich schon trostlosen Rolle gezwungenermaßen für lange Jahre abfinden mußten. Das<br />

fortschrittliche Element der Publizistik verlagerte sich auf die in Berlin zahlreich erscheinenden<br />

gelehrten, literarischen und unterhaltenden Zeitschriften, von denen die von<br />

Friedrich Gedike und Johann Erich Biester herausgegebene „Berlinische Monatsschrift"<br />

(1783-1796) und das „Athenäum" (1798-1800) der Brüder August Wilhelm und Friedrich<br />

Schlegel die bedeutendsten waren.<br />

Johann Carl Philipp Spener überantwortete im Januar 1827 nach dem frühen Tod seines<br />

Sohnes und wenige Wochen vor seinem eigenen den Verlag seinem langjährigen Gehilfen<br />

Joseephy; Druckerei und Zeitung gingen in den Besitz des Kgl. Bibliothekars<br />

Samuel Heinrich Spiker über, der den „Berlinischen Nachrichten" lange Zeit ein umsichtiger<br />

Redakteur war. Die Zeitung behielt vorerst ihren alten Namen und wurde<br />

nicht in „Spenersche Zeitung" umbenannt, als sie von Spiker erworben und redigiert<br />

wurde, wie aus den Ausgaben vom Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts ersichtlich<br />

ist. Man hatte sich aber im Laufe der Zeit daran gewöhnt, jedes der beiden Berliner<br />

Blätter nach ihrem Besitzer zu nennen, also „Vossische Zeitung" und „Spenersche<br />

Zeitung", obwohl beide ihre traditionellen Titel über anderthalb Jahrhunderte beibehielten.<br />

Der Volksmund sprach seit dem Revolutionsjahr 1848 nur noch von der „Tante<br />

Voss" und dem „Onkel Spener"; die eine Zeitung war populär und auflagenstark, die<br />

andere (Spener) stützte sich vornehmlich auf das mehr konservative Besitz- und Bildungsbürgertum.<br />

Spiker starb 1858, die „Spenersche Zeitung" wurde zunächst von seinen Erben fortgeführt.<br />

Nach der Reichsgründung, im ständigen Konkurrenzkampf auch mit den inzwischen<br />

neu erstandenen Blättern („Berliner Börsen-Zeitung", 1855; „Berliner Börsen-<br />

Courier", 1868; „Berliner Tageblatt", 1871; „Germania", 1870) konnte sie sich kaum<br />

noch am Leben erhalten. Obwohl die „Spenersche Zeitung" einen gar nicht so schlechten<br />

Ruf über Berlin hinaus hatte, machte es sich doch bemerkbar, daß ihr die richtige Führung<br />

fehlte, um Wirtschaftlichkeit und publizistischen Auftrag in Balance zu halten. Da<br />

konnten ihr die offiziösen „Hilfestellungen", die ihr - nach Moritz Busch, dem damaligen<br />

Pressereferenten des Auswärtigen Amtes - durch gelegentliches Zuspielen der politischen<br />

Intentionen Bismarcks zuteil wurden, auch nicht viel helfen. Das Blatt wurde<br />

mehrmals von pressefremden Interessen- und Finanzgruppen übernommen, bis es schließlich<br />

im Herbst 1874 in die nationalliberale „National-Zeitung" aufging. Als letzten<br />

Fortsetzungsroman brachte die „Spenersche Zeitung" Paul Heyses „Die Kinder der<br />

Welt", die im Gegensatz zu den bürgerlich-christlichen „Kindern des Himmels" stehen<br />

und in dem zumindest ansatzmäßig versucht wird, sich trotz individualistischer Einstimmung<br />

wohlwollend mit der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen.<br />

Es gehörte Mut dazu, diesen diesseitigen Roman den konservativen Lesern darzubieten.<br />

Der Abdruck soll dem Vernehmen nach das Ende der „Spenerschen Zeitung"<br />

beschleunigt haben.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 37, Am Fischtal 19<br />

27


Die Weingroßhändler-Familie Dalchow in Charlottenburg<br />

Von Dr. Jürgen Wetzel<br />

Vor einiger Zeit gelang es dem Landesarchiv Berlin, die „Erinnerungsblätter" der Charlottenburger<br />

Weingroßhändler-Familie Dalchow zu erwerben. Diese Archivalien bilden<br />

im streng archivischen Sinne zwar keinen echten Nachlaß, bieten aber genügend Material,<br />

um die Entwicklung des Geschäfts aus kleinen Anfängen bis zu einer der größten<br />

Weinhandlungen Deutschlands verfolgen zu können.<br />

Der Firmengründer Johann Gustav Dalchow, 1825 in Zerbst als 10. Kind eines Webers<br />

geboren, kam Anfang der vierziger Jahre nach Berlin 1 . Hier begann er 1841 in<br />

der Hirschelstraße beim Materialwaren- und Weinhändler F. L. Meyer eine kaufmännische<br />

Lehre. Nach den Lehrjahren gehörte er dem Hause noch acht Jahre als „Disponent"<br />

an 2 . Aus dieser Zeit sind Briefe an seine Eltern vorhanden, in denen der junge<br />

Dalchow die dramatischen Ereignisse der Märztage des Jahres 1848 schildert. Trotz vieler<br />

Veröffentlichungen ist es sicher nicht uninteressant, die Vorgänge noch einmal aus der<br />

Sicht eines jungen Augenzeugen zu betrachten. Am 15. März schreibt Dalchow nach<br />

Zerbst: „Berlin ist jetzt sehr aufgeregt, obgleich Zusammenrottungen und Versammlungen<br />

ähnlicher Art nur aus dem Pöbel und verdorbenen Litteraten bestanden; die Bürger<br />

sind zu einsichtsvoll, als daß sie es sollten machen wie in Paris". Nach Ausschreitungen<br />

„in den Zelten" und in der Stadt spitzte sich aber die „kriegerische Lage" zu, und er<br />

befürchtete, zum Militär einberufen zu werden. Das „lustige Leben" sei nun wohl für<br />

ihn zu Ende, fügte er bedauernd hinzu 3 .<br />

Vom Geschehen überwältigt, schreibt Gustav Dalchow vier Tage später aus der „Stadt<br />

der Schrecken": „Ich bin noch am Leben, Tausende und aber Tausende sowohl Militär<br />

als auch Bürger haben ihr Leben geopfert 4 . Die Revolution ist seit gestern Mittag ausgebrochen."<br />

5 Es folgt die lebhafte Schilderung des Ablaufs der Ereignisse. Auf dem<br />

Höhepunkt der Krise hatte König Friedrich Wilhelm IV. am 18. März „vom Schloß<br />

aus alles frei" gegeben; er hatte in einem königlichen Patent Pressefreiheit, die Einberufung<br />

des Landtags und weitere Reformen in Aussicht gestellt 6 . Am Abend sollte „ganz<br />

Berlin illuminirt werden vor Freude. (Die Zettel waren schon angeklebt und ausgegeben.)<br />

Um 2 Uhr brachte ein Deputation Bürger von Berlin dem König ein Lebehoch.<br />

Das Schloß ist umzingelt von Militär und Volk; es fallen einige Schüsse auf die Bürger<br />

. . . Jetzt schrie das Volk: Verrath, Verrath, zu den Waffen, man will uns morden<br />

.. . Alle Straßen wurden verbarrikadirt, die Kutschen und Wagen wurden umgeworfen,<br />

Plumpen und Brücken, alles was sich auf den Straßen befand wurde demolirt,<br />

1 Alle im folgenden gemachten Angaben stammen, falls nicht anders vermerkt, aus: Landesarchiv<br />

Berlin, Rep. 200, Acc. 2036. Die Fundstellen sind bei den Belegen jeweils in Klammern<br />

angegeben.<br />

- Persönliche Daten in der „Jubel-Zeitung", Privatdruck Charlottenburg 1878 (Nr. 139).<br />

• Brief vom 15. 3. 1848 (Nr. 199).<br />

4 Circa 240 Menschen sind während der Kämpfe umgekommen. Vgl. K. Kettig, Berlin im 19. u.<br />

20. Jahrhundert 1806-1945, in: Heimatchronik Berlin, Köln 1962, S. 395.<br />

' Brief vom 19. 3. 1848 (Nr. 200).<br />

6 Vgl. Kettig, S. 394.<br />

28


I. 0. DAL€HOW,<br />

Hoflieferant Ihrer Majestät der Königin Elisabeth von Preussen,<br />

Charlottenburg, Berliner-Strasse No. 63.<br />

(Stammhaus der Firma nach der ersten Erweiterung, um 1860)<br />

das Pflaster aufgerissen und nach den Dächern geschleppt, auf freier Straße wurden<br />

Kugeln gegossen, die Gewehrläden gestürmt, alles schwebt in Todesgefahr." Militär<br />

ströme durch alle Tore in die Stadt. Das Volk decke die Dächer ab und bombardiere<br />

die Soldaten mit Ziegeln und Möbeln. Von allen Seiten hört man Kanonendonner und<br />

Geschrei. „Überall schlagen die Flammen empor . . . wer Berlin früher gesehen hat, kennt<br />

es bald nicht mehr wieder, die Straßen schwimmen von Blut." 7<br />

Inzwischen hatte Dalchow Nachrichten über Unruhen in seiner Heimatstadt erhalten.<br />

Verwundert schreibt er seinen Eltern: „Daß auch die sonst so friedliche Stadt Zerbst<br />

von dem wilden Geiste der jetzigen Zeit nicht verschont geblieben ist, will mir gar<br />

nicht einleuchten . . . Wenn es nun auch wohl schlimm hergegangen ist, so wird es wohl<br />

Wie Anm. 5.<br />

29


nie in Vergleich zu der Berliner Revolution kommen können ..." Er sei von dem Geschehen<br />

so ergriffen, daß ihm noch mehrere Tage hindurch „das Glockengeläute und<br />

der Kanonendonner durch die Ohren" surrten, „und doch schien mir dies schreckliche<br />

Ereigniß nur ein Traum zu seyn" 8 .<br />

Nach Wiederherstellung der Ruhe durch das Militär normalisierte sich das Leben. Zwar<br />

nahm Dalchow weiterhin lebhaften Anteil an der politischen Entwicklung, doch im<br />

Vordergrund seines Interesses stand das berufliche Fortkommen.<br />

Im Sommer 1849 übernahm Gustav Dalchow die Leitung einer Charlottenburger Filiale<br />

der Firma Meyer. Dort erwarb er sich durch Fleiß und Umsicht die nötigen Kenntnisse<br />

zur selbständigen Führung eines Geschäfts. Nach vier Jahren hatte er genügend Kapital<br />

angesammelt, um vom Ratsmaurermeister Irmisch in der Berliner Straße 63 ein Haus<br />

mieten zu können 9 . Hier eröffnete er am 25. Oktober 1853 ein „Colonial-Wein-Italienerwaaren-<br />

und Butter-Geschäft" 10 . Handschriftlich zeigte er seinen Kunden die Eröffnung<br />

an: „Das seit mehreren Jahren genossene Vertrauen hiesiger Stadt, als auch<br />

genaue Kenntniß des Geschäfts und hinreichende Mittel, erlauben mir, Sie zu bitten,<br />

bei vorkommenden Bedarf in diesen Artikeln, mich mit Ihren schätzbaren Aufträgen zu<br />

beehren, indem es mein eifrigstes Bestreben sein wird, mir Ihre vollkommenste Zufriedenheit<br />

durch sorgfältige Bedienung, gute Waaren und solide Preise zu erwerben." 10 Eine<br />

der Anzeige beigefügte Preisliste zeigt, daß es Gustav Dalchow mit diesen Grundsätzen<br />

Ernst war. Eine Flasche Piesporter offerierte er für 10, eine Flasche Alten Madeira für<br />

20 und eine Flasche Chäteau Larose für 30 Silbergroschen 11 . Der zuvorkommenden Bedienung,<br />

den guten Waren und den soliden Preisen war es zu verdanken, daß das Geschäft<br />

in wenigen Jahren einen erstaunlichen Aufschwung nahm. Bald war Dalchows<br />

geschäftliche Position so gefestigt, daß er eine Familie gründen konnte. 1857 heiratete<br />

er Clara Hartwich, die Tochter eines Charlottenburger Kaufmanns 12 . Da seine Frau<br />

aus dem gleichen Berufsstand kam, war sie ihm eine verständnisvolle und kenntnisreiche<br />

Partnerin. Sie hat es vor allem verstanden, dem Aufschwung des Geschäfts durch gesellschaftliche<br />

Repräsentation auch äußerlich Ausdruck zu verleihen. In den Jahren 1859 bis<br />

1865 wurden dem Ehepaar drei Söhne und eine Tochter geboren.<br />

Eine Liebhaberei, das Reisen, führte Johann Gustav Dalchow durch ganz Europa, von<br />

Kopenhagen bis Bukarest, von Biarritz bis Petersburg. Eine aus dem Jahre 1878 erhaltene<br />

Liste der besuchten Städte enthält mehr als dreihundert Ortsnamen 13 . Auf seinen<br />

Reisen verstand er es, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Er lernte die<br />

Lieferanten und Bezugsquellen seiner vielen Artikel persönlich kennen und war so stets<br />

in der Lage, die billigsten und besten Waren aus allen Teilen Europas zu liefern. Den<br />

Wein, schreibt er seinen Kunden, beziehe er direkt „von den ersten Häusern in Bordeaux,<br />

Reims, Tokaj, London, am Rhein und an der Mosel" 14 . Auf einer dieser Reisen<br />

zu seinen Siebenbürger Verwandten wurde er dazu angeregt, Ungarnweine im großen<br />

* Brief vom 27. 3. 1848 (Nr. 201).<br />

* „Jubel-Zeitung" 1878 (Nr. 139) sowie verschiedene Ansichten des Hauses (Nr. 45, 129, 224).<br />

10 Handschriftl. Geschäftsanzeige Oktober 1853 (Nr. 127).<br />

11 (Nr. 128,129).<br />

12 „Jubel-Zeitung" 1878 (Nr. 139, auch zum folgenden), Verlobungsanzeige (Nr. 45) und Familienfoto<br />

(Nr. 225).<br />

u (Nr. 137).<br />

11 Preisliste (Nr. 129).<br />

30


Johann Gustav Dalchow<br />

(1825-1889)<br />

Stil nach Deutschland einzuführen. Um die große Nachfrage befriedigen zu können,<br />

verband er sich 1871 mit Samuel Löwy zum „Vertrieb des Ungarwein Engros-Geschäfts"<br />

15 .<br />

Längst war die Weingroßhandlung dem engen Charlottenburger Rahmen entwachsen<br />

und weit über die Grenzen Preußens ein Begriff geworden. Das Kolonialwarengeschäft<br />

wurde nur noch nebenbei weiter betrieben, 1882 schließlich an den Kaufmann Magnus<br />

Rücken verkauft 16 . Das von Dalchow 1861 käuflich erworbene Haus in der Berliner<br />

Straße 63 hat er - den gehobenen Ansprüchen Rechnung tragend - zu einem repräsentativen<br />

Palais ausbauen lassen 17 . Krönender Abschluß der ersten Phase des Geschäftsaufbaus<br />

war die Ernennung Dalchows zum Hoflieferanten der Königin Elisabeth und<br />

des Prinzen Friedrich Carl von Preußen 18 . Johann Gustav Dalchow, der 1853 nur eine<br />

bedingte Aufenthaltsgenehmigung erhalten 19 und erst 1855 das Charlottenburger Bürgerrecht<br />

erworben hatte 20 , gehörte nun zu den Honoratioren der Stadt. Er wurde Abgeordneter<br />

im Stadtparlament, und zahlreiche Vereine rechneten es sich zur Ehre an, ihn<br />

in ihrer Mitte zu haben 21 .<br />

Dieser rasche Aufstieg war typisch für die beiden Jahrzehnte vor der Reichsgründung.<br />

Viele Liberale hatten sich aus Enttäuschung über den Ausgang der Revolution von 1848<br />

ausschließlich wirtschaftlichen Interessen zugewandt. In ganz Deutschland nahmen in<br />

15 „Gründungsanzeige", Januar 1871 (Nr. 131).<br />

16 Geschäftsanzeige (Nr. 145).<br />

17 Foto-Abb. (Nr. 17 u. 230, letztere hier beigefügt).<br />

18 (Nr. 129, 135, 136 u. 144).<br />

19 Naturalisations-Urkunde der Regierung Potsdam vom 22. 9. 1853 (Nr. 2).<br />

20 Bürgerbrief vom 22. 3. 1855 (Nr. 3).<br />

21 Diverse Presseberichte (Nr. 5-9).<br />

31


Stammhaus<br />

der Firma Dalchow<br />

um 1900<br />

IIWIIIMI<br />

jenen Jahren Handel und Industrie einen außerordentlichen Aufschwung. Besonders<br />

aber nach der Reichsgründung, nach dem schnellen Sieg über Frankreich und dem Einströmen<br />

der Kriegsmilliarden geriet die wirtschaftliche Entwicklung in eine hektische<br />

Phase, die das kleine und mittlere Bürgertum in einen Rausch versetzte. „Jeder, der es<br />

sich nur irgendwie leisten konnte, wollte plötzlich mitgründen, mitgewinnen, mitaufsteigen."--<br />

Börsenspekulation und Strebertum, Prunksucht und ungehemmter „Ellbogendarwinismus"<br />

breiteten sich wie eine Seuche aus. Ohne soziales Empfinden gegenüber den<br />

wirtschaftlich Schwächeren glaubte das Bürgertum an einen permanenten wirtschaftlichtechnischen<br />

Aufschwung und ahnte nicht, daß es sich mit diesem blinden Fortschrittsglauben<br />

selbst betrog. „Wir leben in einer neuen, einer großen Zeit des Fortschritts, der<br />

Entwicklung auf allen Gebieten des Handels und der Industrie", heißt es in einem Zei-<br />

22 J. Hermand, Der gründerzeitlidie Parvenü,<br />

der Akademie der Künste, 1974, S. 7.<br />

32<br />

In: Aspekte der Gründerzeit. Ausstellungskatalog


tungsartikel, der sich mit dem Aufstieg der Firma Dalchow beschäftigt. „Zeit und Entfernungen<br />

sind überwunden. Keine Schranke hemmt mehr den Blick - Electricität und<br />

Dampf verbinden die Pole und halten in steter, unmittelbarer Wechselwirkung alle<br />

Theile der alten und der neuen Welt, und was der menschliche Geist erdacht, erschaffen,<br />

gewonnen - rasch wird es zum Gemeingut aller .. ." 2S Die Entwicklung des Hauses Dalchow<br />

veranschauliche, welche Ausdehnung der Handel genommen habe, der auch Charlottenburg<br />

an den weltweiten Beziehungen teilhaben läßt. Zwar gehörte Johann Gustav<br />

Dalchow nicht zu den rigorosen Glücksrittern, doch verkörperte er in einigen seiner<br />

Eigenschaften den Typ des zu schnellem Reichtum gelangten „Kommerzienrates", wie er<br />

uns in der Literatur bei Theodor Fontane und Gustav Freytag begegnet. 1878 stand<br />

Gustav Dalchow auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Mit einem aufwendigen Fest „wie<br />

Charlottenburg wohl nie zuvor ein ähnliches gesehen" 24 , feierte er im Kreise zahlreicher<br />

Geschäftspartner das 25jährige Firmenjubiläum. Seitenlang berichteten die Zeitungen<br />

über den Ablauf der Festlichkeiten, über die Ansprachen, die Speisen, die Toiletten der<br />

Damen und die Geschenke 25 . Auf dieser Feier wurde ein Prunk entfaltet, der dann um<br />

die Jahrhundertwende in Protzerei und Geschmacklosigkeit ausartete.<br />

Nach dem Tod Gustav Dalchows 1889 übernahmen seine beiden ältesten Söhne Alfred<br />

und Willy das Geschäft unter dem Namen /. G. Dalchow u. Söhne 26 . Hatte der Firmengründer<br />

durch seinen persönlichen Einsatz aus dem Nichts ein bedeutendes Unternehmen<br />

aufgebaut, so wuchsen seine Söhne in gesicherten Verhältnissen auf und genossen<br />

eine vorzügliche Erziehung. Nach dem Besuch des Charlottenburger Kaiserin-Augusta-<br />

Gymnasiums absolvierten beide eine kaufmännische Lehre. Da sein Bruder Alfred häufig<br />

krank war, wurde Willy Dalchow der eigentliche Chef des Unternehmens. Wie sein<br />

Vater erwarb er sich während der Lehre bei dem „Banquier" Aron Meyer in der Berliner<br />

Mohrenstraße gründliche kaufmännische Kenntnisse. Nachdem er ausgelernt hatte,<br />

gehörte er der Bank von 1884 bis 1887 als „Commis" an 27 . Nur kurze Zeit war er<br />

noch im väterlichen Geschäft tätig, bis er selbst die Weingroßhandlung übernahm. Kurz<br />

vor dem Tode seines Vaters heiratete er Olga Zimmermann, die Tochter eines Spandauer<br />

Bäckermeisters 28 . Seine Frau paßte sich sehr schnell den großzügigen Verhältnissen<br />

der Familie Dalchow an und hat es wie ihre Schwiegermutter verstanden, das Haus nach<br />

außen zu repräsentieren. 1890 und 1891 wurden dem Ehepaar die Söhne Georg und<br />

Gustav geboren 29 . Gustav starb jedoch schon nach zwei Jahren.<br />

Willy Dalchow hat die Weingroßhandlung wesentlich erweitert. Er eröffnete in Berlin<br />

und in den westlichen Vororten mehrere Filialen. In der Berliner Filiale Alexanderstraße<br />

42 - vis-a-vis dem königlichen Polizeipräsidium - richtete er außerdem ein Weinrestaurant<br />

ein, das sich großer Beliebtheit erfreute 30 . Die Dalchows besaßen inzwischen<br />

eigene Weinberge, eigene Weinkellereien und in allen weinproduzierenden europäischen<br />

23 „Neue Zeit" (Charlottenburg), 18. 11. 1871 (Nr. 133).<br />

24 „Deutsche Handelszeitung", 31. 10. 1878 (Nr. 143).<br />

25 „Jubel-Zeitung" 1878; „Neue Zeit", 29.10.1878; „Deutsche Handelszeitung", 31.10.1878<br />

(Nr. 139, 140, 142).<br />

26 Diverse Familien- und Geschäftsanzeigen (Nr. 18, 20-40, 154, 155).<br />

"' Zeugnis des Bankhauses, 31. 3. 1887 (Nr. 58).<br />

28 Heiratsanzeige (Nr. 72).<br />

2 * Privatanzeigen (Nr. 73, 79).<br />

30 „National-Zeitung", 23. 10. 1891 (Nr. 168).<br />

33


Ländern eigene Agenturen. Das Renommee der Firma war inzwischen in ganz Deutschland<br />

so groß, daß Willy Dalchow zum Hoflieferanten des Prinz-Regenten Luitpold von<br />

Bayern, des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach und des Prinzen Heinrieb von<br />

Hessen-Darmstadt ernannt wurde 31 . Nach dem Tode seines Bruders Alfred und seines<br />

Teilhabers im Ungarnwein-Großhandel Samuel Löwy war Willy Dalchow seit 1905<br />

Alleininhaber des gesamten Unternehmens 32 . In diesen Jahren erreichte die Weingroßhandlung<br />

den Gipfel des Erfolges.<br />

Dem Stile der Zeit entsprechend wurde dieser geschäftliche Erfolg bei jeder sich bietenden<br />

Gelegenheit durch prunkvolle Feste zur Schau gestellt. In aufwendig dekorierten<br />

Sälen versammelte sich eine illustre Gesellschaft aus Geschäftsleuten, Militärs und Künstlern.<br />

Die Herren erhielten häufig in extra angefertigten Taschen mit der Photographie<br />

des Stammhauses teure Havannas, die Damen Erinnerungstücher als Gastgeschenke.<br />

Seidenbespannte Speisekarten kündigten Menüs bis zu zwölf Gängen mit erlesenem<br />

Wein und Champagner an. Die Diners wurden durch „künstlerische Darbietungen",<br />

durch Tafellieder, Couplets und Orchestermusik begleitet. Neben Walzern und Märschen<br />

erfreuten sich vor allem Stücke aus Wagner-Opern großer Beliebtheit 33 . Auf solchen<br />

Festen der Familie Dalchow, die typisch für die wilhelminische Ära waren, wurden<br />

patriotische Ansprachen gehalten, wurde gespielt, getanzt und en passant manches lukrative<br />

Geschäft abgeschlossen.<br />

Leider sind keine Quellen vorhanden, die Auskunft über das weitere Schicksal der Weingroßhändler-Familie<br />

geben könnten. Den Adreßbüchern ist zu entnehmen, daß die Firma<br />

1909 zum Kaiserdamm 96 verlegt und 1915 in eine GmbH umgewandelt wurde. Geschäftsführer<br />

blieb Willy Dalchow. Seit 1920 war auch sein Sohn Georg an der Firma<br />

beteiligt. Die durch den Weltkrieg hervorgerufenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten führten<br />

bis auf die Filialen in der Chaussee- und Berliner Straße zur Schließung aller anderen<br />

Zweigstellen. Die beiden letzten Filialen scheinen dann der Inflation zum Opfer<br />

gefallen zu sein. Die Weingroßhandlung /. G. Dalchow u. Söhne G.m.b.H. hat noch bis<br />

1927 bestanden, bis 1930 taucht der Name Willy Dalchow in den Adreßbüchern auf.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 47, Grüner Weg 77<br />

31 (Nr. 161, 162, 170, 171).<br />

3S Geschäftsanzeige, November 1905 (Nr. 187).<br />

33 (Nr. 11, 12, 14, 16, 17, 62, 63, 65-71, 75, 76, 82, 84, 98, 140-143, 177-183).<br />

Nachrichten<br />

110. Stiftungsfest<br />

Das Restaurant „Hochschul-Brauerei" bot am 28. Januar 1975 einen freundlichen Anblick, als<br />

sich eine große Zahl von Mitgliedern zu einem Eisbeinessen aus Anlaß der 110. Wiederkehr der<br />

Vereinsgründung eingefunden hatte. Der Vorsitzende Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm<br />

ließ keine Zweifel aufkommen, daß dies ein freudiges Ereignis sei, das man auch mit entsprechend<br />

fröhlichen Gesichtern zu begehen habe. Er erteilte dem verehrten Mitglied Alfred<br />

34


Braun das Wort zu einem freien Vortrag von 30 Minuten Dauer, der von der Etymologie des<br />

Eisbeins ausging, den Verein und seinen einstigen „Hort", den Deutschen Dom am Gendarmenmarkt,<br />

würdigte und das Wirken des Vereins und das Aufragen des Turmes mit der Gestalt<br />

des Lynkeus in Verbindung brachte. Hier war die Frage zu stellen, was man mehr bewundern<br />

sollte: das phänomenale Gedächtnis Alfred Brauns, die meisterliche Vortragskunst, die 174.<br />

Volksschule, die einst das Fundament der Bildung gelegt hatte, oder die Begnadung, die es<br />

Alfred Braun möglich macht, bis in das 87. Lebensjahr hinein derart lebendig und fesselnd vorzutragen.<br />

Nicht minder herzlicher Beifall galt dem lieben Mitglied Frau Käte Haack, die sich eine Reihe<br />

von Gedichten ihr nahestehender Poeten ausgewählt hatte. Sie wußte die Hörer mit ihrem<br />

Charme und der feinen Art ihrer Rezitation in den Bann zu schlagen. Ein herzlicher Dank gilt<br />

beiden Vortragenden, die dem ach so profanen und nahrhaften Eisbeinessen einen künstlerischen<br />

Akzent zu geben vermochten. H. G. Schultze-Berndt<br />

Vertrauenswerbung für Berlin<br />

Mehr als 13 Millionen DM sind vom Senat von Berlin für Berlin-Werbung und Berlin-Information<br />

in den Haushalt 1975 eingestellt worden. Von den 9,6 Millionen DM, über die dabei die<br />

Senatskanzlei verfügen kann, entfallen rund 4,2 Millionen DM auf die sogenannte Vertrauenswerbung,<br />

u. a. in Gestalt von Anzeigen in Presseorganen. 1,15 Millionen DM sind für Berlin-<br />

Werbung im Ausland vorgesehen, 280 000 DM für Meinungsumfragen und etwa 366 000 DM<br />

für Informationen der Bezirksverwaltungen über Berlin.<br />

Es ist zu hoffen, daß auch unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin" in diesem Sinne um Vertrauen<br />

zu Berlin wirbt und die Verhandlungen um eine Weiterführung des bescheidenen Zuschusses zu<br />

diesem Jahrbuch von Erfolg gekrönt sind.<br />

Nach ihrer Weihnachtsausstellung in der Kongreßhalle, die auch bei unseren Mitgliedern großen<br />

Anklang gefunden hat, tritt die Arbeitsgruppe Berliner Architekturmaler mit „Bauten der Kaiserzeit<br />

im heutigen Berlin" wieder an die Öffentlichkeit. Vom 30. Mai bis zum 16. Juni zeigt sie<br />

Gebäude, Brücken und Denkmäler im Hotel Esplanade in der Bellevuestraße 6—10.<br />

Dr. med. P. F.-C. Wille f<br />

Am 7. Februar 1975 starb in Hannover eines unserer treuesten Mitglieder, der Frauenarzt Paul<br />

Friedrich-Carl Wille. Geboren am 20. Mai 1891 in Berlin, wurde Wille Zögling des ehrwürdigen<br />

Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, sodann entschied er sich durch Studium an der<br />

Kaiser-Wilhelm-Akademie für die militärärztliche Laufbahn. Am 1. Weltkrieg nahm er als Arzt<br />

im Felde teil und promovierte 1930 mit einer grundlegenden, noch heute oft zitierten Dissertation<br />

über „Die Geschichte der Berliner Hospitäler und Krankenhäuser bis zum Jahre 1800". Neben<br />

einer ausgedehnten ärztlichen Tätigkeit blieb Wille weiterhin der Geschichte der Medizin und der<br />

Geschichte der Stadt Berlin treu, was sich in zahlreichen Veröffentlichungen und einer ebenso umfassenden<br />

wie kostbaren Bibliothek der Berliner Medizin niederschlug. Aufgrund seiner besonderen<br />

Leistungen wurde er zum Kustos der Staatlichen Sammlung im Kaiser-Friedrich-Haus in<br />

Berlin gewählt, und er hat es, wie ich glaube, nie ganz verwunden, daß diese größte medizinhistorische<br />

Sammlung Deutschlands in den Wirren der Nachkriegszeit untergegangen ist, obwohl<br />

sie und das sie beherbergende Gebäude, jetzt Akademie der Künste (Ost) am Robert-Koch-Platz,<br />

von den Bomben des 2. Weltkrieges verschont geblieben sind.<br />

Nach dem Zusammenbruch verschlug ihn das Schicksal nach Hannover, wo er bis in seine letzten<br />

Tage eine umfangreiche gynäkologische Praxis ausübte, und noch im Oktober vorigen Jahres veröffentlichte<br />

er eine medizinhistorische Arbeit über den Krankentransport, in welcher ein Stich<br />

des Krankenhauses Bethanien eine Schlüsselrolle spielt. 1966 veröffentlichte er in unseren „Mitteilungen"<br />

einen hochinteressanten Beitrag mit einmaligen Abbildungen des alten Berliner Rathauses.<br />

Gemeinsame Interessen führten ihn zu treuer Freundschaft mit meinem unvergessenen<br />

Vorgänger im Vorsitz, Professor Harms, zusammen, und eine besondere Freude bedeutete es für<br />

35


die Teilnehmer unserer Exkursion im Jahre 1970, als sie den rüstigen, uns alle überragenden<br />

Dr. Wille ganz überraschend in Hameln begrüßen konnten.<br />

Nun ist auch er von uns gegangen. Diese Zeilen aber sollen erinnern an ein Mitglied unseres<br />

Vereins, das diesem fast ein halbes Jahrhundert die Treue gehalten hat.<br />

Walter Hoffmann-Axthelm<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Frau Frieda Senger, Frau Katharina Knirsch; zum 75. Geburtstag Frau Eva<br />

Paproth, Frau Elisabeth Rossberg, Frau Margarete Rettig, Herrn Dr. Dr. Waldemar Heinrich;<br />

zum 80. Geburtstag Frau Lucie Schulze, Frau Toni Gundermann.<br />

Buchbesprechungen<br />

Berlin - Chronik der Jahre 1957-1958. Hrsg. im Auftrag des Senats von Berlin. Bearb. durch<br />

Hans J. Reichardt, Joachim Drogmann, Hanns U. Treutier (Landesarchiv Berlin - Abt. Zeitgeschichte).<br />

Berlin: Heinz Spitzing Verlag 1974. 901 S., Leinen, 52,30 DM. (Schriftenreihe zur<br />

Berliner Zeitgeschichte, Bd. 8.)<br />

Nach einer Unterbrechung von rund drei Jahren, während der 1972 die chronikalische Übersicht<br />

„25 Jahre Theater in Berlin - Premieren 1945-70" eingeschoben worden war, wird mit dem<br />

neuesten Band die Chronik des aktuell-politischen Tagesgeschehens in Berlin fortgesetzt. Genau<br />

wie bei den vorhergegangenen 5 Bänden für die Zeit von 1945-1956 (vgl. Bespr. in den „Mitteilungen"<br />

H. 21/1970 und 4/1971) ist der Geschehensablauf wiederum in detaillierte „Tagesmeldungen"<br />

aufgelöst, die in erster Linie von den politisch-parlamentarischen Ereignissen gespeist<br />

werden. West- und Ost-Berlin finden dabei gleichermaßen Berücksichtigung. Darüber hinaus sind<br />

auch zahlreiche weltpolitische Nachrichten, sofern sie das allgemeine Ost-West-Verhältnis und die<br />

Deutschlandsituation im besonderen betrafen, aufgenommen worden. Meldungen über herausragende<br />

kulturelle, gesellschaftliche und sportliche Vorkommnisse runden die Informationen ab.<br />

Die beiden hier behandelten Jahre sind durch eine zunehmende wirtschaftliche und soziale Konsolidierung<br />

gekennzeichnet. Der Wiederaufbau der Stadt schreitet voran, neue Objekte - wie z. B.<br />

die Stadtautobahn, die Kongreßhalle, die Universitätsbauten - gewinnen Gestalt, wobei die<br />

„Interbau" 1957 mit der Verwirklichung neuer planerischer Grundsätze weltweite Bedeutung<br />

erlangt. Demgegenüber verschlechtert sich das politische Klima zusehends: Obwohl ein Meinungsaustausch<br />

über die Sektorengrenze hinweg noch stattfindet und das Wort „Wiedervereinigung"<br />

immer wieder gebraucht wird, verhärten sich die Fronten. 1957 stirbt Otto Suhr, neuer Bürgermeister<br />

wird Willy Brandt, unter dessen Führung die Stadt im folgenden Jahr durch das sog.<br />

Chruschtschow-Ultimatum einer schweren Belastungsprobe entgegengeht. Bei den Abgeordnetenhauswahlen<br />

am 7. 12. 1958 legt dann die Berliner Bevölkerung erneut ein eindeutiges Vertrauensbekenntnis<br />

zu ihrer demokratischen Führung ab.<br />

Jeder Vorgang in der Chronik ist quellenmäßig belegt, in der Regel durch die Berliner Tageszeitungen,<br />

aber auch in zunehmendem Maße durch andere zeitgeschichtliche Dokumentär- und<br />

Memoirenwerke sowie Film- und Tonaufnahmen. Diese Verdichtung der Quellen, durch den<br />

wachsenden zeitlichen Abstand bedingt, führt sowohl zu einer Vermehrung des Informationsgehaltes<br />

wie auch zu einer verstärkten Kommentierung der gelieferten Nachrichten. Sie bringt<br />

indessen auch manche Weitschweifigkeit mit sich, die den eigentlichen Kern des Vorgangs zu überlagern<br />

droht. Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung, die Berlin im damaligen politischen<br />

Kräftespiel einnahm, mag es jedoch angebracht erscheinen, tiefer in die Abfolge des Geschehens<br />

einzudringen und die große Materialfülle, die in den Quellen geboten wird, auch auszuwerten.<br />

Das Problem, wie die Auswahl zu treffen sei, ist fast so alt wie die Geschichtsschreibung selbst.<br />

Die Entscheidung für eine extensive Anwendung des Auswahlprinzips wird gerechtfertigt durch<br />

die Einmaligkeit dieses Werkes, auf das auch spätere Historikergenerationen nicht werden verzichten<br />

können. Die Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie Namen- und Sachregister erschließen<br />

den Band wiederum auf vorbildliche Weise. Peter Letkemann<br />

36


Wolfgang Ribbe: Die Aufzeichnungen des Engelbert Wusterwitz. Überlieferung, Edition und<br />

Interpretation einer spätmittelalterlichen Quelle zur Geschichte der Mark Brandenburg. Berlin:<br />

Colloquium Verlag 1973. XII, 245 S., Leinen, 78 DM. (Einzelveröff. d. Histor. Kommission zu<br />

Berlin, Bd. 12.)<br />

Die Mark Brandenburg gehört zu den deutschen Gebieten, in denen sich im Mittelalter keine<br />

große Geschichtsschreibung entwickelte. Mit den wenigen historischen Aufzeichnungen, die<br />

trotzdem im Lande entstanden, ist die Nachwelt recht achtlos umgegangen, so daß von den<br />

meisten derartigen Arbeiten nur noch Bruchstücke überliefert sind. Einen besonderen Rang<br />

unter den wenigen brandenburgischen Historiographen nahm seit jeher der gelehrte Jurist<br />

und Stadtsyndikus der Neustadt Brandenburg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts,<br />

Engelbert Wusterwitz, ein.<br />

Das Original der Berichte Engelberts, die wichtigste Quelle zum Ende der luxemburgischen<br />

und Beginn der Hohenzollernherrschaft in der Mark, ist verloren, ebenso sämtliche Abschriften.<br />

Teile der Berichte sind in die nachmittelalterliche brandenburgische Historiographie,<br />

insbesondere in das Werk des um 1600 gestorbenen Peter Hafftitz, übernommen. Der Herausgeber<br />

unternahm es, den Text des Engelbert zu rekonstruieren. Dies erforderte die Anwendung<br />

besonderer Methoden, die über diejenigen einer bloßen kritischen Textausgabe hinausgehen.<br />

Der gesamte erste Teil der dreiteiligen Arbeit ist deshalb dem Überlieferungsproblem<br />

und den editorischen Vorarbeiten gewidmet. Der zweite Teil enthält den eigentlichen Quellentext<br />

mit dem dazugehörenden Variantenapparat und den Anmerkungen. Der Text reicht vom<br />

Jahre 1391 bis 1421. Von besonderem Interesse für die Berliner Geschichte ist u. a. der<br />

Bericht über die Fehde des Dietrich von Quitzow mit der Stadt Berlin von 1410 - einer Fehde,<br />

die für die Stadt recht ungünstig ausging. - Im dritten Teil unternimmt der Autor den Versuch<br />

einer Interpretation der Aufzeichnungen. Die Zeitverhältnisse und in diesem Zusammennang<br />

auch die Position des Engelbert Wusterwitz werden hier behandelt. Die Übernahme<br />

Brandenburgs durch die Hohenzollern brachte nicht - wie Wusterwitz wohl gehofft haben<br />

mag - ein rasches Ende der anarchischen Zustände in der Mark. Die von ihm so leidenschaftlich<br />

bekämpfte Adelsherrschaft war auch unter Friedrich I. noch nicht gebrochen. Mit dem<br />

Scheitern der Hoffnungen des brandenburgischen Stadtsyndikus dürfte, wie Ribbe zeigt,<br />

auch sein Verzicht auf eine breitere Darstellung der Zustände unter Friedrich I. zusammenhängen.<br />

Die zahlreichen erklärenden Anmerkungen sowie das ausführliche Register machen dieses<br />

Werk auch für den interessierten Laien benutzbar. Dem Herausgeber gebührt das Lob, daß er<br />

sich eines der schwierigsten Kapitel der wahrlich nicht problemlosen brandenburgischen Historiographie<br />

angenommen hat. Felix Escher<br />

Otto Schneidereit: Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette. (Ost-)Berlin:<br />

Henschelverlag 1974. 144 S. m. 44 Abb., Pappbd., 8 M.<br />

Der Titel deutet schon auf Paul Lincke als den eigentlichen Vater der Berliner Operette hin.<br />

Die Schaffenszeit des Künstlers war auch die Zeit des Aufstiegs Berlins zur Groß- und Weltstadt,<br />

der Paul Lincke ihre Melodie gab. Eine typisch berlinische Operette gab es zuvor nicht.<br />

Ihre Entstehung kann man mit dem Erscheinen der „Frau Luna" ansetzen, einer äußerst erfolgreichen<br />

Operette, die auch heute noch ihre Daseinsberechtigung hat und sich großer Beliebtheit<br />

erfreut. Der Verfasser begleitet Paul Lincke auf seinem Lebens- und Schaffensweg, versäumt<br />

es aber auch nicht, den populären Künstler kritisch zu zeichnen. Die kritischen Töne wirken<br />

aber niemals verletzend.<br />

Lincke, aufgewachsen in den häßlichen Vierteln Berlins der Gründerjahre und mit Geld nicht<br />

gesegnet, verstand es, seinen Willen, das „Musikerhandwerk" zu erlernen, durchzusetzen, nachdem<br />

sich schon frühzeitig herausgestellt hatte, daß er eine seltene Gabe besaß: das absolute<br />

Gehör. Der Musikerberuf wurde ihm - zu einem regulären Studium fehlten die Mittel - in<br />

dreijähriger Lehrzeit in der Stadtpfeiferei zu Wittenberge beigebracht. Lincke hat sich später<br />

lobend über die Lehrjahre in Wittenberge geäußert und seinem Lehrherrn ein gutes Zeugnis<br />

ausgestellt. Erste Engagements als Orchestermusiker führen ihn über verschiedene Theater zur<br />

Tätigkeit eines Korrepetitors, zweiten Kapellmeisters und schließlich ersten Kapellmeisters an<br />

das Königstädtische Theater am Alexanderplatz. Zum Schluß seiner Kapellmeister-Laufbahn<br />

finden wir Lincke an den Folies-Bergere in Paris, dem damaligen Zentrum europäischen Vergnügungslebens.<br />

Im Februar 1899 holte man ihn nach Berlin an das neueröffnete Apollo-Theater<br />

zurück, wo er zu einem Text von Bolten-Baeckers bis zum 1. Mai 1899 eine Operette komponieren<br />

und einstudieren mußte. Es war die „Frau Luna", die am 1. Mai 1899 eine glanzvolle<br />

Uraufführung erlebte. Bereits am 18. Dezember 1899 folgte die Operette „Im Reiche des Indra".<br />

An heute noch bekannten Kompositionen folgen in den Jahren bis zum 1. Weltkrieg noch „Lysi-<br />

37


strata" mit dem Glühwürmchenidyll, die Ausstattungs-Burleske „Berliner Luft", die „Champagner-Visionen",<br />

ein Ballett und die Operette „Casanova". Neben diesen Bühnenwerken komponierte<br />

er weiterhin eine große Zahl noch heute populärer Lieder. Der 1. Weltkrieg beendete die<br />

Laufbahn Linckes als Komponist. Foxtrott, Tango und Jazz der „Goldenen Zwanziger Jahre"<br />

waren nicht sein Metier. Der Beginn der großen Zeit des Rundfunks sorgte aber dafür, daß es<br />

um Lincke nicht still wurde. Viele seiner Melodien wurden über die Ätherwellen erst recht<br />

populär. 1943 verließ er seine geliebte Heimatstadt, um über Marienbad und Bayern schließlich<br />

1946 nach Hahnenklee im Harz zu gelangen, wo er am 3. September 1946 verstarb.<br />

Klaus Streu<br />

Sigurd Hilkenbach. Wolf gang Kramer, Claude Jeanmaire: Berliner Straßenbahnen. Die Geschichte<br />

der Berliner Straßenbahn-Gesellschaften seit 1865. Gut Vorhard, Villigen /Schweiz:<br />

Verlag Eisenbahn 1973. 240 S. m. 379 Abb., Leinen, 39 DM.<br />

Eine lückenlose Chronik der Geschichte der Berliner Straßenbahnen existiert noch nicht. Sie<br />

würde mehrere dickleibige Bände füllen, sollte der gesamte Entwicklungskomplex, d. h. das<br />

Vertragswerk der zahlreichen Bahnunternehmungen mit den einzelnen Stadtgemeinden, die<br />

Entstehung und Entwicklung der oft umfangreichen Liniennetze im einzelnen und die Inbetriebnahme,<br />

Bewährung, Verwendung und der Verbleib der zahllosen Wagentypen technisch detailliert<br />

behandelt werden.<br />

Einen großen Schritt auf dieses Fernziel hin bedeutet jedoch die Herausgabe dieses Werkes<br />

über die Berliner Straßenbahnen. Auf 240 Seiten wird dem Leser - und nicht nur dem Verkehrsamateur<br />

- mittels einer langen Reihe guter und teilweise seltener Abbildungen ein mehr als<br />

hundertjähriger Zeitraum des Nahverkehrsablaufes in Berlin vorgeführt, der von den fernen<br />

Zeiten des Pferdebetriebes bei der Straßenbahn bis in unsere Tage reicht. Da die Autoren von<br />

dem Gedanken ausgegangen sind, die Epoche des Berliner Straßenbahnzeitalters vorwiegend<br />

durch fotografisches Bildmaterial aufzuzeigen, liegt der Schwerpunkt der Darstellung in der<br />

Entwicklung des Wagenparkes und nicht der Liniennetze der einzelnen Gesellschaften. Eine<br />

Fülle von Reproduktionen und Ansichten von Verkehrsszenen auf Straßen und Plätzen läßt die<br />

Schrift zu einer lebendigen Dokumentation der Entwicklung des dermaleinst wesentlichen Berliner<br />

Nahverkehrsträgers werden.<br />

Die Abhandlung ist in übersichtlicher Weise aufgebaut, enthält klare technische Aufrisse besonders<br />

interessanter Fahrzeugmodelle, Reproduktionen von Originalen fast hundert Jahre alter<br />

Fahrpläne, Abbildungen von Fahrscheinen, Streckennetzen, Werkfotos, Verkehrszeichen und<br />

Haltestellensäulen. Die zahlreichen Zeitgenossen, deren vordergründiges Interesse dem Wagenpark<br />

der Berliner Straßenbahnen gilt, werden die genauen Hinweise auf die kontinuierlich<br />

fortschreitenden Umnumerierungen der einzelnen Fahrzeuge freudig begrüßen, denen die Autoren<br />

größte Aufmerksamkeit gewidmet haben.<br />

Besonderer Erwähnung bedürfen die erläuternden Texte, die in knapper, aber aufschlußreicher<br />

Form die Bildreportagen des Werkes von der ersten bis zur letzten Seite begleiten. Durch sie<br />

wird dem Leser eine Fülle von speziellem Wissen vermittelt, dessen Quellen dem interessierten<br />

Einzelgänger ansonsten nur schwer zugänglich sind.<br />

Die Zusammenstellung der Materie kann als einschlägiges Standardwerk bezeichnet werden.<br />

Geringfügige Meinungsverschiedenheiten von Verkehrsexperten betreffend den Einsatz einiger<br />

weniger Fahrzeugtypen in bestimmten Streckenbereichen können und sollen nicht als „falsche<br />

Angaben" betrachtet werden. Dem Werk ist weiteste Verbreitung unter der großen Gilde junger<br />

und alter Freunde des Berliner Straßenbahnwesens zu wünschen. Hans Schiller<br />

Walter Stahl und Dieter Wien: Berlin von 7 bis 7. Ein ungewöhnlicher Führer durch eine<br />

außergewöhnliche Stadt. Mitautorin: Monika Bader. 5., verbesserte Aufl. Hamburg/Berlin: Falk-<br />

Verlag 1974/75. 404 S. mit zahlr. Zeichnungen, Linson, 18,60 DM.<br />

Die vom Verlag „Bestseller-Serie" genannte Reihe „. . . von 7 bis 7" bemächtigt sich nun schon<br />

zum fünften Male der beiden Hälften unserer Stadt, die als außergewöhnlich bezeichnet wird,<br />

wohingegen Hamburg das Prädikat „ungewöhnlich" und Wien „weltberühmt" erhalten hat (und<br />

Sylt „einzigartig"). Der dem Buch vorangestellte Berliner Volksmund „Wat denn, wat denn, -<br />

Berlin is doch keen Dorf" bestätigt sich wieder am Umfang und im Gehalt der Angaben über<br />

das kulturelle Leben, die Restaurants, Abendlokale und Nightclubs. Auf Sportmöglichkeiten,<br />

Sehenswürdigkeiten und Dienstleistungen wird hingewiesen, wissenswerte Angaben über „Deutschlands<br />

Metropole" fehlen nicht, und eine geraffte Übersicht sowie ein alphabetisches Gesamtverzeichnis<br />

erweisen sich als überaus nützlich. Gegenüber der letzten Auflage wurden 85 Gaststätten<br />

usw. weggelassen und 114 neu aufgenommen. Ein Stern-System verweist auf besonders empfehlenswerte<br />

gastronomische Betriebe. Die Preisangaben stammen aus dem Herbst 1973. Als besonders<br />

lobend muß hervorgehoben werden, daß der Ost-Berliner Teil nahtlos in dieses Gesamt-<br />

38


erliner Nachschlagewerk eingefügt ist und die Theater, Weinstuben usw. der östlichen Stadthälfte<br />

nur durch ein Symbol kenntlich gemacht worden sind.<br />

Einige Anmerkungen seien erlaubt, da sie vermeidbare Fehler betreffen. In der Deutschen Oper<br />

Berlin ist Gustav Rudolf Seilner schon seit 1972 nicht mehr Generalintendant (jetzt Egon Seefehlner),<br />

ähnliches gilt für Frank Lothar und die „Tribüne". Das Haus der Ostdeutschen Heimat<br />

trägt jetzt einen geographisch umfassenderen Namen. Der Zoologische Garten mit Aquarium<br />

hat auf Seite 313 unter der Rubrik „Unter den Linden" nichts zu suchen. Das Rote Haus (S. 325)<br />

heißt in Wirklichkeit Rotes Rathaus, und von den Druckfehlern sei nur der des Bekleidungshauses<br />

Laden-(statt Loden-)Frey erwähnt.<br />

Das handliche Buch, zum Gegenwert eines normalen innerstädtischen Abendessens geboten, kann<br />

sich als preiswürdig erweisen, wenn man mit seiner Hilfe den richtigen oder einen neuen Weg<br />

findet. H. G. Schultze-Berndt<br />

Peter Pfankuch (Hrsg.): Hans Scharoun - Bauten, Entwürfe, Texte. Berlin: Gebr. Mann Verlag<br />

1974. 408 S. mit 447 Abb. u. Plänen, Linson, 59 DM. (Schriftenreihe d. Akademie d. Künste<br />

Berlin, Bd. 10.)<br />

Hier liegt die erste umfassende Publikation über das Gesamtwerk Hans Scharouns vor. Peter<br />

Pfankuch, viele Jahre dessen Mitarbeiter und jetzt Sekretär der Abteilung Baukunst der Akademie,<br />

gab sie heraus. Der Leser erlebt den Architekten, Künstler und Menschen Hans Scharoun,<br />

der als Stadtbaurat nach 1945 und als Präsident der Akademie der Künste auch für Berlin von<br />

Bedeutung war. Dessen Entwürfe, Notizen und Manuskripte, ergänzt durch zeitgenössische Dokumente<br />

und Daten des Herausgebers, spiegeln ebenfalls den großen Aufbruch nach dem ersten<br />

Weltkrieg wider, den eine junge, von neuem Bauwollen beseelte Architektengeneration in der<br />

Planung aufstrebender, moderner Städte wagte. Das moralische Element der Stadtlandschaft als<br />

private und berufliche Umwelt ging einher mit der technischen Expansion. Die „menschenbildende<br />

Aufgabe" der Architektur fand ihren Niederschlag in der Nachbarschaftsidee; Scharoun<br />

war einer ihrer Verfechter.<br />

So wird diese Veröffentlichung, die detailliert das Leben und die schöpferische Entwicklung des<br />

Architekten darlegt, fast zu einem Handbuch der gegenwärtigen Baukunst. Günter Wolbchlaeger<br />

Im I. Vierteljahr 1975<br />

haben sich folgende Damen und Herren<br />

Waltraut Adomat, Verw.-Angest.<br />

2116 Hanstedt, Rübenkamp 6<br />

Tel. (0 41 84) 4 21 (Nawrocki)<br />

Hans Axthelm, Techn. Angest.<br />

1 Berlin 47, Britzer Damm 23<br />

Tel. 6 25 31 34 (Vorsitzender)<br />

Carl-Ulrich Blecher, Zahnarzt u. Schriftsteller<br />

1 Berlin 19, Württembergallee 8<br />

Tel. 3 04 30 38 (Vorsitzender)<br />

Dagmar Blecher<br />

1 Berlin 19, Württembergallee 8<br />

Tel. 3 04 30 38 (Vorsitzender)<br />

Dr. Jürgen Boeckh, Pfarrer<br />

1 Berlin 62, Hauptstraße 47<br />

Tel. 7 81 57 84 (Vorsitzender)<br />

Renate Hörn, Assessorin d. Lehramtes<br />

53 Bonn, Im Kirchenbenden 18<br />

Tel. 23 48 20 (Vorsitzender)<br />

Wilhelm Kielhorn, Abt.-Leit. i. R.<br />

1 Berlin 33, Spessartstraße 9 b<br />

Tel. 8 22 51 49 (Rüsch)<br />

Dr. Georg Kraffel, Augenarzt<br />

1 Berlin 27, Gabrielenstraße 34-36<br />

Tel. 4 33 88 04 (Vorsitzender)<br />

zur Aufnahme gemeldet:<br />

Jürgen Manthey, Dipl.-Ing., Architekt<br />

1 Berlin 42, Totilastraße 10<br />

Tel. 7 52 53 00 (Schriftführer)<br />

Werner Nawrocki, Student<br />

1 Berlin 65, Drontheimer Straße 20<br />

Tel. 4 93 11 86 (Schriftführer)<br />

Aenne Otterstedt, Katechetin, Kirchenmusikerin<br />

1 Berlin 41, Südwestkorso 6<br />

Tel. 8 52 42 16 (Vorsitzender)<br />

Anneliese Richter<br />

1 Berlin 46, Mozartstraße 29 b<br />

Tel. 7 71 85 90 (E. Guth)<br />

Charlotte Rieck<br />

1 Berlin 30, Weiserstraße 10<br />

Tel. 2 1129 32<br />

Hildegard Rüsch, MTA i. R.<br />

1 Berlin 51, Amendestr. 66<br />

Tel. 4 91 32 05 (Schriftführer)<br />

Martin Schröder, Studienreferendar<br />

1 Berlin 42, Mussehlstraße 23<br />

Tel. 7 85 19 17 (Schriftführer)<br />

Irma Wullkopf<br />

1 Berlin 21, Bundesratufer 10<br />

Tel. 3 91 63 52 (Koch)<br />

39


Veranstaltungen im IL Quartal 1975<br />

1. Dienstag, 15. April, 19.30 Uhr, Filmsaal des Rathauses Charlottenburg: Vorführung<br />

des Films „Robert Koch" mit Emil Jannings und Werner Krauß.<br />

Einführende Worte: Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm.<br />

2. Dienstag, 22. April, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Bürgersaal<br />

des Rathauses Charlottenburg.<br />

Tagesordnung:<br />

1. Entgegennahme des Tätigkeits-, des Kassen- und des Bibliotheksberichtes.<br />

2. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer. 3. Aussprache. 4. Entlastung<br />

des Vorstandes. 5. Wahl des Vorstandes. 6. Wahl von zwei Kassenprüfern<br />

und von zwei Bibliotheksprüfern. 7. Verschiedenes.<br />

Die Wahlen bestimmen für die Dauer der nächsten beiden Jahre die Zusammensetzung<br />

des Vorstands und damit auch die Geschicke des Vereins. Anträge sind<br />

bis spätestens 12. April der Geschäftsstelle einzureichen.<br />

3. Mittwoch, 7. Mai, 15.00 Uhr: Führung durch das Robert-Koch-Institut durch<br />

den leitenden Direktor Prof. Dr. med. Karl-Ernst Gillert. Berlin-Wedding,<br />

Nordufer 20. U-Bahnhof Putlitzstraße, Nordausgang; Omnibus 16, 64.<br />

4. Dienstag, 27. Mai, 19.30 Uhr, Filmsaal des Rathauses Charlottenburg: Lichtbildervortrag<br />

von Felix Escher „Jerichow, Stendal, Tangermünde — drei Phasen<br />

mittelalterlicher Geschichte im brandenburgischen Raum".<br />

5. Sonnabend, 7. Juni, Exkursion nach Jerichow, Stendal und Tangermünde unter<br />

der Leitung von Joachim Schlenk. Die Teilnahme an der Veranstaltung am<br />

27. Mai ist für alle Interessenten verbindlich.<br />

6. Dienstag, 24. Juni, 19.30 Uhr, Filmsaal des Rathauses Charlottenburg: Lichtbildervortrag<br />

von Egon Fouquet „Die Hugenotten, 2. Teil: Berlin-Brandenburg".<br />

(Wegen Erkrankung des Vortragenden mußte dieses Referat am 11. Januar durch<br />

einen Vortrag des Vorsitzenden ersetzt werden.)<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenbuf^ sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde geöffnet. Nach den Vorträgen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 25. April, 30. Mai und 27. Juni, von 17.00 Uhr an zwangloses Treffen<br />

in der Vereinsbibliothek.<br />

Unsere diesjährige Studienfahrt wird uns vom 5. bis 7. September nach Hannoversdi-<br />

Münden führen.<br />

Beilagenhinweis: Diesem Heft liegen das Gesamtinhaltsverzeichnis und das Namensregister für<br />

die Jahrgänge 1971-1974 der „Mitteilungen" bei.<br />

Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin", Band 24 (1975), wird - ähnlich wie im Vorjahr - im<br />

Sommer dieses Jahres erscheinen.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für das Jahr 1974.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Ruth Koepke, 1 Berlin 61,<br />

Mehringdamm 89, Ruf 6 93 67 91. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 4 65 90 11. Schatzmeister: Landgerichtsrat a.D. D.Franz, 1 Berlin 41, Grunewaldstraße<br />

5, Ruf 7 91 57 41. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus). Geöffnet: freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Klaus P.<br />

Mader; Günter Wollschlaeger. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

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iäöi - A 20 377 F<br />

ieriiner Stach<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

71.Jahrgang Heft 3 Juli 1975<br />

Foto: Landesbildstelle Berlin<br />

41


Am Beispiel Spandaus<br />

Der Versuch einer Gegenüberstellung 1975<br />

Von Jürgen Grothe<br />

Im Jahr des „Europäischen Denkmalschutzes" wird die Erhaltung historischer Stadtteile,<br />

Gebäude oder Fassaden lebhaft diskutiert. So erhebt sich in Berlin die Frage, wie es mit<br />

der Erhaltung der Spandauer Altstadt aussieht, die ja immerhin die einzige mittelalterliche<br />

Stadt innerhalb des Stadtgefüges von West-Berlin ist. Seit Jahren wird von der<br />

„Altstadtplanung" in Presse und Rundfunk berichtet. Bisher wurde jedoch ausschließlich<br />

von Neuplanungen gesprochen. Ein Katalog der zu erhaltenden, zu restaurierenden oder<br />

zu sanierenden Gebäude ist bis heute nicht erstellt. Tatsache ist, daß in den letzten Jahren<br />

mehrere erhaltenswerte Gebäude abgerissen wurden.<br />

Die Spandauer Altstadt besaß von jeher eine sehr prägnante Stadtsilhouette. Die Dominante<br />

dieser Silhouette bestimmte bis zum Bau des Rathauses die St.-Nikolai-Kirche<br />

(siehe Titelbild). Die übrige Bebauung war niedrig, d. h. ein- bis zweistöckig gehalten<br />

und besaß außer den Türmen der Stadtmauer keine aufragenden Gebäude. Außerhalb<br />

der Altstadt bildete der Juliusturm einen Gegenpol zum Kirchturm.<br />

Die Nikolaikirche ist das typische Beispiel einer märkischen Stadtpfarrkirche. Sie ist mit<br />

ihrer Ost-West-Lage unregelmäßig in das Stadtgebilde eingefügt. Ihre Turmarchitektur<br />

beherrschte nicht nur das gesamte Stadtbild, sondern auch, da der Turm in die Carl-<br />

Schurz-Straße eingerückt ist, diesen Straßenzug in seiner vollen Länge. Am 6. Oktober<br />

1944 brannte der Turm während eines schweren Luftangriffes auf die Spandauer Altstadt<br />

aus. Die welsche Haube, der achteckige Laternenaufbau und die zweifach geschweifte<br />

Haube gingen verloren. Im Baubeschluß zur Wiederherstellung der Kirche nach dem<br />

Kriege heißt es, daß die heutige Gestaltung des Turmdaches nur als Provisorium zu betrachten<br />

sei. Bis heute, 30 Jahre später, ist dieses Provisorium, ein Pyramidaldach, das in<br />

keiner Weise zum Bau und zum Kirchendach paßt, beibehalten worden. Es ist an der<br />

Zeit, daß Kirche, Landeskonservator, Bezirksamt Spandau und der Senat von Berlin<br />

gemeinsam Geldmittel zur Verfügung stellen, um den alten Turmaufbau trotz der enormen<br />

Kosten wieder herzustellen.<br />

Die Umbauung des Reformationsplatzes, auf dem die Nikolaikirche steht, wird immer<br />

wieder als historisch bezeichnet. Sie stammt fast ausschließlich aus dem 19. Jahrhundert.<br />

Pietätlosigkeit der Stadt und privater Bauherren hat hier Gebäude entstehen lassen, die<br />

in ihren Proportionen keinerlei Rücksicht auf den Bau der Nikolaikirche nehmen. Eine<br />

Stadtpfarrkirche steht stets im engsten künstlerischen und baulichen Zusammenhang mit<br />

ihrer Umgebung, die sich ihr entweder unterordnet oder sie ergänzt. Das Spandauer Beispiel<br />

zeigt, daß eine falsche Umbauung dem Baudenkmal viel von seiner Wirkung nimmt.<br />

Durch den fehlenden Turmabschluß wird der Höhenfluß des Bauwerkes außerdem noch<br />

stark reduziert.<br />

Direkt gegenüber der Nikolaikirche, an der Westseite der heutigen Carl-Schurz-Straße,<br />

befindet sich die erste „Bausünde" der Altstadt (Bild 1 b). Bis 1950 war die Umbauung<br />

des Reformationsplatzes, trotz der Ruinen an der Westseite der Carl-Schurz-Straße, geschlossen.<br />

1950 erfolgte der Abriß der Ruine des ehem. Amtsgerichtes. Das Gebäude des<br />

„Königlichen Amtsgerichtes" war 1854 durch einen Umbau entstanden (Bild 1 a). Bereits<br />

1439 wird an dieser Stelle „dat Radhüsiken up dem Kerkhof" genannt. Ab 1677 war es<br />

42


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Bild 1 a (Aufnahme um 1910) Foto vom Verfasser<br />

Bild 1 b (Aufnahme April 1975) Foto vom Verfasser<br />

43


Bild 2 a (Aufnahme 1965)<br />

Bild 2 b (Aufnahme April 197<br />

A4<br />

Foto vom Verfasser<br />

Foto vom Verfasser


Wohnhaus der Spandauer Bürgermeisterfamilie Neumeister, bis es 1697 von der Stadt<br />

erworben wurde. Fortan diente es als Quartier der Spandauer Regimentschefs. 1769 übernahm<br />

Prinz Heinrich v. Preußen, der Bruder Friedrichs IL, das Spandauer Regiment.<br />

Das Haus wurde umgebaut und erhielt den Namen „Prinz-Heinrich-Palais". Aus diesem<br />

Barockbau entstand durch einen erneuten Umbau das Amtsgericht. Obwohl die romantische,<br />

burgähnliche Fassade nicht in das Spandauer Stadtbild paßte, ordnete sich der Bau<br />

in seinen Maßen in die vorhandene Bebauung ein.<br />

Einen Fremdkörper bildet das heute an dieser Stelle vorhandene Gebäude. In keiner<br />

Weise ist Rücksicht auf die Umbauung des Reformationsplatzes genommen worden.<br />

Durch die Zurückziehung des Gebäudes wurde die Einheitlichkeit der Häuserflucht unterbrochen.<br />

Am 10. August 1956 zeigte das „Forum-Filmtheater" in dem Neubau seinen<br />

ersten Film. Nach 12 Jahren schloß das modernste Kino der Spandauer Altstadt am<br />

6. Oktober 1968 wieder seine Pforten. Eine innere und äußere Umgestaltung verstärkte<br />

die Disharmonie innerhalb des Ensembles Reformationsplatz. Am 7. Dezember 1968 eröffnete<br />

ein Discount-Unternehmen in dem ehemaligen Kino eine Filiale.<br />

Als nach dem Dreißigjährigen Krieg stehende Heere aufgestellt wurden, zeigte sich die<br />

Notwendigkeit, spezielle Gebäude für die Unterkunft der Soldaten zu errichten. Gleichzeitig<br />

konnte die Desertation erschwert werden. Nachdem in Berlin die ersten Kasernen<br />

entstanden waren, erhielt der Spandauer Oberstleutnant von Kleist am 14. September<br />

1766 die Order, in Spandau Kasernen erbauen zu lassen. Als Bauplatz entschied man<br />

sich für einen Teil des Moritzkirchhofes und des Stadthofes am Südende der heutigen<br />

Kinkelstraße. Der Entwurf stammte von dem Spandauer Bauinspektor Lehmann. Der<br />

Bau war ein typisches Beispiel der preußischen Zweckarchitektur (Bild 2 a). Das 18 Fensterachsen<br />

lange und 3 Fensterachsen breite Gebäude war nur durch ein einfaches Gesims,<br />

das das Erdgeschoß von den oberen Stockwerken trennte, und 2 Korbbogenportalen gegliedert.<br />

1920 baute es der Spandauer Stadtbaurat Karl Elkart für Wohnzwecke um. Er<br />

integrierte den Bau in seine zur Linderung der Wohnungsnot zwischen Kinkelstraße und<br />

Viktoria-Ufer entstandene Wohnsiedlung. 21 Familien fanden in den beiden oberen<br />

Stockwerken eine Unterkunft. 1964 war das Gebäude plötzlich baufällig. Kleinere Renovierungen<br />

hatte das Bezirksamt nach Kriegsende bereits durchführen lassen. Eine völlige<br />

Instandsetzung hätte eine Million DM gekostet. 850 000 DM hatte das Bauamt bereits<br />

veranschlagt, so daß ein Differenzbetrag von 150 000 DM bei einem damals in die Milliarden<br />

gehenden Etat keine große Rolle hätte spielen dürfen. Immerhin hätte es sich ja<br />

nicht um reine Restaurierungskosten gehandelt. Es wären ca. 30 Wohnungen geschaffen<br />

worden. Aber der Grund des Abrisses lag auf einem anderen Gebiet. Das Gebäude, das<br />

in die Kinkelstraße eingerückt war, störte die Stadtplaner: Es galt als Verkehrshindernis<br />

und war demnach - zum Abriß verurteilt. So wurde die friderizianische Kaserne im<br />

Sommer 1965 abgebrochen, obwohl der Bau unter Denkmalschutz stand und der letzte<br />

seiner Art in Berlin war. Im selben Jahr noch wurde hier ein Parkplatz für 30 Kraftfahrzeuge<br />

geschaffen (Bild 2 b).<br />

Breite Straße und Carl-Schurz-Straße galten seit je als die Hauptstraßen Spandaus; sie<br />

waren Einfall-, Ausfall- und Geschäftsstraßen. Mit dem Zuzug großer Bevölkerungsteile<br />

um 1880 änderten auch diese beiden Straßen ihr architektonisches Bild; Geschäftshäuser<br />

und Hotels entstanden. Im südlichen Teil der Carl-Schurz-Straße (ehemalige Klosterstraße,<br />

Potsdamer Straße) dominierte das im Stil der Nachgründerzeit erbaute Gebäude<br />

des Hotels „Roter Adler" (Bild 3 a). In seinem großen Festsaal fanden Konzerte, Thea-<br />

45


Bild 3 a (Aufnahme um 1890)<br />

Bild 3 b (Aufnahme 1974)<br />

46<br />

\<br />

Foto vom Verfasser<br />

Foto vom Verfasser


Bild 4 b (Aufnahme 1975)


teraufführungen und Tanzveranstaltungen statt. Teilzerstörungen der Carl-Schurz-Straße<br />

während des Zweiten Weltkrieges an der Charlottenstraße bildeten die Voraussetzung<br />

zur Errichtung eines Kaufhauses, das der Hertie-Konzern 1963/64 errichten ließ. Bald<br />

genügte dieser Bau nicht mehr den Ansprüchen. So erfolgte 1971 eine Erweiterung<br />

(Bild 3 b). Der Hertie-Bau, von einem konzerneigenen Architektenteam entworfen, beherrscht<br />

heute die Carl-Schurz-Straße zwischen Charlotten- und Mauerstraße. Eine organische<br />

Einfügung in die Altstadtbebauung erfolgte nicht. Die bisherigen Maßstäbe wurden<br />

gesprengt: Ohne Rücksicht auf das Stadtbild hat man das Kaufhaus zwischen die<br />

alten Häuser gesetzt.<br />

Heute muß ein Kaufhaus in größerer Zahl Parkplätze für seine Kunden zur Verfügung<br />

stellen. Aus diesem Grunde wurde teilweise die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammende<br />

Bebauung der Mauer- und Breite Straße abgerissen (Bild 4 a). 1971 entstand an<br />

dieser Stelle ein Parkhaus mit 400 Einsteilplätzen (Bild 4 b).<br />

Es bleibt festzustellen, daß die Gegend zwischen Carl-Schurz-Straße, Mauer-, Breite und<br />

Charlottenstraße durch den Hertie-Bau und das Parkhaus negativ beherrscht wird und<br />

die Funktion einer Altstadt verlorenging. Atmosphäre ist durch öde und ausdruckslose<br />

Fassaden ersetzt worden. Kaufhäuser sollen das Leben einer Stadt bereichern, Einzelhandelsgeschäfte<br />

nach sich ziehen, Spaziergänger zum Betrachten der Auslagen oder zum<br />

Besuch von Restaurants und Cafes anregen. Das ist in Spandau nicht der Fall. Nach<br />

Geschäftsschluß herrscht in der Altstadt gähnende Leere. Die Stadtplaner taten noch ein<br />

Weiteres: Das alte Pflaster wurde mit einer Asphaltdecke versehen, und die Laternen aus<br />

dem 19. Jh. mußten modernen Peitschenmasten weichen. Hat man nie gemerkt, daß die<br />

Straßen der Altstadt durch die Schaufensterbeleuchtungen ausreichend erhellt waren?<br />

Eine starke Veränderung des mittelalterlichen Stadtgrundrisses ergab 1960 der Abriß der<br />

Häuser an der Nordseite der Havelstraße. Ein Parkplatz für 135 Wagen wurde geschaffen.<br />

Betont wird dieser Eingriff zusätzlich durch die Anlage der Straße Am Juliusturm.<br />

Behnitz und Kolk wurden so von der Altstadt abgetrennt.<br />

Die Spandauer Altstadt kann moderne Funktionen aufnehmen, auch im Rahmen ihrer<br />

Altbebauung. Allerdings muß das Unverständnis alten Gebäuden gegenüber abgelegt und<br />

Profitstreben zurückgestellt werden. Jahrzehntelang versäumte Restaurierungen rächen<br />

sich, in vielen Fällen kommt eine Sanierung zu spät. Sanieren muß nicht Abriß heißen,<br />

wie Beispiele am Kolk und Behnitz zeigen. Die Stadt sollte, wenn auch noch so teuer,<br />

Häuser aufkaufen und erhalten. Nur so ist der Spekulation mit Grundstücken in der Altstadt<br />

Einhalt zu gebieten. Zu lange haben Denkmalpfleger nur einzelne Gebäude geschützt,<br />

in Spandau auch das noch nicht einmal mit Erfolg. Ganze Straßenzüge, wie Teile<br />

der Ritterstraße, des Hohen Steinwegs, von Kolk und Behnitz sowie des Möllentordamms<br />

sollten unter Denkmalschutz gestellt werden. Letztlich kommt es auf die Geschlossenheit<br />

des Stadtbildes an.<br />

Straßenzüge zum „baugeschützten Bereich" zu erklären ist zwecklos, wie zahlreiche Abrisse<br />

in der Ritter- und Kinkelstraße zeigen. Noch ist eine Restaurierung der Altstadt<br />

teilweise möglich. Allerdings muß eine weitere Verödung des Stadtbildes vermieden werden.<br />

Zahlreiche Gebäude sollen in nächster Zeit abgebrochen werden. Dies zu verhindern,<br />

sollte Aufgabe des Bezirksamtes, des Landeskonservators, der Berliner Geschichtsvereine,<br />

der Hausbesitzer und letzten Endes auch der Bevölkerung sein.<br />

Warum gehen Sonntagsspaziergänger nicht durch moderne Wohnsiedlungen, sondern<br />

durch Altstädte? Weil sie in technoider, steriler Architektur keine geistigen Orientierungs-<br />

48


hilfen finden. Durch eine rigorose Bauordnung ist die Altstadt von Bern gerettet worden.<br />

Danzig und Warschau waren bis zu 90 °/o zerstört, beide Städte sind wiedererstanden.<br />

Auch die Spandauer Altstadt braucht nicht „wegsaniert" zu werden - ihr Reiz kann<br />

erhalten bleiben, wenn die Bürger es wollen.<br />

„Melpomenens und Thaliens Günstling"<br />

Zum 200. Todestag des Schauspieldirektors H. G. Koch<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 20, Kellerwaldweg 9<br />

Von Rainer Theobald (Fortsetzung von Heft 2)<br />

Schon 1767 hatte Koch versucht, während der Abwesenheit Schucks in Berlin Fuß zu<br />

fassen, doch war ihm Carl Theophil Döbbelin M zuvorgekommen. Als ein Jahr später in<br />

Leipzig seine Existenz dadurch gefährdet wurde, daß ihm auf Betreiben von Kirche und<br />

Universität nur noch zwei Spieltage wöchentlich zugestanden wurden, folgte er einem<br />

Ruf der kunstliebenden Herzogin Anna Amalia nach Weimar und kehrte nur zu den<br />

Meßzeiten, in denen täglich gespielt werden durfte, nach Leipzig zurück. Von dort kommend,<br />

traf die Truppe Ende Mai 1771 in Berlin ein, nachdem ihrem Prinzipal schon am<br />

13. März das preußische Privilegium ausgefertigt worden war. Er hatte sich verpflichten<br />

müssen, Schucks Theater in der Behrenstraße käuflich zu erwerben und die hohen Schulden,<br />

die jener hinterlassen hatte, mit zu übernehmen.<br />

Der Antritt vor dem Berliner Publikum war für beide Seiten mit großen Hoffnungen<br />

verbunden, bedeutete für Koch aber einen Schritt ins Ungewisse, über dessen Risiko er<br />

sich durchaus im klaren war. Er hatte bereits das für damalige Verhältnisse recht hohe<br />

Alter von 68 Jahren erreicht. Er hatte 32 künstlerisch,Beschäftigte 27 zu versorgen, von<br />

denen einige schon Jahrzehnte bei ihm dienten, also aus moralischen und sozialen Gründen<br />

„unkündbar" waren; ein Drittel seiner Truppe war noch nie in Berlin aufgetreten,<br />

ein Teil bestand aus Anfängern - überall Unsicherheitsfaktoren. Wie es bei allzu langen<br />

Direktionsperioden vorkommt, war ein gewisser Schlendrian eingerissen, der sich in Vernachlässigung<br />

von Proben und Ausstattung bemerkbar machte. Auch war der Darstellungsstil<br />

des Ensembles uneinheitlich. Koch hatte das steife Emportement der regulierten<br />

Gestik beibehalten, die die Neubersdie Truppe nach französischem Muster kultiviert<br />

hatte. Ein Teil seiner Schauspieler folgte ihm noch darin, ein Teil war schon bei anderen<br />

Gesellschaften von den Bestrebungen beeinflußt worden, die „Nachahmung der Natur"<br />

vom Darsteller forderten (auch wenn darunter noch nicht „Natürlichkeit" verstanden<br />

2C C. T. Döbbelin (1727-1793) hatte 1756 in Leipzig erstmals eine eigene Truppe gegründet, angeblich<br />

auf Betreiben Gottscheds, um Koch auszustechen. Er hielt sich dann teils mit, teils neben<br />

Schuch in Berlin, den preußischen Provinzen, in Sachsen und Weimar auf. 1786 wurde er in<br />

Berlin zum Direktor des neugegründeten „Königlichen Nationaltheaters" ernannt, aber schon<br />

nach drei Jahren pensioniert.<br />

27 D. h. Schauspieler und Tänzer; dazu kamen noch Musiker und technisches Personal. Eine namentliche<br />

Aufzählung der Darsteller gibt A. E. Brachvogel: Das alte Berliner Theaterwesen bis<br />

zur ersten Blüthe des deutschen Dramas. Berlin 1877, S. 226 f.<br />

49


wurde). Was Kochs Repertoire betrifft, so wurde ihm hier oft vorgeworfen, er benutze<br />

veraltete Übersetzungen. Daran waren jedoch auch die Schauspieler schuld, die sich weigerten,<br />

eine einmal „sitzende" Rolle umzulernen 28 . Allerdings konnte Koch schon 1764<br />

in Dresden ein Repertoire von mehr als 100 Titeln vorweisen 29 , das nunmehr, da die<br />

Stücke nur langsam veralteten, gewaltig angewachsen war und von den Darstellern erhebliche<br />

Gedächtnisleistungen verlangte. Auch die Struktur des Repertoires bot Grund<br />

zur Sorge: Während Döbbelin einen ausgewogenen Spielplan mit einem gewichtigen Anteil<br />

an ernster Dramatik vorgeführt hatte, brachte Koch ein Operetten- und Lustspielensemble<br />

nach Berlin, das fürchten mußte, bei der nunmehr notwendigen Fächerung des<br />

Spielplans dem Vergleich mit Döbbelin nicht standzuhalten. Ein weiteres Handicap<br />

waren die übertriebenen Erwartungen, die man an das Niveau der Kocbsdien Truppe<br />

knüpfte. Schon die beiden Schuck hatten schauspielerisch Vorzügliches in Berlin geboten,<br />

und Döbbelin besaß hier eine starke „Partei". Koch aber genoß von allen lebenden Prinzipalen<br />

den größten, einen fast legendären Ruf, den er nun zu rechtfertigen hatte. Dazu<br />

kamen die hohen finanziellen Investitionen, die er schon vor der ersten Einnahme aufbringen<br />

mußte. Die Übernahme der Schulden Schucks zeugen nicht nur von dem Wert,<br />

den Koch dem preußischen Privilegium beimaß, sondern auch von seiner weitsichtigen<br />

Geschäftsführung, indem er stets für einen Fonds sorgte, der die finanzielle Sicherheit des<br />

Unternehmens und der von ihm Abhängigen garantierte. Wie hoch diese Rücklage war,<br />

zeigte sich, als er eine weitere Belastung auf sich nahm, bevor er seine Bühne eröffnen<br />

konnte: Die trotz königlichen Zuschusses in der Auflösung befindliche französische<br />

Truppe des Fierville hatte, kaum daß sie von Kochs Anrücken hörte, das Theater mit<br />

Beschlag belegt. Um sein teuer erkauftes Haus benutzen zu können, mußte Koch das<br />

Kammergericht anrufen. Die Entscheidung lautete zwar, daß Fierville das Gebäude innerhalb<br />

von drei Tagen zu räumen habe, aber Koch wollte nicht in einer Atmosphäre<br />

der Feindseligkeit beginnen. Er kaufte also Fierville noch seine schäbigen Dekorationen<br />

für 1500 Taler ab, und der Streit war beigelegt. Das Schuchsche Theater, das nicht direkt<br />

an der Straße, sondern auf einem Hof lag 30 , war übrigens wesentlich bescheidener als<br />

Kochs Leipziger Schauspielhaus und faßte nur maximal 800 Zuschauer.<br />

Am 10. Juni 1771 eröffnete Koch sein Theater mit Lessings bürgerlichem Trauerspiel<br />

„Miß Sara Sampson" und einem pantomimischen Ballett, benannt „Die Abendstunde".<br />

Vorangegangen war ein Prolog Karl Wilhelm Ramlers, des Berliner Poeten und Professors<br />

der Logik und der Schönen Wissenschaften. Plümicke, der erste Historiograph des<br />

Berliner Theaters, berichtet: „Der Beifall war so gros, daß in den ersten sechs oder acht<br />

Vorstellungen das Theater nicht allein gepfropft voll war, sondern wol eben so viel Zuschauer<br />

wieder weggehen musten, als es schon wirklich enthielt; welches auch nachher<br />

noch zum öftern geschehen." 31 Ramlers Prolog, gesprochen von Madame Koch 32 , appellierte<br />

kräftig an das Nationalgefühl, den „Deutschen Musentempel" nicht zu mißachten,<br />

sondern gegen die Übermacht der italienischen Oper und des französischen Schauspiels zu<br />

unterstützen:<br />

28 Vgl. C. A. Bertram: An den Herrn Schmid zu Giessen. Frankfurt, Leipzig 1773, S. 29.<br />

29 Fürstenau (s. Anm. 1 in Teil 1), S. 20.<br />

30 Situationsplan bei Brachvogel (s. Anm. 27), S. 187.<br />

31 C. M. Plümicke: Entwurf einer Theatergeschichte von Berlin. Berlin, Stettin 1781, S. 269.<br />

32 Die Bezeichnungen „Madame" und „Demoiselle" für weibliche Bühnenangehörige wurden in<br />

Berlin erst infolge der Revolution von 1848 durch „Frau" und „Fräulein" ersetzt.<br />

50


„Wenn Ihr den Künstlern fremder Nationen<br />

So viel vergeben habt, und noch vergebt:<br />

Wie? wolltet Ihr nicht gern des eignen Volkes schonen?<br />

O beste königliche Stadt,<br />

Die nicht den kleinern Ehrgeitz hat,<br />

Das andere Paris zu werden;<br />

Die stets nach einem höhern Ziele stand:<br />

Die erste Stadt des ersten Volks zu werden . . ." 33<br />

Mit solchen Worten war das Publikum schon gewonnen, und die Vorstellung von Lessings<br />

Trauerspiel, das in Kochs Leipziger Erstaufführung seinen eigentlichen Siegeszug<br />

angetreten hatte 34 , in Berlin jetzt aber lange nicht gegeben worden war, erwies sich als<br />

geeignetes Debüt der Truppe. Karl Lessing berichtet am 22. Juni an seinen Bruder:<br />

„Koch ist mit seiner Truppe hier, und spielt schon seit neun Tagen. Er hat großen Beyfall,<br />

und ich glaube, nicht unverdienter Weise. Seine Leute sind eben keine großen Meister,<br />

doch erträglich. Ihre Vorstellungen fallen im Ganzen immer besser aus, als die Döbbelinischen:<br />

ungeachtet ich einzelne Rollen oft lieber von einem Döbbelinischen Acteur sehen<br />

möchte, als von einem Kochischen. . . . Brückner als Meilefont hat mich . . . nicht sehr<br />

erbauet. Empfindungen anzudeuten, scheint gar nicht seine Sache. Sein Schreyen wollte ich<br />

ihm verzeihen: er ist ein Sachse, und hat bisher auf einem großen Theater gespielt. . . .<br />

Geht er in das Großmüthige über, so hat er so etwas Bramarbasisches oder Döbbelinisches,<br />

daß er ohne seinen guten Anstand 35 und seine feine Figur unausstehlich sein würde.<br />

Madame Koch hat die Marwood sehr gut gespielt, viel natürlicher als die Schulzin 38 . . . .<br />

Wenn sie in allen Rollen so wäre, müßte sie auch der Neid für eine unserer besten<br />

Schauspielerinnen halten. . . . Meynst Du aber, daß hier wohl eine . . . Ursache wirken<br />

könne: ihre Schönheit; so erlaube mir, Dich zu erinnern, daß Du sie schon vor zwanzig<br />

Jahren gesehen hast, und Theaterdamen an die Fünfzig, und so dick als groß, meine<br />

Augen und Ohren wohl vor einem unrechten Eindrucke bewahren. Madame Starkin<br />

machte die Miß Sara. Ihr Äußeres steht zwar ihrem inneren Werthe nach; aber wahrhaftig,<br />

ich sehe lieber die schlechteste Rolle von ihr, als die beste von der schönen<br />

Döbbelin. Den Waitwell spielte Schubert. Vortrefflich, sage ich Dir. Diese Rolle hat<br />

mir immer etwas matt und langweilig geschienen, welches ich zum Theil dem Verfasser<br />

zugeschrieben habe; allein Schubert hat mich auf andere Gedanken gebracht, und nun<br />

scheint mir Waitwell eine von den wichtigsten und rührendsten Personen des Stückes<br />

zu seyn. Sampson war kalt: denn es war Schmelz; und Betty eine schöne artig gekleidete<br />

sächsische Kammerjungfer: es war die älteste Schickinn, die mit ihrer Schwester und der<br />

Mademoiselle Huber recht artige Mädchen sind." 37<br />

33 C. A. Bertram: Ueber die Kochische Schauspielergesellschaft. Aus Berlin an einen Freund. Berlin,<br />

Leipzig 1772, S. 16.<br />

54 Die Uraufführung fand nicht, wie z.B. Kürschner (Allgem. Deutsche Biographie, Bd. 16/1882,<br />

S. 381) noch annahm, in Leipzig statt, sondern am 10. 7. 1755 durch die Ackermannsche Truppe<br />

in Frankfurt a. d. Oder. Sie wurde jedoch noch längst nicht so beachtet wie Kochs Aufführung<br />

im April 1756 in Leipzig.<br />

35 „Anstand" bedeutete in der Schauspieltheorie der Zeit soviel wie würdiges oder gewandtes<br />

Auftreten und Benehmen, im Charakter der Rolle, aber unter Beherrsdiung und Beachtung der<br />

Gesetze der Ästhetik und der Etikette.<br />

36 Karoline Schulze-Kummerfeld (vgl. Teil 1, S. 22).<br />

** Dieses wie alle folgenden Briefzitate sind den Bänden 17-20 der historisch-kritischen Lessing-<br />

Ausgabe von K. Lachmann und F. Muncker (Stuttgart, Leipzig 1886 ff.) entnommen, die im<br />

übrigen als Quelle zur Theatergeschichte Berlins noch viel zu wenig ausgewertet worden ist.<br />

51


C. A. Bertram, der im übrigen vermutet, daß das Stück stark gekürzt wurde, stimmt in<br />

vielem mit Karl Lessings Urteil überein: „Hr. Brückner spielte den Mellefont vortrefflich,<br />

nur gegen seine Sara war er fast immer zu stürmisch. . . . Mad. Kochinn machte die<br />

Marwood als eine Meisterin. Ihr öfteres heftiges Schlagen mit der Hand auf dem Busen,<br />

wäre etwan das Einzige, was man an ihr rügen könnte. ... Madam Starckinn schien<br />

ihrer Jahre wegen in der Rolle einer feurigen, unschuldigen und affektvollen Liebhaberin<br />

nicht an ihrer rechten Stelle zu seyn, . . . hier hätte ich mir wohl eine Döbbelinin zu sehen<br />

gewünscht. . . . Von Hrn. Schmelz als Sir Sampson hätte ich mehr vermutet. . . . Sollte<br />

der nicht Kummer, Affect, Hitze, ja sogar Verzweifelung zeigen? Aber Herr Schmelz that<br />

nichts als Weinen." Schuberth als Waitwell fand Bertram „sehr natürlich", Herlitz als<br />

Norton und die ältere Schick als Betty „leidlich", Madame Steinbrecher „als Hannah,<br />

schlecht; es war bei ihr gar keine Aktion, und es müssen ihr viele Zähne fehlen, denn sie<br />

redete sehr unangenehm und undeutlich". Das abschließende Ballett „nahm sich, weil das<br />

Theater für die vielen Personen, die darinn vorkamen, beinahe zu klein war, nicht sehr<br />

gut aus". 38<br />

Mit der ersten Vorstellung hatte Koch die wichtigsten Inhaber der tragischen Rollenfächer<br />

präsentiert. Johann Gottfried Brückner (1730-1786) war der Heldenspieler und<br />

„Star" des Ensembles. Ein kultivierter, sehr temperamentvoller Schauspieler, war er<br />

schon 1753 zu Koch gekommen und schnell in komischen Rollen groß geworden. Er<br />

wechselte dann ins Fach der „Chevaliers" und wurde schließlich in Tyrannenrollen<br />

berühmt. Ein gewisser Mangel an Wärme blieb seinem Spiel immer eigen, den er in<br />

Szenen der Leidenschaft durch Heftigkeit und Lautstärke zu überdecken suchte. Schmid<br />

rühmt seine „geläufige Sprache, gute Modulation der Stimme, mannichfaltige Pantomime",<br />

wirft ihm aber z. B. vor, daß er als Meilefont „zu kalt" sterbe. Er galt in seinen<br />

Fächern neben Konrad Ekhof als der größte Schauspieler der Epoche. 39<br />

Christiane Henriette Koch (1731-1804) begann als Soubrette, exzellierte in komischen,<br />

dann aber auch in tragischen Rollen, vor allem in Weißes Trauerspielen. Ihre Spezialität<br />

waren Hosenrollen, die sie auch jetzt noch spielte, was angesichts ihrer Leibesfülle von<br />

der Kritik als unpassend bezeichnet wurde. 40 Hagen bemerkt boshaft, sie habe „noch<br />

jetzt ein ziemlich reizendes Gesicht aufzuweisen, besonders für die Liebhaber von Rubens'<br />

Geschmack". Bezüglich ihres „Portebras" tadelt er ihre einförmig-manierierte Gestik:<br />

„Sie sucht eine Schönheit darin, mit ihren Armen in unaufhörlicher Bewegung zu<br />

sein. Sobald der eine Arm niedersinkt, hebt sich der andere, und dieses dauert so lange,<br />

als sie etwas zu sagen hat. Ihre ganze Modulation der Bewegung besteht darin, daß sie<br />

entweder mit dem Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand an die Stirne greift, oder<br />

die Hand in einer geringen Entfernung vom Munde hält." 41 Schmid lobt dagegen eine<br />

Begabung, „die sie nur mit wenigen gemein hat: den Anstand, womit sie haranquiren<br />

kann, ein nützliches Talent für eine Prinzipalin, welche oft Prologe herzusagen hat". 42<br />

Johanna Christiana Starke (1732-1809) erlangte laut Hagen in der Kunst zu deklamieren<br />

„in der bürgerlichen Tragödie und rührenden Komödie große Vollkommenheiten. Voll<br />

38 Bertram (s. Anm. 33), S. 18 f.<br />

39 Lessing stellte ihn als „Teilheim "über Ekhof (Brief v. 9. 6. 1768). Schmid fand ihn als „Richard<br />

III." (Weiße) Ekhof ebenbürtig („Das Parterr", 1771, S. 296).<br />

40 J. J. A. v. Hagen: Magazin zur Geschichte des Deutschen Theaters. Halle 1773, S. 80.<br />

11 Hagen (s. Anm. 40), S. 77 f.<br />


innigster Empfindung in zärtlichen, voller Naivität in unschuldigen Rollen hat sie frühzeitig<br />

gerührt und entzückt". Scbmid urteilt 1770: „Die größte deutsche Schauspielerin<br />

in der Empfindung ist unstreitig Madam Starke." Sie war die begabteste Charakterdarstellerin<br />

der Truppe, die ideale Partnerin für Brückner.<br />

Simon Schmelz (1735-1785), der mit seiner Frau bei der „Hamburgischen Entreprise" 43<br />

mitgewirkt hatte, begann erfolglos in Liebhaberrollen und brachte es allmählich in „ernsthaften<br />

und melancholischen Charakteren" zu einiger Bedeutung. Der „Teilheim" wurde<br />

seine Forcerolle.<br />

Johann Gottlieb Schuberths (1717-1772) eigentliche Sphäre waren „die echten teutschen<br />

Bürger, die treuherzigen und zänkischen Alten und Gecken". Er starb schon am 2. 8. 1772<br />

am Herzschlag auf einer Spazierfahrt in Charlottenburg.<br />

Herlitz (ca. 1748-1776), der ursprünglich Tänzer gewesen war, spielte „lüderliche<br />

Karaktere, feine Betrüger und einige lebhafte Liebhaber", litt jedoch unter einer heiseren<br />

Stimme.<br />

Anna Christine Schick (1753-1827), deren jüngere Schwester ebenfalls zu Kochs Truppe<br />

gehörte, wurde später „unstreitig eine der ersten teutschen Soubretten", von der Hagen<br />

meinte, „man wird wenig Schauspielerinnen finden, die einen solchen Reidithum an<br />

nekkischer Pantomime haben, deren Auge so viel schalkhaften Spott, und wenn's sein<br />

muß, Naivität äußert".<br />

Die alte Steinbrecher, die bei der Neuberin „kokette Mütter" gespielt hatte, wurde<br />

nicht so bekannt wie ihre Tochter Karoline Elisabeth (geb. 1733), die als hervorragende<br />

Soubrette eine Hauptstütze des Kochsdien Operettenrepertoires war.<br />

43 Zeitgenössische Bezeichnung für das Hamburger Nationaltheater (1767-69), das Lessings „Hamburgische<br />

Dramaturgie" veranlaßte.<br />

53


In den nächsten Monaten stellte Koch nun seine Vielseitigkeit unter Beweis und brachte<br />

fast täglich eine Novität. Das hatte Klagen der Kritiker über mangelndes Memorieren<br />

der Schauspieler, unpassende Kostüme und schlechte Dekorationen zur Folge 44 . Da noch<br />

keine Tageskritiken erschienen, merkte Koch von solchem Mißfallen wenig, denn der<br />

Andrang des Publikums blieb unvermindert. Am 12. Juni begann der langerwartete<br />

Reigen der Operetten mit „Lottchen am Hofe" (bis zum 30. 3. 1775 20mal gespielt),<br />

dem am 18. „Die Jagd" folgte. In diesem Singspiel, das unter Koch in Berlin<br />

„einige vierzig Mal" (Plümicke) gegeben wurde, stellte sich fast das gesamte Komikerpersonal<br />

der Truppe vor: Karoline Steinbrecher, das Ehepaar Löwe, die Herren<br />

Witthöfl, Martini, Henke, Hübler und Klotzsch. Vor allem Karl Wilhelm Witthöft<br />

(1728-1798) und Christian Leberecht Martini (1728-1801) wurden in fein- wie in derbkomischen<br />

Rollen fast immer gelobt. Schmid gesteht mehrmals: „Bei beiden kann man<br />

vor Lachen nicht zu sich selbst kommen." Witthöfl, der wie Schmelz bei der „Hamburgischen<br />

Entreprise" mitgewirkt hatte, gehörte zu den Komikern, die durch ihr bloßes<br />

Auftreten Lachstürme hervorrufen, konnte aber auch Intriganten glaubhaft verkörpern.<br />

Martini war Kochs Bühne auch als Lustspieldichter von Nutzen.<br />

Am 1. Juli trat der Prinzipal selbst zum ersten Mal in einer größeren Rolle vor das<br />

Publikum. Es wurde „Der Kranke in der Einbildung" nach Moliere gegeben, mit einem<br />

Nachspiel: „Die Doktorpromotion des Argan." Bertram berichtet, daß alle Rollen sehr<br />

gut besetzt waren und das Stück „mit Applaudissement" aufgenommen wurde. Der<br />

„Argan" gehörte zu dem Rollenfach, das Koch meisterhaft beherrschte. „Sein größtes<br />

Verdienst als Schauspieler bestand in Moliereschen Alten, die vor ihm noch keiner den<br />

Franzosen abgelernt und worin er nur einen einzigen, aber gefährlichen Nebenbuhler<br />

an Herrn Ackermann hatte. Er that dies so glücklich, daß durch ihn die Molieresche,<br />

das ist die wahre Komödie, zuerst Leben und Wahrheit erhielt." 45 Hagen beschreibt Koch<br />

im Jahre 1773 als einen Mann von „mittler Statur, und noch jetzt von einer vortheilhaften<br />

und einnehmenden Bildung. Seine Miene ist voll Ausdruck, seine Augen voller<br />

Beredsamkeit, seine Sprache sanft, doch durch sein hohes Alter nunmehro etwas unverständlich.<br />

Er war ehedem einer der besten deutschen Schauspieler; noch jetzt findet man<br />

in seinem Spiele die deutlichsten Spuren davon. ... In Molierens eingebildetem Kranken<br />

zeigte er sich in der Hauptrolle zuerst in Berlin. Man hatte hier in eben dieser Rolle<br />

einen Stenzel 46 gesehen, der sie vortrefflich spielte; das noch zu lebhafte Andenken<br />

davon mochte bey dem Zuschauer wohl Schuld daran seyn, daß Hr. Koch den Grad<br />

des Beyfalls nicht erhielt, den er sich vielleicht versprochen hatte; wenigstens hat er<br />

sich weder in dieser, noch in einer andern Hauptrolle aus Molierens Lustspielen hier<br />

wieder sehen lassen, so sehr man auch wenigstens den Geitzigen von ihm zu sehen<br />

wünschte, den er in vorigen Zeiten ausnehmend gut gespielt haben soll." 47<br />

Bauses 1783 erschienener Kupferstich, der Koch als „Argan" mit einer turbanartigen<br />

Kopfbedeckung zeigt, trägt die Unterschrift „Melpomenens und Thaliens Günstling".<br />

Das kann bedeuten, daß man sich auch des Tragöden Koch noch dankbar erinnerte,<br />

44 Hagen (s. Anm. 40), S. 71-73.<br />

45 Hagen: Gallerie (s. Anm. 25 in Teil 1), S. 78 f.<br />

18 Johann Anton Stenzel (1705-1781), ein gebildeter, vielseitiger Charakterdarsteller, war seit<br />

1740 bei Schudi engagiert.<br />

47 Hagen (s. Anm. 40), S. 69 f. - Hagens Schrift erschien 1773, konnte also von Kochs späteren<br />

Moliere-Rollen noch nichts wissen.<br />

§4


obwohl er im letzten Jahrzehnt seines Lebens wohl nur in Komödien auftrat. Vielleicht<br />

war aber dieses Prädikat auch lediglich eine bei solchem Anlaß beliebte Floskel, denn<br />

auch Lessing wurde 1771 so tituliert.<br />

Im Januar 1772 versuchte Koch, durch die anhaltenden Erfolge ermutigt, seiner Truppe<br />

den Charakter von „Hofschauspielern" zu verschaffen, schon um wenigstens teilweise<br />

von den drückenden Abgaben an die Stadt befreit zu werden. Karl Lessing, der von<br />

diesem Bemühen später mündlich erfuhr, schildert den Fall in einem Brief an seinen<br />

Bruder: „Jedermann ist diesem Biedermanne gut, und letzthin soll ihm ein Minister den<br />

Anschlag gegeben haben, sich den Titel als Hof Schauspieler bey dem König auszubitten;<br />

dann könnte er ihm einige Abgaben erlassen, die doch jährlich an 1500 Thaler betragen.<br />

Koch thut es. Als der König seine Supplik erbricht, sagt er zu seinem Cabinetsrathe:<br />

,Höre Er, dem alten Koch möcht ich wohl einen Titel geben; schreibe Er ihm nur, ob<br />

er will Commercienrath, Hofrath, Kriegesrath, und so was werden; ich will es ihm<br />

gern accordiren.' Als der arme Koch das allergnädigste Handschreiben erbricht, fängt<br />

er bitterlich an zu weinen, und seufzet: ,Ach, der König glaubt gar, ich bin nicht klug!'<br />

Man hatte Mühe, es ihm auszureden und ihm zu bedeuten, daß der König ihn nur zu<br />

wohl verstanden und mit Döbbelin gewiß den Spaß nicht gemacht haben würde. Aber<br />

aus diesem Spaße erkennt nun Jedermann die Gesinnung des Königs für das deutsche<br />

Theater."<br />

Sachlicher ist die Angelegenheit bei Piümicke dargestellt, der auch die Kabinettsorder<br />

Friedrichs des Großen im Auszug mitteilt. Sie besagte, „daß obgleich S. K. M. Bedenken<br />

trage, der Kochschen Truppe den nachgesuchten Charakter beizulegen, dennoch in Ansehung<br />

ihrer vorzüglichen Talente zum Theater und des bei Kennern dadurch erworbenen<br />

großen Beifalls, wodurch dieselbe wol einige Distinktion verdienet, Sr. K. Maj. höchste<br />

Willensmeinung dahin gehe, daß man für selbige einen andern schicklichen Charakter<br />

aussinnen und in Vorschlag bringen solle, welcher derselben nicht allein zur Distinktion<br />

von andern gemeinen Comödianten, sondern zugleich zur Aufmunterung dienen könne,<br />

ihre Talente noch immer mehr zu excoliren und dem deutschen Theater Ehre zu machen".<br />

Piümicke bemerkt dazu: „Der weitere Erfolg war, daß zwar der seel. Minister von<br />

Massow verschiedene Titel in Vorschlag brachte, daß aber Koch alle Titel verbat, welche<br />

nicht zugleich auf seine Schauspielergesellschaft mit Beziehung hatten."<br />

Blieb also von außen der Beitrag zur materiellen Sicherung der Schauspieler versagt,<br />

so führte Koch selbst eine Neuerung ein, die ihm von verschiedenen Kritikern verübelt<br />

wurde, aber einen wichtigen finanziellen Fortschritt in der Sozialgeschichte des Schauspielers<br />

darstellt: das Spielhonorar für Gesangsrollen, also für außer der Norm erbrachte<br />

Sonderleistungen. Piümicke berichtet: „Der schöne Gesang der Hillerschen Operetten<br />

war beim Berlinischen Publikum, in welchem sich viele Kenner der Musik befinden,<br />

und das an Grauns edlen Gesang gewohnt war, eigentlich die Ursach, daß die musikalischen<br />

Schauspiele in kurzem so großen Beifall fanden. Koch aber war, durch eigene<br />

Unvorsichtigkeit, Schuld, daß die Operetten (sehr wider seinen Willen) mehr gefordert<br />

wurden, als ihm lieb war. Er hatte eingeführt, daß diejenigen Schauspieler, welche die<br />

Hauptrollen sangen, bei der ersten Vorstellung einen Louisd'or, bei der zweiten einen<br />

Dukaten, und bei jeder der nachfolgenden Vorstellungen zwei Gulden erhielten; wie auch<br />

den geringem Akteurs, sobald sie sangen, für die erste Vorstellung wenigstens ein Dukaten,<br />

bei der zweiten ein Thaler, und hierauf bei jeder nachfolgenden Vorstellung ein<br />

Gulden gereicht werden mußte. Dieses bewog die Schauspieler, die singen konnten, alles<br />

55


mögliche anzuwenden, um die Singspiele emporzuheben, ... so daß zuletzt weit mehr<br />

als die Hälfte der Schauspiele singend war; wodurch denn die Schauspieler, welche<br />

singen konnten, von den nur bemeldeten Singegeldern sich eine stärkere Einnahme zu<br />

verschaffen wußten, als ihr eigentliches Gehalt war."<br />

Am 6. April 1772 fand eine denkwürdige Premiere statt. Gotthold Ephraim Lessing,<br />

der zurückgezogen in Wolfenbüttel lebte, hatte schon im Juli 1771 eine scherzhafte<br />

Mahnung seines Bruders aus Berlin erhalten, der regen Umgang mit Kochs Truppe<br />

pflegte: „Manuscript, lieber Bruder! Oder eine Tragödie oder Komödie! Dem armen<br />

Koch käme sie zustatten!"<br />

Ein halbes Jahr später war „Emilia Galotti" im Entstehen, und Lessing schrieb am<br />

24. Dezember an seinen Verleger Voß in Berlin: „Mit meinem neuen Stücke hätte ich<br />

vor, es auf den Geburthstag unsrer Herzogin, welches der lOte März ist, von Döbblinen<br />

hier zum erstenmale aufführen zu lassen. Nicht Döbblinen zu Gefallen, wie Sie wohl<br />

denken können: sondern der Herzogin, die mich, so oft sie mich noch gesehen, um<br />

eine neue Tragödie gequält hat. In diesem Falle müßte ich Sie aber bitten, es zu<br />

verhindern, daß Koch sie nicht etwa vor besagten lOtn März spielte. Denn sonst würde<br />

das Kompliment allen seinen Werth verlieren."<br />

Am 11. Januar 1772 fragte Karl Lessing an: „Du bist doch nicht böse, wenn Deine<br />

Tragödie hier von Koch gespielt wird? Es versteht sich, nicht eher als Du es haben<br />

willst."<br />

Aus einem Brief vom 15. Februar geht hervor, daß Karl Lessing direkten Einfluß auf<br />

die Inszenierung nahm: „Nun ein Wort von der Vorstellung! Ich fürchte, sie wird<br />

dem Innern [der Dichtung] nicht entsprechen. In welcher Tragödie ist der Ton, den<br />

Du angenommen? Unsere Paar guten Schauspieler können rasen, wüthen, toben; aber<br />

Marinelliren wahrhaftig nicht. . . . Vielleicht greifen sich hier unsere Schauspieler<br />

aus Eifersucht gegen Döbbelin mehr an. Schicke nur bald das Ende Deiner Tragödie;<br />

ich will Dir ein Langes und Breites darüber fragen, damit ich sie durch Dich unterrichten<br />

kann."<br />

Bezüglich der Besetzung hatte auch der Dichter Bedenken: „Wenn Koch die Emilia<br />

spielt, so ist mir bange, daß die Steinbrecherin die Emilia wird machen sollen. - Das<br />

wäre aber eine Rolle, um die älteste Schickin damit in Arbeit zu setzen. Man vergiebt<br />

dem jungen Mädchen immer mehr, als der alten Actrice. Und sie müßte ja wohl<br />

abzurichten seyn."<br />

Drei Wochen nach der erfolgreichen Braunschweiger Uraufführung ging das Werk<br />

auch in Berlin in Szene. Friedrich Nicolai berichtet am nächsten Tag an Lessing:<br />

„Ich muß Ihnen sagen, daß die Aufführung wider mein Erwarten ausgefallen ist; denn<br />

ich zitterte (dies unter uns), daß es diese Truppe ganz verderben möchte. Ich befürchtete,<br />

daß die Spieler, zumal in der Eil, in der sie die Rollen haben lernen müssen,<br />

noch weit weniger von ihren Rollen verstehen würden, als sie wirklich verstanden<br />

haben. Zuerst, versichere ich Sie, daß die Starkin die Claudia meisterhaft spielte. . . .<br />

Dies ist nicht allein mein Urtheil, sondern auch das aller derer, auf deren Urtheil (in<br />

Berlin) Sie einiges Gewicht legen, besonders Moses 48 Urtheil. Die Steinbrecherin jun. hat<br />

die Emilia besser gespielt, als man vermuthen konnte. Sie hat freylich nicht das jugendliche<br />

Ansehen, das ihr zu dieser Rolle zu wünschen wäre. .. . Aber sie hat nicht allein<br />

48 Der mit Lessing befreundete Philosoph Moses Mendelssohn.<br />

56


alles, was ans Naive gränzt, sehr gut gemacht, sondern auch, was das meiste ist, ihre<br />

ganze Rolle, bis auf einige Kleinigkeiten, verstanden. . . . Die Orsina hat die Kochin<br />

doch noch besser gespielt, als ich mich zu erwarten getrauete. Was sie verstanden hat,<br />

daß heißt ein starkes Drittel der Rolle, ist ganz gut gewesen. .. . Brückner ist, wie Sie<br />

wissen, in seinem Spiele ziemlich auf Draht gezogen; dies hat er auch in seinem Marinelli<br />

gestern nicht verläugnet. . . . Aber dennoch war Vieles ganz gut, sonderlich für das<br />

allgemeine Publicum. ... Ich glaube auch, aus einigen Excursen gestern Abend, daß er<br />

einige Stellen künftig noch feiner machen wird. ... Es ist ein großer Fehler, daß der<br />

Odoardo Schuberten, und nicht Schmelzen gegeben worden, der den Mahler macht. Dies<br />

kommt daher, daß die Rollen ausgetheilt und auch zu lernen angefangen wurden, als<br />

erst drey Acte hier waren. Man hatte nicht daran gedacht, daß der Vater im vierten<br />

und fünften Act solche wichtige Scenen haben könnte. ... So manche Vollkommenheit<br />

auch den Schauspielern fehlt, so muß man doch mit ihnen zufrieden seyn, daß sie<br />

durch die Aufführung viele Schönheiten des Stücks den Zuschauern im Ganzen lebhafter<br />

vor Augen gebracht haben, als durch das bloße Lesen geschehen. Der Beyfall<br />

war allgemein."<br />

Das Werk erlebte 9 Wiederholungen; keine große Zahl, doch zweifellos für ein Trauerspiel<br />

ein Zeichen stärkeren Interesses.<br />

Im August enthält ein Brief Karl Lessings eine Bemerkung, die aufschlußreich für die<br />

moralische Haltung und den gesellschaftlichen Status der Kochsdien Truppe ist: „Man<br />

schätzt sie mehr um ihres stillen und ordentlichen Lebens, als um ihrer Vorstellungen<br />

willen." Auch hierin ging Koch mit seiner Bühnenleitung den anderen Truppen voran.<br />

Der erste Eindruck Karoline Schuhes, die vorher bei Ackermann gespielt hatte, war<br />

eine ungewohnte „Bürgerlichkeit" ihrer Kollegen: „Mir war, als ob ich in eine neue<br />

Welt versetzt worden. Es herrschte die größte Ordnung. Die Schauspieler begegneten<br />

einer dem andern höflich, gefällig, freundlich. Brüderschaften, daß alles sich Du und Du<br />

nannte, war ebensowenig der Ton wie bei Ackermann. Aber da war kein Gezanke.<br />

Jedes lebte für sich. Man besuchte sich auch. Aber wie es Bürger in Städten machen,<br />

die ihre Freunde, wenn es Zeit und Geschäfte erlauben, gegenseitig mit ihren Besuchen<br />

ehren. . . . Der alte Koch und seine Frau waren die rechtschaffensten Leute, und dabei<br />

überaus billig und wohlwollend und schätzbare Künstler. Sie duldeten auf ihrer Bühne<br />

keine Klatschereien und hielten streng auf Anstand und gute Sitte. Deshalb waren<br />

Kochs und ihre Schauspieler in den besten Gesellschaften gern gesehen und selbst in<br />

Familien, die es sehr genau mit der Schicklichkeit nahmen, einheimisch." 49<br />

Am 13. September reiste die Truppe noch einmal für eine Saison nach Leipzig; im<br />

März 1773 kehrte sie zurück und blieb fortan dauernd in Berlin. Seit dem 30. März<br />

1773 existiert eine stehende Bühne in unserer Stadt: auch diese Kontinuität durchzusetzen,<br />

blieb der Energie und Umsicht Heinrich Gottfried Kochs vorbehalten.<br />

Trotz seiner hohen Jahre erschien der Prinzipal noch von Zeit zu Zeit auf der Bühne.<br />

Seit dem 6. August spielte er Molieres „bürgerlichen Edelmann" und hatte, wie Karl<br />

Lessing bezeugt, „sein Haus alle Tage voll. Auf solche Stücke schimpft man, wie gewöhnlich;<br />

aber ihm konnte man, ungeachtet seines Alters, den Beyfall nicht versagen."<br />

Das spektakulärste Ereignis seines Berliner Wirkens war dann die Uraufführung des<br />

„Götz von Berlichingen", die dem bis dahin unbekannten fünfundzwanzigjährigen Ver-<br />

49 Karoline Sdiulze-Kummerfeld: Erinnerungen (s. Anm. 18 in Teil 1), S. 211 f.<br />

57


fasser den Vergleich mit Shakespeare eintrug und auch Kochs Namen „Unsterblichkeit"<br />

sicherte, obwohl er solche gewiß nicht seinem literarischen Weitblick zu verdanken hatte.<br />

Karl Lessing stellt die Vorgeschichte der Aufführung in einem Brief an seinen Bruder<br />

so dar:<br />

„In der Braunschweigischen Zeitung las ich bey der Anzeige dieses Götz ein kritisches<br />

Verbot, ihn nicht aufzuführen; und doch wird Koch es thun: ich läugne nicht, auf mein<br />

Zureden, das viele Andere unterstützt und am meisten gewisse Umstände gültig gemacht<br />

haben. Hier will es nicht mehr mit den Wiener Stücken fort, und Koch steht dazu im<br />

allgemeinen Rufe, daß er der erbärmlichste Kenner von theatralischen Sachen sey 50 .<br />

Seine Freunde und Rathgeber müssen zwar von dieser Beschuldigung auch einen großen<br />

Theil mit tragen; allein ich weiß am besten, daß er zu alt und im Geschmack zu weit<br />

zurück ist, um die kleinen und großen Einsichten seiner Freunde wie ein Director zu<br />

nutzen. . . . Da Alle, die den Götz gelesen, ihn ganz vortrefflich finden, auch daher<br />

schon voraussetzen, Koch werde ihn nicht aufführen: so muß er wohl das Gegen -<br />

theil thun, so ungern er auch in seinem Herzen daran geht."<br />

Diese Vorwürfe sind einigermaßen ungerecht. Koch war ein erfahrener Praktiker, der<br />

die Darstellbarkeit eines Stückes durch sein Personal sehr gut beurteilen konnte. Er<br />

mußte bei der Annahme von Dramen in erster Linie deren Bühnenwirkung im Auge<br />

haben und konnte nicht leichtfertig sein Unternehmen dadurch gefährden, daß er allen<br />

literarischen Neigungen seiner „Freunde" folgte. Die Wiener Lustspiele der Gebrüder<br />

Stephanie, die Koch bevorzugte, stellten effektvolle, erprobte Theaterware dar, deren<br />

Aufführung ihm nur laienhafte Besserwisser verübeln konnten.<br />

Der „Götz von Berlichingen" mit seiner großen Personenzahl und dem häufigen Szenenwechsel<br />

galt allgemein als unaufführbar. Koch wird sich wohl nicht nur auf Karl Lessings<br />

Zureden entschlossen haben, den Versuch zu wagen. Vielmehr erkannte er die Neuheit<br />

des Stoffes und des Genres, die auf jeden Fall Interesse finden würde, zumal das Buch<br />

bereits überall im Gespräch war. Was ihn bedenklich stimmte, waren die szenischen<br />

Anforderungen, die seine „Ratgeber" wenig kümmerten. Daß und wie er sich dennoch<br />

ans Werk machte, beweist Mut, geistige Beweglichkeit und sicheren Blick für dem Werk<br />

innewohnende Problematik und sich daraus ergebende Notwendigkeiten. Koch gelang<br />

es nämlich wie in Leipzig, einen der prominentesten Künstler der Stadt für die Mitarbeit<br />

zu gewinnen: Johann Wilhelm Meil.<br />

Kochs Garderobe war stets als „reichhaltig" und „prächtig", wenn auch als gelegentlich<br />

falsch angewandt bezeichnet worden. Trotzdem erkannte er, daß er bei dieser neuen<br />

theatralischen Gattung, dem „Ritterdrama", nicht auf seinen Fundus zurückgreifen<br />

durfte, sondern um ein historisch getreues Kostüm bemüht sein mußte. Eine ähnliche<br />

Situation war schon 1766 eingetreten, als Koch das Leipziger Schauspielhaus mit Schlegels<br />

„Hermann" eröffnete und die antikischen Gewänder der Darsteller Aufsehen erregten,<br />

weil das Publikum gewohnt war, die römischen Helden im Rokoko-Habit zu sehen. Die<br />

ersten deutschen Versuche, Korrektheit im historischen Kostüm zu erreichen, sind also<br />

mit Kochs Namen verbunden. „Mit dem ,Götz' hatte die Bühne ein neues, nie gesehenes<br />

Milieu von unumgänglicher dramaturgischer Wichtigkeit darzustellen", schreibt Winfried<br />

SS<br />

Gemeint ist: von dramatischer Literatur, die er allerdings anders beurteilte als bühnenfremde<br />

Intellektuelle. Ein typisches Beispiel bringt Benram (s. Anm. 28), S. 65.


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J.W. Meil:<br />

Kostüm der<br />

Elisabeth in<br />

„Götz von Berlichingen<br />

Berlin 1774<br />

Klara 51 , „und es spricht für Kochs sicheren Instinkt, daß er den kostümhistorisch erfahrenen<br />

Maler herbeiruft und durch seine Mitwirkung die Aufführung zur einer weithin<br />

wirkenden Sensation macht."<br />

Karl Lessing meldet seinem Bruder am 14. Februar 1774: „Meil hat Zeichnungen zu<br />

dem Götz von Berlichingen gemacht; es kömmt nun auf Kochs Schneider an, was daraus<br />

werden wird."<br />

Der Theaterzettel der Premiere am 12. April 1774 enthielt folgende Erläuterung: „Ein<br />

ganz neues Schauspiel von fünf Ackten, Welches nach einer ganz besondern, und jetzo<br />

51 W.Klara: Schauspielkostüm und Schauspieldarstellung. Entwicklungsfragen des deutschen Theaters<br />

im 18. Jahrhundert. Berlin 1931, S. 37.<br />

59


ganz ungewöhnlichen Einrichtung von einen gelehrten und scharfsinnigen Verfasser mit<br />

Fleiß verfertiget worden. Es soll, wie man sagt, nach Schakespearschen Geschmack abgefaßt<br />

sein. Man hätte vielleicht Bedenken getragen, solches auf die Schaubühne zu bringen,<br />

aber man hat dem Verlangen vieler Freunde nachgegeben, und so viel, als Zeit und Platz<br />

erlauben wollen, Anstalt gemacht, es aufzuführen. Auch hat man, sich dem geehrtesten<br />

Publico gefällig zu machen, alle erforderliche Kosten auf die nöthigen Decorationen und<br />

neuen Kleider gewand, die in damaligen Zeiten üblich waren." 52 Der Autor wurde erst<br />

auf dem Zettel vom 28. April genannt: „. .. vom Herrn D.[oktor] Göde in Franckfurth<br />

am Mayn."<br />

Die Aufführung war ein glänzender Erfolg; das Stück wurde sechs Tage en suite gespielt<br />

und erlebte 18 Wiederholungen durch die Kochsdie Truppe. Die Vossische Zeitung, die<br />

zum ersten Mal einen ausführlichen Theaterbericht brachte, vertrat die Ansicht, „daß<br />

ein solches Stück, dessen Aufführung vielen Schwierigkeiten unterworfen, im Ganzen<br />

genommen, nach der Beschaffenheit des deutschen Theaters wohl von keiner Gesellschaft<br />

besser vorgestellt werden kann". Ein anderer Kritiker 53 ärgerte sich zunächst „von<br />

ganzem Herzen darüber, daß man auf solch einem Theater, das nur für Nachspiele<br />

scheint gebaut zu seyn, einen Goez spielen wollte". Dann wurde er günstiger gestimmt:<br />

„Brückner riß mich bisweilen ganz mit sich fort, aber er hatte seine Rolle nicht ganz<br />

studirt. Den guten ehrlichen Goez machte er sehr mittelmäßig. . . . Aber wo er<br />

den ungestümen, hartnäckigen Goez machte, da war er Meister. Ihn vor<br />

dem Gerichte der kaiserlichen Räthe zu sehn, hätt einen allein schon mit der ganzen<br />

Vorstellung wieder aussöhnen können." Er gelangt jedoch zu dem Schluß: „Überhaupt<br />

aber muß ich Ihnen gestehen, daß die kochische Gesellschaft im Ganzen nicht so gut<br />

mehr zu Berlin ist, als ich sie zu Leipzig gesehen habe."<br />

Das Rollenbild Brückners aus dem Jahre 1779 zeigt ihn als einen recht jung wirkenden<br />

Götz, einen schneidigen Edelmann mit Lippenbärtchen, mit geschlitztem Wams, Halskrause<br />

und Federbarett. Ob hier noch Meils Kostüm dargestellt ist, wissen wir nicht 54 .<br />

Trotz dramaturgischer Striche hatte Kochs Personal übrigens nicht ausgereicht, so daß<br />

von den 21 auf dem Zettel genannten Darstellern 6 eine Doppelrolle übernehmen<br />

mußten. Insgesamt war jedoch die Wirkung sehr positiv; die Aufführbarkeit des Werkes<br />

war erwiesen, und bald folgten andere Bühnen.<br />

Noch einmal sorgte Koch in diesem letzten Jahr seines Lebens für ein literarisches<br />

Ereignis: Am 3. November wurde Goethes „Clavigo" aufgeführt. Zwei Monate später,<br />

am 3. Januar 1775 starb mit Heinrich Gottfried Koch der letzte aktive Prinzipal aus<br />

der Kampfzeit der Gottsched-'Ara. Bis zum 15. April führte seine Frau noch die<br />

Geschäfte seiner Bühne, dann nahm Carl Theophil Döbbelin den langersehnten Direktionsplatz<br />

ein.<br />

Plümicke schildert die Tränen des Publikums, als Madame Koch sich in tiefer Trauer<br />

mit einem Epilog Ramlers verabschiedete, in dem es hieß:<br />

52 Der oft ungenau zitierte Zettel ist originalgetreu wiedergegeben bei C. L. Barth: Zur hundertjährigen<br />

Jubel-Feier des Schauspiels Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand von<br />

J. W. von Goethe. Berlin 1874.<br />

53 In der „Gelehrten Zeitung für das Frauenzimmer". Vgl. R.M.Werner: Die erste Aufführung<br />

des Götz von Berlichingen, in: Goethe-Jahrbuch, Bd. 2, S. 87-100.<br />

54 Vgl. Klara (s. Anm. 51), S. 43.<br />

60


„Laßt seinen Namen nicht ersterben! zählet ihr<br />

Die Roscier der Neuern, rühmet ihr die Kunst<br />

der Gallier und Britten: o! so schämet euch<br />

Des deutschen Künstlers nicht! Nennt noch den guten Greis,<br />

Der mit dem wachsenden Geschmack der Deutschen wuchs. . . .<br />

Der, ohne Lust, sich zu bereichern, ohne Hang<br />

Zur weichen Üppigkeit, zur stolzen Modepracht,<br />

Mit Freuden alles seiner Bühne opferte,<br />

Gesundheit, Leben, alles. Nichts bleibt ihm forthin,<br />

Als noch der Name, den ihr selbst ihm gönnen wollt,<br />

Und eine, die um ihn bis an ihr Ende weint -"<br />

Kochs Berliner Spielplan umfaßte 16 Trauerspiele und 15 Schauspiele gegenüber 116<br />

Lustspielen und 34 Singspielen, wobei man noch die wesentlich höheren Aufführungsziffern<br />

der Komödien und Operetten berücksichtigen muß. Im Trauer- wie im Singspiel<br />

dominierte Weiße mit insgesamt 12 Stücken. Im Lustspiel steht Goldoni mit 9 Titeln<br />

(dazu 2 Singspiele) an erster Stelle; eine beachtliche GoWom-Pflege, die von der Kritik<br />

ebenso getadelt wurde wie die Vorliebe für Wiener Autoren, von denen Stephanie der<br />

Jüngere mit 7 Stücken den ersten Platz einnimmt. Unter den Franzosen, die insgesamt<br />

den größten Anteil aller Aufführungen bestritten, ist Destouches 7mal vertreten.<br />

Berücksichtigt man das gesamte Bühnenrepertoire des deutschen Theaters, die spezifische<br />

Struktur der Kochsdien Truppe und den von Friedrich II. ausgehenden starken<br />

französischen Einfluß in Berlin, so muß man Kochs Spielplan als vielseitig und vollkommen<br />

angemessen bezeichnen. Daß in dem kurzen Zeitraum 3 Trauer- und 2 Lustspiele<br />

von Lessing, sowie ein Trauer- und ein Schauspiel von Goethe aufgeführt wurden,<br />

daß beim Lustspiel neben Goldoni auch Moliere und Voltaire gut vertreten waren, ist<br />

nicht selbstverständlich und zeugt von Kochs Bestreben, innerhalb seiner Möglichkeiten<br />

das Neueste und Beste an dramatischer „Weltliteratur" vorzuführen.<br />

Zieht man das Fazit seiner Bemühungen als Bühnenleiter, so läßt sich wohl mit Bestimmtheit<br />

sagen, daß Koch in fünffacher Hinsicht verdienstvoll gewirkt hat: Mit sicherem<br />

Instinkt für den Theaterwert neuer Entwicklungen hat er die Rezeption von drei<br />

epochalen Gattungen des deutschen Dramas eingeleitet. Das bürgerliche Trauerspiel<br />

wurde durch die Leipziger Aufführung der „Miß Sara Sampson" zu einem Begriff für<br />

das breite Publikum. Im Singspiel schuf er in Zusammenarbeit mit Weiße, Standfuß und<br />

Hiller die erste künstlerische Form volkstümlichen Musiktheaters in deutscher Sprache.<br />

Mit der ersten und sorgfältigen Aufführung eines Dramas von Goethe leitete er auf<br />

der Bühne die Periode der „Geniezeit" und des „Ritterdramas" ein und machte Goethe<br />

als gleichsam revolutionären Dramatiker schlagartig bekannt.<br />

Der vierte wichtige Aspekt der Theaterleitung Kochs ist die Konsolidierung des Theaters<br />

von innen durch untadelige Lebensführung und geregelte Verhältnisse in der Organisation<br />

der Truppe. Die Einführung des Spielhonorars neben der festen Gage, die von den<br />

Zeitgenossen getadelt und für eine einseitige Spielplan- und ungerechtfertigte Gagenentwicklung<br />

verantwortlich gemacht wurde, entsprang Kochs sozialem Prinzip, den Gewinn<br />

in Form von Leistungsprämien gerecht wieder auszuschütten.<br />

Im Zusammenhang mit der inneren Stabilisierung steht der fünfte Ertrag seines Lebenswerks:<br />

die Emanzipation des Theaters nach außen. Durch Gewinnung hervorragender,<br />

61


angesehener Künstler und Autoren zur Mitarbeit, durch Verzicht auf unseriöse Effekte,<br />

durch Zuverlässigkeit und Kontinuität seines Theaterbetriebs war es ihm gelungen, aus<br />

einer Kunstform, der dreißig Jahre früher noch weithin mit Mißtrauen und Verachtung<br />

begegnet worden war, eine Institution bürgerlichen Geistes- und Kulturlebens zu schaffen,<br />

die man nicht nur in den Städten zu halten, sondern bald auch mit öffentlichen<br />

Mitteln zu unterhalten suchte. Zu dieser Entwicklung leisteten auch andere Truppen<br />

ihren Beitrag; doch hatte Berlin das Glück, daß ihm mit Kochs Theater gleichsam<br />

die Summe all jener Bemühungen auf einmal zugute kam. Vergleicht man die vielen<br />

Stimmen, die Kochs Wirken in Berlin beurteilt haben, so scheint aus dem Nachruf<br />

Gottlob Wilhelm Burmanns in der Haude- und Spenerschen Zeitung ehrliche Überzeugung<br />

zu klingen, wenn er sagt:<br />

„Koch's Bühne war aus mehr als einem Betracht eine der schönsten und auserlesensten<br />

in Deutschland. Nie hat sich wol ein Theater den Beifall Berlins allgemeiner erworben<br />

als dieses. Verschiedene Jahre hindurch hat er mit ununterbrochenem Beifall eine Stadt<br />

lehrreich und angenehm unterhalten, welche den guten Geschmack erblich zu haben<br />

scheint."<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 28, Oppenheimer Weg 6 a<br />

Für die sehr wünschenswerte nähere Beschäftigung der Theaterforschung mit Koch gebe ich<br />

hier eine Zusammenstellung aller mir bekannt gewordenen Broschüren, die sich zu Kochs<br />

Lebzeiten speziell mit seiner Truppe beschäftigt haben:<br />

1. »Schildereyen der Kochischen Schaubühne in Leipzig", Leipzig 1755. - 2. „Fernere Ausarbeitung<br />

derer Schildereyen der Kochischen Schaubühne in Leipzig", o. O. 1755. - 3. „Gegenschilderungen<br />

der Kochischen Schaubühne in einem Schreiben an den Parterre-König", o. O.<br />

1755. - 4. „Vernünftige Gedanken über den Zustand der Kochischen Bühne", Leipzig 1755.<br />

- 5. „Einige Briefe, die Kochische Schaubühne betreffend", Leipzig 1755. - 6. „Unvorgreifliche<br />

Gedancken zu einem dauerhaften Frieden, zwischen dem Parterrekönig und dem Theatercommandanten<br />

der Kochischen Schaubühne zu Leipzig", Halle 1755. - 7. (Mauvillon, Jakob:)<br />

„Freundschaftliche Erinnerungen an die Kochsche Schauspieler-Gesellschaft, bey Gelegenheit<br />

des Hausvaters des Herrn Diderots", Frankfurt und Leipzig 1766. - 8. „Vergleidiung der<br />

Ackermann- und Kochischen Schauspielergesellschaften, nebst einigen Zusätzen", Hamburg und<br />

Leipzig 1769. - 9. „Ueber die Leipziger Bühne an Herrn Johann Friedrich Löwen zu<br />

Rostodi", „Erstes" und „Zweetes Schreiben", Dresden 1770. (Der Pseudonyme Verfasser „von<br />

Schweigerhausen" ist Chr. H. Schmid.) - 10. (Bertram, CA.:) „Ueber die Kochische Schauspielergesellschaft.<br />

Aus Berlin an einen Freund", Berlin und Leipzig 1771 und 1772. - 11.<br />

„Beantwortung des Schreibens über die Kochsche Schauspieler-Gesellschaft, von einem Freund<br />

aus Halle an der Saale", o. O. 1771. - 12. „Nachricht von der Kochschen Gesellschaft deutscher<br />

Schauspieler seit ihrer Ankunft von Leipzig in Berlin im Jahre 1771".<br />

Zusammenstellung von Prologen und Repertorien s. bei Legband (s. Anm. 23), S. 269-272.<br />

Zu den Abbildungen:<br />

Das seltene Porträt Kochs, das hier wohl zum ersten Mal reproduziert wird, befindet sich im<br />

18. Band (1775) der von C. F. Weiße herausgegebenen „Neuen Bibliothek der schönen Wissensdiaften<br />

und der freyen Künste".<br />

Die Porträts Witthoefts und Brückners, gestochen von bzw. nach Rosenberg, entstammen Reidiards<br />

Gothaer Theaterkalender.<br />

Meils Kostümzeichnung zum „Götz v. Berlichingen", anscheinend die einzige, die sich erhalten<br />

hatte, befand sich bis 1945 unter den Schätzen der nach Kriegsende in Ost-Berlin verschollenen<br />

riesenhaften „Theatersammlung Louis Schneider" im Museum der Preußischen Staatstheater. Unsere<br />

Abbildung nach W. Klara (s. Anm. 51).<br />

Berichtigung: Heft 2, S. 22, Z. 11 muß es richtig heißen: „Der Krieg" (17. 8. 1772).<br />

S2


Gottlieb Fritz und die städtischen Bibliotheken Berlins<br />

Von Hans-Dieter Holzhausen<br />

Die Berliner Stadtbüchereien, bis in die zwanziger Jahre auch Volksbibliotheken, Bücheroder<br />

Lesehallen genannt, können in diesem Jahr auf eine 125jährige Geschichte zurückblicken.<br />

Am 1. August 1850 gelang es dem Historiker Friedrich von Raumer mit Hilfe<br />

des von ihm gegründeten Vereins für wissenschaftliche Vorträge nach mehrjährigen mühsamen<br />

Verhandlungen mit den städtischen und staatlichen Behörden die ersten vier<br />

Volksbibliotheken in dem damaligen Stadtgebiet von Berlin zu eröffnen. Entscheidend<br />

war dabei, daß erstmalig eine der größten deutschen Städte als Gründerin und Trägerin<br />

dieser für die Volksbildung so wichtigen Einrichtung auftrat.<br />

Nun ist über die Anfänge und über Teilaspekte der Entwicklung an anderer Stelle und<br />

auch in dieser Zeitschrift einiges geschrieben und veröffentlicht worden 1 , aber viele Ereignisse,<br />

ganze Phasen der Entwicklung und vor allem eine Gesamtdarstellung warten noch<br />

auf eine Bearbeitung. Hierzu gehören nicht zuletzt Darstellung und Würdigung der<br />

Verdienste von Gottlieb Fritz, dem Leiter der Städtischen Volksbibliothek in Charlottenburg<br />

von 1900-1923 und Direktor der Berliner Stadtbibliothek von 1924-1934, den<br />

Fachleuten als einer der Pioniere der Bücherhallenbewegung weit über die Grenzen<br />

Berlins hinaus bekannt. Eine Skizze seines Berliner Wirkens soll im folgenden versucht<br />

werden.<br />

Herkunft und Bildungsweg<br />

Gottlieb Fritz wurde am 16. November 1873 in Harlingerode am Harz im damaligen<br />

Herzogtum Braunschweig geboren. Sein Vater, Arnold Fritz, war in dem 1300 Einwohner<br />

zählenden Dorf als ev.-luth. Pfarrer tätig. Seine Mutter, Charlotte F., entstammte<br />

einer deutschen Adelsfamilie aus Livland und war eine geborene von Wolff zu Lysohn.<br />

Lutherisches Pfarramt und baltischer Adel prägten also Kindheit und Jugend. Dazu<br />

kam die klassische humanistische Ausbildung an der Großen Schule zu Wolfenbüttel,<br />

die er als Primus omnium 1893 mit dem Zeugnis der Reife verließ 2 .<br />

Bald nach Beendigung der Schulzeit begann er deutsche und klassische Philologie,<br />

Geschichte und Philosophie zu studieren. Zürich, Leipzig und Berlin waren von 1893-96<br />

seine Studienorte. Der Philosoph Richard Avenarius, der Psychologe Wilhelm Wundt,<br />

die Historiker Delbrück, Treitschke, Lenz und schließlich die Germanisten Erich Schmidt<br />

und Karl W'einhold gehörten zu seinen Lehrern. Am 9. 12. 1896 wurde er mit einer<br />

Arbeit über das Thema „Der Spieler im Drama des achtzehnten Jahrhunderts" zum<br />

Dr. phil. promoviert. Sie zeigt bereits den konzentrierten, nüchternen und auf das<br />

Wesentliche gerichteten Stil von Fritz.<br />

1 Buchholtz, Arend: Die Volksbibliotheken und Lesehallen der Stadt Berlin 1850-1900. Festschrift<br />

der Stadt Berlin, Berlin 1900. - Schuster, Wilhelm: Zur Geschidite des Berliner städtischen<br />

Büdiereiwesens. In: Zeitsdir. des Vereins f. d. Geschidite Berlins, Jg. 51 (1934), S. 96-100.<br />

- Festsdirift der Stadt Berlin zum hundertjährigen Bestehen der Volksbüchereien, hrsg. vom<br />

Magistrat von Groß-Berlin. Berlin 1950. (Mit reichen Literaturangaben.)<br />

2 Diese und die folgenden Angaben verdanke ich der Tochter von Gottlieb Fritz, Frau Roswitha<br />

Kohler, die mir großzügigerweise den Nadilaß ihres Vaters zur Verfügung gestellt hat.<br />

63


In Berlin lernte er Rudolf Kassner kennen, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbinden<br />

sollte 3 . Was beide zusammengeführt hat, ist heute nur noch schwer festzustellen.<br />

Ein gemeinsam herausgegebener Musenalmanach 4 zeigt eine Sammlung mehr oder weniger<br />

sentimentaler Gedichte: „Sonnengnade" von Kassner, „Heimkehr" und „Am<br />

Feuer" von Fritz. Immerhin ist das Bändchen „Theodor Fontane und Gerhart Hauptmann,<br />

unserm alten und unserm jungen Meister" gewidmet, was beweist, daß man sich<br />

mit zeitgenössischer Dichtung auseinandersetzte. Aufgeschlossenheit für die Probleme<br />

der Zeit, dem ,fin de siecle', wird man dem Kreis um Kassner und Fritz nicht absprechen<br />

können. Kassner war einige Jahre später in Fritz' Elternhaus in Westerlinde zu Gast<br />

' Rudolf Kassner (1873-1959), bedeutender philos. Schriftsteller und Essayist, hat sein Buch „Der<br />

Tod und die Maske", Gleichnisse, 1902, G. Fritz gewidmet.<br />

4 Musenalmanach Berliner Studenten. Hrsg. von Gottlieb Fritz, Rudolf Kassner und Emil Schering.<br />

Berlin 1896.<br />

6-4


(1899), wo er durch einen Vikar auf Sören Kierkegaard hingewiesen wurde, eine für<br />

Kassner und die moderne Philosophie folgenreiche Entdeckung 5 . Die Briefe von Kassner<br />

an Fritz beabsichtigt der Herausgeber der Werke von Kassner, Ernst Zinn, zu veröffentlichen.<br />

Leider sind die Briefe von Fritz an Kassner verloren gegangen*.<br />

Bibliothek und Volksbildung<br />

Kassner ging den Weg der Deutung und Gestaltanalyse unseres Seins, wie er sich in<br />

seinen vielen Aufsätzen und Büchern zeigt, mit Erfolg weiter. Fritz zog es aufgrund<br />

seiner mehr didaktischen und organisatorischen Befähigungen zur aktiven Mitarbeit bei<br />

der Vermittlung der Bildungsgüter. Hier boten sich Schule oder Bibliothek an. Zwar<br />

hat er die entsprechende Prüfung für das höhere Lehramt abgelegt (1S98), aber durch<br />

einen älteren Wolfenbütteler Mitschüler, Ernst Jeep 7 , wurde er auf Reformbestrebungen<br />

im Volksbibliothekswesen aufmerksam gemacht. Schon als Student (1895) hatte er mit<br />

Jeep die erste Lesehalle der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur in Berlin in der<br />

Neuen Schönhauser Straße eingerichtet und bald nach seinem Studium die im Sinne der<br />

Bücherhallenbewegung erneuerte Charlottenburger Volksbibliothek ebenfalls gemeinsam<br />

mit Jeep aufgebaut (1897/98).<br />

Die Bücherhallenbewegung wollte nach amerikanischem und englischem Vorbild die<br />

deutschen Volksbibliotheken erneuern, sie für alle Bevölkerungsschichten, nicht nur für<br />

die unteren, attraktiv gestalten und ihnen vor allem Lesehallen mit ausgebauten Informations-<br />

und Zeitschriftenbeständen angliedern. Hier fand Fritz ein seinen Neigungen<br />

entsprechendes Betätigungsfeld. Eines der Schlagwörter der Bücherhallenbewegung, das<br />

Fritz in seinen Schriften immer wieder verwendet und das ihn besonders beeindruckt<br />

haben muß, war das der sozialpädagogischen Aufgabe der Volksbibliothek. Sozialpädagogik<br />

hieß damals, Sozialpolitik durch Anhebung der Bildung zu betreiben. Hierzu<br />

sollten Bibliotheken, die in ihrem Bücherangebot und ihren Organisationsformen den<br />

verschiedenen Bildungsbedürfnissen der Bevölkerung entgegenkamen, entscheidend<br />

helfen.<br />

Eine führende Rolle in der Propagierung dieser neuen Bücher- und Lesehallen, wie ihr<br />

Begründer Constantin Nörrenberg s sie genannt hat, spielte die Comenius-Gesellschaft,<br />

eine typische Bildungsgesellschaft jener Zeit, deren Ziel es war, im Geiste des großen<br />

Pädagogen Comenius (1592-1670) Volkserziehung zu betreiben. Ihr Generalsekretär<br />

war Fritz von 1898-99, sehr bald stand er also mitten in der sozialpädagogischen Arbeit.<br />

Dadurch bekannt geworden, holte den damals gerade 25jährigen der schon genannte Constantin<br />

Nörrenberg 1899 nach Hamburg zur Leitung der dort kurz vorher gegründeten<br />

Bücherhalle. Fritz brach daher ein wenige Monate vorher begonnenes Volontariat an der<br />

Königlichen Bibliothek Berlin ab und hat auch später die Ausbildung zum wissenschaftlichen<br />

Bibliothekar nicht fortgesetzt; die neue Bücher- und Lesehallenbewegung mit ihrer<br />

sozialpädagogischen Komponente zog ihn mehr an.<br />

5 R. Kassner in: Basler Nachriditen. Sonntagsblatt, Nr. 45 vom 13. 11. 1955.<br />

c Vgl. R. Kassner, Sämtliche Werke, hrsg. von Ernst Zinn. Pfullingen 1970 ff. (Bisher 2 Bde.)<br />

7 Ernst Jeep, geb. 1867, Bibliothekar an der Königl. Bibliothek Berlin, hat sich besonders um die<br />

Einriditung von Lesehallen in Berlin und Umgebung verdient gemadit.<br />

8 Constantin Nörrenberg (1862-1937), Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Kiel, Begründer<br />

und Hauptpropagandist der Büdierhallenbewegung.<br />


Stadtbibliothekar in Charlottenburg<br />

Hamburg blieb nur ein Zwischenspiel. Schon im Juli 1900 folgte er einem Ruf nach<br />

Charlottenburg als Leiter der Städtischen Volksbibliothek, die er ja von der Mithilfe<br />

bei den Einrichtungsarbeiten her gut kannte. Charlottenburg war dabei, seine Volksbibliothek<br />

erneut zu erweitern und ihr ein eigenes Gebäude zu errichten, das nach den<br />

neuesten Vorstellungen der Bücherhallenbewegung ausgestattet werden sollte. Dazu war<br />

Fritz der rechte Mann.<br />

Die Geschichte dieser Volksbibliothek ist ein Stück Demokratie-Geschichte von Charlottenburg<br />

9 . Ursprünglich klein und unansehnlich in einer Schule in der Oranienstraße<br />

(heute: Nithackstraße) gegründet, war sie 1898 in die Kirchstraße 4/5 (heute: Gierkezeile)<br />

umgezogen und hatte dort bereits einen größeren Leseraum erhalten. Dies war vor<br />

allem das Verdienst eines Bürger-Comites, das unter der Beratung von Ernst Jeep sich<br />

aktiv für eine Erneuerung der Volksbibliothek eingesetzt hatte. Stimulierend hatte dabei<br />

die Stiftung des Verlagskunsthändlers Emil Werckmeister aus Westend gewirkt, der<br />

23 000 Mark für die Anschaffung von Büchern gespendet hatte. Der Magistrat war nur<br />

halben Herzens an die Sache herangegangen, als er aber sah, wie die Bibliothek Anklang<br />

in der Bevölkerung fand, war auch er bald bereit, ein noch größeres Gebäude zur Verfügung<br />

zu stellen. Dies wurde im Zusammenhang mit einer neuen Fortbildungsschule<br />

in der Wilmersdorfer Straße 166/167 (heute: Eosanderstraße 1) erbaut und konnte im<br />

September 1901 eingeweiht werden. An der Straßenfront, die sich bis zur Brauhofstraße<br />

4 hinzog, befand sich die Fortbildungsschule, im Quergebäude im Erdgeschoß eine<br />

Turnhalle und in den drei Obergeschossen die Volksbibliothek. Mittelpunkt der Bibliothek<br />

war ein repräsentativer Lesesaal, der durch alle drei Stockwerke ging und von zwei<br />

übereinander liegenden Galerien umzogen war. Er umfaßte 284 qm Bodenfläche und<br />

wies zunächst für 90 Leser Sitzplätze auf, die später auf 150 erhöht wurden. Er muß<br />

nach fast einstimmigem Zeugnis der Zeit einen schönen und hellen Eindruck gemacht<br />

haben. Aber lassen wir Gottlieb Fritz selbst berichten: „Die Ausstattung des Lesesaals<br />

wie der übrigen Räume ist vornehm geschmackvoll und in einer dem Auge besonders<br />

wohltuenden Farbabstimmung gehalten. Als Bodenbelag ist rotbraunes Linoleum verwendet<br />

worden, das mit dem in ähnlichem Tone matt schimmernden Holzwerk vortrefflich<br />

harmoniert, während die Tische mit grünem, der Farbe der Eisenkonstruktion<br />

entsprechenden Linoleum überzogen sind." 10 Dazu kamen für damalige Zeiten technische<br />

Neuerungen, wie Zentralheizung und elektrisches Licht.<br />

In dem Lesesaal hatte Fritz eine breit gefächerte Handbibliothek von fast 2700 Bänden<br />

aufgestellt. Hier konnte der Leser die großen Nachschlagewerke von Brockhaus und<br />

Meyer, Speziallexika wie Kürschner, Minerva oder den Hofkalender finden. Dazu kamen<br />

fast 100 verschiedene Zeitschriften; von „Daheim", „Deutscher Rundschau", „Leipziger<br />

Illustrirte" über Fachzeitschriften für Handwerk und Handel, populären naturwissenschaftlichen<br />

Blättern bis hin zu den „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins"<br />

• Vgl. die gedruduen Beridite der Stadtverwaltung, die Vorlagen für die Stadtverordnetenversammlung<br />

und die Berichte über die Verhandlungen derselben. Leider gibt es bis auf die Bauakten<br />

kaum braudibare Arduvalien über diesen Komplex. Zur Gesdiidwe der Charlottenburger<br />

Volksbibliothek vgl. auch Wilhelm Gundlach, Geschichte der Stadt Charlottenburg. Berlin 1905.<br />

Bd. 2, S. 658-662.<br />

10 Bericht in: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen, Jg. 2 (1901), S. 181.<br />

66


Lesesaal der städtischen Volksbibliothek in Charlottenburg (1901-1944)<br />

Foto aus: Eduard Reyer, Fortschritte der Volkstümlichen Bibliotheken, Leipzig 1903.<br />

und dem Reichsgesetzblatt war es eine reiche Palette. Nur politische Zeitungen durften<br />

nicht ausgelegt werden. Der Magistrat war der Meinung, daß es grundsätzlich nicht<br />

Sache der Gemeindeverwaltung sei, das parteipolitische Lesebedürfnis der Einwohner der<br />

Stadt zu befriedigen 11 . Hiergegen hat es im Laufe der Zeit manche Eingaben, vor allem<br />

von sozialdemokratischen Stadtverordneten gegeben. Aber jedesmal wies der Magistrat<br />

unter Hinweis auf die Raumsituation oder Finanzlage diese Forderungen ab.<br />

Auf den Galerien befand sich die Ausleihbibliothek mit zunächst 17 000 Bänden,<br />

1914 waren es 55 000. Die Verbindung zum Ausgaberaum stellte ein Fahrstuhl her -<br />

auch das eine technische Neuerung. Das Publikum honorierte die bibliothekarischen und<br />

kommunalen Investitionen auf das Beste. 1902 besuchten 92 000 Personen den Lesesaal,<br />

1914 war die Zahl auf über 200 000 angestiegen. Unter den Lesern befanden sich, wie<br />

heute, überwiegend Schüler und Studenten, gefolgt von Angehörigen der kaufmännischen<br />

Berufe; Handwerker und Arbeiter bildeten etwa 20 °/o der Leserschaft 1 -. In der Ausleihbibliothek<br />

überwog zwar die Nachfrage nach belletristischer Literatur (75 °/o), aber die<br />

Sachliteratur (Ausleihanteil 25 °/o) wurde ständig gefördert, nicht zuletzt durch gedruckte<br />

Kataloge, die man für 30 Pfennige erwerben konnte. Mit Stolz konnte Fritz immer<br />

wieder berichten, daß die Charlottenburger Volksbibliothek unter den deutschen Bildungsbibliotheken<br />

an erster Stelle stünde 13 .<br />

11 Vgl. Beschluß der Stadtverordnetenversammlung vom 20. 1. 1897.<br />

12 Das Statistische Büro der Stadt Ch. veröffentlichte für das Jahr 1908 eine umfangreiche Repräsentativstatistik.<br />

13 Z. B. in „Das moderne Volksbildungswesen", Leipzig 1909, 2. Aufl. 1920.<br />

6?


Doch die Entwicklung der Großstadt vor den Toren Berlins ging rasch weiter. Waren<br />

es 1895 noch 100 000 Einwohner, so 1902 schon 200 000 und 1910 bereits 300 000.<br />

Eduard Spranger hat in seinem Aufsatzband „Berliner Geist" (1966) die Dynamik und<br />

die kulturelle Atmosphäre jener Jahre fast unüberbietbar geschildert. Alles drängte<br />

nach Erweiterung. Auch die so großzügig angelegte Volksbibliothek war nach wenigen<br />

Jahren räumlich den ständig steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen.<br />

Durch Besuche in England und Dänemark angeregt, hatte Fritz einen Plan für ein großstädtisches<br />

Büchereisystem entworfen. Die Bibliothek in der Wilmersdorfer Straße sollte<br />

zu einer Hauptbibliothek mit vorwiegend universalem und wissenschaftlichem Schrifttum<br />

ausgebaut werden, daneben sollte es Zweigbibliotheken geben, die mehr die sozialpädagogische<br />

Funktion der Volksbibliothek zu erfüllen hatten. So wurden in den einzelnen<br />

Stadtteilen Filialbibliotheken eingerichtet: 1904 in der Wormser Straße 6 a (Nähe<br />

des Wittenbergplatzes) für den Ostteil der Stadt, 1908 in der Danckelmannstraße 47<br />

für den Westteil, 1912 am Savignyplatz 1 für den Südteil, verbunden mit einer Musikalienbibliothek,<br />

und im selben Jahr in der Kaiserin-Augusta-Allee 80 für den Nordteil.<br />

Außerdem plante man einen Neubau für die Hauptblibliothek am Spreebord, ein 2,5-<br />

Millionen-Projekt, das aber der erste Weltkrieg zunichte machte.<br />

Die Bibliothek in der Wilmersdorfer Straße hat noch bis in den zweiten Weltkrieg der<br />

Charlottenburger Bevölkerung gedient. 1943 wurde sie zerstört. Die heutige Hauptstelle<br />

wurde im April 1949 im Rathaus eröffnet und hat bis heute noch kein eigenes<br />

Gebäude erhalten.<br />

Gottlieb Fritz als Volksbüchereidirektor von Berlin und<br />

Direktor der Stadtbibliothek<br />

1914 würdigte die preußische Regierung die Verdienste von Gottlieb Fritz öffentlich<br />

durch die Verleihung des Professorentitels - eine bis dahin keinem Volksbibliothekar<br />

widerfahrene Ehre. Sie galt einem Mann, der inzwischen weit über die Grenzen Charlottenburgs<br />

nicht nur in Fachkreisen bekannt geworden war. Eine reiche Korrespondenz<br />

in seinem Nachlaß beweist Freundschaften und Kontakte zu Dichtern, Wissenschaftlern,<br />

Pädagogen, Künstlern und Politikern. So war es nicht weiter befremdlich, daß die 1920<br />

gegründete neue Stadtgemeinde Berlin zur Neuordnung ihres großen, aber qualitativ<br />

recht ungleichen Büchereiwesens ihn zum Leiter aller Volksbibliotheken Berlins berief,<br />

indem sie ihn 1922 zum Volksbüchereidirektor wählte. 1924 übernahm er auch das<br />

Direktorat der Stadtbibliothek.<br />

Was er vorfand, waren neben der 1907 eröffneten Stadtbibliothek 31 Volksbibliotheken,<br />

12 Lesehallen, 6 Kinder-Lesehallen in Alt-Berlin, 5 Büchereien unter wissenschaftlichbibliothekarischer<br />

Leitung in den hinzugekommenen Gemeinden Neukölln, Schöneberg,<br />

Wilmersdorf, Steglitz und Charlottenburg sowie 50 Volksbibliotheken in den übrigen<br />

Vororten. Auch hier versuchte Fritz seine Grundidee eines großstädtischen Systems mit<br />

einer wissenschaftlichen Zentralbibliothek als Oberbau und Volksbibliotheken als<br />

Zweigstellen zu verwirklichen. Nicht mehr leistungsfähige Bibliotheken wurden geschlossen<br />

oder mit anderen zusammengelegt. Eine Büchersammlung von einigen hundert<br />

zerlesenen Büchern, aufbewahrt im Spind einer Gemeindeschule, konnte nicht mehr<br />

gut als kommunale Bibliothek einer Weltstadt anerkannt werden. Hier mußten eine<br />

einheitliche Verwaltung und ein einheitlicher Standard hergestellt werden. Doch der<br />

68


Wunsch der Bezirke, wenigstens auf einigen Gebieten ihre bisherige Autonomie zu wahren,<br />

erschwerte eine einheitliche Gestaltung und machte sie so, wie Fritz sie sich vorgestellt<br />

hatte, schließlich unmöglich. Die Bezirke, zuletzt die sechs Innenstadtbezirke<br />

(1926), gingen dazu über, eigene Stadtbüchereien als Zentralen eines eigenen bezirklichen<br />

Büchereisystems aufzubauen 14 .<br />

So konzentrierte sich Fritz schließlich ganz auf den Ausbau der Stadtbibliothek,<br />

die er zu einer angesehenen, wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek umschuf. Zwar<br />

blieben der Stadtbibliothek noch einige Aufgaben der Koordination, wie Beratung bei<br />

Neugründung und Aufbau von Büchereien, Aufstellung von empfehlenden Literaturlisten,<br />

Regelung des innerstädtischen Leihverkehrs mit wissenschaftlichen Werken, Fortbildung<br />

der Bibliothekare und seit 1925 die Abhaltung von Kursen für werdende Bibliothekare,<br />

die 1930 zur Berliner Bibliotheksschule ausgebaut wurden. Grundsätzlich gingen<br />

aber Stadtbibliothek und Bezirksbüchereien getrennte Wege.<br />

Besondere Schwierigkeiten bereitete Fritz die Raumfrage der Stadtbibliothek. Diese war<br />

zwar 1921 in den ehemaligen Marstall am Schloß gekommen und damit großzügiger<br />

untergebracht als vorher in der Zimmerstraße 90/91, einem ehemaligen Markthallengebäude;<br />

doch auch der Marstall konnte nur ein Provisorium sein. Über Pläne und<br />

Projekte ist man jedoch nicht hinausgekommen, die Zeitereignisse zerschlugen jeweils<br />

alle verheißungsvollen Vorhaben. Erst heute scheint diese Frage durch den Neubau<br />

in der Breiten Straße gelöst zu sein (1966).<br />

Über seine Berliner Verpflichtungen hinaus widmete sich Fritz weiterhin überregionalen<br />

Aufgaben. Diese erstreckten sich vornehmlich auf das Ausbildungswesen, den Zusammenschluß<br />

der Volksbibliothekare zu einer eigenen berufsständischen Organisation, dem<br />

Verband Deutscher Volksbibliothekare, deren erster Vorsitzender er wurde, und der<br />

Herausgabe und Mitarbeit an der Fachzeitschrift „Bücherei und Bildungspflege".<br />

Seine vermittelnde und anregende und auf das Wesentliche von Theorie und Praxis<br />

gerichtete Art machten ihn zum gesuchten, wenn auch selbst nicht gewollten Mittelpunkt<br />

des Büchereiwesens für viele. Wirtschaftskrise und der politische Umbruch 1933 legten<br />

auch einem aktiven und ständig um die Volksbildung bemühten Manne, wie Gottlieb<br />

Fritz, Fesseln an.<br />

Im Januar 1934 mußte er aus dem Dienst scheiden und starb am 22. 7. 1934 an den<br />

Folgen einer schweren Krankheit.<br />

Die Stadt Berlin hatte in ihm viel zu früh einen ihrer bedeutendsten Bibliothekare<br />

verloren.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 33, Breitenbachplatz 12<br />

14 G.Fritz: Der Berliner und sein Buch. In: Probleme der neuen Stadt Berlin. Berlin 1926, S. 183<br />

bis 189.<br />

69


Louis Schwartzkopff zum 150. Geburtstag<br />

Von Kurt Pierson<br />

Schon zu Beginn des Eisenbahnzeitalters in Preußen bestand die Möglichkeit, von<br />

Berlin aus auf der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn über Frankfurt-Sommerfeld-<br />

Kohlfurt-Görlitz und von dort über die Sächsisch-Schlesische Eisenbahn nach Dresden<br />

zu gelangen - ein umständlicher Weg von 354 Kilometern. Etwas später bot die Berlin-<br />

Anhaltische Eisenbahn nach Fertigstellung ihres Streckenabschnitts Herzberg-Riesa einen<br />

wesentlich kürzeren Schienenweg über Jüterbog von nur 191 km an, der fünfundzwanzig<br />

Jahre hindurch den Verkehr zwischen der preußischen und der sächsischen Hauptstadt<br />

bewältigte.<br />

Nach dem Kriege 1870/71 wurde die Forderung in der Öffentlichkeit immer dringender,<br />

die junge Reichshauptstadt auf direktem Wege mit der sächsischen Metropole zu verbinden.<br />

Es kam zur Gründung der Berlin-Dresdener Eisenbahngesellschaft, die sich bei<br />

Konzessionsverhandlungen verpflichten mußte, den Bahnkörper zwischen Berlin und<br />

Zossen von vornherein so breit auszubauen, daß auf ihm ein drittes Gleis für die vom<br />

Chef des preußischen Generalstabes, Graf v, Moltke, geplante Militäreisenbahn verlegt<br />

werden konnte, die von Schöneberg über Zossen und dem Schießplatz Kummersdorf<br />

zum Truppenübungsplatz Jüterbog führen sollte.<br />

Vor genau hundert Jahren, am 17. Juli 1875, konnte der Betrieb auf der 180 km langen<br />

Strecke Berlin-Elsterwerda-Dresden aufgenommen werden. Hierfür hatte der Fabrikbesitzer<br />

und Kommerzienrat Louis Schwartzkopff in Berlin vierzehn dreiachsige Personenzuglokomotiven<br />

geliefert und weitere zwei gleichartige an die im selben Jahr<br />

eröffnete Militäreisenbahn, die den Namen „Moltke" bzw. den des damaligen Kriegsministers<br />

„Kameke" trugen und von denen die letztere im Bilde dargestellt ist.<br />

Dieser Louis Schwartzkopff war einer der „drei Großen" vor dem Oranienburger Tor,<br />

die in der Chausseestraße Lokomotiven bauten und er war, wie August Borsig und<br />

Friedrich Wöhlert, ebenfalls kein Berliner. Er wurde vielmehr vor nunmehr 150 Jahren<br />

in Magdeburg im väterlichen Gasthof „Zum Goldenen Schiff" geboren und hatte dort<br />

das Gymnasium sowie die Gewerbeschule besucht. Gemeinsam mit seinem Freund Wilhelm<br />

Siemens nahm er bei dessen Bruder, dem Artillerieoffizier Werner Siemens,<br />

morgens von fünf bis sieben Uhr Mathematikunterricht. Mit siebzehn Jahren ging<br />

Louis Schwartzkopff nach Berlin, um an dem von Beutb ins Leben gerufenen Gewerbeinstitut<br />

sein Studium aufzunehmen. Im Anschluß daran erfolgte seine praktische Ausbildung<br />

bei Borsig, die mit einer sechsmonatigen Tätigkeit als Lokomotivführer bei der<br />

Berlin-Hamburger Eisenbahn endete.<br />

Inzwischen war seine Heimatstadt Magdeburg zu einem Eisenbahnknotenpunkt geworden.<br />

Eine der von dort ausgehenden Bahnlinien war die Magdeburg-Wittenbergische<br />

Eisenbahn, die dem aus der Geschichte bekannten freisinnigen Regierungsrat Victor<br />

v. Unruh unterstand. Dieser suchte einen tüchtigen Maschinenmeister und fand ihn in<br />

Schwartzkopff, den er durch Borsig kennengelernt hatte. Der Bau einer Eisenbahnbrücke<br />

großer Spannweite bei Wittenberge über die Elbe machte im Jahre 1848 eine<br />

Studienreise nach England erforderlich, zu der v. Unruh seinen neuen Maschinenmeister,<br />

den Brückenbauspezialisten Benda und den Hersteller der Brückenbauteile, August Borsig,<br />

mitnahm. Drei Jahre später trat Schwartzkopff allein eine zweite Englandreise zur<br />

70


Geh. Kommerzienrat Louis Schwartzkopff<br />

(1825-1892)<br />

Foto: Archiv Pierson<br />

Londoner Weltausstellung an. Nach seiner Rückkehr verließ er den Eisenbahndienst und<br />

kaufte 1851 mit Unterstützung durch seine Familie in der Chausseestraße zu Berlin<br />

das Grundstück Nr. 20, das nach Süden zu an die Invalidenstraße und nach Osten an<br />

die Berlin-Stettiner Eisenbahn grenzte.<br />

Schwartzkopff hatte sich einen der damals tüchtigsten Berliner Gießereimeister, Nitsche,<br />

als Teilhaber genommen, mit dem zusammen er am 3. Oktober 1852 die „Eisengießerei<br />

und Maschinenfabrik Schwartzkopff und Nitsche" gründete, den Firmennamen jedoch<br />

bald auf seinen Namen allein ändern ließ. Um die Jahreswende 1852/53 floß zum ersten<br />

Mal das glühende Eisen in die Pfannen. Aufträge lagen zur Genüge vor: Siemens<br />

& Halske überzogen gerade Rußland mit einem Netz von Telegraphenlinien und<br />

ließen die eisernen Isolatorenstützen bei Schwartzkopff gießen; die damals größte<br />

Eisenbahnwaggonfabrik in Deutschland, F. A. Pflug in der Chausseestraße 8, benötigte<br />

ständig Achslager und Puffer. Der Kunstguß, von dem Nitsche hergekommen war,<br />

bedeutete zu jener Zeit einen Schwerpunkt für jede Gießerei.<br />

Doch gerade hier schieden sich die Geister. Schwartzkopff zahlte seinen Teilhaber aus<br />

und wandte sich vor allem dem Maschinenbau zu. Neben Dampfsägen, Holzbearbeitungsmaschinen<br />

und Kreiselpumpen wurde der Bau von Dampfhämmern, Bergwerksund<br />

Walzmaschinen aufgenommen. Als der Absatz in diesen Bereichen nachließ, begann<br />

die Fabrik um 1860 mit der Fertigung spezieller Werkzeugmaschinen für den Heeresbedarf<br />

sowie aller Art von Eisenbahnmaterial für den Strecken- und Bahnhofsbau.<br />

In diesem Zusammenhang half Louis Schwartzkopff der Berlin-Stettiner Eisenbahn in<br />

besonders schwierigen Fällen beim Brückenbau über die Oder. Der Dank hierfür wurde<br />

ihm von der Bahnverwaltung in großherziger Weise abgestattet, als die Schwartz-<br />

71


Schwartzkopff-Lokomotive der Kgl. Militäreisenbahn bei einer Brückenbauübung<br />

Foto: Archiv Pierson<br />

kopffsche Fabrik 1860 durch einen Großbrand auf dem entlang dem Bahngelände<br />

gelegenen Teil zerstört wurde. Durch einen umfangreichen Auftrag für den Bau der<br />

Vorpommerschen Eisenbahn gelang es, über die ersten Schwierigkeiten hinwegzukommen.<br />

Die Leistungen des Unternehmens waren höheren Orts nicht unbemerkt geblieben.<br />

Der preußische König Wilhelm I. verlieh dem Fabrikherrn persönlich den Titel „Kommerzienrat";<br />

der preußische Handelsminister, Graf v. Itzenplitz, ermunterte ihn zum<br />

Bau von Lokomotiven. Im Jahre 1867 verließen die ersten zwölf Güterzuglokomotiven<br />

das Werk, die für die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn bestimmt waren.<br />

Es lag auf der Hand, daß ein sich von nun an immer mehr ausweitender Fabrikationszweig<br />

die engen Räumlichkeiten zu sprengen drohte. Louis Schwartzkopff hatte rechtzeitig<br />

ein genügend großes Gelände in der Ackerstraße erworben und auf ihm ein neues,<br />

modernes Werk errichtet, das vornehmlich dem allgemeinen Maschinenbau dienen sollte.<br />

Dieses Werk, im letzten Krieg zerstört, wurde 1952 erneuert und birgt in seinem<br />

Grundstein die Gründungsurkunde sowie Lokomotivzeichnungen und -Lieferlisten aus<br />

der alten und Dokumente aus neuerer Zeit.<br />

Die inzwischen in „Berliner Maschinenbau AG vorm. L. Schwartzkopff" umgewandelte<br />

Firma hatte das Stammwerk in der Chausseestraße durch schrittweisen Zukauf der<br />

Grundstücke 19 und 23 zu einer allen Ansprüchen genügenden Lokomotivfabrik erweitert.<br />

Louis Schwartzkopff war es vergönnt, noch zwei Jahrzehnte lang Generaldirektor des<br />

von ihm geschaffenen Werkes zu sein. Die preußische Regierung berief ihn in den Staatsrat<br />

und würdigte damit das vielseitige Wirken dieses Mannes, der bis zu seinem Tode<br />

am 7. März 1892 seinem einstigen Lehrherrn August Borsig ein dankbares Andenken<br />

72


ewahrt und ihm zu Ehren unter dem Fenster seines Arbeitszimmers ein Relief mit dem<br />

Porträt des „Lokomotivkönigs" hatte anbringen lassen.<br />

Als das Stammwerk im Jahre 1900 seine Pforten schloß und fünf Jahre später der Abbruch<br />

dieser historischen Fabrik erfolgte, fiel auch das alte, abseits der Straße gelegene<br />

Verwaltungsgebäude, in dem Louis Schwartzkopff vierzig Jahre seines Lebens verbracht<br />

hatte, der Spitzhacke zum Opfer. Nur eine kleine Seitenstraße der nördlichen Berliner<br />

Industriemagistrale erinnerte noch an den letzten Lokomotivbauer vor dem Oranienburger<br />

Tor.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 15, Meierottostraße 4<br />

Nachrichten<br />

Mitgliederversammlung 1975<br />

Der Bürgersaal im Rathaus Charlottenburg sah am 22. April 1975 die ordentliche Mitgliederversammlung<br />

des Vereins, die vom Vorsitzenden Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm mit<br />

der Totenehrung eingeleitet wurde. Mit schweigendem Gedenken würdigte die Versammlung die<br />

seit der letzten Hauptversammlung verstorbenen Mitglieder: Erich Tauer, Charlotte Hering,<br />

Arthur Lessing (Ehrenmitglied), Hanna Reuter, Ida Bohnert, Edzard Hohbing, Lothar Loeff,<br />

Hans-Georg Scharsich, Walter Seifert, Otto Gutz, Walter Rieck, Max Backe, Ernst Köhler,<br />

Ewald Heinze, Lucia Winter, Oskar Matthes, Ella Frank, Elisabeth Donath, Walter Marzillier,<br />

Dr. Paul Friedrich Carl Wille, Wilhelm Biermann, Siegfried Winke, Herbert Bantelmann, Ernst<br />

Hartmann, Ursula Brunsing, Werner Pasewaldt, Hellmuth-Charles Mathieu und Rhoda Kraus.<br />

Der Versammlung lagen der zum Abdruck im Jahrbuch 1975 „Der Bär von Berlin" bestimmte<br />

Tätigkeitsbericht und der vom kommissarischen Schatzmeister Frau L. Franz ausgearbeitete<br />

Kassenbericht vor. Dem vom Betreuer der Bibliothek K. Grave erstatteten Bibliotheksbericht<br />

schlössen sich der Bericht der Kassenprüfer Alulack und Kretschmer (vom Vorstand anstelle des<br />

kommissarisch tätigen stellvertretenden Schatzmeisters Brauer in dieses Amt berufen) und der<br />

Bericht der Bibliotheksprüfer Schlenk und Kemnitz an. In der Aussprache wurden Fragen der<br />

Ausstattung des Jahrbuchs, einer Bürgerinitiative zur Erhaltung von Denkmälern und der<br />

Aktivierung der Bibliotheksabende vorgetragen. Ehrenmitglied Mügel beantragt die Entlastung,<br />

die einmütig ausgesprochen wurde. Mit Worten des Dankes verabschiedete der Vorsitzende die<br />

aus dem Vorstand scheidenden bewährten älteren Kollegen Kurt Pomplun und Dr. Hans Leichter.<br />

Ehrenmitglied Mügel wirkte auch als Wahlvorstand. Die Mitglieder des geschäftsführenden<br />

Vorstandes wurden jeweils einstimmig gewählt, die Beisitzer en bloc bei vier Stimmenthaltungen.<br />

Der neue Vorstand wird in den kommenden zwei Jahren in der folgenden Zusammensetzung<br />

wirken: Vorsitzender: Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm, 1. stellv. Vorsitzender:<br />

Dr. Gerhard Kutzsch, 2. stellv. Vorsitzender: Jürgen Grothe, Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-<br />

Berndt, stellv. Schriftführer: Albert Brauer, Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, stellv. Schatzmeister:<br />

Frau Leonore Franz, Beisitzer: Dr. H. Engel, Professor Dr. K. Kettig, Dr. P. Letkemann,<br />

K. P. Mader, W. G. Oscbilewski, ]. Schlenk, Professor Dr. M. Sperlich, G. Wollschlaeger.<br />

Die Wiederwahl der Kassenprüfer Kretschmer und Mulack wie auch der Bibliotheksprüfer<br />

Kemnitz und Schlenk erfolgte einmütig. Als Bildarchivar wird künftig das Mitglied Mücke<br />

tätig sein.<br />

Hinsichtlich des Mitgliedsbeitrages (36 DM jährlich) ergeben sich keine Änderungen. Zum Zeitpunkt<br />

der Jahreshauptversammlung hat der Verein 823 Mitglieder. Der Vorsitzende verlas eine<br />

statistische Ausarbeitung von Frau Koepke über die Zusammensetzung nach Einzelmitgliedern<br />

und Institutionen bzw. nach Geschlecht und Altersgruppen. Eine Reihe von Problemen kam<br />

unter Punkt „Verschiedenes" zur Diskussion, in deren Verlauf der Schriftführer die Grüße des<br />

nunmehrigen Alterspräsidenten und Ehrenmitglieds Bullemer ausrichtete.<br />

H. G. Schultze-Berndt<br />

Zehn Jahre „Mitteilungen" - Neue Folge<br />

Nach der kriegs- und nachkriegsbedingten Unterbrechung von 22 Jahren erschienen im Juli 1965<br />

die „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins" in neuer Folge. Nach den Einführungsworten<br />

des damaligen Vorstandes sollten sie sowohl die wissenschaftlichen Leistungen<br />

73


wie auch die praktische Arbeit des Berliner Geschichtsvereins widerspiegeln, das Band zwischen<br />

Verein, Mitgliedern und Interessenten fester knüpfen und somit nahtlos die Tradition der<br />

alten „Mitteilungen" von 1884 bis 1943 fortsetzen.<br />

Dieses Programm gilt auch nach zehn Jahren unverändert. Im Rückblick auf diese Dekade<br />

läßt sich ohne Mühe eine „Planerfüllung" feststellen, die neben dem berechtigten Stolz auf<br />

das bisher Geleistete auch für die Zukunft Maßstäbe setzen kann und soll. Dabei hat für den<br />

verantwortlichen Schriftleiter das Letztere verständlicherweise mehr Gewicht als jegliches Ausruhen<br />

auf verwelkendem Lorbeer. Da Lob oder Kritik immer erst auftreten, wenn die ausgedruckten<br />

Hefte auf dem Tisch liegen, ist die Planung immer ein Schritt ins Ungewisse, die<br />

Gestaltung mit Risiken verbunden, vor allem dann, wenn das eingefahrene Gleis einmal<br />

verlassen werden soll. Dabei treten die Schwierigkeiten z. Z. weniger im organisatorischen<br />

als vielmehr im fachlichen Bereich auf: Die Zahl der qualifizierten (und speziellen) Berlinhistoriker<br />

ist spürbar zurückgegangen und damit auch die Auswahl an Themen und Stoffen.<br />

Hinzu kommt die Unzugänglichkeit der wichtigsten Quellen durch die politische Teilung unserer<br />

Stadt. Die Forderung nach Wissenschaftlichkeit auf der einen und vereinsintern-populärer<br />

Information auf der anderen Seite stellt sich als weiteres Problem dar, dem freilich viele<br />

vergleichbare Zeitschriften andernorts auch unterliegen. Dieses doppelte Gesicht gereicht den<br />

Heften nicht unbedingt zum Vorteil, da wissenschaftlicher Anspruch und innerbetriebliches<br />

Feuilleton ganz unterschiedliche Leserkreise ansprechen. Doch weil die „Mitteilungen" für<br />

alle Mitglieder gemacht werden müssen, wird das Auspendeln der Gewichte die vornehmste<br />

Aufgabe der Redaktion bleiben. Bereits 1893 war in einer Rezension den „Mitteilungen" bescheinigt<br />

worden, in ihnen sei „das Verhältnis des Wichtigeren zum Bedeutungslosen zum<br />

Vorteil des ersteren gestiegen".<br />

Nach diesen Reflexionen noch etwas für die Statistik: In den 10 Jahren erschienen (ausschließlich<br />

des vorliegenden) 40 Hefte mit insgesamt 912 Seiten, dazu je 2 Inhaltsverzeichnisse und<br />

Personenregister mit weiteren 36 Seiten. 47 Autoren lieferten zusammen 91 Artikel, die<br />

kleineren Beiträge nicht mitgerechnet. Hinzu kamen 440 Buchbesprechungen, an denen 59 Rezensenten<br />

beteiligt waren. In den beiden Personenregistern 1965 bis 1970 und 1971 bis 1974<br />

sind rund 2250 Namen verzeichnet.<br />

Mit dem aufrichtigen und herzlichen Dank an alle Mitarbeiter und Förderer, die sich unermüdlich<br />

und nicht ohne persönliche Opfer in den Dienst dieser Zeitschrift gestellt haben, verbindet<br />

die Schriftleitung den ebenso herzlichen Wunsch, auch in Zukunft unsere gemeinsame Arbeit<br />

im Sinne der verpflichtenden Tradition berlinischer Geschichtsschreibung mit Tatkraft und<br />

Wohlwollen zu unterstützen. Peter Letkemann<br />

Kurt Pomplun, 65jährig, verabschiedet<br />

Wüßte man nicht selbst, daß unser langjähriger stellvertretender Vorsitzender, als „Kutte"<br />

weit über seinen Kietz hinaus bekannt, die Vollendung des 65. Lebensjahres als den Zeitpunkt<br />

seiner offiziellen Pensionierung herbeigesehnt hätte, um von nun an noch mehr arbeiten<br />

zu können, man würde sich scheuen, dieses Ruhestandsalter mit der Person, dem Wirken<br />

und der Aktivität des Jubilars in Verbindung zu bringen. Dennoch sei es gewagt, die<br />

Lebensdaten Pompluns aufzuzählen und damit mehr für die Nachwelt festzuhalten als das,<br />

was sie über ihn ohnehin schon weiß: Daß sich bei ihm immenser Fleiß und profunde Kenntnisse<br />

die Waage halten, daß er mitnichten auf den Mund gefallen ist, daß er seinen Geburtsort<br />

Berlin weder verleugnen kann noch will, daß er zur Berliner Prominenz zählt und haarscharf<br />

schon die Gloriole eines „Originals" für sich beanspruchen kann, daß er gerne Bier trinkt und<br />

daß unsere Berliner Landschaft eintöniger und ärmer wäre, wüßte er sie nicht mit seinem<br />

Füllhorn von Zeitschriftenaufsätzen, Büchern, Vorträgen, Führungen und Interviews zu beleben<br />

und die trockenen Fakten der Historie in fesselnde Beiträge umzumünzen. Hier das<br />

geleistet zu haben, was man unter einem anderen Vorzeichen „Breitenarbeit" nennen würde,<br />

nämlich so vielen Lesern und Hörern erst bewußt gemacht zu haben, auf was für einen Flecken<br />

Erde sie leben, kann er sich heute schon als bleibendes Verdienst anrechnen.<br />

Das Curriculum vitae ist schnell abgehandelt: Kurt Pomplun wurde am 29. Juli 1910 geboren.<br />

Er besuchte die Höhere Staatslehranstalt für Vermessungswesen Berlin, auf der er seine Ausbildung<br />

zum Vermessungsingenieur erfuhr, und kann jetzt die Berufsbezeichnung „Amtsrat<br />

a. D., Schriftsteller" führen, nachdem er zuletzt von 1965 bis zur Jahresmitte 1972 dem<br />

Landeskonservator seine Dienste lieh. Seine Buchveröffentlichungen über Berlin seien hier<br />

lediglich der Vollständigkeit halber aufgeführt, weil sie als bekannt vorausgesetzt werden<br />

können: Berlins alte Dorfkirchen (3. Aufl. 1967), Berlins alte Sagen (3. Aufl. 1967), Kutte kennt<br />

sich aus (1970), Berliner Häuser (1971) und Von Häusern und Menschen (1972). Daß er auch<br />

74


Baedekers Reisehandbuch Berlin (24. Aufl. 1966 und weitere) verfaßt hat, nimmt nicht wunder.<br />

Größeres Erstaunen dürfte es aber hervorrufen, daß er aus der beliebten und zuverlässigen<br />

Reihe von Baedeker auch für die folgenden Bände verantwortlich ist: Salzburg (1964),<br />

Nürnberg (1966), Würzburg (1966), Regensburg (1967), Augsburg (1968), Bamberg (2. Auflage<br />

1969), Braunschweig (1969) und Innsbruck (1969). Auch Eingeweihte fragen sich, wie er dies<br />

Pensum überhaupt schafft, zumal er gar nicht den Eindruck eines Schreibtischhockers macht.<br />

Lassen wir ihm dieses Geheimnis, gönnen wir ihm Vitalität und Lebensfreude, verargen wir es<br />

nicht, daß er sich auf der Jahreshauptversammlung 1975 nicht wieder als stellvertretender Vorsitzender<br />

hat wählen lassen, und schätzen wir uns glücklich, daß er noch so viel vorhat —<br />

unser manchmal etwas raunziger und bärbeißiger, aber doch herzensguter und lieber „Kutte".<br />

H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Frau Dorothea Macholz, Frau Käthe Pierson, Frau Hilde Krauss, Herrn<br />

Prof. Dr. Volkmar Denckmann, Herrn Willy Born, Frau Anni Ihlenfeld, Herrn Alfred Hardow,<br />

Herrn Günther Rühl; zum 75. Geburtstag Frau Karoline Cauer, Herrn Werner Obigt, Frau<br />

Grete Paesler, Frau Christa Ohle; zum 80. Geburtstag Herrn Ernst Müller, Herrn Richard<br />

Deicke, Herrn Hans Zopf; zum 85. Geburtstag Herrn Hans Atzrott.<br />

*<br />

Der Beitrag „Fontanes Umgang mit Bismarck" unseres verstorbenen Mitgliedes Kurt Ihlenfeld,<br />

veröffentlicht im „Bär von Berlin" 1973, wurde mit Unterstützung von Frau Ihlenfeld in<br />

kleiner Auflage als Sonderheft herausgebracht. Er kann zum Preis von 3 DM zuzüglich Portokosten<br />

bei der Geschäftsstelle bestellt werden.<br />

Dem Heft 2/1975 der MITTEILUNGEN lag das Inhaltsverzeichnis für die Jahrgänge 67 bis 70<br />

(1971 bis 1974) bei. Aufgrund der Nachfrage hat unser Buchbinder für die Bibliothek den<br />

Mitgliedern des Vereins einen Sonderpreis für das Einbinden obiger Jahrgänge von 19 DM eingeräumt.<br />

Interessenten mögen die Hefte mit Inhaltsverzeichnis bis spätestens Ende Juli in der<br />

Bibliothek während der Öffnungszeiten abgeben. Die Bibliothek ist auch während der Ferienzeit<br />

geöffnet.<br />

Buchbesprechungen<br />

Theodor Fontane: Reisebriefe vom Kriegsschauplatz Böhmen 1866. Hrsg. von Christian<br />

Andree, Frankfurt a. M./Berlin: 1975. 112 S., brosch., 3,80 DM. (Ullsteinbuch Nr. 4600.)<br />

Der deutsche Krieg von 1866, den Fontane in dem zweiten Werk seiner fünfzehnjährigen<br />

kriegshistorischen Tätigkeit ausführlich dargestellt hat, war am 26. Juli durch den Präliminar-<br />

Friedensvertrag von Nicolsburg zu Ende gegangen. Im Auftrag des Königlich Geheimen Ober-<br />

Hofbuchdruckers R. v. Decker in Berlin bereiste Fontane vom 18. bis 31. August den von der<br />

Cholera durchseuchten böhmischen Kriegsschauplatz und berichtete darüber in dem von Decker<br />

herausgegebenen „Fremdenblatt", das damals einen offiziösen Charakter trug, deshalb u.a. in<br />

Wien sorgsam aufgesammelt wurde. Fontane hat diese Berichte selbst in zwei Heften aufgeklebt,<br />

das eine Exemplar seiner Gattin Emilie zum 42. Geburtstag geschenkt, das andere Exemplar<br />

war bis zu dessen Heimgang im Besitz seines jüngsten Sohnes Friedrich. Es entbehrt nicht eines<br />

grotesken Interesses, daß Friedrich Fontane in der gewiß nicht militärfeindlichen Zeit nach 1933<br />

den Neudruck dieser Berichte jahrelang Verlegern in Nord- und Süddeutschland vergeblich<br />

angeboten hat. In der Zeit der Großdeutschland-Euphorie war die Publikation unerwünscht.<br />

So war es ein besonderes Verdienst unseres Vereinsmitgliedes Christian Andree, offenbar aufgrund<br />

dieses Exemplars die Berichte, versehen mit einer vorzüglichen Einleitung und 14 S.<br />

militärhistorischen Erläuterungen, dem Kreis der Fontanefreunde neu zugänglich gemacht zu<br />

haben (Propyläen Verlag 1973). Ein seitengetreuer Nachdruck ist nunmehr in der Reihe der<br />

preiswerten Ullsteinbücher erschienen und wird allen Fontanefreunden sehr willkommen sein,<br />

da mehr als aus Fontanes ganzer Kriegshistorik hier der Mensch und Schriftsteller sichtbar<br />

wird. Andrees Einleitung ordnet die Berichte vom böhmischen Kriegsschauplatz exakt in das<br />

75


Gesamtwerk des Dichters ein. Sie sind aber auch ein ganz besonderes Dokument hinsichtlich<br />

der sozialpolitischen Bedeutung innerhalb der breiten, aber so seichten Ströme der Kriegsberichterei<br />

jener Zeit und nicht weniger eine stille Kritik an der von Moltkes Generalstab<br />

geübten Vorbehalte der militärischen Historik. Diesem Thema sind die Berichte wichtig, und<br />

es steht zu erwarten, daß die sozialpolitischen Probleme der Fontaneschen Kriegshistorik in<br />

der in Arbeit befindlichen Dissertation eines Urenkels des Dichters, Jörg von Forster, einer<br />

Klärung zugeführt werden. Hermann Fricke<br />

Christa Wolf: Unter den Linden. Drei unwahrscheinliche Geschichten. (Ost-)Berlin: Aufbau-<br />

Verlag 1974. Lizenzausgabe Darmstadt: Luchterhand 1974. 169 S., Leinen, 22 DM.<br />

Christa Wolf, profilierte Schriftstellerin der DDR und wohnhaft in Kleinmachnow bei Berlin,<br />

stellte sich auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit ihrem neuesten Buch dem hiesigen<br />

Publikum vor. Nach „Der geteilte Himmel" und „Nachdenken über Christa T." legt die Trägerin<br />

des Heinrich-Mann-Preises und des Nationalpreises der DDR neben der fast traumatischen<br />

Titelgeschichte mit „Neue Lebensansichten eines Katers" und „Selbstversuch" erstmalig Satiren<br />

vor. Der Inhalt dieser drei Texte ist transparent und daher gut verständlich. Eine Frau - autobiografische<br />

Züge scheinen sichtbar - begegnet im Traum auf Berlins berühmtester Straße einem<br />

alten Freund, trifft einen ungenannten Mann und fühlt sich ständig von einem Mädchen beobachtet;<br />

ein stets im Dunkeln verbleibendes Moment.<br />

Absurd ist des Katers Bericht über seinen Professor, dessen Versuch, den Menschen mit all seinen<br />

Lebensgewohnheiten zu katalogisieren, an E. T. A. Hoffmanns Geschichte vom „Kater Murr"<br />

erinnert.<br />

Das irreale Experiment, welchem sich eine junge Wissenschaftlerin unterzieht, um als „Mann auf<br />

Zeit" den psychischen Unterschied der Geschlechter zu analysieren, ist Thema der zweiten Satire.<br />

So phantastisch diese drei Inhalte sind, so ernsthaft setzen sie sich doch mit dem Erscheinungsbild<br />

unserer Zeit und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den einzelnen Menschen auseinander.<br />

Ergänzend sei vermerkt, daß die Ausgabe des Aufbau-Verlages drei Farbillustrationen<br />

von Harald Metzkes enthält. Klaus P. Madet<br />

Klaus-Dieter Wille: Berliner Landseen. Bd. I: Vom Haiensee zu den Rudower Pfuhlen.<br />

Bd. II: Vom Heiligensee zur Krummen Laake. Berlin: Haude & Spener/Hessling 1974. 90 und<br />

88 S. mit Abb., brosch., je 14,80 DM. (Berlinische Reminiszenzen Bd. 40 und 41.)<br />

Ein Charakteristikum der Berliner Landschaft sind - neben den seenartig ausgeweiteten Flußgebieten<br />

der Spree im Osten und der Havel im Westen - die recht zahlreichen, über das<br />

gesamte Stadtgebiet verteilten kleinen Seen und Teiche. Der Verfasser hat sich in den vorliegenden<br />

beiden schmalen Bändchen die Aufgabe gestellt, die große Bedeutung dieser oft unscheinbaren<br />

Wasserflächen für unsere Umwelt in Vergangenheit und Gegenwart herauszuarbeiten.<br />

Die Darstellungen der einzelnen Seen, die hier nach geographischen Gesichtspunkten<br />

geordnet sind, enthalten neben geologischen, botanischen und wasser- und forstwirtschaftlichen<br />

auch historische Themen. Erfreulich ist, daß beide Teile der Stadt in gleicher Weise vertreten<br />

sind. Nicht alle Landseen konnten berücksichtigt werden, die Auswahlprinzipien bleiben<br />

oft unklar. Im Süden hätten die zahlreichen Teiche zwischen Steglitz und Tempelhof, etwa<br />

der Kelchpfuhl und die Blanke Helle, durchaus Erwähnung finden können.<br />

Während einzelne Aspekte, etwa der Umfang der zivilisatorischen Schäden, insbesondere aus<br />

den letzten Jahren, erschreckend deutlich gemacht werden konnten, bleiben die historischen<br />

Anmerkungen sehr fragwürdig. So ist z. B. das Dorf Stolpe am Rande des Stölpchensees (Bd. I<br />

S. 53 ff.) noch nicht 1197 genannt worden. Das in einer Dotationsurkunde 1197 (Riedel, Codex<br />

Diplom. Brandenb. A 7, S. 469) genannte „Stülp" lag bei Paretz im Havelland. An den wüstgefallenen<br />

Ort erinnerten noch im 16. Jh. die „Stolpischen Hufen" in der Feldmark Paretz<br />

(Riedel, CDB A 7, S. 488). Auch die für 1624 genannte Bevölkerungszahl ist unrichtig. Der<br />

geschraubte Stil führt überdies zu offensichtlich falschen Aussagen (S. 53 unten). Bei der Beschreibung<br />

des weiter südlich gelegenen Griebnitzsees (Bd. I S. 56 ff.) fehlt die in der Literatur<br />

längst diskutierte glazialmorphologische Deutung der für große Teile der Mark typischen<br />

Oberflächenform des Sees. Die Liste der Monita kann beliebig fortgesetzt werden. Auch das<br />

Literaturverzeichnis vermag nicht zu befriedigen.<br />

Positiv hingegen sind die gute Bebilderung und die Tabellen mit den wichtigsten Daten zu<br />

den besprochenen Seen hervorzuheben. Es bleibt im Interesse an der Sache zu hoffen, daß<br />

die Bändchen, trotz aller Mängel, ihre Aufgabe erfüllen und ein größeres Interesse an der<br />

Erhaltung und Pflege der immer stärker bedrohten Wasserflächen wecken können.<br />

Felix Escher<br />

76


Gustav Sichelschmidt: Berliner Originale. Ein Dutzend berlinischer Porträts. - Berlin: Rembrandt-Verlag<br />

1974. 121 S., 12 Abb., Leinen, 14,80 DM.<br />

Es scheint, als hätten ein etwas verschwommener Originalbegriff und ein Überschuß an Kurzbiographien<br />

„berühmter Berliner", die möglicherweise aus Platzgründen im zweiten Bändchen<br />

der Reihe nicht unterzubringen waren, bei der Entstehung dieses neuen Opus zusammengewirkt.<br />

Ein Übriges mag die Spekulation auf das Komplettierbedürfnis von Sammlernaturen<br />

beigetragen haben. Und so werden unverdrossen bekannte Maler und Bildhauer (Chodowiecki,<br />

Schadow, Liebermann, Zille), Schriftsteller (Glaßbrenner, Kaiisch, Heinrich Seidel), Musiker<br />

(Paul Lincke) und Kabarettisten (Otto Reutter) zusammen mit dem Grafen Wrangel, dem<br />

Bankier Fürstenberg und dem Chirurgen Sauerbruch diesmal als „Berliner Originale" verkauft.<br />

Ohne nennenswerten Zuwachs an Qualität und mit wechselndem Titel kann in gleicher Art<br />

noch viel Unterhaltsames geschrieben werden. Das Berlinische, das Berlinertum und die Berliner<br />

Volksmentalität werden oft beschworen, geistig zwar nicht stärker durchdrungen als in<br />

dem vorangegangen Büchlein, aber Lokalpatrioten werden weiter ihre Freude daran finden.<br />

Eva Wirsig<br />

Hans Dieter Jaene: Kreuzpunkt Berlin. Bilder aus der Mitte Europas. Berlin/Westhof en: Anke<br />

Starmann Verlag 1974. 234 S. m. 135 Abb., Leinen, 54,85 DM.<br />

Liest man als unvoreingenommener Leser zunächst das Impressum, die Einleitung und die<br />

zwei Vorworte, so entsteht der Eindruck, hier mit einer Publikation über Berlin überrascht<br />

zu werden, deren Gesamtkonzeption - sowohl vom Material als solchem und dessen Auswertung,<br />

wie auch von der typographischen Gestaltung und der technischen Ausführung her -<br />

sich dem Stil der heutigen Tage anpaßt und sich damit positiv aus dem Gros früherer einschlägiger<br />

Veröffentlichungen heraushebt.<br />

Die Farbfotos stammen von Klaus Lehnartz, das weitere Bild- und Kartenmaterial u. a. von<br />

der Landesbildstelle Berlin, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte, dem Werner-von-<br />

Siemens-Institut, der Deutschen Presse-Agentur und dem Fackelträger-Verlag, der die Einwilligung<br />

für die Veröffentlichung der Zille-Zeichnungen und Texte gab. Die Vorworte sind von<br />

Wilhelm Wolfgang Schütz vom Kuratorium Unteilbares Deutschland, dem auch der Reinerlös<br />

aus dem Verkauf des Buches zufließt, sowie vom Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz.<br />

Wenden wir uns nun dem eigentlichen Inhalt zu. Das dargebotene Material ist recht übersichtlich<br />

in sieben Kapitel aufgeteilt, wenngleich sich auch hier gewisse Überschneidungen nicht<br />

vermeiden ließen. Sechs Kapitel zeigen die Geschichte und das Schicksal dieser Stadt und ihrer<br />

Bewohner aus überwiegend wirtschaftlichen Blickwinkel, während eines „Zwangslose Geschichten<br />

und Bilder von Heinrich Zille" zum Inhalt hat. Hans Dieter Jaene, der als freier Journalist<br />

und Publizist heute in Berlin lebt, hat aus der Fülle des Vorhandenen das Buch zusammengestellt<br />

und die kurzen anschaulichen und gut verständlichen Texte dazu geschrieben. Und<br />

hier kann eine gewisse Kritik nicht ausbleiben. Einmal sind es die Abbildungen im Kapitel 7,<br />

das „Berlin (West) - Berlin (Ost) oder Eine Stadt geht zwei Wege" überschrieben ist. Ein Teil<br />

der hier gezeigten Fotos ist nur von geringer Aussagekraft, wobei sicher in vielen Archiven<br />

bessere Aufnahmen zu finden sind. Vielleicht hätte sich auch hier oder da ein anderer Bildausschnitt<br />

angeboten. Doch leider auch der Text dieses Kapitels fällt von dem der anderen<br />

Kapitel ab und ergeht sich in Floskeln und Banalitäten, die in diesen Heften schon früher<br />

Mißfallen erregten. Noch ein Wort zur technischen Ausführung. Sie ist, sieht man von der<br />

schlechten Wiedergabe einzelner Vorlagen ab, guter Durchschnitt, wobei man über das überproportionierte<br />

Querformat und die angeschnittenen Bildseiten geteilter Meinung sein kann.<br />

So bleibt als Fazit und Entgegnung auf den Satz im Vorwort von Klaus Schütz „. .. zum<br />

kompletten Berlin-Buch der siebziger Jahre": leider nicht ganz das Ziel erreicht!<br />

Klaus P. Mader<br />

Dieter Breitenborn: Berliner Wasserspiele. (Ost-)Berlin: VEB Verlag für Bauwesen 1974. 80 S.<br />

m. 112 Abb., Pappbd., 13 M.<br />

Rom wird man für eine Stadt der Brunnen halten, auch München, und man zögert eigentlich, ob<br />

man die sonst zu beobachtende Liebe des Berliners zum Wasser auch auf Zahl, Popularität und<br />

Geltung öffentlicher Brunnenanlagen übertragen kann (die Renommier-Wasserspiele am alten<br />

Knie, vom Volksmund „Ernst-Reuter-Sprudel" getauft, sind wohl eher eine Ausnahme). Dies<br />

war schon seit jeher so, denn in dem vom Architektenverein zu Berlin 1877 herausgegebenen<br />

Band „Berlin und seine Bauten" wird die Armut vor allem an monumentalen Wasserspielen<br />

beklagt und ausgeführt, „größere Anlagen sind bisher immer Projekt geblieben". Nicht zu verwechseln<br />

mit den öffentlichen Wasserspielen sind jene Pumpen, die noch heute das Stadtbild<br />

Berlins beleben (vor allem durch die zahlreichen Autowäscher), selbst wenn ihre nüchterne Form<br />

den Vergleich mit den altväterlichen Vorgängern nicht aushält. 1856 gab es in Berlin neben 9000<br />

77


Hofbrunnen noch 900 öffentliche Brunnen, deren Pumpenschwengel bei starkem Frost von den<br />

damals 30 Nachtwächtern der Stadt regelmäßig betätigt werden mußten, um ein Einfrieren zu<br />

verhindern.<br />

Das hier vorliegende Buch beschränkt sich in seiner Betrachtung trotz seines nicht abgrenzenden<br />

Titels auf die rund 60 Brunnen im Ostteil der Stadt, von denen rund ein halbes Hundert abgebildet<br />

und beschrieben werden. Darunter sind vertraute Wasserspiele wie der Märchenbrunnen im<br />

Friedrichshain, aber auch weniger bekannte wie der Eulenspiegel-Brunnen im Kulturpark Treptow.<br />

Ebenso erscheinen Anlagen wie z. B. die Kaskaden am Fernsehturm, deren Reiz auf technischen<br />

Effekten beruht. In kurzen Zeilen wird ihrer Herkunft nachgegangen und der Standort<br />

beschrieben, häufig mit dem Hinweis, technische Mängel oder Bubenhände hätten die Wassertechnik<br />

zum Erliegen gebracht. Daß in einem historischen Rückblick an jenem Streifen haltgemacht<br />

wird, der heute nur von Bewaffneten und Hunden bevölkert wird, ist eigentlich unverständlich,<br />

werden doch auch Werke wie Müller-Bohns „Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild"<br />

aus dem Jahre 1905 zu Rate gezogen, als noch nicht ein Drittel einer Weltstadt behauptete, das<br />

Ganze oder gar Hauptstadt zu sein. H. G. Schultze-Berndt<br />

Grunewald-Chronik. Hrsg. von der Grunewald-Grundschule anläßlich des 75jährigen Jubiläums<br />

1974. Redaktion: Eberhard Welz. 160 S. mit Abb., 10 DM.<br />

Diese nicht im Buchhandel erhältliche Materialsammlung wurde zur Gestaltung einer historischen<br />

Ausstellung anläßlich der 75-Jahr-Feier der Kolonie Grunewald und ihrer Grundschule in der<br />

Delbrückstraße 20 a zusammengetragen. Aus privaten Erinnerungsblättern und Fotos, aus Zeitungen,<br />

amtlichen Schriften und Geschichtswerken entstand eine - wenn auch bunt zusammengewürfelte<br />

- Chronik, die eine Fundgrube für jeden lokalhistorisch Interessierten darstellt.<br />

Die Anfänge der am 1. April 1899 gegründeten Landgemeinde mit ihrem bereits damals erkennbaren<br />

Hauch von Exklusivität sind schon von den Zeitgenossen ausgiebig beschrieben worden;<br />

ihre weitere Geschichte erfährt z. B. durch viele Villenbewohner mit illustren Namen noch<br />

zusätzliche Verklärung. Neben der Wiedergabe älterer Berichte über die Bau- und Verkehrsverhältnisse,<br />

die Bildungseinrichtungen und auch die „kriminelle Beziehung" der Kolonie<br />

Grunewald finden die schulischen Belange gebührende Berücksichtigung. Die noch erkennbaren<br />

Lücken, vom Hrsg. selber beklagt, sollen durch Fortsetzung der Sammeltätigkeit in Zukunft<br />

geschlossen werden. Peter Letkemann<br />

Werner Brink: Es geschah in Berlin. Bayreuth: Hestia 1970. 318 S., Leinen, 18,50 DM.<br />

In weit über fünfhundert Hörspielfolgen hat der Autor in Zusammenarbeit mit der hiesigen<br />

Kriminalpolizei Fälle von Rechtsvergehen aus dem Berlin der Nachkriegszeit zusammengestellt.<br />

Diese wöchentlich ausgestrahlte Sendefolge erfreute sich stets großer Beliebtheit. Nun sind in<br />

diesem Band sieben Fälle aufgezeichnet, von denen angenommen wird, daß sie zu den interessantesten<br />

der Reihe gehören. Hinzu kommt, daß es sich hier um jene Fälle handelt, die erst<br />

durch eingehende Analyse der Hintergründe durchschaubar werden - ein Vorteil des Buches<br />

gegenüber einer begrenzten Sendezeit. Dank dieser breit angelegten Schilderungen - gut und<br />

spannend geschrieben - ist hier eine Urlaubslektüre zu empfehlen. Klaus P. Mader<br />

Studienfahrt nach Hann. Münden<br />

Die diesjährige Exkursion führt vom 5. bis 7. September 1975 nach Hannoversch Münden.<br />

Auch in diesem Jahr werden keine gesonderten Einladungen verschickt, alle Interessenten aber<br />

weiter schriftlich unterrichtet.<br />

Der Kostenbeitrag beläuft sich auf 64 DM je Person und schließt die Omnibusfahrt, Eintrittsgelder<br />

und Honorare für Besichtigungen und Führungen ein. Der Verkehrsverein Naturpark<br />

Münden e. V. hat vorsorglich mehr als 60 Betten in der Preislage 23 DM bis 28 DM (Endpreis<br />

einschl. Frühstück) für uns reserviert. Sollten die Übernachtungsmöglichkeiten nicht mit unseren<br />

Wünschen in Einklang zu bringen sein, wäre hinsichtlich einer Begrenzung die Reihenfolge<br />

der Anmeldungen für die Teilnahme ausschlaggebend. Außer den Hotelkosten erwachsen den<br />

Mitreisenden aus den gemeinsamen Veranstaltungen folgende Ausgaben: Kaffeetafel in Schloß<br />

Berlepsch 5,50 DM (Kännchen Kaffee und ein Stück Torte mit Sahne), Mittagessen im Burghotel<br />

Trendelburg 15 DM (Gespickter Rindersaftbraten in Burgundersauce, frischer Wirsing<br />

n


und Butterkartoffeln) und Mittagessen im Hotel „Schmucker Jäger" 8,60 DM (Schweineschnitzel<br />

paniert, gem. Salat, Salzkartoffeln).<br />

Richten Sie ihre Anmeldungen bitte formlos bis zum 18. Juli 1975 an Herrn Dr. H. G. Schultze-<br />

Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße 13, Tel. 4 65 90 11, App. 91, wegen des dann beginnenden<br />

Urlaubs unseres Schriftführers auf keinen Fall später! In einem späteren Rundschreiben<br />

erfahren Sie dann Einzelheiten einschließlich der Kontonummer für die Überweisung des<br />

Kostenbeitrags.<br />

Programm<br />

Freitag, 5. September 1975<br />

6.30 Uhr Abfahrt von der Hardenbergstraße 32 (Berliner Bank)<br />

13.30 Uhr Eintreffen in der Städtischen Brauerei zu Göttingen AG, Imbiß, Führung durch<br />

Dipl.-Braumeister Robert Stolle und Vortrag Dr. H. G. Schultze-Berndt „Zur<br />

Geschichte des Brauwesens in Göttingen"<br />

19.00 Uhr Ankunft in den Hotels in Hann. Münden<br />

Sonnabend, 6. September 1975<br />

9.00 Uhr Vorträge im Hotel Kerksiek<br />

1. Ortsheimatpfleger Dr. Karl Brethauer: „Ein Gang durch Münden und seine<br />

Geschichte"<br />

2. Ortsheimatpfleger Heinz Härtung: „Münden als Fachwerkstadt mit dem Problem<br />

der Sanierung"<br />

Anschließend Rundgang mit Empfang durch Bürgermeister Gustav Henkelmann<br />

im Rathaus und Besichtigung der Ausgrabungen in der Kirche St. Blasii; Abschluß<br />

im Schloß (Fresken). Der Besuch der Heimatkundlichen Abteilung des Museums mit<br />

bemerkenswerter Darstellung der Geschichte des Fachwerkbaus wird freigestellt.<br />

13.00 Uhr Gemeinsames Mittagessen im Hotel „Schmucker Jäger"<br />

14.30 Uhr Ausflug zum Kloster Bursfelde und zur Klosterkirche Lippoldsberg unter Führung<br />

von Dr. K. Brethauer<br />

19.00 Uhr Zwangloses geselliges Beisammensein<br />

Sonntag, 7. September 1975<br />

10.00 Uhr Exkursion in den Reinhardswald mit Besuch der Sababurg und der Krukenburg<br />

12.30 Uhr gemeinsames Mittagessen im Burghotel Trendelburg<br />

14.30 Uhr Besichtigung des Europäischen Brotmuseums Mollenfelde mit Vortrag und Führung<br />

des Gründers und Direktors Otto A. Kunkel<br />

15.30 Uhr Kaffeetafel im Schloß Berlepsch mit Vortrag von Edmund Littau über die Geschichte<br />

der „Berlepsch"<br />

22.30 Uhr Ankunft in Berlin<br />

Im II. Vierteljahr 1975<br />

haben sich folgende Damen, Herren und Institutionen zur Aufnahme gemeldet:<br />

Martha Anklamm, Kauffrau Max Bolstorff, Bankkaufmann<br />

1 Berlin 37, Süntelsteig 12 1 Berlin 33, Hüninger Straße 3<br />

Tel. 8 13 50 07 (Schriftführer) Tel. 8 3132 03 (Schriftführer)<br />

Eike-Eckehard Baring, Richter am Verw.-Ger. Hartmut Dimke, Verwaltungsangestellter<br />

1 Berlin 31, Halberstädter Straße 2 1 Berlin 26, Quickborner Straße 91<br />

Tel. 8 85 75 45 (Schriftführer) Tel. 4 16 49 66 (Erwin Dimke)<br />

Nanni-Erna Becker Christel Hartwig, Sekretärin<br />

1 Berlin 62, Badensche Straße 3 1 Berlin 30, Eisenacher Straße 12<br />

Tel. 7 8179 12 (Vorsitzender) Tel. 2 1184 24 (Schriftführer)<br />

79


Interessengemeinschaft der Eigenheimsiedlung<br />

Ruhleben e. V.<br />

Herbert Niebel, Baukaufmann<br />

1 Berlin 19, An der Fließwiese 33<br />

Tel. 3 04 39 09 (Vorsitzender)<br />

Dr. Stefan Massante, Diplomgärtner<br />

62 Wiesbaden, Leibnizstraße 16 a<br />

Tel. 56 33 12 (Dr. Leichter)<br />

Veranstaltungen im III. Quartal 1975<br />

1. Sonnabend, 5. Juli, 15 Uhr: Sommerausflug zum Jagdschloß Grunewald mit<br />

Besichtigung der freigelegten Renaissance-Architekturen. Führung durch Prof. Dr.<br />

Martin Sperlich. Anschließend Ausklang im Gasthaus Paulsborn.<br />

2. Mittwoch, 9. Juli, 18 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Historische Stadtgestalt<br />

und Stadterneuerung in Berlin" im Berlin-Pavillon an der Straße des 17. Juni<br />

(S-Bahnhof Tiergarten) anläßlich des Europäischen Denkmalschutzjahres 1975.<br />

Führung durch Landeskonservator Dr. Helmut Engel. Fahrverbindungen: U-Bhf.<br />

Hansaplatz; Autobus 23.<br />

Im Monat August finden keine Vorträge und Führungen statt. Die Bibliothek ist zu<br />

den üblichen Zeiten geöffnet.<br />

3. 5. bis 7. September: Studienfahrt nach Hann. Münden. Ausführliches Programm<br />

auf der vorhergehenden Seite!<br />

4. Sonnabend, 13. September, 10 Uhr: Rundgang durch Heiligensee, Führung durch<br />

Kurt Pomplun. Treffpunkt an der Dorfkirche. Fahrverbindungen: Autobus 13<br />

oder 14.<br />

Freitag, 25. Juli, 29. August und 26. September," zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für das Jahr 1974 und 1975. Auf Wunsch kann<br />

eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 4 65 90 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus). Geöffnet: freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Klaus P.<br />

Mader; Günter Wollschlaeger. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt,<br />

Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

SO<br />

Manfred Pix, stellv. Vorsitzender des Vorstands<br />

der Sparkasse im Landkreis Neustadt<br />

- Bad Windsheim und Dir. der Sparkasse<br />

8530 Neustadt a. d. Aisch, Hartschmiedenweg<br />

1<br />

Tel. 34 29 bzw. 91 - 2 20 (Schriftführer)<br />

Gerda Schuck, Sekretärin<br />

1 Berlin 41, Grazer Damm 146<br />

Tel. 8 55 14 68 (Schriftführer)


A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

71. Jahrgang Heft 4 Oktober 1975<br />

•V<br />

4MM<br />

Theodor Hosemann<br />

Kl


Theodor Hosemann zum Gedenken<br />

Von Claus P. Mader<br />

Am 15. Oktober 1975 jährt sich der Todestag Theodor Hosemanns zum hundertsten<br />

Mal. Das sollte ein Anlaß sein, mit einigen Sätzen auf Leben und Wirken eines Mannes<br />

einzugehen, der fast ein halbes Jahrhundert in Berlin gelebt hat und der für uns heute<br />

der Schilderer des vor- und nachmärzlichen Berliner Bürgertums bis zur Reichsgründung<br />

ist. Mit seinen kleinen Genreszenen und ihren kleinbürgerlichen Gestalten läßt<br />

er uns noch heute in humorvoller Weise ein Stück hiesiger Vergangenheit erleben.<br />

Leider muß man mit einer gewissen Resignation feststellen, daß zwar eine annehmbare<br />

Biografie vorliegt, daß aber eine abschließende kunsthistorische Wertung oder gar ein<br />

Oeuvrekatalog fehlen. Nach wie vor ist man in der Hauptsache auf Schrifttum angewiesen,<br />

dessen Veröffentlichung bereits über vierzig Jahre zurückliegt. Auch jetzt noch gilt<br />

Lothar Briegers Werk über den „Altmeister Berliner Malerei" als bisher bestes Standardwerk,<br />

obwohl Autor und Verlag sich aus finanziellen Gründen mit einer Auslese des damals<br />

vorhandenen Materials begnügen mußten. Doch sind in einem Literaturverzeichnis<br />

die wichtigsten Quellen angegeben. Der von Karl Hobrecker bearbeitete Katalog der<br />

grafischen Werke umfaßt nur 584 Titel, d. h. ca. zehn Prozent aller Arbeiten; sicher keine<br />

ausreichende Grundlage. Als zweite wichtige Arbeit zum Thema ist die kunstgeschichtliche<br />

Studie von Franz Weinitz einzustufen, die bereits 1897 in den Schriften unseres<br />

Vereins erschienen ist. Nimmt man noch die wenigen Artikel aus Lexika, Kunstbüchern<br />

und Zeitschriften sowie die Beiträge aus Berlin-Büchern kulturhistorischen Inhalts hinzu,<br />

so ist damit die beweiskräftige Hosemann-Literatur erschöpfend ausgelotet. Neuere Veröffentlichungen<br />

wie z. B. die des Berlin-Museums oder die von Hans Ludwig im Verlag<br />

Rogner & Bernhard greifen alle auf die zuvor genannten Publikationen zurück und bringen<br />

kaum bislang Unbekanntes.<br />

So kann und soll dieser Beitrag auch nur eine kleine Zusammenstellung und Wertung<br />

bisher veröffentlichter Daten sein. Die Literaturhinweise bieten darüber hinaus dem an<br />

diesem Thema Interessierten die Möglichkeit zu weiteren Studien.<br />

Vergegenwärtigen wir uns zunächst die vita des Künstlers.<br />

Wie so viele von denen, die diese Stadt für ihre Kunst entdeckten - es seien hier nur<br />

Chodowiecki aus Danzig, Dörbeck aus Livland, Menzel und Baluschek aus Breslau und<br />

Zille aus Radeburg bei Dresden angeführt -, war auch Hosemann kein „echter" Berliner.<br />

Er kam aus Brandenburg, welches in jenen Tagen noch zwei Tagereisen von Berlin entfernt<br />

lag. Hier wurde Friedrich Wilhelm Heinrich Theodor Hosemann am 24. September<br />

1807 als Sohn eines preußischen Offiziers geboren. Die unruhige Zeit der Napoleonischen<br />

Kriege brachte es mit sich, daß der Vater von der Familie über Jahre getrennt lebte und<br />

diese aus finanzieller Not bei Verwandten Unterkunft suchen mußte. So wohnte die<br />

Mutter mit dem kleinen Theodor und dessen älterer Schwester erst in Oggersheim, danach<br />

in Heidelberg und Mannheim. Diese stete Wanderschaft der Familie in den Jahren<br />

1811 bis 1816, als sie sich endgültig in Düsseldorf niederließ, war auch der Grund dafür,<br />

daß der Sohn seinen Vater erst 1815 kennenlernte. Die Not und bittere Armut, in der<br />

sich nach dessen Pensionierung die Familie befand, zwangen den Zwölfjährigen, sich nach<br />

82


einem Beruf umzusehen, der ihm schnell eine Verdienstmöglichkeit bot. Beides fand er<br />

1819 in der Lithografischen Anstalt von Arnz & Winckelmann. Hier begann er seine<br />

Lehre als Lithograf, mit der er einen Weg betrat, den zehn Jahre später auch Adolph<br />

Menzel durchlaufen mußte.<br />

Da damals noch keine Farblithografien von mehreren Steinen gedruckt werden konnten,<br />

bestand eine Hauptaufgabe zunächst im Kolorieren der Abdrucke. Beglaubigte Arbeiten<br />

aus dieser Zeit liegen nicht mehr vor, doch muß sein Lehrherr Arnz zufrieden gewesen<br />

sein. Er ließ ihn erst die Elementarklasse für Zeichnen besuchen, welche Lambert von<br />

Cornelius leitete, um ihm danach den Besuch der dortigen Kunstakademie zu ermöglichen,<br />

wo Peter von Cornelius, der Bruder Lamberts, Direktor und sein Lehrer war.<br />

Zwar konnte dieser keinen entscheidenden Einfluß auf Hosemann und dessen künstlerische<br />

Entwicklung ausüben, erkannte jedoch immerhin die Leistungen seines Schülers an,<br />

was sehr viel bedeutete. Auch sein weiterer Lehrer Adolf Schrödter war von den Leistungen<br />

Hosemanns angetan.<br />

Das Jahr 1828 wurde für den jungen Lithografen bedeutungsvoll. Johann Christian<br />

Winckelmann trennte sich von seinem Teilhaber, um nach Berlin zu gehen und sich selbständig<br />

zu machen. Er gründete noch im selben Jahr das Lithografische Institut<br />

Winckelmann & Söhne. Mit ihm kam auch Theodor Hosemann nach Berlin, nachdem<br />

ein jährliches Gehalt von 400 Talern festgelegt worden war. Hier erschloß sich ihm eine<br />

neue Welt mit interessanten Aufgaben.<br />

Bis in das ausgehende 18. Jahrhundert hinein hatte es die überlieferte Verbindung von<br />

Architektur, Plastik und Malerei gegeben. Nach Auflösung der alten kirchlichen und<br />

weltlich-ständischen Ordnungen wurden im 19. Jahrhundert Staat, Stadt, Verwaltung,<br />

Gemeinde und später auch die Industrie die Auftraggeber der bildenden Künste unter<br />

der Zwangsvorstellung, Architektur hätte Kunst zu sein. Die Plastik, die schon im<br />

18. Jahrhundert die Funktion der Repräsentation besessen hatte, erhielt im 19. zumeist<br />

Aufträge öffentlicher Natur. Die Künstler, die dem Publikumsgeschmack am weitesten<br />

entgegenkamen und zum Beispiel Pathos, Realismus oder Ähnliches am stärksten in<br />

ihren Werken zum Ausdruck brachten, erhielten größtenteils die Aufträge.<br />

Dagegen war die Malerei frei geblieben. Berlin, München, Düsseldorf, Hamburg, Karlsruhe<br />

und andere ehemalige Residenzen bildeten Kunstzentren, die in ausgesprochen<br />

krassem Gegensatz zu der geschlossenen Schule in Frankreich standen.<br />

In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte die Wirkung des Biedermeier ein,<br />

dessen Werden das Aussterben der Romantik bedeutete. Zu dieser Zeit hatten sich die<br />

Maler größtenteils in Kunstvereinen organisiert, denen gemischte Gremien aus Bürgerund<br />

Künstlerschaft vorstanden. Der erste war 1824 in München gegründet worden. Ihre<br />

Blütezeit lag zwischen 1830 und 1860. Danach verloren sie an Gewicht, denn in den<br />

Gründerjahren nach 1870 ahmte das Großbürgertum die offizielle Führungsschicht nach.<br />

Sie veranstalteten Ausstellungen und Verlosungen für ihre Mitglieder, bei denen von<br />

den Vereinen vorher angekaufte Bilder gewonnen werden konnten.<br />

Die Biedermeier-Kunst erzählt typische Genre-Motive, oft in großer malerischer Qualität<br />

und von außerordentlich farblichem Reiz. Der Maler dieser Zeit ist der behagliche,<br />

gemütvolle Schilderer des täglichen Lebens, das er liebevoll, aber oft nicht ohne Ironie<br />

sieht. Es gab Künstler, die durchaus nicht im Erzählen von Anekdoten steckenblieben.<br />

83


Etwa um 1830 trat überall in Europa die Historienmalerei hervor, die den Vorrang<br />

Frankreichs in diesem Genre ablöste. Die Mehrzahl der Künstler verfolgte den einfachen<br />

Weg, realistisch darzustellen; die überwiegende Mehrheit der Maler ging darauf aus, dem<br />

Publikum zu gefallen. Reportagen sind das Ergebnis dieser Produktion. So konnte es<br />

schließlich zur Existenz zweier Funktionen der Malerei kommen, einmal der realistischen<br />

Berichterstattung für die Menge, zum anderen der Malerei für den Geistig-Anspruchsvollen,<br />

der Kunst des Individuums für das Individuum.<br />

In dieser Gesamtsituation bildete auch Berlin keine Ausnahme. Als Sitz des Hofes und<br />

der Staatsbehörden, als Universitätsstadt, als eine Stadt von über 200 000 Einwohnern,<br />

voller Regsamkeit und künstlerischer Initiative, die bereits Persönlichkeiten von europäischem<br />

Rang auf allen Geistesgebieten zu ihren Bürgern zählte, boten sich künstlerischen<br />

Naturen, auch wenn sie zunächst nur handwerklich vorgebildet waren, hinreichende<br />

Entfaltungsmöglichkeiten.<br />

Zu ihnen gehörte auch der junge Theodor Hosemann.<br />

Die Art der Tätigkeit des Neuberliners Hosemann unterschied sich zunächst kaum von<br />

derjenigen seiner Düsseldorfer Zeit: lithografische Arbeiten und das Kolorieren von<br />

Druckbogen. Doch noch - oder schon - im Jahre 1828 erschien bei Winckelmann & Söhne<br />

„Das allergrößte Bilder-ABC", ein Werk von 22 Druckbogen mit je 3 bis 6 Abbildungen,<br />

die uns zum ersten Mal selbständige Illustrationen Hosemanns zeigen. Mit dieser Arbeit<br />

gelang ihm sofort der Beweis, nicht nur ein guter „Handwerker", sondern ein ebenso<br />

guter Künstler zu sein. Schon im folgenden Jahr (1829) wurde er als Lithograf für das<br />

„Fest der weißen Rose", eine Beschreibung des Festes in Potsdam am 13. Juli zum Geburtstag<br />

der Kaiserin von Rußland, genannt. Diese Schrift erschien bei Gropius in Berlin.<br />

Seine sehr guten Aquarellierungen führten zur Bekanntschaft mit dem Intendanten der<br />

Kgl. Schauspiele, dem Grafen Brühl. Hieraus entwickelte sich eine Reihe wichtiger Verbindungen,<br />

so daß er schon bald zum beliebtesten Mal- und Zeichenlehrer der Berliner<br />

Adelskreise wurde, die später zu den besten Käufern seiner Bilder gehörten. Sein Fleiß<br />

brachte ihm zwar schon bald die finanzielle Unabhängigkeit, erwies sich jedoch leider<br />

auch als Hemmschuh für seine weitere künstlerische Entfaltung. Er, der aus einfachen<br />

und bescheidenen Verhältnissen stammte, mußte sich in den gehobenen Kreisen in gewissem<br />

Sinne deplaciert vorkommen. So führte er auch die ihm hier aufgetragenen Arbeiten<br />

in dem offensichtlichen Bemühen aus, ohne innere Anteilnahme das Beste zu schaffen.<br />

Gerade jene lassen seine ausgereifte Technik erkennen, wirken jedoch meist steif und<br />

manieriert. Hosemann war mit dem Gefühl für das Bürgerliche ein Schilderer der täglichen<br />

Situationen. Und aus eben jenem Gefühl heraus schuf er seine eindrucksvollen<br />

Arbeiten, mit denen er sich bis in unsere Zeit ein Denkmal als Volkskünstler des Berliner<br />

Biedermeier setzen konnte.<br />

Hosemann, der im Zentrum Berlins in der Dorotheenstadt wohnte, fand schnell Anschluß<br />

an die hiesige Künstlerschaft. So trat er dem „Jüngeren Künstlerverein" bei. Dieser<br />

hatte sich neben einem älteren Verein, dessen Gründer Gottfried Schadow war, zusammengefunden.<br />

Für diesen, dem die jüngeren Vertreter der Kunst und wohlhabende<br />

Kunstfreunde angehörten, die sich zu gemeinsamen Studien und geselligen Festen trafen,<br />

schuf Hosemann seine geist- und humorvollen Einladungs- und Tischkarten. Diese Karten,<br />

als deren Erfinder und Schöpfer er gilt, durften bald bei keinem heiteren Festessen<br />

S4


^S@SHPHHH<br />

•nHuaun<br />

flimll MI BUK jn Ol W*» «OS m *# •" fcWg, WWW M »mWjl»<br />

Großes Lentzturnier auf dem Kreutzberge zum 23. Mai 1850 von einer ehrsamen Künstl<br />

Festkarte des Jüngeren Künstlervereins (Federlithographie 52,4 X 43 cm).<br />

Kupferstichkabinett Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz.


fehlen. Bis zu seinem Tode sind sie - auch als Speisekarten - für die verschiedensten<br />

Gesellschaften von ihm immer wieder entworfen worden.<br />

Neben sehr großem Fleiß war es vor allem seine Zuverlässigkeit, die ihm immer neue<br />

Aufträge einbrachte. So war es nicht nur der Verlag von Winckelmann, für den er u. a.<br />

neben vielen Einzelblättern die Illustrationen zu den Jugendschriften des Berliner Schuldirektors<br />

Theodor Dielitz und zu dem „Berliner Bilder-ABC" sowie für „Die kleine<br />

Hausfrau" (erschienen erst 1877) schuf, sondern auch der Verlag von Georg Gropius<br />

schätzte Hosemanns Mitarbeit. Gropius brachte ab 1830 eine Reihe bunter Hefte heraus:<br />

„Berliner Redensarten", „Berliner Parodien", „Berliner Witz und Anekdoten" und<br />

„Tagesbegebenheiten". Als Mitarbeiter für diese Hefte hatte der Verlagsbuchhändler<br />

bereits Johann Gottfried Schadow und Franz Burchard Dörbeck unter Vertrag. Letzterer<br />

schied jedoch schon wenig später aus, so daß der junge Hosemann dessen Platz einnehmen<br />

konnte. Er kopierte, einer Bitte des Verlegers nachkommend, in der Anfangszeit den<br />

wesentlich gröberen Stil Dörbecks. Auch als der Historiker Franz Kugler seine Geschichte<br />

Friedrichs II. illustrieren lassen wollte, dachte er zunächst an Hosemann, ehe der jüngere<br />

Adolph Menzel den Auftrag erhielt. Beide Künstler arbeiteten lithografisch um 1834 zusammen,<br />

wovon z. B. Festkarten des Vereins Berliner Künstler Zeugnis sind. Beide waren<br />

auch Mitglieder des Berliner Sonntagsvereins „Der Tunnel über der Spree". Gemäß der<br />

Satzung, daß dort kein Mitglied unter seinem bürgerlichen Namen auftreten durfte,<br />

führte Menzel das Pseudonym „Rubens", während Hosemann den Namen des englischen<br />

satirischen Zeichners „Hogarth" trug. Obwohl beide, sowohl Hogarth wie auch Hosemann,<br />

das gleiche Grundthema in ihren Arbeiten hatten, etwa: „Der Mensch auf der<br />

Straße und in den Wirtshäusern", ist das Pseudonym für den Deutschen nur bedingt<br />

richtig. Denn: Hosemann war kein Satiriker.<br />

Mögen alle bisherigen Bekanntschaften und Verbindungen positiven Einfluß gehabt<br />

haben, zur wichtigsten Begegnung sollte die mit dem Schriftsteller Adolf Glaßbrenner<br />

werden. Glaßbrenner, 1810 in Berlin geboren, war nach abgebrochener Kaufmannslehre<br />

und frühen schriftstellerischen Arbeiten 1832 Redakteur des Berliner Sonntagsblattes.<br />

Nachdem sein „Don Quijote" von der Regierung verboten worden war, setzte er seine<br />

Plänkeleien gegen diese unter dem Pseudonym „Brennglas" fort. 1830 erschien das erste<br />

einer Reihe von 30 Heften, die er „Berlin, wie es ist und - trinkt" nannte und die bei<br />

Vetter & Rostosky, später bei Ignaz Jackowitz, beide in Leipzig, erschienen. Jedes dieser<br />

Hefte war mit einem, auf Inhalt und Atmosphäre der Texte eingehenden, handkolorierten<br />

Titelbild versehen, von denen auch Hosemann eine Anzahl schuf, so z.B. 1834 für<br />

Heft 6 den „Guckkästner", für Heft 17 von 1847, Heft 29 von 1848 und für das 30.<br />

Heft „1849 im Berliner Guckkasten". Diese Hefte, von denen viele Nachauflagen brachten,<br />

führten die untersten Schichten des Volkes und den Berliner Dialekt in die Literatur<br />

ein. Die Leser waren zunächst Dienstmädchen, Arbeiter und Handwerker - eben die<br />

„kleinen Leute". Hiermit begann sowohl für Hosemann als auch für Glaßbrenner eine<br />

über zwei Jahrzehnte dauernde fruchtbare Zusammenarbeit. So enthielten die 14 Hefte<br />

der Serie „Buntes Berlin" (1837-1852) je zwei Federzeichnungen. „Deutsche Lieder" und<br />

„Deutsches Liederbuch" (beide 1837), „Berliner Erzählungen und Lebensbilder" (1838),<br />

die dreibändige Ausgabe „Berliner Volksleben" (1847-1851), der „Komische Volkskalender"<br />

(1849-1892), ferner zwei Kinderbücher und die „Freien Blätter", von denen 1848,<br />

dem Revolutionsjahr, 56 Nummern herausgegeben wurden, sehen Hosemann ebenfalls<br />

als Mitarbeiter.<br />

86


Theodor Hosemann<br />

Friedrich Wilhelm IV.<br />

in der Theaterloge<br />

Kol. Lithografie<br />

25 X 20 cm<br />

Verwaltung<br />

der Staatlichen<br />

Schlösser und<br />

Gärten, Berlin<br />

Foto: Ellen Brast<br />

Neben den bereits aufgeführten Arbeiten zu den Texten von Glaßhrenner entstand in<br />

den Jahren von 1830 bis ca. 1850 - sie werden als die besten seines Schaffens angesehen<br />

- eine große Zahl von Einzelstücken als Lithografien und auch als Ölbilder, welche uns<br />

eine vortreffliche Chronik des kleinbürgerlich-gemütlichen Berlins des Biedermeier bieten.<br />

Hier seien nur einige Titel aufgeführt: „Der Stralauer Fischzug", „Lumpen-Musikanten",<br />

„Die beiden Maurer", „Die Lumpensammler" und neben vielen anderen auch „Die drei<br />

Sonntagsreiter". Dieses Bild wurde von Hosemann - wie eine größere Anzahl seiner<br />

Arbeiten - in verschiedenen Techniken ausgeführt: in öl auf Leinwand, als Aquarell und<br />

1842 als farbige Lithografie. Es zeigt David Kaiisch, beliebtester Possendichter des<br />

damaligen Berlin, den „langen" Wilhelm Scholz - Zeichner des „Kladderadatsch" - und<br />

den Künstler selbst. Alle drei verband neben einer langjährigen soliden Freundschaft<br />

die gleichgeartete Tätigkeit, obwohl Hosemann nie Illustrationen für diese Zeitschrift<br />

lieferte.<br />

Dank seines großen Einfühlungsvermögens in die zu bebildernden Texte - das Aufspüren<br />

von Charakteristika und anschließende Umsetzen ins Optische - galt er bald als einer<br />

der besten Buchillustratoren. Soll man aus der Vielzahl der Bücher seine wohl reifste<br />

Leistung auswählen, so müssen die 1844 geschaffenen Federzeichnungen zu E.T.A. Hoffmanns<br />

„Gesammelten Schriften" genannt werden. Mit je zwei Federzeichnungen wurde<br />

S7


die zwölfbändige Ausgabe von C. Reimer in Berlin verlegt. Um diese als kongenial empfundenen<br />

kleinen Meisterwerke gruppieren sich - um nur einige zu nennen - die Folgen<br />

zu /. F. W. Zacbariäs „Der Renommist", Münchhausen, Musäus' Volksmärchen, Andersens<br />

Volksmärchen, Immermanns „Das Tulifäntchen" und die 1849 geschaffene Serie zu<br />

dem Erfolgsroman der damaligen Zeit von Eugene Sue „Die Geheimnisse von Paris".<br />

Dieser Text wäre, wie so viele aus jenen Tagen, längst in Vergessenheit geraten, die<br />

Illustrationen Hosemanns verhinderten das.<br />

Schon aus der Zusammenarbeit mit Glaßbrenner ergab sich die Notwendigkeit, zu den<br />

politischen Ereignissen des Jahres 1848 Stellung zu nehmen. Wie viele andere auch stand<br />

er jenen Vorkommnissen positiv gegenüber, ohne sich indessen mit ihnen zu identifizieren.<br />

So fertigte er neben den bereits aufgeführten Arbeiten für die Hefte Glaßbrenners<br />

u. a. noch Federzeichnungen für die „Amtlichen Berichte über die Barrikadenkämpfe",<br />

„Die deutschen Bewegungen im Jahre 1848", sechsunddreißig Holzschnitte und mehrere<br />

Steindruckbeilagen, die in den Düsseldorfer Monatsheften bei Arnz & Co. erschienen,<br />

acht weitere Federzeichnungen für die Serie „Herr Fischer . . .", eine Beilage „Das Heer<br />

der Reaktion" sowie eine Reihe Einzelblätter an.<br />

Aus dieser Aufstellung geht auch hervor, daß Hosemann sich zeit seines Lebens dem<br />

Düsseldorfer Kunstgeschehen als zugehörig betrachtete. Arbeiten, die sonst nur von dort<br />

lebenden Künstlern ausgeführt wurden, beweisen das zumindest bis zum Jahre 1859.<br />

Nach den Begebenheiten des Jahres 1848 und dem Sieg der Reaktion verließ Glaßbrenner<br />

Berlin und ging nach Hamburg. Es scheint heute, als ob mit dem Fortgang des<br />

Freundes auch der progressive Elan Hosemanns versiegte.<br />

Darüber hinaus hat sich Hosemann seine sozial-kritische Einstellung auch im Alter bewahrt,<br />

doch besaß diese von Anfang an eher freundliche und rührend-menschliche<br />

Züge. Im Gegensatz zu seinem späteren Schüler Heinrich Zille, der stets zu den Menschen<br />

seines „Milljöhs" gehörte und auch im Alter nicht der bürgerlichen Gefälligkeit<br />

erlag - ja, noch kompromißloser anklagte - stand Hosemann neben dem Volk, zeigte er<br />

sich duldsamer und konzilianter.<br />

Im Lauf der Jahre kamen auch die Ehrungen.<br />

Eine Anekdote weiß folgendes zu berichten: Hosemann gab 1857 dem Prinzen Georg<br />

von Preußen Zeichenunterricht und wurde von diesem stets mit „Herr Professor" tituliert.<br />

Als der Künstler auf den Irrtum aufmerksam machte, entgegnete der Prinz, daß<br />

das ein Fehler sei, der korrigiert werden müsse. Bald danach erhielt Hosemann eine<br />

Professur, die ihm noch jährlich 500 Taler einbrachte. 1860 wurde er zum Mitglied der<br />

Akademie der Künste ernannt und erhielt sechs Jahre später die Stelle eines Zeichenlehrers<br />

an der zur Akademie gehörenden allgemeinen Zeichenschule. Ruhe, Bescheidenheit<br />

und Geduld verhalfen ihm zu großer Beliebtheit bei seinen Schülern. Zu ihnen gehörte<br />

dann ab 1874 auch der junge Heinrich Zille, dessen Fähigkeiten Hosemann schnell<br />

erkannte und förderte.<br />

Schon in seinen letzten Lebensjahren war Hosemann gleich anderen Künstlern dieses<br />

Genres in Vergessenheit geraten.<br />

Sein Tod fand in der zeitgenössischen Presse nur teilweise kurze Erwähnung. Er ruht<br />

neben seiner zweiten Frau Bertha Heimbs auf dem Sophienfriedhof an der Bergstraße.<br />

Sein Andenken ehrt die Hosemannstraße im Bezirk Prenzlauer Berg. Nicht nur von<br />

Kennern dieser Art von „Kleinkunst" geschätzt, erfreut sich das Werk dieses hervorragenden<br />

Illustrators der B


Theodor Hosemann<br />

Die Pfaueninsel<br />

bei Sacrow<br />

(1869)<br />

Aquarell, 22,5 X 15 cm<br />

Verwaltung<br />

der Staatlichen<br />

Schlösser und<br />

Gärten, Berlin<br />

Foto: Ellen Brast<br />

Zur Zeit findet im Haus am Lützowplatz mit Unterstützung des Senators für Wissenschaft<br />

und Kunst die Ausstellung „Druckgraphische Arbeiten von Theodor Hosemann"<br />

statt, die noch bis zum 19. Oktober besucht werden kann. Die zahlreichen Exponate, die<br />

von Museen, Vereinen - auch unser Verein ist vertreten - und privaten Sammlern als<br />

Leihgaben zur Verfügung gestellt wurden, vermitteln dem Besucher eine recht umfassende<br />

Übersicht vom Schaffen des Künstlers. Der großformatige Katalog (18 DM) ist<br />

reich bebildert. In ihm wird auch die Vorbereitung eines ausführlichen Werkverzeichnisses<br />

angezeigt.<br />

Eine Nachfrage beim Märkischen Museum, ob und wann eine Hosemann-Ausstellung geplant<br />

sei, und ob im Zusammenhang mit einer eventuellen Ausstellung ein Katalog herausgegeben<br />

wird, ergab keine definitive Antwort.<br />

89


Literaturhinweise<br />

Hans Weinitz: Theodor Hosemann. Berlin: Sdiriften des Vereins für die Gesdiichte Berlins 1897,<br />

Heft XXXIX.<br />

Lothar Brieger: Theodor Hosemann. Mit einem Katalog der graph. Werke von Karl Hobrecker.<br />

München: Delphin-Verlag 1920.<br />

Lothar Brieger: Theodor Hosemann. Der Maler des Berliner Volkes. München o. J., Delphin-<br />

Verlag. (Kleine Delphin Kunstbücher, Bd. 18.)<br />

Paul Hörn: Düsseldorfer Graphik in alter und neuer Zeit. Düsseldorf 1928. Verlag des Kunstvereins<br />

für die Rheinlande und Westfalen. (Schriften des Städtischen Kunstmuseums Düsseldorf,<br />

Bd. II.)<br />

Paul Weiglin: Berliner Biedermeier. Bielefeld u. Leipzig: Velhagen und Klasing 1942.<br />

Hans Ostwald: Kultur- und Sittengeschichte Berlins. Berlin o. J. Verlagsanstalt Hermann<br />

Klemm KG.<br />

Ernst Heilborn: Zwischen zwei Revolutionen. Berlin: Wegweiser Verlag 1927.<br />

Ernst Dronke: Berlin. Hrsg. v. Rainer Nitsche. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1974. (Samml.<br />

Luchterhand, 156.)<br />

Georg Hermann: Theodor Hosemann. Braunschweig: Verlag Westermann 1909. (Westermanns<br />

Monatshefte 53. Jahrgang, Bd. 105, II, Heft 628.)<br />

Horst Kunze: Schatzbehalter. Vom Besten aus der älteren deutschen Kinderliteratur. Berlin(Ost):<br />

Kinderbuchverlag 1969.<br />

Gerhard Kapitän: Die Politische Graphik Theodor Hosemanns. Dresden: VEB Verlag der Kunst<br />

1955. (Das kleine Kunstheft.)<br />

Irmgard Wirth: Theodor Hosemann. Maler und Illustrator im alten Berlin (Ausstellungskatalog).<br />

Berlin 1967. 7. Veröffentlichung des Berlin-Museums. [Anmerkungen über diese Ausstellung<br />

in: Mitteilungen d. Vereins f. d. Gesch. Berlins, 64. Jahrgang, 1968, Nr. 11, S. 140 ff.]<br />

Hans Ludwig: Theodor Hosemann. München: Rogner u. Bernhard 1974. (Klassiker der Karikatur,<br />

Bd. 9.)<br />

Ulrich Thieme, Felix Becker: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, Bd. 17. Hrsg. v. Hans<br />

Vollmer. Leipzig: Verlag E.A.Seemann 1924.<br />

Wann fuhr der erste Omnibus in Berlin?<br />

Eine verkehrsgeschichtliche Studie<br />

Von Arne Hengsbach<br />

In allen Veröffentlichungen, die sich mit der Entstehung und Entwicklung der Berliner<br />

Nahverkehrsmittel beschäftigen, wird angegeben, der Omnibusverkehr sei hier im Jahre<br />

1846 mit 5 Linien aufgenommen worden. Auch die sonst außerordentlich gewissenhafte<br />

und umfassende Arbeit Carl Dietericis „Geschichtliche und statistische Mitteilungen über<br />

das öffentliche Fuhrwesen in Berlin", 1865 in der „Zeitschrift des Königl. Preußischen<br />

Statistischen Bureaus" erschienen, die die Akten des seinerzeit für die Bearbeitung von<br />

Verkehrsangelegenheiten allein zuständigen Polizeipräsidiums auswertete und noch heute<br />

die einzige zuverlässige Quelle für die Vor- und Frühgeschichte des Berliner öffentlichen<br />

Nahverkehrs darstellt, bemerkt: „Das Unternehmen wurde mit 20 Wagen und 120<br />

Pferden noch 1846 eröffnet." Die „ABOAG"-Festschrift von 1928, die maßgebliche<br />

Omnibuschronik Berlins, berichtet ebenfalls, der Betrieb sei Ende des Jahres 1846 eröffnet<br />

worden.<br />

Tatsächlich hat aber die Anfangszeit des Berliner Omnibuswesens später begonnen. Die<br />

wenigen Berichte und Anzeigen, die in der „Vossischen Zeitung" Ende 1846 und im<br />

90


donc. ^Berliner Dmnibu^dom^).<br />

SßCHTt 1. Oktober C. üb, werben unfere 53agcn nie folgt<br />

ceurftrrn.<br />

Die ©tftC (grütic) 2t«ic lüirt ftatt beim -^) of i5


Von beiden Endpunkten, welche später noch weiterhin ausgedehnt werden sollen, wird<br />

präcise jede V4 Stunde ein Omnibus abfahren - im Winter von 8 Uhr Morgens an bis<br />

9 Uhr Abends zuletzt, im Sommer von 7 Uhr Morgens an bis 9 l fa Uhr Abends zuletzt.<br />

Jeder Wagen wird Abends gut erleuchtet sein. Jeder anständig und reinlich Gekleidete,<br />

welcher irgendwo auf der ganzen Tour einzusteigen wünscht, braucht nur dem Condukteur,<br />

welcher hinten auf dem Wagen steht, oder dem Kutscher ein Zeichen zu geben, um<br />

den Wagen halten zu lassen und aufgenommen zu werden. Ist der Wagen im Innern<br />

vollständig besetzt, so wird dies durch Aufsteckung einer Fahne hinten am Wagen angezeigt.<br />

Ebenso kann jeder Fahrgast, der auszusteigen wünscht, halten lassen, wann und<br />

wo er es verlangt. Jedoch sind die Condukteure angewiesen, keinen Betrunkenen, keinen<br />

unreinlich Gekleideten, welcher die übrigen Fahrgäste belästigen würde, keinen Fahrgast<br />

mit größeren Packeten, welche andere genieren würden, einzunehmen. Ebenso wenig<br />

dürfen sie leiden, daß im Innern des Wagens geraucht und laut gesungen werde, auch<br />

dürfen keine Hunde mit in den Wagen gebracht werden. Der Preis ist für die Person auf<br />

2 Silbergroschen pro Fahrt angesetzt, mag man nun die ganze Tour oder nur einen Theil<br />

derselben fahren. Kinder unter 4 Jahren, welche keinen besonderen Platz einnehmen,<br />

sondern auf dem Schöße Erwachsener sitzen, sind frei. Gegenstände, welche in dem<br />

Wagen liegen geblieben sind, können im Laufe des Tages bei den Inspektoren auf dem<br />

Bureau an den resp. Endpunkten jeder Linie reklamiert werden. Später bitten wir diese<br />

Gegenstände im Haupt-Büreau, Dorotheenstraße No. 12 parterre, wo überhaupt jede<br />

gewünschte Auskunft ertheilt wird, oder bei dem Herrn Polizei-Commissarius Aschoff<br />

abzufordern . . . Dagegen werden wir Alles aufbieten, dem hochgeehrten Publikum eine<br />

recht anständige, bequeme und häufige Fahrgelegenheit zu verschaffen und bitten zu<br />

berücksichtigen, daß bei der kurz zugemessenen Zeit - wir erhielten die Concession erst<br />

vor 2 Monaten - es nicht möglich war, alle Linien auf einmal in Gang zu bringen. Es<br />

wird aber thätig daran gearbeitet, dies in kürzester Frist zu bewerkstelligen, und sobald<br />

sämmtliche Linien aufgestellt sind, sollen Correspondenzfahrten zu noch größerer Bequemlichkeit<br />

des Publikums eingerichtet werden. - Die Wagen dieser ersten Linie werden<br />

grüne Farbe erhalten und so wird jede Linie ihre besondere Farbe haben. - Unsere Leute<br />

sind strenge angewiesen, sich stets höflich und zuvorkommend gegen Jedermann zu betragen.<br />

- Allen und besonders Damen, Kindern und ältlichen Leuten beim Ein- und<br />

Aussteigen behülflich zu sein. Etwaige Contraventionen derselben oder sotistige Beschwerden<br />

bitten wir mit der Adresse des Beschwerdeführers in das zu diesem Zwecke<br />

bei den Inspektoren an den resp. Endpunkten jeder Linie niedergelegte Buch einzutragen,<br />

worauf erforderlichen Falls sogleich Genugthuung erfolgen wird."<br />

In ihrer Ausführlichkeit bietet diese Anzeige eine anschauliche Darstellung des frühen<br />

Berliner Omnibuswesens. Zur Erläuterung sei hinzugefügt, daß der „Condukteur" unserem<br />

heutigen „Schaffner" entsprach. Unter den in Aussicht gestellten „Correspondenzfahrten"<br />

verstand man damals Fahrten, bei denen man mit einem Umsteigefahrschein<br />

vom Wagen der einen auf den einer anderen übergehen konnte. Dergleichen „Correspondenzeinrichtungen",<br />

wie sie hier angedeutet wurden, wurden des öfteren erörtert,<br />

aber erst in den Jahren 1865-67 vorübergehend eingeführt und dann wieder aufgegeben.<br />

Die Kennzeichnung der einzelnen Linien durch verschiedenfarbige Schilder und farbige<br />

Gläser vor den Laternen in den Abendstunden waren bei den Pferdeomnibussen Berlins<br />

wenigstens seit 1866 üblich, und auch die Pferdebahnen haben später dieses Orientierungssystem<br />

farbiger Schilder und Lampen übernommen. Die Kenntlichmachung einer<br />

42


Linie durch einheitlichen Anstrich der auf ihr eingesetzten Fahrzeuge ist eine frühe<br />

Variante, die in einigen anderen Städten Parallelen hatte.<br />

Das Endziel der Linie, das „Odeum", war eines der besuchtesten Ausflugs- und Vergnügungslokale<br />

am Südrande des Tiergartens, das sich von der Tiergartenstraße bis<br />

zum Schaf- oder Landwehrgraben, aus dem bald der Landwehrkanal hervorgehen sollte,<br />

erstreckte. Es hatte ein eigenes „Gashaus", dessen Einrichtung 200 „Flammen" versorgte,<br />

und lag zwischen der nachmaligen Hildebrand- und Graf-Spee-Straße. Im Laufe des<br />

Frühjahres 1847 wurde die Linie um etwa 500 Meter bis zum „Hofjäger"-Etablissement,<br />

einem ebenfalls stark besuchten Ausflugs- und Konzertlokal, verlängert, das an<br />

der Ecke Klingelhöfer- und Tiergartenstraße gestanden hat. Mit dieser Tiergartenlinie,<br />

die den Ausflugsverkehr zu den zahlreichen Ausflugs- und Tanzlokalen am Rande des<br />

Tiergartens erleichterte, wurde auch der 1844 neu angelegte Zoologische Garten, dessen<br />

Eingang sich damals südlich der früheren Lichtensteinbrücke befand, einigermaßen verkehrsgünstig<br />

erschlossen. Vom „Hof jäger" bis zum Zoo-Eingang hatten die Besucher nun<br />

nur noch etwa 800 m Fußweg zurückzulegen, und der Vorstand des Zoologischen Gartens<br />

bemerkt denn auch in einer am 3. Mai 1847 veröffentlichten Anzeige: „Der Besuch des<br />

Gartens hat durch neue Mittel des Verkehrs mancherlei Erleichterungen erfahren."<br />

Wie sehr die Frequenz der Linie vom Ausflugsverkehr zum Tiergarten abhängig war,<br />

beweist auch, daß mit Eintritt der kälteren Jahreszeit der Endpunkt wieder zum<br />

„Odeum" zurückgenommen wurde. Aber auch im Winter wurde der Omnibus zum<br />

Zwecke der Erholung und des „Vergnügens", wie man damals sagte, benutzt, und so<br />

teilte die „Vossische Zeitung" am 25. Januar 1847 mit, daß zu den Eisbahnen auf den<br />

Teichen im Zoo und auf dem Landwehrgraben die Omnibusse „bequeme Communicationsmittel"<br />

bildeten.<br />

Am 27. März 1847 brachte die Zeitung folgende Notiz:<br />

„Mit dem 1. April c. wird nunmehr die zweite Fahrlinie für die Omnibus eröffnet<br />

werden. Dieselbe wird von der Brückenstraße ausgehen, die Stralauer, Gertrauten und<br />

Leipziger Straße berühren und am Bahnhof der Berlin-Magdeburger Eisenbahn enden."<br />

Von dieser Linie, die in ihrer Führung zum großen Teil der einer 1846 geplanten entsprach,<br />

ist dann nicht mehr die Rede; am 22. Mai veröffentlichte die „Concessionirte<br />

Berliner Omnibus-Compagnie" nachstehende Anzeige:<br />

„Mit Bewilligung der Behörde wird unsere zweite Omnibus-Linie vom 22. d. Mts. an in<br />

Alt-Schöneberg bei Herrn Hunkel im Gasthof zum Schwarzen Adler beginnen und am<br />

Spittelmarkt endigen, von welcher Änderung wir das geehrte Publikum in Kenntnis<br />

setzen."<br />

Vom 24. Juni an fuhren die Wagen dieser „zweiten Linie" vom Molkenmarkt ab nach<br />

Schöneberg, aber diese Erweiterung mag nicht lange bestanden haben, da Ende September<br />

als Endpunkt wieder der Spittelmarkt genannt wird. Zusammenhänge zu konstruieren,<br />

wo die Beweislage dürftig bleibt, ist immer mißlich, aber auffällig wirkt doch, daß<br />

die Linie nur wenige Tage nach der Eröffnung des neuerbauten Schöneberger Sommertheaters<br />

im „Schwarzen Adler" nach Schöneberg verlegt wurde. Schöneberg war zu<br />

jener Zeit noch Sommerfrische für die Berliner Familien, die hier „Sommerwohnungen"<br />

mieteten. Die Frequenz des sommerlichen Ausflugs- und Erholungsverkehrs konnte<br />

durchaus Verstärkung finden durch die Besucher des Schöneberger Sommertheaters, das<br />

Lustspiele, Possen, Schwanke, Vaudeville-Szenen usw. bot. Auch diese Linie wurde am<br />

1. Oktober verkürzt, sie verkehrte nun nur noch zwischen Spittelmarkt und dem Karls-<br />

n


ad Ecke Potsdamer Straße. Da diese Linie einmal als die „rote" bezeichnet wird, darf<br />

man annehmen, daß die auf ihr fahrenden Wagen roten Anstrich hatten. Die Fahrabstände<br />

auf den beiden hier genannte Linien müssen übrigens Änderungen erlitten<br />

haben, denn die „Omnibus-Compagnie" machte am 1. September dem „verehrlichen<br />

Publikum die ergebene Anzeige, daß . .. unsere Wagen nach dem Hofjäger und nach<br />

Schöneberg wieder alle 15 Minuten von einem Endpunkt zum andern abgehen werden".<br />

Die dritte Linie, Unter den Linden, Akademie-Gebäude—Charlottenburg wurde am<br />

1. Mai 1847 in Betrieb genommen. Die Fuhrherren, die Jahrzehnte hindurch unangefochten<br />

den nicht unbeträchtlichen Ausflugs- und Vergnügungsverkehr zwischen Berlin<br />

und Charlottenburg mit ihren am Brandenburger Tor aufgestellten Torwagen und<br />

Kremsern bedient hatten, erblickten in dem neu hinzukommenden Omnibus eine unliebsame<br />

Konkurrenz und führten beim Ministerium Beschwerde über den unangenehmen<br />

Wettbewerber. Das Polizei-Präsidium mußte daraufhin „den öffentlichen Thorfuhrwerken<br />

und Kremserwagen" am 31. Juli gestatten, so wie die Omnibusse unterwegs anzuhalten,<br />

um „Personen, welche die Mitfahrt begehren, gegen das tarifmäßige Fahrgeld<br />

aufzunehmen, sofern das Fuhrwerk noch nicht mit der vorgeschriebenen Personenzahl<br />

besetzt ist". Nach einer Anzeige der „Omnibus-Compagnie" vom 20. September 1847<br />

betrug der Fahrpreis für die Charlottenburger Linie „unverändert 3 Silbergroschen",<br />

die Linie endete in Charlottenburg zu diesem Zeitpunkt „beim Enkesdien Cafe-Hause".<br />

Eine besondere Farbe wird für diese Linie nicht mehr erwähnt, genausowenig für die<br />

vierte, am 9. Oktober eröffnete Linie. Die „Omnibus-Compagnie" benachrichtigte das<br />

Publikum,<br />

„daß die vierte Omnibus-Linie zwischen dem Halleschen Thor und der Chausseestraße<br />

bis zum Liesenschen Etablissement am künftigen Sonnabend Morgens 8 Uhr eröffnet<br />

und viertelstündlich bis Abends 9 Uhr befahren wird. Der Preis beträgt für die Person<br />

und den Cours 2 Sgr."<br />

Diese Linie, die im Zuge der Friedrich- und Chausseestraße Berlin von Süden nach Norden<br />

durchschnitt, hat, mit zeitweiligen Verlängerungen bis zum Kreuzberg und bis zum<br />

Wedding hin und späteren Verkürzungen wieder zu den alten Endpunkten, Jahrzehnte<br />

hindurch bestanden. Auch in ihrem Bereich lagen viel besuchte Gartenlokale, so im Norden<br />

das Liesensche, an dessen einstige Lage die Liesenstraße erinnert, während südlich<br />

des Halleschen Tores am Kreuzberg das berühmte „Tivoli" mit seiner Rutschbahn und<br />

den großen Feuerwerken Hauptanziehungspunkt war. Auf der Linie Hallesches Tor-<br />

Chausseestraße Ecke Liesenstraße wurden übrigens am 19. November 1905 die ersten<br />

Autobusse eingesetzt.<br />

Von einer fünften Linie, die das Polizeipräsidium 1846 Dr. Freyberg konzessioniert<br />

hatte und die vom Anhalter Bahnhof über den Hackeschen Markt nach dem Schönhauser<br />

Tor führen sollte, verlautet nichts in der Zeitung. In den Statistiken, die Dieterici mitteilt,<br />

ist allerdings in den Jahren 1848 und 1849 die Zahl von 5 Linien aufgeführt. Erst<br />

im Jahre 1850 ist diese Linie belegt, sie sollte vom 1. Mai ab vom Anhalter Tor über<br />

den Schloßplatz und durch die Schönhauser Allee bis nach Pankow geführt werden. In<br />

dem Löwenbergsdien Führer „Der Fremde in Berlin und Potsdam" vom gleichen Jahre<br />

endete die Linie allerdings bereits am Oest'sdien Lokal in der Sdiönhauser Allee, das<br />

in der Gegend südlich des heutigen Ringbahnhofes gelegen hat. Auch diese Linie brachte<br />

einige größere, beliebte volkstümliche Garten- und Tanzlokale den Berliner Besuchern<br />

näher.<br />

44


Die Vossische Zeitung bringt dann noch einige Nachrichten über den Gründer der „Concessionirten<br />

Berliner Omnibus-Compagnie", Dr. phil. Eduard Freyberg; Ende 1847 hatte<br />

sich dieser in das Ausland abgesetzt, es wurde nach ihm gefahndet; die Zeitung vermutete,<br />

daß sich die Anschuldigungen gegen Freyberg „auf die finanziellen Verhältnisse des<br />

Omnibus-Fuhrwesens" bezögen. Tatsächlich teilten zwei Condukteure in einer längeren<br />

Anzeige vom 29. Januar 1848 dem Polizeipräsidium mit, daß nach Angaben des Mitgesellschafters<br />

Elwanger Dr. Freyberg ihre Kautionen aus der Geschäftskasse entnommen<br />

und nicht wieder zurückgegeben habe. In damaliger Zeit mußten die Schaffner beim<br />

Dienstantritt dem Unternehmer eine Kaution hinterlegen, aus der dieser sich befriedigen<br />

konnte, wenn der Schaffner bei Fahrgeldunterschlagungen, die bei dem Fehlen von Kontrollmöglichkeiten<br />

- es wurden z. B. keine Fahrscheine ausgegeben - immerhin möglich<br />

waren, ertappt wurde. Im Februar 1848 kehrte Freyberg nach Berlin zurück und stellte<br />

sich dem Polizeipräsidenten, er wurde Anfang März aber aus der Hausvogtei entlassen,<br />

da sich die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen als unbegründet erwiesen hätten.<br />

Wenige Tage später begann die Revolution in Berlin; in diesen erregten, die Bevölkerung<br />

aufwühlenden Zeiten mit ihren Straßenkämpfen, Demonstrationen, Versammlungen<br />

usw. hatten die Zeitungen wahrlich über andere Themen als über Omnibuslinien zu<br />

berichten. Aus anderen Quellen wissen wir, daß damals Omnibuswagen umgestürzt und<br />

mit zum Bau von Barrikaden verwendet wurden. Die ideologischen Auseinandersetzungen<br />

von einer zuvor nie gekannten Schärfe und Aggressivität waren der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung eines Verkehrsinstituts, das seine Haupteinkünfte dem Ausflugs- und Vergnügungsverkehr<br />

zu Gartenrestaurants in der Umgebung und die übrigen Einnahmen<br />

einem bescheidenen Besorgungs- und Besuchsverkehr verdankte, nicht gerade günstig.<br />

Erschwerend kamen hinzu die Beschädigung oder Zerstörung eines Teils der Betriebsmittel<br />

und die wohl doch unzulängliche Geschäftsführung Freybergs. Seine Gründung ging<br />

unter. Nach Dieterici „wurde das vorhandene Inventar von einem der früheren Gesellschafter,<br />

auf den die Concession sich mit bezog, aus der Concursmasse erworben". Der<br />

Erwerber war der „Amtmann" C. L. Elwanger (diese Berufsbezeichnung hatten Landwirte,<br />

die größere Flächen, meist pachtweise, bewirtschafteten), der zum ersten Male in<br />

einer Anzeige vom Oktober 1847 als Mitgesellschafter der Freybergschen „Omnibus-<br />

Compagnie" in Erscheinung trat.<br />

Nach dem „Wohnungsanzeiger für Berlin" von 1850 war Elwanger am 1. April nach<br />

dem Hause Dorotheenstraße 12, in dem sich auch das Büro der „Berliner Omnibus-<br />

Compagnie" befunden hatte, gezogen. In den Wohnungsanzeigern für die Jahre 1850<br />

und 1851 ist die „Omnibus-Compagnie" unter ihrer alten Adresse noch angeführt, danach<br />

wird sie nicht mehr erwähnt. Elwanger wird seit dem Wohnungsanzeiger für 1851<br />

als „Amtmann und Omnibusbesitzer" aufgeführt; im Branchenteil dieses Adreßbuches ist<br />

er später auch unter den Fuhrunternehmern mit dem Zusatz „(Omnibus)" verzeichnet.<br />

Die Stallungen des verunglückten Freybergschen Unternehmens hatten sich von dem<br />

Grundstück Dorotheenstraße 12, das auf deren Nordseite gegenüber der Einmündung<br />

der Charlottenstraße lag, bis zur Georgenstraße 32 hin erstreckt. Dieses nunmehr Elwangersche<br />

Omnibusdepot wurde noch von der 1865 begründeten „Berliner Omnibus-<br />

Gesellschaft, Kommandit-Gesellschaft auf Aktien G. Busch und S. Rosenberg" für ihren<br />

Verkehr benutzt.<br />

In welchem Umfange Elwanger 1848/49 den Betrieb durchzuführen in der Lage war,<br />

ist nicht bekannt; nach der Statistik war die Zahl der Fahrzeuge, die ursprünglich 20<br />

n


etragen hatte, 1849 auf 14 zurückgegangen. Daß das Elwangersche Unternehmen nur<br />

in einem beschränkten Umfange weitergeführt werden konnte, ergibt sich u. a. aus<br />

einer Anzeige vom 9. Januar 1850:<br />

„Omnibusfahrten, Oranienburger - Hallesches Thor (Friedrichstraße). Vom 14. d. M.<br />

von Morgens 9 Uhr bis Abends 8 Uhr stündlich. Abfahrt Unter den Linden C?VL> Morgens,<br />

Ende 8 , /2 Uhr Abends."<br />

Mit der Beruhigung des politischen Lebens und der Rückkehr geordneter Verhältnisse<br />

erholte sich auch das Berliner Omnibuswesen wieder. Auf der Omnibuslinie vom Oranienburger<br />

zum Halleschen Tor wurde der Verkehr vom 1. März 1850 ab im 30-Minuten-Abstand<br />

und, wie es scheint, auf der erweiterten Strecke von Liesens Lokal an der<br />

Chausseestraße bis zum „Düsteren Keller" an der Bergmannstraße aufgenommen. Im<br />

Laufe des Jahres kamen dann wieder alle bereits von Freyberg betriebenen Linien sowie<br />

die erwähnte fünfte vom Anhalter Tor bis zur Schönhauser Allee in Gang; dazu trat im<br />

Mai noch eine sechste vom Lustgarten über das Neue Tor nach Moabit. Von nun an<br />

setzte zwar langsam, aber doch stetig eine gedeihlichere Entwicklung im Berliner Omnibusverkehr<br />

ein; die Zahl der Unternehmen, der Linien und der Fahrzeuge nahm allmählich<br />

zu.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 31, Joachim-Friedrich-Straße 2<br />

Zum Gedenken an die Berliner Schauspielerin Jeannette Bethge<br />

(1875-1943)<br />

Von Käte Funk-Bonardel<br />

Aimee Jeannette Bethge entstammte mütterlicherseits einer alten Berliner Theaterfamilie.<br />

Ihre Großmutter Henriette Lachmann, aus Bromberg gebürtig, war Sängerin und Schauspielerin;<br />

im Jahre 1837 heiratete sie während einer Tournee in Posen den Berliner<br />

Schauspieler Adolph Bethge (* 1810), dessen Vater auch schon 36 Jahre lang Theater gespielt<br />

hatte.<br />

Das erste Kind aus dieser Ehe war Jeannette Bertha, die Mutter Aimee Jeannettes. Sie<br />

wurde durch Vater Adolph schon als Kind ausgebildet und auf die Bühne der „Königlichen<br />

Schauspiele" gestellt - was den Intendanten Graf von Hülsen nachhaltig verdroß,<br />

denn nach ihr erklommen noch weitere drei kindliche Geschwister Bethge, von Adolph<br />

gestützt und geschoben, die geheiligten Bretter.<br />

Aimee Jeannette wurde am 24. April 1875 als drittes und letztes Kind der seit vier<br />

Jahren verwitweten Jeannette Bertha geboren. Diese war mit dem Hugenottenenkel<br />

Carl Eduard Bonardel (1807-1871) verheiratet gewesen, der sich, als Sohn eines Drechslermeisters,<br />

vom Uhrmacherlehrling zum Fabrikbesitzer emporgearbeitet hatte. Nach<br />

seinem Tode war sie eng befreundet mit dem Rittergutsbesitzer und vereideten Fondsmakler<br />

Jean Guillaume Bertrand (* 1836), der Jeannettes Vater wurde. Auch Bertrand<br />

gehörte der Berliner französischen Kolonie an; seine Vorfahren, überwiegend Kaufleute,<br />

zählten zu den Honoratioren in der preußischen Metropole und seinen Großvater Jean<br />

U


Jeannette Bethge<br />

(1754-1822) finden wir sogar als Direktor des französischen Waisenhauses in der Charlotten-,<br />

Ecke Jägerstraße. Bertrand blieb Jeannettes Vormund, bis sie, fünfzehnjährig,<br />

von ihrem Onkel, dem Königlichen Garten-Intendantur-Sekretär Alexander Bethge in<br />

Sanssouci adoptiert wurde.<br />

Wahrscheinlich entdeckte man um diese Zeit ihre Begabung und wollte dem alten Theaternamen<br />

Bethge zu frischem Glanz verhelfen. Dies gelang über Erwarten gut. In jungen<br />

Jahren spielte Jeannette in jenen Gegenden und Städten, die man als „Provinz" zu bezeichnen<br />

pflegt. Sie war in Bremen, Breslau, Görlitz, Bromberg, Hannover und Wiesbaden<br />

engagiert. Seit 1911 lebte sie in Berlin-Steglitz. Mit nur kurzen Unterbrechungen<br />

war sie daraufhin an verschiedenen Berliner Theatern beschäftigt; dazu gehörten in<br />

erster Linie Schiller- und Schloßpark-Theater, Deutsches Theater, Volksbühne, Central-<br />

Theater, Theater in der Klosterstraße, Thalia-Theater, Wallner-Theater, Renaissance-<br />

Theater, die Kammerspiele des Deutschen Theaters und gelegentlich die Freie Volksbühne<br />

in Oranienburg.<br />

Sie hatte Engagements bei Max Reinhardt und Heinz Hilpert und lernte zum Schluß<br />

auch den damals jungen Boleslaw Barlog kennen, der sich noch „liebevoll an sein Jeannettchen"<br />

erinnert. Zur Weihnachtszeit wurde sie begeistert als „Märchentante" begrüßt<br />

von einem Haus voll kleiner und großer Kinder, und schließlich war sie eine erfolgreiche<br />

„komische Alte" in vielen Variationen. Sie schien auf dieses Rollenfach festgelegt, profitierte<br />

aber auch gleichzeitig von dieser Art Monopolstellung, denn irgendeine Inszenierung<br />

an einer der vielen Bühnen Berlins verlangte bestimmt jederzeit nach ihrem Typ.<br />

Nur so ist ihr häufiger Engagementswechsel von Spielzeit zu Spielzeit zu erklären, der<br />

97


gewiß nichts mit Unstetigkeit zu tun hat. Ober ihre Leistungen, ihre Qualitäten wissen<br />

wir leider nichts Näheres, daß sie aber - auf ihre Weise - Erfolg hatte, ist anzunehmen,<br />

wenngleich sie keine „große" Schauspielerin im herkömmlichen Sinn war.<br />

Persönliche Erinnerungen sowie die zielsichere Überlieferung der Episoden lassen uns<br />

jedoch das Bild plastischer erscheinen. So gehörte Jeannette unter anderem auch zum Ensemble<br />

der Agnes Straub, das mit dem äußerst zugkräftigen Stück „Die Schauspielerin"<br />

auf Tournee ging. Die Straub - enorm kurzsichtig - fuhr, um einem Lastwagen auszuweichen,<br />

direkt in ein Scheunentor hinein. (Wenn ich mich richtig erinnere, stand sie<br />

später mit einem eingegipsten Arm wieder in Berlin auf der Bühne.) Kurt von Ruffin,<br />

damals einer von Jeannettes jüngsten Kollegen, erzählte mir sehr anschaulich, wie Jeannette<br />

gefaßt und kaltblütig - ihr war nichts passiert - sofort ausstieg und die Leichtverletzten<br />

umhertrieb, damit sie durch Bewegung den Schock überwänden; auch labte sie<br />

alle Betroffenen mit Cognac, „um die Wunden zu spülen".<br />

Auch Film und Tonfilm holten sich Jeannette Bethge; sie spielte in „Sophienlund", in<br />

„Das Mädchen vom Moorhof", in „Johannisfeuer" (nach Hermann Sudermann) als „betuliche<br />

Mamsell" und im „Veilchen vom Potsdamer Platz" mit Rotraut Richter in der<br />

Hauptrolle. Die so jung Verstorbene wohnte Jeannette gegenüber in der damaligen Lindenstraße<br />

(heute Leydenallee) in Steglitz und kam manchmal zu einer Plauder- oder<br />

Unterrichtsstunde.<br />

Privat war Jeannette Bethge eine herzensgute, mütterliche und humorvolle Frau, bescheiden<br />

und resolut zugleich, die unverheiratet blieb. Sie teilte ihr ganzes Leben (soweit<br />

es nicht vom Theater beherrscht wurde), ihre Wohnung und auch ihre Gagen mit zahlreichen<br />

Verwandten und wurde von der ganzen Familie geliebt und bewundert. Sie<br />

machte jeden Jux mit und ließ uns freigebig in ihrem „Schrankzimmer" wühlen, wenn<br />

wir für unsere Theaterspielereien Garderobe brauchten. Zu Familienfesten, Hochzeiten<br />

usw. studierte sie mit uns kleine Sketches und Szenen und machte das so temperamentvoll,<br />

daß ein Besucher schon auf dem ziegelgepflasterten Hofgang mit den Quittenbäumen<br />

auf den Zehenspitzen umkehrte ohne zu klingeln, um dem vermeintlichen Familienkrach<br />

auszuweichen.<br />

Solches widerfuhr zweifellos einem unangemeldeten Besuch, denn während ihrer offiziellen<br />

Kaffeegesellschaften fanden keine Familien-Theaterproben statt. An diesen gemütlichen<br />

Nachmittagen saßen mehr oder minder illustre Gäste am schöngedeckten Tisch:<br />

adlige Kolleginnen - vermutlich Außenseiter ihrer Familien - mit rollendem Zungen-R<br />

und Königin-Mutter-Allüren, alte Theaterhasen, die ihr mit pathetischer Grandezza die<br />

Hand küßten, sowie alle möglichen Leute, die nicht mehr oder noch nicht ganz dazugehörten.<br />

Während der ersten Hitlerjahre wurden an „Muhmes" Kaffeetafel neben Bühnenanekdoten<br />

auch jüdische Witze zum besten gegeben; dann wurden einige der Kollegen stiller<br />

und kamen seltener, und wenn es ihnen nicht gelang, nichtarische Ahnen unter den Tisch<br />

fallen zu lassen, hörte man eines Tages nichts mehr von ihnen. Jeannette brauchte nur<br />

ihre Großmutter Lachmann zu verschweigen. Sie erboste sich über das Regime und war<br />

tief bekümmert über das vielfältige Leid ihrer Freunde und Kollegen. Sie half mit Rat<br />

und Tat, wo sie nur konnte.<br />

So gewissenhaft und zuverlässig Jeannette ihre kleinen und größeren Rollen mit ihrer<br />

Persönlichkeit füllte, so charmant und liebenswürdig sie bei Tisch präsidierte, so unpraktisch<br />

und nervös war sie bei alltäglichen Verrichtungen, obwohl sie wunderbar zu kochen<br />

9(8


und zu backen verstand. Was für ein Durcheinander noch eine halbe Stunde vor der<br />

Ankunft von Gästen im Hause Bethge geherrscht hatte, ahnte keiner von ihnen; die<br />

jährliche Steuererklärung oder der Abschluß einer Lebensversicherung versetzten sie in<br />

Panik. Solange er lebte, erledigte ihr Bruder Fritz Bonardel die geschäftlichen Dinge, und<br />

die Aufräumungsarbeiten wurden von den Nichten übernommen.<br />

Daß ihr Heim mit all den schönen Erbstücken einer Brandbombe zum Opfer fiel, hat sie<br />

nicht mehr erlebt. Um ihre beruflichen Pflichten erfüllen zu können, vernachlässigte und<br />

verschwieg sie ein inneres Leiden. Sie starb nach einer Operation am 19. Februar 1943.<br />

Bei der Trauerfeier sprach Ernst Karchow vom Deutschen Theater, schmerzlich erschüttert<br />

wie wir alle, während seiner Rede die Worte: „Ganz gleich, ob man Dir eine große<br />

oder kleinere Aufgabe anvertraute, immer fülltest Du den Platz, auf den man Dich<br />

stellte, mit all Deinem Können und mit größter Gewissenhaftigkeit restlos aus. Du warst<br />

ein Mensch, auf den man sich immer verlassen konnte."<br />

Etwas Schöneres kann auch ich im 100. Geburtsjahr meiner Tante Jeannette Bethge nicht<br />

zu ihrem Gedenken sagen.<br />

Quellenhinweise:<br />

Neben privaten Unterlagen der Familien Bonardel und Bethge wurden herangezogen: Nachrichten<br />

des Familienverbandes der Betge-Betke, hrsg. im Auftrage des Familienverbandes von Christian<br />

Bethge, Berlin 1938-1942; Edouard Muret, Geschichte der Französischen Kolonie in Brandenburg-Preußen,<br />

Berlin 1885; Richard Beringuier, Die Stammbäume der Mitglieder der Französischen<br />

Colonie in Berlin, Berlin 1887; Deutsches Bühnen-Jahrbuch, Jg. 1902-1943. Bei der Auswertung<br />

der Quellen und mit Hinweisen waren mir die Herren Dr. Peter Letkemann und Rainer<br />

Theobald behilflich.<br />

Nachrichten<br />

Studienfahrt nach Hann. Münden<br />

Anschrift der Verfasserin: 78 Freiburg, Beichenstraße 34<br />

Wieder war es ein zweistöckiger Omnibus, der am frühen Morgen des 5. September 1975 rund<br />

70 Reisende zur Exkursion nach Hann. Münden aufnehmen mußte. Erste Station war das<br />

Göttinger Brauhaus, in dem Dipl.-Braumeister Robert Stolle die interessierten Teilnehmer mit<br />

den Einrichtungen des Betriebes und mit der Bierbereitung vertraut machte. Ein anschließender<br />

Imbiß zum vortrefflichen Göttinger Bier im „Deutschen Garten" wurde von Dr. H. G. Schultze-<br />

Berndt mit Ausführungen zur Geschichte dieser von der Rechtsform her einzigartigen früher<br />

Städtischen Brauerei zu Göttingen gewürzt.<br />

Am Sonnabend, 6. September 1975, hielt zunächst Ortsheimatpfleger Dr. Karl Brethauer einen<br />

einführenden Vortrag in die wechselvolle Geschichte Mündens, die durch die Ergebnisse der<br />

neueren Grabungen in St. Blasii an Alter und Bedeutung gewonnen hat. Ihm folgte Stadtbildpfleger<br />

Heinz Härtung, der die Fachwerkstadt Münden und das Problem der Sanierung in den<br />

Vordergrund seiner Betrachtungen stellte. Mit vielen gutgewählten Diapositiven vermochte er<br />

aufzuzeigen, wie Münden aus dem Aschenputteldasein einer grauen Kleinstadt zu neuem Leben<br />

seiner mehr als 400 Fachwerkbauten erwacht ist, von denen rund 200 sich schon in alter Pracht<br />

offenbaren. Auch der anschließende Rundgang mit den beiden kundigen Herren verstärkte den<br />

Eindruck, als handle es sich bei Hann. Münden nicht nur um den Glücksfall einer landschaftlidi<br />

überaus bevorzugt gelegenen Stadt, die überdies noch weitgehend vom Zweiten Weltkrieg verschont<br />

geblieben ist, sondern auch um ein Exempel von Bürgersinn und Bürgermut, den man<br />

manch anderer Stadt gern wünschte. Nachdem Bürgermeister Gustav Henkelmann im Rathaus<br />

noch freundliche Worte der Begrüßung an seine Berliner Gäste gerichtet und im „Schmucken<br />

Jäger" das gemeinsame Mittagessen die Glieder gestärkt hatte, war Dr. K. Brethauer auch<br />

liebenswürdiger Cicerone beim anschließenden Besuch des Klosters Bursfelde und der romanischen<br />

Klosterkirche Lippoldsberg. Galt dabei in Bursfelde das Interesse der kirchenpolitischen Bedeutung<br />

des Klosters, wie sie in der Bursfelder Kongregation heute noch zum Ausdruck kommt,<br />

99


so berührte der Besuch Lippoldsbergs und seiner stilrein erhaltenen romanischen Kirche auch<br />

die literarisch kundigen Reisegefährten (Hans Grimm).<br />

Am Sonntag, 7. September 1975, bot die Sababurg, das Dornröschenschloß der Brüder Grimm<br />

bei freundlichstem Wetter einen angenehmen Anblick und Ausblick. Ein Spaziergang führte<br />

durch den eigenartigen Urwaldteil des Reinhardswaldes, bevor im Burghotel Trendelburg in<br />

gepflegter Atmosphäre das Mittagessen eingenommen wurde. Baron von Stockhausen, Burgherr<br />

und Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Gast im Schloß", steuerte interessante Beiträge zur Historie<br />

seines Hauses und der Trendelburg bei und vermochte auch für die Probleme zu erwärmen, die<br />

der Besitz eines solchen Erbes mit sich bringt. Daß er auf die den privaten Eigentümern zugewandte<br />

Denkmalpflege des Landes Hessen ebenso wie später Graf Berlepsch nicht gut zu<br />

sprechen war, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Im Europäischen Brotmuseum in Mollenfelde<br />

erwartete dessen Gründer und Direktor Otto A. Kunkel seine Berliner Landsleute. 1928<br />

hatte der Bäckerlehrling Kunkel in Berlin mit dem Sammeln begonnen, 40 Jahre später mußte<br />

der Bäckermeister Kunkel mit mehr als 1600 Stücken seine Heimatstadt verlassen, weil sie ihm<br />

kein geeignetes Domizil bieten konnte. In ein ausgedientes Forsthaus hat er nun seine Sammlung<br />

eingebracht und sein Vermögen dafür geopfert. Der Besuch zeigte den Gästen, wie vielfältig das<br />

Brot das Leben des Menschen bestimmt und wie es im Brauchtum und Kunst seine Spuren hinterlassen<br />

hat. Abschluß der Studienfahrt war eine gemeinsame Kaffeetafel auf Schloß Berlepsch,<br />

in deren Verlauf Hubertus Graf Berlepsch seine geistreichen und vielfach selbstironischen Betrachtungen<br />

über das Geschlecht und das Schloß Berlepsch stellte. Der Schlußpunkt geriet auf diese<br />

Weise unverhofft zum Höhepunkt der Exkursion, und in Dankbarkeit und mit reichem Gewinn<br />

schieden die Reisenden aus dem gastlichen Land.<br />

Für 1976 ist der westliche Teil des Eichsfeldes mit Duderstadt als Reiseziel vorgesehen.<br />

H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Die Arbeitsgruppe Berliner Architekturmaler stellt ab 17. Oktober „Skizzen aus dem Berliner<br />

Straßenbild" aus und wird Weihnachten wieder im Schloß Glienicke vertreten sein. Zu dieser<br />

Zeit gibt sie die erste von Günter Wollschlaegcr kunst- und kulturgeschichtlich erläuterte Mappe<br />

„Schlösser und Gärten in West-Berlin" ihres großen Berlin-Werkes heraus.<br />

Von unseren Mitgliedern<br />

Der niedersächsische Ministerpräsident Alfred Kübel hat in seiner Eigenschaft als Bundesratspräsident<br />

in Vertretung des Bundespräsidenten unserem Mitglied Klaus Schütz, Regierender<br />

Bürgermeister von Berlin, am 26. August 1975 das Große Verdienstkreuz des Bundesverdienstordens<br />

mit Stern und Schulterband überreicht.<br />

*<br />

Unser Mitglied Franz Berndal, der schon im vorigen Jahr beim Senioren-Wettbewerb des Bezirksamtes<br />

Wilmersdorf für Lyrik - Geschichten - Fotos den zweiten Preis für ein humoristisches<br />

Gedicht erhalten hatte, wurde am 27. Juni von Stadtrat Wuttke in Gestalt einer Urkunde<br />

mit dem ersten Preis für das beste eingesandte Gedicht ausgezeichnet. Eine Kurzreise nach<br />

freier Wahl war der Lohn für das Schaffen Berndais.<br />

*<br />

Vorstandsmitglied Landeskonservator Dr. Helmut Engel wurde vom Fachbereich 02 der Technischen<br />

Universität Berlin (Gesellschafts- und Planungswissenschaften) zum Honorarprofessor<br />

ernannt.<br />

*<br />

Der Freie Deutsche Autorenverband wählte unser Mitglied Dr. med. Klaus-Peter Schulz, MdB,<br />

zum 1. Vorsitzenden ihrer Berliner Sektion.<br />

*<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Herrn Alfred Klatt, Herrn Johannes Mathes, Frau Ursula Winther; zum<br />

75. Geburtstag Frau Frieda Heyn, Herrn Fritz Max Tühke; zum 85. Geburtstag Herrn Alexander<br />

Fiedler.<br />

100


Buchbesprechungen<br />

Berlin 1974. Das Jahr im Rückspiegel. Redaktion: Rainer Wagner u.a. Berlin: Ullstein 1974.<br />

224 S. mit Abb. u. Zeichn., lamin. Pappbd. 15,80 DM.<br />

Die Palette der bunten Berlin-Bücher, bisher an Farbenreichtum nicht mangelnd, ist um eine<br />

Nuance reicher geworden. „Das Jahr im Rückspiegel" ist eine verfeinerte Ausgabe jener illustrierten<br />

Retrospektiven, die am Jahresende den Zeitungen beigelegt und mit diesen zusammen nach<br />

der Lektüre sehr rasch den Weg alles Irdischen gehen - denn nichts ist bekanntlich so alt wie die<br />

Zeitung von gestern. Ohne sich deshalb die Frage vorzulegen, ob überhaupt ein Bedürfnis nach<br />

einer solchen Veröffentlichung bestand, hat sich ein vierköpfiges Redaktionskollegium des Ullstein-Verlages<br />

unter Zuarbeit von 34 Autoren daran gemacht, diesem Jahresüberblick eine äußerlich<br />

dauerhafte Form zu geben, ohne freilich mehr zu bringen als einen konventionellen Streifzug<br />

durch die Berliner Schlagzeilen vom November 1973 bis Oktober 1974.<br />

Sie kommentieren die großen und kleinen Vorkommnisse, die sich zwischen den beiden „globalen"<br />

Sensationen von 1974, der Energiekrise und der Fußballweltmeisterschaft, auf unserem Terrain<br />

zugetragen haben. Da werden Routineveranstaltungen - etwa die Messen, Ausstellungen, Karneval,<br />

Sport - mit ihren Neuheiten vorgestellt oder besondere Aktualitäten dieses Jahres, wie der<br />

Gebietsaustausch mit Ost-Berlin, der ÖTV-Streik, die Fertigstellung des Flughafens Tegel, angesprochen.<br />

Der Gang über die Trödelmärkte fehlt ebensowenig wie ein Besuch beim Bundeskartellamt<br />

oder beim Schöneberger Rathaus-Geburtstag. Die „Affären" des Jahres '74 - Steglitzer<br />

Kreisel, Kongreßzentrum - müssen sich scharfzüngige Kommentare gefallen lassen, ebenso wie<br />

der völlig verregnete Sommer: die Gewichte werden gleichmäßig verteilt. Die Geschichte des<br />

Bildes vom Kriegsausbruch 1914, das damals als Dokument der deutschen Kriegsbegeisterung in<br />

die Welt ging, ist dagegen ein Treffer, den man in diesem Buch nicht vermutet.<br />

Das Ganze wird in lockerer, journalistischer Manier dargeboten, manchmal etwas zu lässig und<br />

von stilistischer Sorglosigkeit. Die Bearbeiter gingen wohl davon aus, daß es für Bücher dieser<br />

Art kein Muster und kein verpflichtendes Schema gebe, daß man also zunächst munter drauflos<br />

schreiben könne. Das geht auch in Ordnung, solange es nicht zu sprachlichem Wildwuchs (wie an<br />

einigen Stellen zu bemerken) oder zu recht nichtssagenden Passagen, wie z.B. den „Jugend"-<br />

Abschnitt S. 88 ff., führt. Manches aus den Texten sollte dort bleiben, wo es auch in der aktuellen<br />

Presse zu finden ist: unterm Strich. Die Abbildungen fügen sich nahtlos in die Beiträge ein;<br />

ihr dokumentarischer Wert ist je nach der Thematik des begleitenden Textes unterschiedlich. Hier<br />

wird offenkundig, wie schwer die Mitte zwischen Sachbuch und buntem Bilderbogen zu finden ist<br />

und daß dieses Buch hierbei auch nur einen Kompromiß darstellt. Es bleibt abzuwarten, ob dieser<br />

„Rückspiegel" auch in die Zukunft blicken kann. Peter Letkemann<br />

Jürgen Boeckh: Alt-Berliner Kirchen. Von St. Nicolai bis „Jerusalem". Berlin: Haude & Spener<br />

1975, 125 S., 13 Abb., brosch., 14,80 DM. (Berlinische Reminiszenzen Bd. 43.)<br />

Vom Titel her könnte der interessierte Leser vermuten, mit dem Büchlein eine spezifisch bau- und<br />

kunstgeschichtliche Untersuchung über den Sakralbau in den mittelalterlichen Nachbarstädten<br />

Berlin und Colin in die Hand zu bekommen. Der Verfasser läßt jedoch bereits in seinem Vorwort<br />

erkennen, daß ihn vielmehr sein besonderes Interesse an der Geschichte Berlins und der<br />

Kirche zu dieser Veröffentlichung angeregt hat. Folgerichtig behandelt er die Geschichte der 9<br />

vorreformatorischen Kirchen und Kapellen Alt-Berlins aus dem Blickwinkel ihrer Gemeinden.<br />

Boeckhs Bericht über das kirchliche Leben in den Gemeinden, ihr Verhältnis zur Obrigkeit, über<br />

die Frömmigkeit und Bekenntnistreue im alten Berlin sowie über die Persönlichkeiten, die hier<br />

gewirkt und die Geschichte dieser Stadt und darüber hinaus mitgeprägt haben, ist geeignet, einen<br />

großen Leserkreis anzusprechen. Das Bändchen ist daher - trotz einiger bedauerlicher Druckfehler<br />

- dennoch ganz besonders als Lektüre für den Geschichts- und Religionsunterricht in den<br />

Berliner Schulen zu empfehlen.<br />

Im Gegensatz zu den zahlreichen alten Dorfkirchen des heutigen Berlin, die nahezu vollständig<br />

die Kriegszeiten überdauert haben oder wiederaufgebaut worden sind, traf die mittelalterlichen<br />

Kirchen der Berliner Altstadt ein beklagenswertes, trauriges Schicksal, denn von ihnen ist nur<br />

die Marienkirche als Bauwerk und Gotteshaus bis heute erhalten geblieben. Die wachsende Bedeutung<br />

dieser Predigtstätte nach den Jahren der Zerstörung gibt dem Verfasser Gelegenheit, die<br />

Geschichte der geteilten Stadt und ihrer in geistlicher Gemeinschaft fortlebenden Kirche bis in<br />

unsere Zeit zu verfolgen.<br />

101


Im Nachwort weist Jürgen Boeckh darauf hin, daß die Reihe der vorreformatorischen Kirchenbauten<br />

nach einer Unterbrechung von 200 Jahren erst im Jahre 1687 mit der Einweihung der<br />

Dorotheenstädtischen Kirche als erstem von vornherein protestantischen Kirchenbau ihre Fortsetzung<br />

findet. Es schließen sich bald darauf im 18. Jh. in kurzer Folge weitere Sakralbauten<br />

an, die ebenfalls noch zu den Alt-Berliner Kirchen gerechnet werden müssen und deren Darstellung<br />

der Verfasser einem besonderen, zweiten Band vorbehalten hat. Auf ihn kann man nach<br />

der gelungenen Konzeption des 1. Teiles nur gespannt sein. Volkmar Dresc<br />

Berlin und seine Bauten. Hrsg. vom Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin. Berlin/München/Düsseldorf:<br />

Verlag W. Ernst & Sohn. Teil IV Wohnungsbau - Bd. B: Die Mehrfamilienhäuser.<br />

(1974.) 867 S. m. 116 Abb., 668 Objekte m. 738 Abb. sowie Plänen, Zeichn. u. Ktn.,<br />

Leinen, 140 DM. - Bd. C: Die Wohngebäude - Einfamilienhäuser. Individuell geplante Einfamilienhäuser.<br />

Die Hausgärten. (1975.) 421 S. m. 236 Abb., 833 Objekte m. Abb. sowie Plänen,<br />

Zeichn. u. Ktn., Leinen, 72 DM.<br />

In erfreulich rascher Folge setzt der Berliner Architekten- und Ingenieur-Verein seine vorzüglich<br />

ausgestattete Inventarreihe über die Berliner Bauten fort. Der erste der hier anzuzeigenden<br />

Bände mit den Registern der mehrgeschossigen Wohnhäuser, 1972 abgeschlossen, folgt dem die<br />

Entwicklung der Wohngebiete bis 1970 behandelnden Teil IV-A. Systematischen Beiträgen von<br />

Alfred Schinz - diese Arbeit ist umfassend angelegt -, Ernst Heinrich, Dittmar Machule und<br />

Klaus Müller-Rehm folgen die von Hans-Henning Joeres, Dittmar Machule, Wilfried Pape,<br />

Dieter Rentschier und Barbara Schulz zusammengestellten Listen der Häuser. Ihr Aufbau ist<br />

besonders hervorzuheben. Stellen sie doch durch Gliederung in die Zeitabschnitte von 1896 bis<br />

1918, 1918 bis 1945, nach 1945 und durch Unterteilung in Bezirke mit Beschreibung, Daten und<br />

Quellennachweisen ein hervorragendes Arbeitsmittel dar. Das Manko sei gleich genannt: Die<br />

Entwicklung des Wohnbaus seit 1945 im anderen Teil unserer Stadt fehlt. Vergleiche wären<br />

sicher sehr interessant gewesen, zumal dieser nach Überwinden von Planung und Formenausdruck<br />

der fünfziger Jahre gerade im Stadtzentrum auch durchaus akzeptable Lösungen bietet.<br />

Sattsam bekannte Umstände dürften die Aufnahme verhindert haben.<br />

Aus der Zeit, die vor der führenden Bedeutung des Berliner Wohnbaus in den Jahren zwischen<br />

Inflation und Beginn der NS-Herrschaft liegt, werden nicht nur die Renommierbeispiele des<br />

gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus erwähnt, sondern auch die individuellen<br />

Versuche, den unfruchtbaren Historismus hinter sich zu lassen, gewürdigt. Anspruch auf Vollständigkeit<br />

wird immer Utopie bleiben. Auch eine Publikation dieser Zielsetzung und dieses<br />

Umfanges will sie nicht erreichen. So müssen hier leider bestimmende Charakteristika ihrer Zeit<br />

ungenannt bleiben.<br />

Der folgende Band IV-C ist dem individuellen Wohntypus - in der Regel außerhalb der städtischen<br />

Kernbebauung - gewidmet. Die Berliner hat es schon immer in die unmittelbare Umgebung<br />

ihrer Stadt getrieben. So sind auch die Berliner Vororte ein Einzelfall im europäischen<br />

Bereich. Großzügig durchzogen sie Grün-, Park- und Waldanlagen. Ihre Weiträumigkeit, durch<br />

die man spazierenging, ohne sich große Gedanken darüber zu machen, spürt man eigentlich erst,<br />

seit wilde Bodenspekulation statt maßvoller Planung zum „Villensterben" führt. Diese Randzonen<br />

und Gartenstadtsiedlungen besitzen ihren Ursprung in jenen Villenkolonien, die vor rund<br />

hundert Jahren entstanden und mit Namen wie Quistorp (Westend) und Carstenn (Lichterfelde,<br />

Wilmersdorf, Friedenau und Haiensee) verbunden sind, wenn auch Friedenau und Wilmersdorf<br />

durch das persönliche Schicksal Carstenns den Charakter als Villenkolonie schon frühzeitig verloren<br />

haben.<br />

In diesen Wohngebieten haben viele namhafte Architekten gebaut, unter ihnen Hermann Muthesius,<br />

Paul Mebes, Alfred Messel und Peter Behrens, in ihrer Bedeutung weit über lokale Grenzen<br />

hinausragend.<br />

Die Häuser nach dem ersten Weltkrieg wurden bescheidener. Von ihren Baumeistern mögen<br />

Erich Mendelsohn, Richard Neutra, Hans Poelzig, Hans und Wassili Luckhardt, Alfons Anker,<br />

Walter Gropius, Arthur Korn, Siegfried Weitzmann, Heinrich Tessenow und Heinrich Schweitzer<br />

auch für die anderen genannt sein, die damals das moderne Berlin planten und bauten. Egon<br />

Eiermann, Werner Harting, Hans Scharoun und anfangs auch noch Ludwig Hilberseimer konnten<br />

sich ohne Konzessionen durch die dreißiger Jahre „mogeln", was neben ihnen nur wenigen<br />

vergönnt war. Nach dem zweiten Weltkrieg entstanden erst zwölf bis fünfzehn Jahre später<br />

wieder bedeutendere Einfamilienhäuser. Heinz Schudnagies aus der Gruppe um Scharoun sei<br />

für ihre Architekten genannt.<br />

Diesen Band - Autoren Julius Posener und Burkhard Bergius - ergänzt Herta Hammerbachers<br />

Beitrag über die Hausgärten ausgezeichnet. Ohne Bedeutungsschmälerung des Architekturgartens<br />

wird ihre Vorliebe für den Landschaftsgarten deutlich spürbar.<br />

102


Der wichtigste Teil auch hier wieder die von Julius Posener und Burkhard Bergius unter Mitarbeit<br />

von Dirk Förster und Dieter Rentschier zusammengestellten Listen von 564 Häusern<br />

(1896-1968) mit Fotos, Plänen oder Quellenangaben ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Vorzüglich.<br />

Ein Buch, mit dem man die Vororte Berlins entdecken möchte, auch wenn die östlichen<br />

Bezirke fehlen. Günter Wollscblaeger<br />

Berlin. Herausgegeben von Hanns Reich. Einleitung von Sybille Schall. Fotos von Liselotte<br />

und Armin Orgel-Köhne u. a. 7., völlig neu bearb. Aufl. Düsseldorf: Hanns Reich Verlag<br />

1974. Halbleinen, 96 S., 24 DM.<br />

Klaus Schütz, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, ist völlig beizupflichten, wenn er<br />

als Vorwort schreibt: „Berlin als .terra magica' zu verkaufen, hat sich bezahlt gemacht -<br />

nicht nur für den Verlag, sondern auch für den Leser und Betrachter dieses Bildbandes. Die<br />

vielen Auflagen, die seit 1959 notwendig wurden, beweisen auch äußerlich die Schnellebigkeit<br />

der Stadt samt ihrer Politik und ihrer Historie und der Weltgeschichte schlechthin. So gesehen<br />

ist ein Bildband über Berlin mehr als nur eine Zusammenstellung schöner Fotos. In einer<br />

Zeit, wo niemand Zeit hat, kann er Geschichtsunterricht ersetzen. Und das ist besser als gar<br />

keine Beschäftigung mit der Geschichte und in diesem speziellen Fall mit Berlin." In der Tat<br />

ist der vorliegende Band eines der gängigsten Werke über Berlin, wobei „gängig" nicht mit<br />

konventionell oder abgeklappert zu verwechseln ist. Die Fotografien zeigen vielmehr zum<br />

Teil mutige Blickwinkel. Der Text von Sybille Schall hält die Waage zwischen gediegener<br />

Information und schnodderiger Plauderei und könnte auch von anderen Vorwortschreiberinnen<br />

stammen. Daß allerdings 1830 eine „leidenschaftliche Begeisterung" die Franzosen aus<br />

dem Lande gewiesen hätte, ist neu (1813?). Auch heißt das „letzte alte Dorf Berlins" Lübars<br />

(und nicht Lybars). Im übrigen spricht die hohe Auflage für sich selbst.<br />

H. G. Schultze-Bcrndt<br />

Karoline Cauer: Oberhofbankier und Hofbaurat. Aus der Berliner Bankgeschichte des XVIII.<br />

Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Institut für Bankhistorische Forschung e.V. [1973]. 108 S. m.<br />

Abb., brosch., 15 DM.<br />

Mit bewundernswertem Fleiß und großem persönlichen Einsatz - u. a. wurden Archive in Paris,<br />

Merseburg und Marburg besucht - hat die Autorin versucht, ein Bild des Bankiers König Friedrich<br />

Wilhelms II. und preußischen Hofbaurats Isaac Daniel Itzig nach den Quellen zu zeichnen.<br />

Anlaß und Ausgangspunkt war ein wohl größerer Bestand Itzigscher Papiere aus dessen Nachlaß<br />

im Familienbesitz der Verfasserin.<br />

Die Darstellung von Aufstieg und Fall des Finanziers bringt eine Fülle von Informationen, die<br />

weit über das ausschließlich Biographische hinausgehen. Die Finanzbeziehungen zu deutschen<br />

Duodezfürsten und dem preußischen Adel in den letzten Jahrzehnten des 18. Jhs. werden ebenso<br />

dargestellt wie der Handel mit der jungen Französischen Republik. Auch die von Itzig maßgeblich<br />

geförderten Emanzipationsbestrebungen der preußischen Juden, der Freimaurerei und die<br />

Beteiligung an der Gründung einer jüdischen Freischule behandelt die Vf.in gebührend. Von besonderem<br />

Interesse für den Lokalhistoriker ist die Darstellung des Beginns des preußischen<br />

Chausseebaus, die Finanzierung und Durchführung der Arbeiten an der Berlin-Potsdamer Chaussee<br />

unter der Mitwirkung des dafür zum Hofbaurat ernannten Itzig. Durch den Ankauf des<br />

Schöneberger Freiguts, des Kruges und eines weiteren Kossätenhofes hatte er bereits umfangreichen<br />

Besitz im Berliner Umland erworben - ein Besitz, dessen Wert durch die Anlagen der<br />

Chaussee nur noch gesteigert werden konnte. Später kamen noch der Erwerb der Ellerschen<br />

Meierei in der Köpenicker Straße sowie der Bartoldyschen Meierei vor dem Schlesischen Tor<br />

dazu. Itzigs Pläne, ein preußisches Chausseebaumonopol zu erreichen, haben sich jedoch nicht<br />

realisiert. Das bereits organisierte Fuhrwesen konnte dafür nicht mehr eingesetzt werden. Die<br />

hier im Zusammenhang mit Spanndiensten genannte „Domäne" Wilmersdorf (S. 43) gab es allerdings<br />

nie.<br />

Der Konkurs der Firma Itzig u. Co. im Jahre 1796 war unausweichlich geworden, als die von<br />

der französischen Regierung als Bezahlung für bedeutende Armeelieferungen gegebenen Wechsel<br />

nicht eingelöst wurden. Erörterung des Testaments und eine Übersicht über die weiteren Tätigkeiten<br />

Itzigs bis zu seinem Tode 1806 schließen die Studie ab.<br />

Leider ist von dieser in schöner Ausstattung erschienenen und mit einer einleitenden Übersicht<br />

über „Das Bankwesen Berlins im 18. Jahrhundert" von Erich Achterberg versehenen Arbeit nicht<br />

nur Positives zu sagen. Der Nachlaß Itzig, die Hauptquelle der Ausführungen, wird nur pauschal<br />

zitiert. Die im Anhang daraus beigegebenen Dokumente sind nicht immer einwandfrei ediert.<br />

103


Die bei Dokument 5, S. 94, im Text gemachte Angabe „Drey Thaler" bezieht sich wohl auf die<br />

in Preußen übliche Steuer auf derartige Patente. Die in den Anmerkungen und dem Literaturverzeichnis<br />

genannten Titel lassen eine recht eigenwillige Zitierweise erkennen. Eindeutig falsch<br />

zitiert sind zwei Aufsätze Johannes Schultzes (S. 108, Nr. 50 c u. d). Sie sind nicht in den Veröffentlichungen<br />

der Historischen Kommission zu Berlin, sondern im „Jahrbuch für die Geschichte<br />

Mittel- und Ostdeutschlands" erschienen. Zahlreiche weitere Fehler geben Anlaß zum Verdacht,<br />

daß sich auch in den nicht nachprüfbaren Angaben Unkorrektheiten eingeschlichen haben könnten.<br />

So ist bei aller Hochachtung vor der großen Leistung der Vf.in der Eindruck dieser Arbeit durch<br />

technische Mängel etwas getrübt. Felix Escher<br />

Rhoda Kraus: Berlin zu Fuß. 13 Wanderungen in West- und Ost-Berlin. Berlin: Stapp-Verlag<br />

1973. 152 S. m. Abb. u. Kartenskizzen, Linson, 12,80 DM.<br />

Grieben-Reiseführer Deutschland. Band 6: Berlin. München: Thiemig 1973 (verbess. Nachdr. v.<br />

1967). 221 S., 1 Faltplan, brosch., 8,80 DM.<br />

Im Zuge der „Trimm-Dicb-Bewegung" sind auch Spaziergänge wieder modern geworden. In<br />

ihrem Büchlein „Berlin zu Fuß" bietet Rhoda Kraus 13 Stadtspaziergänge - die Vf.in nennt sie<br />

Wanderungen - im West- und Ostteil der Stadt an. Tiergarten (2X), Zoo und Hansaviertel,<br />

Kreuzberg und Dahlem (2X), Schloß Charlottenburg und Pfaueninsel, Kurfürstendamm und<br />

Funkturm sind die wenig originellen Ziele im Westteil; im Ostteil ist es noch magerer: der<br />

Alexanderplatz und „Unter den Linden" sind hier die einzigen Plätze, die Frau Kraus vorschlägt.<br />

Der langatmige Text ist zudem nicht geeignet, Begeisterung für die „Wanderungen" zu wecken.<br />

Im Gegensatz dazu bietet der Berlin-Band des Grieben-Reiseführers Deutschland allein 34 Vorschläge<br />

für Spaziergänge in Berlin (West). Die einzelnen Objekte werden knapp erläutert. Den<br />

weitaus größten Raum nimmt das Stadtlexikon ein. Von „Akademie" bis „Zoologischer Garten"<br />

werden auf 200 Seiten lexikonartig „Berlin-Begriffe" abgehandelt. Leider gelang es hier ebensowenig<br />

wie in den „Spaziergängen und Ausflügen" Wesentliches oder für Berlin Charakteristisches<br />

von einer Flut nebensächlicher Informationen zu trennen. So sind die für Berlin typischen Großsiedlungen<br />

der 20er Jahre, die international Anerkennung gefunden haben, nur im Zusammenhang<br />

mit den Siedlungsanlagen der 50er und 60er Jahre - von denen man Gleiches wirklich<br />

nicht behaupten kann (z. B. Georg-Ramin-Siedlung in Spandau) - genannt (S. 173). Dies ist um<br />

so bedauerlicher, da der Reiseführer gerade für den eiligen Touristen gedacht ist. Nicht zu empfehlen<br />

ist die dem Band beigegebene Übersichtskarte, die den Stand des U-Bahn-Netzes von<br />

1969 wiedergibt. Bei der S-Bahn ist die Netztrennung nur sehr unvollkommen angedeutet.<br />

Felix Escher<br />

Kladderadatsch. Faksimile-Nachdruck des 1. Jahrgangs 1848. Hildesheim: Olms Presse 1970.<br />

136 S. m. zahlr. Abb., brosch. 28 DM.<br />

Schon seit Jahrzehnten sind die Originalausgaben, insbesondere die der ersten Jahrgänge, zu<br />

großen Raritäten auf dem Antiquariatsmarkt geworden. So ist es begrüßenswert, daß dieser<br />

Verlag in seiner Reihe „Quellen zur Trivialliteratur" den 1. Jahrgang dieser Wochenschrift<br />

faksimiliert hat.<br />

Im Jahre 1848, in dem am 1. 4. die liberale „Nationalzeitung" und am 16. 6. die konservative<br />

„Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung" erschienen, wurde der „Kladderadatsch" als erste<br />

politisch-satirisch-witzige Wochenschrift in Berlin von David Kaiisch und dem Verlagsbuchhändler<br />

Albert Hofmann gegründet. Die erste Nummer kam am 7. Mai heraus. In den ersten<br />

Jahren zeichneten Rudolf Löwenstein und Ernst Dohm für die Redaktion verantwortlich,<br />

während David Kaiisch, Johannes Trojan und der Satiriker Julius Stettenheim die Mehrzahl<br />

der Texte verfaßten. Wilhelm Scholz zeichnete über 40 Jahre lang fast alle Illustrationen in<br />

diesem „Organ für und von Bummler". Gleich den anderen Zeitungen und Zeitschriften<br />

wurde auch der „Kladderadatsch" in jenen Tagen nach der März-Revolution mehrmals verboten<br />

und beschlagnahmt. Mit sehr viel Humor, noch mehr beißendem Spott und bissiger<br />

Satire hielt er der Gesellschaft seiner Zeit stets ein blinkendes Spiegelbild vor, was ihr meist<br />

durchaus nicht zum Ruhme gereichte. Und dennoch: trotz aller Anfechtungen erwarben sich<br />

die Zeitungen Berlins - und mit ihnen auch der „Kladderadatsch" - im Jahre 1848 ein politisches<br />

Bewußtsein und einen politischen Charakter. Das berühmte Berliner Witzblatt wurde<br />

fast hundert Jahre alt und „starb" erst 1944 in den Wirren der Kriegstage.<br />

Dem vorliegenden Reprint fehlt ein kurzer einführender Text, was als Manko angesehen<br />

werden kann. Doch sicher wird dieser Nachdruck auch so viele Interessenten finden, zumal die<br />

Qualität der Ausführung und der dafür geforderte Preis übereinstimmen.<br />

Claus P. Mader<br />

104


Moses Mendelssohn: Neuerschlossene Briefe an Friedrich Nicolai. In Gemeinschaft mit Werner<br />

Vogel hrsg. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1973. XI,<br />

122 S., brosch., 26 DM.<br />

Als Preprint und Kostprobe der geplanten Briefbände der Jubiläumsausgabe von Moses Mendelssohns<br />

Gesammelten Schriften (Berlin 1929-1938 und Stuttgart 1971 ff.) ließ der Verleger<br />

Günther Holzboog kürzlich die „Neuerschlossenen Briefe Moses Mendelssohns an Friedrich<br />

Nicolai" in einer einfachen Offsetpublikation erscheinen. Inzwischen sind diese Briefe mit Ausnahme<br />

der rein geschäftlichen Schreiben und zum Teil um die wirtschaftlichen Passagen gekürzt<br />

auch in das von der American Lessing Society herausgegebene Lessing Yearbook 5, 1973,<br />

S. 13-60, eingegangen, so daß sie in der Mehrzahl nun ebenfalls in einer typographisch befriedigenden<br />

Form vorliegen. Der beste Kenner des Philosophen Moses Mendelssohn und berufene<br />

Fortsetzer von dessen Gesamtausgabe, Alexander Altmann, Professor für Jüdische Philosophie<br />

an der Brandeis-Universität in Waltham, Mass., USA, macht damit eine Brieffolge bekannt, die<br />

erst ca. 1937/38, nach Erscheinen des ersten Briefbandes der Jubiläumsausgabe (mit der Korrespondenz<br />

von 1754-1762, darunter auch Briefen an Nicolai) von Richard Wolff aufgefunden<br />

wurde und infolge der damaligen Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland nicht veröffentlicht<br />

werden konnte. Die jetzige Ausgabe beruht allerdings nur in ihrem zweiten Teil<br />

auf den Originalbriefen, die Altmann allein für seine Nummern 26-34 und 36-55 aus dem<br />

Mendelssohn-Depositum des Landes Berlin im Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek Preußischer<br />

Kulturbesitz zur Verfügung standen. Die Nummern 1-25 und 35 sind nach einer vollständigen<br />

Abschrift (in der nur Altmanns Nr. 42 fehlt) aus ehemaligem Marburger Privatbesitz,<br />

jetzt in dem der Mendelssohn-Gesellschaft e. V. in Berlin wiedergegeben. Auf diese Quellenlage<br />

und die Vorgeschichte seiner Ausgabe weist der Hrsg. in seinem Vorwort hin, in dem man<br />

jedoch eine Äußerung über den Wert und die Zuverlässigkeit der benutzten Abschrift vermißt.<br />

In verschiedenen Briefen weisen gelegentlich Pünktchen darauf hin, daß der Abschreiber einzelne<br />

Wörter, vor allem Eigennamen und Währungsbegriffe, nicht lesen konnte. Auch eine<br />

Konkordanz von Altmanns chronologisch vergebenen Nummern, denen der sogenannten Marburg-Mappe<br />

und denen des Mendelssohn-Depositums würde sich als nützlich erweisen.<br />

Die Briefe erstrecken sich von 1757 bis 1785, wenige Monate vor Mendelssohns Tod im Januar<br />

1786. Sie bezeugen gerade auch in ihrer überwiegenden Kürze und Knappheit die engen<br />

freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den Korrespondenzpartnern bestanden. Inhaltlich<br />

nehmen literarische und buchhändlerischc Themen einen bedeutenden Platz ein: so erfährt man<br />

einiges von Mendelssohns eigenen Werken und Arbeiten, von seiner Lektüre und den entsprechenden<br />

Buchbestellungen bei seinem Buchhändlerfreund sowie von seinem persönlichen Umgang<br />

mit Schriftstellern und Gelehrten. Nicht minder umfangreich sind die finanziellen Erörterungen.<br />

Mendelssohn avancierte offenbar bald zu Nicolais Hauptberater in Geldgeschäften.<br />

Dabei stellen wir fest, daß Nicolai nicht nur Mendelssohns Schuldner, sondern zeitweilig auch<br />

sein Gläubiger war.<br />

Die Briefe sind kenntnisreich kommentiert. Den finanziellen Abschnitten wurden grundlegende<br />

Erläuterungen von Werner Vogel beigegeben. Wir möchten, hoffen, daß dieser Vorpublikation<br />

bald die Briefbände der Jubiläumsausgabe folgen, in die dann zum Beispiel auch die an anderer<br />

Stelle überlieferten Briefe Mendelssohns an Nicolai (etwa aus dem Nicolai-Nachlaß der Staatsbibliothek<br />

Preuß. Kulturbesitz, betreffend die Allgemeine Deutsche Bibliothek) eingehen werden.<br />

Ingeborg Stoltenberg<br />

Adalbert Kuhn: Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und<br />

Aberglauben. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1843. Hildesheim: Olms Verlag 1974. XVI/388/<br />

XXVI S., Leinen, 41,80 DM. (Volkstümliche Quellen IV, Sage, Hrsg. Will-Erich Peuckert.)<br />

Der bislang einzige lizenzierte Nachdruck dieses Standardwerkes, welches seit Jahrzehnten nicht<br />

mehr in Antiquariatslisten auftauchte, erfolgte bei F. A. Herbig in Berlin 1937. Da auch dieser<br />

Nachdruck schon zur Rarität geworden ist, kann man jetzt dem Olms Verlag für den neuen<br />

Reprint der Erstausgabe dankbar sein. Diese Veröffentlichung und jene von Wilhelm Schwartz,<br />

dem Schwager Kuhns, über die „Sagen und alten Geschichten der Mark Brandenburg für jung<br />

und alt" gelten seit jeher als wichtigste Quellen für alle nachfolgenden Publikationen. So nennen<br />

auch die Herausgeber jener zwei Bändchen, die vor einigen Jahren von zwei Berliner<br />

Verlagen angeboten wurden, Kuhn und Schwartz als Hauptquellen.<br />

Bereits in den Jahren 1816 bis 1820 veröffentlichten die Brüder Grimm ihre Bücher über<br />

„Kinder- und Hausmärchen" und „Die Deutschen Sagen", in denen auch berlinische und<br />

märkische Sagen enthalten sind. Doch erst um 1840 befaßten sich Heimatkundige intensiv<br />

mit dem Sammeln jenes Volksgutes. Zu ihnen gehörten auch Adalbert Kuhn, späterer Direktor<br />

des Köllnischen Gymnasiums und 1872 in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen, sowie<br />

Wilhelm Schwartz, zu dieser Zeit noch Gymnasiast. Auf der Suche nach mündlichen Volksüberlieferungen<br />

durchstreiften sie von Berlin aus die nähere Umgebung und später auch große Teile<br />

105


Nord- und Westdeutschlands. Dabei entstand in den Jahren von 1837 bis 1849 eine wissenschaftlich<br />

geordnete Sammlung - eine Fundgrube für weitere ernsthafte Kulturarbeit.<br />

Obwohl der hier vorliegenden Neuauflage, vom bescheidenen Klappentext abgesehen, keine<br />

weiterführenden Erläuterungen beigegeben sind, werden Volkskundler sowie Märchen- und<br />

Sagenliebhaber sicher nicht auf diesen Band verzichten können und wollen. Claus P. Mader<br />

50 Jahre Wintergarten 1888-1938. Nachdruck der Festschrift Berlin 1938. Hildesheim: Olms<br />

Presse 1975. FW 104 S. m. zahlr. Abb. u. 1 färb. Beihefter, brosch., 19,80 DM.<br />

„Spezialitätentheater", ein Berliner Begriff für Varietes, gab es schon seit der Mitte des vorigen<br />

Jahrhunderts in großer Anzahl und jeder Preisklasse. Doch war der Wintergarten das vornehmste.<br />

Er befand sich im Central-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße und bot ein Programm<br />

aus einer Mischung von Kabarett und Zirkus. Hier zeigte auch Max Skladanowski 1895 das<br />

von ihm erfundene Bioskop in einer öffentlichen Vorführung. Es war die erste Veranstaltung<br />

auf kinematographischem Gebiet überhaupt in unserer Stadt. Erinnern wir uns aber auch<br />

noch einmal der Stars und Sternchen des damaligen „Schaugeschäfts". Ohne in der Nennung<br />

und der Reihenfolge eine Wertung zu sehen, waren es u. a. die Tänzerinnen „La belle Otero",<br />

Rosario Guerrero, „Miss Saharet", Marika Rökk; die Jongleure Bellini, Paul Conchas, Rastelli,<br />

die Diseusen Yvette Guilbert, Margarete Slezak, Tola Mankiewicz, Marita Farell, Edith Schollwer,<br />

Grethe Weiser, Loni Heuser sowie die Artisten „Die 3 Codonas", „Die 4 Berosini" und<br />

„Die 4 Wallendas", Alfred Court mit seiner Raubtiergruppe; die Reiterinnen May Wirth und<br />

Micaela Busch. Für den Ulk und den Humor sorgten die Clowns Charly Rivel, Antonet und<br />

Grock, „Die Barracetas" und Guido Thielscher, der jahrelang im Wintergarten auftrat. Viele<br />

von den Genannten und noch mehr von den hier nicht Erwähnten sind heute in Vergessenheit<br />

geraten. Einer soll jedoch noch besonders hervorgehoben werden: Otto Reutter. Fast<br />

31 Jahre trat er immer wieder im Wintergarten auf. Bald sang ganz Berlin den Refrain seines<br />

Couplets „In fünfzig Jahren ist alles vorbei". Nun, es dauerte auch nicht viel länger, bis im<br />

Jahre 1944 dieses Haus und mit ihm Tradition und große Leistung in Schutt und Asche fielen.<br />

So wird diese kleine Schrift vielen Berlinern (und nicht nur ihnen) wehmütige Erinnerungen<br />

hervorrufen an eine Zeit, da Artistik, Clownerie und „Show" noch nicht durch bloßen Knopfdruck<br />

in alle Wohnstuben gelangten.<br />

Allerdings muß noch eine kritische Bemerkung folgen. Zu einem Nachdruck gehören „alle"<br />

Seiten, also auch jene Seiten 11-16, auf die der Verlag in dem Reprint verzichtet. Warum?<br />

Sollten hier falsche Scham und Fehleinschätzung des Lesers das Motiv sein? Dies müßte dann<br />

verworfen werden, zumal der „Führer" mehrmals in vollem Ornat auf mehreren Seiten zu<br />

sehen ist. Dennoch: diese Schrift wird viele Freunde finden, da das Original durch Kriegseinwirkungen<br />

sehr selten geworden und der für diesen Nachdruck geforderte Preis akzeptabel ist.<br />

Claus P. Mader<br />

Günter Neumann: Schwarzer Jahrmarkt. Eine Revue der Stunde Null. Berlin: Blanvalet 1975.<br />

192 S. m. 45 Zeichn., 16 Abb.-Taf., lamin. Pappbd., 29,80 DM.<br />

Viele Zeitgenossen, die das Inferno des Hitlerkrieges überstanden hatten, sahen damals, 1947,<br />

Günter Neumanns knackfrischen „Schwarzen Jahrmarkt" im kurz zuvor von ihm eröffneten<br />

Cabaret „Ulenspiegel" in der Nürnberger Straße. Dies zu einer Zeit, die man noch der „Stunde<br />

Null" zurechnet, in der die abgerissenen und ausgehungerten Berliner nach einer theatralischen<br />

Kost verlangten, die sie ganz schlicht und doch ergreifend wieder einmal lachen ließ. Es war<br />

beinahe ein Wunder, daß sich, als noch die Trümmer rauchten, die Theater, die Künstler, die<br />

Schriftsteller als erste regten, um den Unrat einer „heroischen Epoche" hinwegzuräumen. Im Umkreis<br />

der „Kleinkunst", die, wenn gekonnt, Größeres auf die Beine stellte als manche schwergewichtige<br />

Tragödien, war Günter Neumann (1913-1972) ein gestandener Mann. Mit leichter<br />

fixer Hand meisterte er Wort und Musik, ohne trivial zu werden. Von nobler Gesinnung, die<br />

sich als pazifistisch einstufen läßt, brachte er das Ernste amüsant und lustig. So eben auch in<br />

seiner musikalisch-satirischen Zeit-Revue, einem Spektakulum praller Aktualität. Dazu gehörte<br />

übrigens auch Zivilcourage, denn die Neumann-Texte schonten auch die vier Alliierten nicht,<br />

von uns Normaldeutschen gar nicht zu reden. Natürlich war Günter Neumann als Texter kein<br />

Kurt Tucholsky, kein Walter Mehring oder Erich Kästner, aber er hatte einen genialischen Zug,<br />

das Wort zugleich musikalisch und szenisch attraktiv wirksam zu machen.<br />

Daß der „Schwarze Jahrmarkt" sich seine zeitdokumentarische Beständigkeit erhalten hat, beweist<br />

das derzeitige theatralische Comeback im Hebbel-Theater. Tatjana Sais und Karl Vibach<br />

haben die Revue neu eingerichtet. Der immer wieder mobile Verleger Lothar Blanvalet hat jetzt<br />

die z. T. umwerfenden Texte herausgebracht, von Erich Rauschenbach kongeniale Zeichnungen<br />

dazu machen lassen und Szenenbilder der Aufführung von 1947 und die der jetzigen Inszenierung<br />

im Hebbel-Theater dazugenommen. Zum Ganzen schrieb Friedrich Luft ein brillantes Vorwort.<br />

Es ist gut, das alles beisammen zu haben. Walther G. Oschilewski<br />

106


Horst Cornelsen: Gebaut in 25 Jahren - Berlin (West). Hamburg: Harry v. Hof mann Verlag<br />

1973. 128 S. m. 275 Abb., Linson, 48 DM.<br />

Der Rez., der von 1964 an acht Jahre im Märkischen Viertel gewohnt hat, könnte geneigt sein,<br />

der Besprechung eigene Erfahrungen in einem Stadtteil zugrunde zu legen, der an den Menschen<br />

vorbeigeplant worden ist. Hier hilft kein Hinweis, daß man „grüne Slums" beseitigt<br />

und preiswerte Wohnungen mit gutem Schnitt geschaffen hat, wenn die Infrastruktur so vernachlässigt<br />

wurde, daß man die vielgescholtenen Bauspekulanten der Gründerzeit (etwa Carstenn)<br />

neben diesen gemeinnützigen Wohnmaschinenfabrikanten geradezu als Wohltäter der Menschheit<br />

bezeichnen muß. Aber es geht hier, wie es heißt, um den „Versuch eines engagierten Journalisten",<br />

der „keine Dokumentation und keine Architekturkritik" vorlegen will, sondern den „Bericht<br />

eines Berliners über seine Stadt". In dem Bestreben, sich von der modischen Kritik fernzuhalten,<br />

die Berlin als „Bauplatz des Grauens" darstellt, schwankt der Verfasser zwischen Bescheidenheit<br />

(„wer vieles anpackt, wird auch Fehlentscheidungen treffen") und Euphorie, die sich aus dem<br />

Vier-Mächte-Abkommen über Berlin herleitet.<br />

Zur Ausstellung „Berlin plant - Erster Bericht", die am 20. August 1946 im Weißen Saal des<br />

Berliner Stadtschlosses eröffnet wurde, äußerte sich der damalige Baustadtrat Hans Scharoun:<br />

„Bei der Erarbeitung der neuen Stadt ist die geistige Voraussetzung mindestens so wichtig wie die<br />

Anwendung der technischen Mittel." Immerhin waren im Mai 1945 rund 500 000 Wohnungen zerstört<br />

und bedeckten 80 Millionen Kubikmeter Trümmer die Stadt. Auf den Zeitraum der Reparaturen<br />

folgte „der große Abschnitt der Nachkriegsgeschichte", der mit einem kleinen Studentenklubhaus<br />

(1950), dem Luftbrückendenkmal (1951) und der Mensa der Freien Universität (1952)<br />

eingeleitet wurde. Die damals entstandenen Wohnungen sind, wie es heißt, auch heute noch in<br />

Komfort und Miethöhe vorbildlich, städtebaulich aber nicht immer Schmuckstücke. Einen deutlichen<br />

Höhepunkt markiert die 1957 eröffnete „Interbau" (und man hätte hier ruhig erwähnen<br />

können, daß sie um ein Jahr verschoben werden mußte). Rund zehn Jahre später stehen die<br />

Gropiusstadt, für die sogar der Name „Brandenburgisches Viertel" sinnigerweise prämiiert worden<br />

war, und das Märkische Viertel im Mittelpunkt des Interesses, aber auch der Kritik. Dort<br />

kommt zwar auf jede Wohnung ein Baum (mehr als 14 000 sind es), und auch der Nachholbedarf<br />

an Schulen, Kindergärten, Kirchen und Läden konnte einigermaßen gedeckt werden, so daß zu<br />

einer richtigen Wohnstadt - und nicht nur „Schlafstadt" - eigentlich nur das sehr menschliche<br />

Angebot an anheimelnden Eckkneipen, von Krankenhaus und Friedhof fehlt.<br />

Wie schnellebig unsere Zeit ist, mag daraus abgelesen werden, daß der Plan von Heinz Mosch<br />

zur Oberbauung der Autobahn als ein Projekt, das völliges Neuland betritt, noch bejubelt wird,<br />

zwei Jahre später aber bereits der Konkurs der westdeutschen Mosch-Unternehmen mit ihren<br />

Auswirkungen auch auf Berlin beklagt werden muß.<br />

In jedem Fall sind die Fotografien, gelegentlich nur in Briefmarkengröße wiedergegeben, ein<br />

Stück Zeitgeschichte. Aus dem Vorwort sei zitiert: „Diese Stadt, die in ihrer kurzen Geschichte<br />

wahrlich arm an architektonischen Glanzstücken geblieben ist, hat aufgeholt und besitzt nunmehr<br />

Bauten von internationalem Niveau. So wollen wir die vielseitigen Bemühungen darstellen, diese<br />

Stadt neu erstehen zu lassen. Dem Betrachter bleibt es überlassen, zu entscheiden, was ihm gefällt"<br />

- und ob er dieses Urteil teilt. H. G. Schultze-Bcrndt<br />

Inmitten von Berlin. Zeichnungen von Kurt Mühlenhaupt zu Gedichten und Texten von<br />

Herta Zerna. Hamburg/Düsseldorf: Marion v. Schröder-Verlag 1973. 80 S., Pappbd., 22 DM.<br />

Curt Mühlenhaupt: Ringelblumen. Kindheit im Berliner Milljöh: goldene Jahre und „braune<br />

Motten". Bayreuth: Loewes-Verlag 1974. 127 S. m. Abb., lamin. Pappbd., 12,80 DM.<br />

Unter dem erstgenannten Titel sind 47 Gedichte und Texte von Herta Zerna mit 24 ganzseitigen<br />

Lithographien und Zeichnungen von Kurt Mühlenhaupt zusammengestellt. Beiden<br />

Autoren ist die Liebe zu Berlin gemeinsam, aus der heraus sie die Erlebnisse in dieser Stadt<br />

mit der Feder oder mit dem Griffel beschreiben.<br />

Herta Zernas Themen - eingebunden in den Ablauf der Jahreszeiten - befassen sich mit den<br />

Erlebnissen und Erfahrungen der Berliner einst und jetzt, in Ost und West (z. B. „Rheinsberg<br />

1912-1972"; „Weihnachtsmarkt drüben"). Die meisten Themen beziehen sich auf den West-<br />

Berliner Alltag, dessen Probleme sie mit Liebenswürdigkeit anspricht: Spießbürgerlichkeit, Bau-<br />

Boom und Verkehrsfluß, Abfall und Luftverpestung, ja sogar ein Ladendiebstahl werden -<br />

teils in Gedichten, teils in Prosa - behandelt. Es wäre aber verfehlt, anzunehmen, daß Herta<br />

Zerna nur amüsante Plauderei bietet. Sie möchte den Leser anregen, über die Probleme nachzudenken,<br />

die sie scheinbar mit leichter Hand anspricht. Als Beispiel sei das „Lied vom<br />

Weihnachtsmann" (S. 76) von 1932 genannt, das mich in dieser Hinsicht am stärksten beeindruckt<br />

hat.<br />

Die 24 ganzseitigen Abbildungen von Kurt Mühlenhaupt sind zum größten Teil seiner Graphikmappe<br />

„Blücherstraße 13" und der losen Folge seiner „Berliner Blätter" entnommen.<br />

107


Obwohl diese Abbildungen gegenüber den Originalgraphiken ein verkleinertes Format haben,<br />

haben sie nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Gelegentlich eingestreute figürliche Darstellungen<br />

im Text und die Zeichnungen auf S. 57, 69 und 73 hat Mühlenhaupt eigens für dieses Buch<br />

gemacht (Maßstab 1 : 1). Wie kein anderer lebender Maler versteht er das oft zitierte Milieu<br />

der kleinen Leute in Berlin darzustellen: Szenen auf der Straße oder dem Hinterhof, vor der<br />

Haustür oder der Markthalle, in der Kneipe oder am Landwehrkanal geben ein beredtes Zeugnis<br />

davon. Mit diesen Darstellungen verbindet der Maler und Graphiker keine Sozialkritik im<br />

Sinne einer Anklage. Er möchte uns über Witz und Ironie hinweg, die auch aus diesen<br />

Abbildungen sprechen, zu einer Sicht der Mitmenschen führen, aus der heraus wir über sie<br />

lächeln, aber nicht lachen oder gar spotten können. Lächeln im Sinne von Aggressionsabbau,<br />

lächeln in dem Sinne: Hier erkenne ich mich selbst wieder. Lächeln als kleiner Schritt hin<br />

zu einem liebevollen Verständnis des anderen. In der in dem vorliegenden Band gebotenen<br />

Auswahl zeigt sich dieses Bemühen des Künstlers für mich am stärksten auf den Seiten 41<br />

und 77.<br />

Wenn man Texte und Bilder genau vergleicht, erkennt man, daß sie nachträglich zusammengestellt<br />

wurden, was keiner Kritik bedarf, würde nicht der Herausgeber auf der Rückseite<br />

des Einbandes behaupten, Kurt Mühlenhaupt illustriere mit diesen Abbildungen die Gedichte<br />

von Herta Zerna. Dies stimmt einfach nicht. Bekanntlich hat Mühlenhaupt die Graphikmappe<br />

„Blücherstraße 13" mit einem eigenen Text versehen und gelegentlich auch die „Berliner<br />

Blätter". Der künstlerische Zusammenhang von Text und Bild wird durch die hier vorliegende<br />

Auswahl und Zusammenstellung „Inmitten von Berlin" auseinandergerissen. Dies fällt<br />

besonders kraß auf den Seiten 78 und 79 auf: Dem Gedicht „Weihnachtsmarkt drüben" von<br />

Herta Zerna wird die Darstellung der Heilig-Kreuz-Kirche in der Blücherstraße gegenübergestellt.<br />

Dagegen ergibt sich in dem Buch „Ringelblumen" von Kurt Mühlenhaupt wieder eine Einheit<br />

von Bild und Text, da hier der Künstler beides selbst verfaßt hat. Mühlenhaupt erzählt in<br />

diesem Band die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in einer losen Folge von Kurzgeschichten,<br />

die durch Zeichnungen anschaulich illustriert werden. Wie er selbst sagte, wußte er<br />

während der Arbeit an diesem Buch oftmals nicht, ob er lieber zeichnen oder schreiben sollte:<br />

Wort und Bild gehen ineinander über.<br />

Der Verfasser, der nicht nur als Maler, sondern auch als Kinderbuchautor bekannt ist, wendet<br />

sich mit diesem Band an Kleine und Große. Der Text ist bewußt einfach gehalten, ohne vordergründig<br />

naiv zu sein. Wir erfahren u. a. die kindliche Verbundenheit mit der Natur in<br />

der Laubenkolonie, die verwirrende Welt des Wochenmarktes, jugendliche Streiche durch Mottenkugeln<br />

und Juckpulver. Dabei sind Mühlenhaupts Erzählungen durchaus geprägt von der<br />

Zeitgeschichte, wie der Untertitel des Buches bereits andeutet. So begegnen dem kleinen Kurt<br />

die Folgen des ersten Weltkrieges beim Spielen in den Sandkuten und die sozialen Unterschiede<br />

der Weimarer Zeit schon deutlich in den ersten Schultagen. Später wird der heranwachsende<br />

Mühlenhaupt mit Politik konfrontiert, und er versucht auf seine Weise, mit seinen Spielkameraden<br />

die „braunen Motten", die Nazis, zu bekämpfen. Der Verfasser will aber nicht<br />

nur unterhalten, er verfolgt auch eine pädagogische Absicht. Am deutlichsten wird dies im<br />

zweiten Teil des Buches mit den Geschichten vom Ladendiebstahl, von der Liebe zwischen<br />

Mann und Frau und von der Schularbeit, die plötzlich sogar Spaß machen kann. Im Deutschund<br />

Religionsunterricht in Grundschulen haben sich diese Geschichten bereits bewährt. Die<br />

Schüler können sich mit dem kleinen Kurt identifizieren und fühlen sich direkt angesprochen.<br />

Die Volkstümlichkeit des Verfassers erweist sich mit diesem Buch von neuem: So schlicht<br />

und direkt den kleinen wie den großen Leser ansprechen kann nur der, der unverbildet und<br />

unverkrümmt den Zugang zu dem einfachen Volk nicht verloren hat, aus dem er selbst<br />

stammt. Dies trifft bei Kurt Mühlenhaupt zu, und deshalb macht es auch so großen Spaß,<br />

dieses Buch zu lesen. Erika Schachinger<br />

Sigfrid v. Weiher: Berlins Weg zur Elektropolis. Technik- und Industriegeschichte an der Spree.<br />

Berlin: Stapp-Verlag u. Siemens AG 1974. 206 S., 53 Abb., Leinen, 24 DM.<br />

Arne Hengsbach: Die Siemensstadt im Grünen. Zwischen Spree und Jungfernheide 1899-1974.<br />

Berlin 1974 (Vertrieb: Stapp-Verlag u. Bücherstube Siemensstadt). 73 S. m. Abb. u. Plänen,<br />

brosch., 5,80 DM.<br />

In gedrängter Form liefert Sigfrid von Weiher einen Abriß der Technik- und Industriegeschichte<br />

Berlins bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Vom Beginn der Berliner industriellen<br />

Entwicklung im 18. Jh. über das Entstehen einer leistungsfähigen Berliner Maschinenbauindustrie<br />

im frühen 19. Jh. bis zu den Anfängen und zur Blüte der Berliner Elektroindustrie<br />

im späten 19. und frühen 20. Jh. und den Rückschlägen durch die beiden Weltkriege reicht der<br />

vom Vf. gespannte Bogen. Technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen wird gleichermaßen<br />

10S


Rechnung getragen. Eine umfassende Quellen- und Literaturkenntnis - der Vf. ist Archivar<br />

der Siemens AG - kommt dem Werk zugute. Die Anmerkungen geben eine Fülle von Informationen<br />

zur Weiterarbeit. Die Entwicklung der Berliner Elektroindustrie nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg wird in einer Art Epilog von Gottfried Vetter geschildert. Steht auch die Elektroindustrie<br />

- einst in der Welt führend - im Mittelpunkt des Buches, so werden auch die wirtschaftlichen<br />

Voraussetzungen, z. B. die Verkehrsverhältnisse, nicht nur der Frühzeit, sondern<br />

auch der Zeit des Kaiserreiches berücksichtigt (S. 72). Hier haben sich dann allerdings kleinere<br />

Fehler eingeschlichen. So ist die Ringbahn - bis auf ein fehlendes westliches Verbindungsstück -<br />

bereits 1871 dem Verkehr übergeben worden, d.h. vor Eröffnung der Stadtbahn, deren östlicher<br />

und westlicher Endpunkt erst seit der Weimarer Zeit die Namen „Ostkreuz" und „Westkreuz"<br />

tragen.<br />

Mit dem vorliegenden Buch besitzen wir jetzt eine in ihrer Knappheit prägnante Darstellung<br />

der einzigartigen Entwicklung, die die Berliner Elektroindustrie in ihrer mehr als hundertjährigen<br />

Geschichte genommen hat.<br />

Einer „Elektropolis" im engeren Sinne ist das von Arne Hengsbach verfaßte Heft „Die Siemensstadt<br />

im Grünen" gewidmet. Anlaß war das 75jährige Jubiläum der Verlegung der ersten<br />

Siemens-Fertigungsstelle, des Kabelwerkes, in die damaligen Nonnendammwiesen, eine Spandauer<br />

Exklave am Rande des ehemaligen Stadtteils Charlottenburg. In rascher Folge wurden<br />

weitere Siemensbetriebe in das bisherige Wiesen- und Waldgelände nördlich der Spree verlegt.<br />

Erste Wohnviertel - zunächst südlich der Nonnendammallee - wurden errichtet. 1914, als der<br />

Stadtteil offiziell den Namen Siemensstadt erhielt, befand sich dort bereits der Schwerpunkt<br />

des weltweit operierenden Berliner Konzerns. Auch die Zwischenkriegszeit bedeutete für die<br />

Siemensstadt eine Zeit reger Bautätigkeit. Es entstanden die Industrie- und Wohnsiedlungen<br />

des Chefarchitekten des Hauses Siemens, Hans Hertlein, die Großsiedlung Siemensstadt, an<br />

der u. a. Scharoun, Gropius und Bartning entscheidend mitgewirkt haben. Die Bauten zeugen<br />

noch heute vom hohen Rang des damaligen Städtebaus. Auch nach 1945 und nach der Verlegung<br />

des Siemens-Hauptfirmensitzes nach Westdeutschland ging die Entwicklung des Stadtteils<br />

weiter. Neue Wohnsiedlungen entstanden, und auch die Industrie ist heute nicht nur auf<br />

den einen Großbetrieb beschränkt.<br />

Auf die anderen in dem Buch ausführlich abgehandelten Themen, wie die Verkehrserschließung,<br />

das Verhältnis der bis 1920 selbständigen Städte Charlottenburg und Spandau zueinander, die<br />

Entwicklung der Infrastruktur des Ortsteiles, soll hier nicht eingegangen werden. Unbedingt<br />

aber muß die reiche, in ihrer Auswahl vorzügliche Bebilderung hervorgehoben werden. Leider<br />

- dies ist der einzige zu bemängelnde Punkt - fehlt ein Quellen- und Literaturverzeichnis.<br />

Felix Escher<br />

Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen.<br />

Mit einer Einleitung hrsg. von Ingrid Belke. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1971.<br />

CXLII, 421 S., 5 Abb., Leinen, 98 DM. (Schriftenreihe wiss. Abhandlungen d. Leo-Baeck-Instituts,<br />

Bd. 21.)<br />

Lazarus und Steinthal figurieren prominent in der deutsch-jüdischen Geschichte des ausgehenden<br />

19. Jahrhunderts, namentlich in Berlin. Lazarus (* 1824 Filehne/Posen - f 1903 Meran), jüdisch<br />

wie allgemein gründlich ausgebildet, war als Philosoph und Psychologe zunächst Professor in<br />

Bern. Von 1868 bis 1872 lehrte er an der preußischen Kriegsakademie in Berlin, und erst danach<br />

erhielt er eine Honorarprofessur an der Berliner Universität; als Jude konnte er damals in<br />

Deutschland nicht Ordinarius werden. 1872 gehörte er zu den Gründern der Lehranstalt (Hochschule)<br />

für die Wissenschaft des Judentums in der Reichshauptstadt. Bei der Bekämpfung des<br />

Antisemitismus eines Stöcker und Treitschke stand er in vorderer Linie. Steinthal, 1823 in Gröbzig/Anhalt<br />

geboren und 1899 in Berlin gestorben, studierte Sprachwissenschaften und Philosophie,<br />

habilitierte sich 1850 an der Berliner Universität, verbrachte mehrere Jahre studienhalber<br />

in Paris und erhielt 1855 eine außerordentliche Professur in Berlin. 1872 war er Mitglied des<br />

ersten Dozentenkollegiums der vorgenannten jüdischen Hochschule, an der er Bibelwissenschaft<br />

und Religionsphilosophie lehrte.<br />

Die beiden hatten sich in Berlin kennengelernt, wo sie bei dem Sprachwissenschaftler Prof. Carl<br />

W. L. Heyse eifrig hörten, schlössen enge Freundschaft und wurden später Schwäger. So verschieden<br />

sie in ihrem Wesen waren - in ihren Interessen und Ideen begegneten sie einander und ergänzten<br />

sich. Gemeinsam schufen sie den Begriff der Völkerpsychologie, und gemeinsam gründeten<br />

sie 1860 die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft.<br />

Die vorliegende Briefedition hat eine längere Vorgeschichte, weil mehrere Bearbeiter vorzeitig<br />

starben. Gegen Ende der 50er Jahre gelangte dann das Briefmaterial in die Hände des Leo-<br />

Baeck-Instituts in New York, das der Erforschung und Darstellung der neuzeitlichen Geschichte<br />

des deutschen Judentums dient, und von diesem wurde schließlich die jetzt in Basel ansässige<br />

Germanistin und Historikerin Ingrid Belke mit der endgültigen Herausgabe der Briefe betraut.<br />

109


Die Publikation zerfällt in drei ungleich große Teile. Zwei Drittel enthalten rund 150 ausgewählte<br />

Briefe, die Lazarus zwischen 1845 und 1903 an mehr als 50 verschiedene und verschiedenartige<br />

Zeitgenossen gerichtet hat. Abgesehen von Steinthal und Paul Heyse (1830-1914), dem<br />

Sohn des Professors und nachmaligen Literaturnobelpreisträgers, handelt es sich um Verwandte,<br />

um jüdische wie nichtjüdische Gelehrte (Philosophen, Theologen, Literaturhistoriker) und Schriftsteller,<br />

auch um Rabbiner, Pädagogen, Politiker. Moritz Lazarus hatte einen großen Kreis, er<br />

pflegte die Beziehungen zu Menschen und liebte Geselligkeit. Ihm lag viel an Gedankenaustausch<br />

und geistiger Auseinandersetzung. Diesem seinem Bild entspricht der Stil seiner Briefe; sie klingen<br />

höflich geschäftlich-sachlich, in ihrer Form sind sie oft elegant, weltmännisch. Ganz anders<br />

Steinthal. Von ihm sind etwa 40 Briefe (ausschließlich an Lazarus) aus den 50er und 60er Jahren<br />

des vorigen Jh.s abgedruckt. Obwohl er aus einem ähnlichen kleinstädtischen Milieu kam wie<br />

Lazarus, wirkt er wie aus anderem Holz geschnitzt: seine Briefe sind schlichter, inniger, für die<br />

Familie bestimmte, zuweilen tagebuchartige Stimmungsberichte. Oft enthalten sie persönliche Mitteilungen<br />

mit selbstironischem Unterton. Gleichzeitig vermitteln sie zuweilen Gedanken wissenschaftlicher<br />

Natur, wie sie etwas weltfremde, grübelnde Forscher äußern. Die Herausgeberin hat<br />

ihren Auftrag nicht eng aufgefaßt: Zu der eigentlichen Edition hat sie eine den beiden Gelehrten<br />

zu gleichen Teilen gewidmete, sorgfältige Lebens- und Werksbeschreibung verfaßt und in diese<br />

einige wichtige Exkurse, z. B. über Völkerpsychologie, über den Antisemitismusstreit, eingeflochten.<br />

Zusammengenommen ist dieser lehrreiche und lesenswerte, zudem hervorragend lesbare „Vorspann"<br />

zu einem wesentlichen Bestandteil des ganzen Werks geworden. Ein zweiter Briefband<br />

Lazarus-Steinthal ist in Aussicht genommen. Ernst G. Lowenthal<br />

Eingegangene Bücher<br />

(Besprechung vorbehalten)<br />

Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik.<br />

Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1974. 300 S. (Ullstein-Buch Nr. 3091).<br />

Bauordnung für Berlin in der Fassung vom 13. Februar 1971. Kommentar mit Rechtsverordnungen<br />

und Ausführungsvorschriften. Gütersloh: Bertelsmann Fachverlag 1972. 516 S.<br />

Berliner Handelsregister-Verzeichnis. Leitende Personen der Berliner Wirtschaft. Bearb. durch<br />

Kurt Röder. Berlin: Adreßbuch-Gesellschaft 1974. 798 S.<br />

Berliner Stadt-Adreßbuch. Bd. II: Branchen-Adreßbuch für Berlin (West). Berlin: Adreßbuch-<br />

Gesellschaft 1975.<br />

Botting, Douglas: Alexander von Humboldt. Biographie eines großen Forschungsreisenden. München:<br />

Prestel 1974. 402 S. m. Abb.<br />

Braulieb, Heinrich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. (Ost-)Berlin:<br />

Henschelverlag 1969. 320 S. m. Abb.<br />

600 Jahre Britz 1375-1975. Festschrift. (Text: Herbert Fätkenheuer.) 56 S. m. Abb.<br />

Bruno Paul. Hrsg. von Lothar Lang. München: Rogner & Bernhard 1974. 112 S. m. Abb. (Klassiker<br />

der Karikatur. 11).<br />

Das Berliner Taxigewerbe - Sonderausgabe 1900-1975. Hrsg. zum 75jährigen Bestehen der Innung<br />

des Berliner Taxigewerbes. Berlin: Selbstverl. 1975. 88 S. m. 111.<br />

Döblin, Alfred: Griffe ins Leben. Berliner Theaterberichte 1921-1924. Hrsg. u. eingel. von Manfred<br />

Beyer. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1974. 288 S.<br />

Drewitz, Ingeborg: Wer verteidigt Katrin Lambert? Roman. Stuttgart: Gebühr 1974. 175 S.<br />

Edel, Peter: Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein Roman über deutsche Vergangenheit und<br />

Gegenwart. Frankfurt a. M.: Röderberg-Verl. 1973. 560 S.<br />

Fischer-Fabian, Siegfried: Berlin-Evergreen. Bild einer Stadt in sechzehn Porträts. Frankfurt/<br />

Berlin/Wien: Ullstein o. J. 188 S. (Ullstein-Buch Nr. 3005).<br />

Fragen an die deutsche Geschichte. Ideen, Kräfte, Entscheidungen von 1800 bis zur Gegenwart.<br />

Katalog zur Historischen Ausstellung im Reichstagsgebäude in Berlin. Bearb. von Lothar<br />

Gall. Stuttgart: Kohlhammer 1974. 224 S. Text m. Abb. und 316 Abb. auf Taf.<br />

Franke, Wilhelm: So red't der Berliner. Ein lustiger Sprachführer. 11. Aufl. Berlin: arani 1975,<br />

61 S. m. 111.<br />

Gelandet in Berlin. Zur Geschichte der Berliner Flughäfen. Hrsg.: Berliner Flughafengesellschaft<br />

mbH (1974). 355 S. m. Abb.<br />

Granach, Alexander: Da geht ein Mensch. Der Lebensroman eines Schauspielers. München: Herbig<br />

1973. 304 S.<br />

Hofmeister, Burkhard: Berlin. Eine geographische Strukturanalyse der zwölf westlichen Bezirke.<br />

Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1975. 468 S. m. Karten u. Schaubildern, 25 Abb. auf Taf.<br />

(Wiss. Länderkunden, Bd. 8/1).<br />

110


König, Rolf: Mit Pille, Spritze und Skalpell. Anekdoten um Berliner Ärzte und ihre Patienten.<br />

Berlin: Rembrandt 1975. 140 S. m. 111.<br />

Lemmer, Konrad (Hrsg.): Berliner Anekdoten und Geschichten. Berlin: Rembrandt 1974. 136 S.<br />

m. 111.<br />

Lundgreen, Peter: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Berlin: Colloquium<br />

1975. 307 S. (Einzelveröff. d. Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 16).<br />

Mahncke, Dieter: Berlin im geteilten Deutschland. München/Wien: Oldenbourg 1973. 325 S.<br />

(Schriften d. Forschungsinstituts der Dt. Gesellsch. f. Auswärtige Politik e. V., Bd. 34).<br />

Max Reinhardt - Schriften, Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern.<br />

Hrsg. von Hugo Fetting. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1974. 528 S. m. Abb.<br />

Oehlmann, Werner: Das Berliner Philharmonische Orchester. Kassel: Bärenreiter 1974. 199 S.<br />

m. Abb.<br />

Paul, Wolfgang: Einladung ins andere Deutschland. Hundert Städte und Landschaften zwischen<br />

Rügen und dem Erzgebirge. Frankfurt a. M.: Weidlich 1967. 320 S., 20 Abb.<br />

Reichardt, Hans D.: Berliner S-Bahn. 50 Jahre elektrischer Stadtschnellverkehr. - Ders.: Berliner<br />

U-Bahn. - Ders.: Die Straßenbahnen Berlins. Eine Geschichte der BVG und ihrer Straßenbahnen.<br />

Düsseldorf: Alba Buchverlag 1974. 144, 112 u. 96 S., jeweils mit Abb. u. Zeichn.<br />

Reuter, Ernst: Schriften - Reden. Hrsg. von Hans E. Hirschfeld (f) und Hans J. Reichhardt.<br />

Bd. 3: 1946-1949. Berlin: Propyläen 1974. 944 S.<br />

Schmädeke, Jürgen: Das Fernsehzentrum des Senders Freies Berlin. Berlin: Haude & Spener<br />

1973. 75 S. Text, 50 Tafel-Abb. (Buchreihe des SFB, 13).<br />

Scholz, Hans: Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg. Bd. 1-3. Berlin: Stapp<br />

1973-75. 156, 179 und 188 S., jeweils mit Abb. u. Km.<br />

Schramm, Adalbert Georg: Heiteres vom dritten Hof. Ein Blick in das Herz des Berliners.<br />

Berlin: Rembrandt 1974. 80 S. m. 111.<br />

Schreiber, Georg: Husaren vor Berlin. Wien/München: Jugend und Volk Verlagsgesellsch. 1974.<br />

221 S.<br />

Scbrißsteller in Berlin. Einzelheft der Zeitschrift „europäische ideen", Hrsg.: Andreas W. Mytze.<br />

Heft 7, Berlin 1974, 45 S.<br />

Steineckert, Gisela, u. Joachim Walther: Neun-Tage-Buch. Die X. Weltfestspiele in Berlin - Erlebnisse,<br />

Berichte, Dokumente. (Ost-)Berlin: Verl. Neues Leben, u. Dortmund: Weltkreis-<br />

Verlags-GmbH 1974. 267 S. m. Abb.<br />

Stützle, Walther: Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962. Bonn-Bad Godesberg:<br />

Verl. Neue Gesellschaft 1973. 253 S. (Schriftenreihe d. Forschungsinstituts d. Friedr.-Ebert-<br />

Stiftung, Bd. 96).<br />

Wendland, Victor: Die Wirbeltiere Westberlins. Berlin: Duncker & Humblot 1971. 128 S. m. Abb.<br />

Wladimir Iljitsch Lenin in Berlin und als Leser der Königl. Bibliothek, der heutigen Deutschen<br />

Staatsbibliothek. (Ost-)Berlin: Dt. Staatsbibliothek 1970. 40 S. m. Abb.<br />

Zivier, Georg, Hellmut Kotschenreuther u. Volker Ludwig: Kabarett mit K. Fünfzig Jahre große<br />

Kleinkunst. Berlin: Berlin-Verlag 1974. 156 S. m. Abb.<br />

Im III. Vierteljahr 1975<br />

haben sich folgende Damen, Herren und<br />

Berliner Baugenossenschaft e. G.<br />

1 Berlin 41, Brentanostraße 19<br />

Tel. 8 21 10 95 (Harry Richter)<br />

Heinrich Buecheler, Soldat<br />

5308 Rheinbach, Lilienweg 21<br />

Tel. (0 22 26) 52 83 (W. G. Oschilewski)<br />

Wilhelm Bratspis, Verwaltungsbeamter a. D.<br />

1 Berlin 42, Adolf-Scheidt-Platz 3<br />

Tel. 7 86 69 91 (Schriftführer)<br />

Heinz Hoffmann, Leiter der Filiale des<br />

Westermann-Verlages<br />

1 Berlin 31, Kaubstraße 7 a<br />

Tel. 87 75 12<br />

Institutionen zur Aufnahme gemeldet:<br />

Prof. Hans-Dieter Holzhausen, Hochschullehrer<br />

1 Berlin 33, Breitenbachplatz 12<br />

Tel. 8 241528 (Eva-Maria Holzhausen)<br />

Dr. Albert Lindemann, HNO-Facharzt<br />

1 Berlin 27, Lachtaubenweg 8 a<br />

Tel. 4 31 21 44 (Schriftführer)<br />

Rosemarie Richter, techn. Angestellte<br />

1 Berlin 37, Mühlenstraße 3<br />

Tel. 8 15 30 23 (Schriftführer)<br />

Alexander von Stahl, Senatsdirektor<br />

1 Berlin 21, Solinger Straße 4<br />

Tel. 3 91 81 18 (K. Pomplun)<br />

111


Veranstaltungen im IV. Quartal 1975<br />

1. Mittwoch, 8. Oktober 1975, 18 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Berlin vor<br />

30 Jahren" in der Ausstellungshalle des Neubaues der Landesbildstelle Berlin,<br />

Berlin 21, Wikingerufer 7 (Busse 23 und 90). Führung: Herr Dr. Friedrich Terveen.<br />

2. Dienstag, 28. Oktober 1975, 18 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Helmuth von<br />

Moltke - 1800-1891. Zum 175. Geburtstag des Generalfeldmarschalls" im Geheimen<br />

Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Archivstraße 12-14<br />

(Busse 1, 68, U-Bahn Podbielski-Allee). Führung: Frau Dr. Cecile Lowenthal-<br />

Hensel.<br />

3. Dienstag, 11. November 1975, 19.30 Uhr: Filmvortrag „Berlin 1927", ein Dokumentarfilm<br />

über Stadt und Menschen. Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

Leitung: Herr Wolf Rothe.<br />

4. Dienstag, 25. November 1975, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Michael<br />

Engel: „Grabstätten auf Berliner Friedhöfen." Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Dienstag, 9. Dezember 1975, 19.30: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Julius<br />

Posener: „Was bedeutet uns das bauliche Erbe Berlins?" Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

6. Sonnabend, 20. Dezember 1975, 16 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein mit<br />

Lichtbildervortrag von Herrn Hans Werner Klünner: „Weihnachtszeit im Alten<br />

Berlin." Ratskeller Schöneberg, Berlin 62, John-F.-Kennedy-Platz.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen<br />

geselliges Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 24. Oktober, 21. November und 12. Dezember, zwangsloses Treffen in der<br />

Vereinsbibliothek ab 17 Uhr.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für das Jahr 1974 und 1975. Auf Wunsch kann<br />

eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 4 65 90 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus). Geöffnet: freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Günter Wollschlaeger. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt,<br />

Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

112


J<br />

A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

72. Jahrgang Heftl Januar 1976<br />

Optische Anstalt<br />

C.P.Croerz,<br />

Berlin-Friedenau VSf^<br />

lUW-Vorit: 52 Käst Union Square- Pari*: 22 medel'Emrepöt. Cettfott: 4 u. sHolborn-Circus. EC.<br />

Fabrik photographischer Apparate.<br />

Goerz-Änschütz 1<br />

Moraent-<br />

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der Blendenöffnung in den Grenzen von '/,,„,<br />

bis i Sekunde Rapides Oeffnen und Seh.lie.ssen,<br />

daher kern Liehtverhist G!et< hmäs-ige Lichtvenheilung<br />

über das Bild Oeffnet und sddiesst sich völlig geräuschlos, bleibt beim Spannen<br />

geschlossen<br />

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und photographische Apparate auf Wunsch kostenfrei<br />

113


Die Geschichte der Photographie in Berlin<br />

Teil I: 1839-1900<br />

Von James E. Cornwall<br />

„Man ist hier noch immer nicht genug gegen französische Windbeuteleien verwahrt",<br />

kommentierte die Vossische Zeitung vom 28. August 1839 die Erfindung der Photographie.<br />

In Paris wurde nämlich 9 Tage zuvor während einer Sitzung der Akademie der<br />

Wissenschaften, durch Francois Arago, die genaue Beschreibung der photographischen<br />

Prozesse von Nicephore Niepce und Louis Jacques Mande Daguerre bekanntgegeben.<br />

Das Verfahren bestand darin, daß man eine versilberte Metallplatte Joddämpfen aussetzte<br />

und die Platte danach in einer Kamera belichtete. Im Anschluß daran wurde die<br />

belichtete Metallplatte durch Quecksilberdämpfe entwickelt. Das ergab auf der spiegelnden<br />

Platte ein positiv erscheinendes Bild (Daguerreotypie genannt).<br />

Die Einführung der Daguerreotypie in Berlin verdanken wir dem Kunsthändler Louis<br />

Friedrich Sachse (12. 7. 1798-29. 10. 1877), Besitzer einer lithographischen Anstalt in<br />

Berlin, Jägerstraße 30. Sachse war mit Daguerre persönlich befreundet und wurde bereits<br />

im April 1839 in sein Geheimnis eingeweiht. Die Kamera, die Daguerre zur Herstellung<br />

seiner Bilder benutzte, ließ er bei der Firma Giroux & Co. in Paris bauen. Sachse traf<br />

mit dieser Firma schon im Juli 1839 ein Abkommen wegen der Einführung der ersten<br />

Daguerre'schen Apparate in Deutschland. Am 6. September erhielt Sachse aus Paris die<br />

ersten sechs Apparate zum Preis von je 465 Francs, nebst dem nötigen Zubehör von<br />

Kupferplatten, Gläsern und Chemikalien. Infolge unzureichender Verpackung brachen<br />

sämtliche Flaschen sowie die Kameras und man kann sich vorstellen, welche Wirkung<br />

die Chemikalien auf das Holz hatten. Sachse ließ die Kameras reparieren und begann<br />

endlich am 20. September 1839 mit Erfolg zu arbeiten.<br />

Während Sachse der erste war, der in Berlin die ersten Originalkameras aus Paris einführte,<br />

kann der Berliner Optiker Carl Theodor Dörffel (1810-1878) das Verdienst für<br />

sich in Anspruch nehmen, als erster deutsche Apparate gefertigt zu haben. So stellte er<br />

bereits am 16. September 1839 einen Probeapparat in seinem Laden, Unter den Linden 46,<br />

zur Ansicht aus und nahm dort auch gleich Bestellungen entgegen. Die Silberplatten für<br />

das Verfahren lieferte Johann George Hossauer (5. 10. 1794-14. 1. 1874), der Hofgoldschmied<br />

Friedrich Wilhelms III.<br />

Das Daguerreotypieren, welches zumeist sonntags betrieben wurde, war für die Beteiligten<br />

ein Nebengeschäft. Die anfänglichen Belichtungszeiten bei Sonnenschein betrugen immerhin<br />

15-30 Minuten. Unsere Urgroßväter hatten daher manchmal beim Photographen<br />

folgendes gehört: „Gut so, sitzen Sie still. Ich werde die Klappe abnehmen und dann<br />

Mittag essen. Wenn ich wiederkomme, werde ich die Sitzung schließen."<br />

Im Laufe der nächsten zwei Jahre konnte jedoch durch Entwicklung lichtstärkerer Objektive<br />

die Belichtungszeit auf 1 Minute reduziert werden. Die „kurze" Belichtungszeit<br />

erleichterte das Photographieren von Personen und ebnete somit den Weg für die Berufsphotographie.<br />

Der erste Berliner Berufsphotograph war Johann Carl Conrad Schall (3.4.1805-2.3.<br />

1885), Sohn des Porzellanmalers Johann Friedrich Schall. Er eröffnete im Mai 1842 ein<br />

„öffentliches Conterfei-Atelier", Zimmerstraße 41. Geworben hatte er mit folgendem<br />

114


Abb. la-c<br />

Text: „Lichtbilder-Portraits mit dem Daguerreotyp in einer Minute gefertigt, werden in<br />

beliebiger Größe täglich von 9-3 Uhr gemacht".<br />

Die Daguerreotypisten (so wurden die ersten Photographen genannt) kamen überwiegend<br />

aus artverwandten Berufen, wie z. B. Portraitmaler, Kupferstecher, Zeichenlehrer<br />

und Optiker. Aber auch „Umschüler" waren dabei, wie der Juwelier Altmann, der Tapezierer<br />

Bodinus, der Nadler Siebert und, nicht zu vergessen, der Hühneraugenoperateur<br />

Cusany. Offenbar hatte jedoch August Friedrich Cusany beim Entfernen von Hühneraugen<br />

mehr Erfolg als beim Photographieren, denn er hängte den Beruf als Daguerreotypist<br />

schon nach einem Jahr wieder an den „Nagel".<br />

Bereits im Jahre 1846 gab es 18 photographische Ateliers in Berlin. Bis zum Jahre 1850<br />

blieb die Zahl der Ateliers ungefähr konstant und stieg dann aber bis 1853 sprunghaft<br />

auf eine Zahl von 46 an. Diese Tendenz setzte sich weiter fort, woraufhin man im Jahre<br />

1860 bereits 94 Photographen in der Stadt verzeichnen konnte. Aus der „Grünen<br />

Apotheke" von Schering, Chausseestraße 21, wurden die Photographen ab 1854 mit<br />

entsprechenden Chemikalien, die sie für ihre Arbeit benötigten, versorgt.<br />

Unabhängig von der Erfindung Daguerres war es einem Engländer gelungen, Photographien<br />

auf Papierunterlagen herzustellen. Die Möglichkeit, beliebig viele positive<br />

Abzüge herstellen zu können, schaltete in steigendem Maße die Daguerreotypie aus. Die<br />

letzten Daguerreotypien wurden um 1860 hier in Berlin angefertigt.<br />

Bisher war die Photographie den Berufsphotographen und einigen wohlhabenden<br />

Amateuren vorbehalten. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschien dann die<br />

„Reise"-Kamera. Sie war zusammenlegbar, wesentlich leichter und eroberte sich schnell<br />

die Sympathie der Amateure, die von nun an in steigendem Maße selbst zu photographieren<br />

begannen.<br />

115


Den Bedarf an Kameras, der dadurch zwangsläufig entstand, deckten in erster Linie<br />

Berliner Möbeltischler, die sich davon eine lukrative, zusätzliche Einnahmequelle versprachen.<br />

Diese Vermutung bestätigte sich dann auch, denn viele Möbeltischler fertigten<br />

nach ein paar Jahren nur noch Holzkameras. Kameratischler siedelten sich in der Reichenberger-,<br />

Prinzen- und Oranienstraße an und waren bald danach auch über Berlins Grenzen<br />

hinaus für ihre präzise und solide Arbeit bekannt. Namen wie Stegemann, Heßler<br />

und Gareis waren auch nach der Jahrhundertwende dominierend auf dem Gebiet des<br />

Kamerabaus in Berlin.<br />

Als 1854 das „Visitbild" erschien (siehe Abb. 1 a-c) und die Preise für das kleine Format<br />

erheblich sanken, hatten die Photographen einen solchen Zustrom, daß man nur nach<br />

Anmeldung und wochenlanger Wartezeit photographiert werden konnte. Wenn auch<br />

gerade damals die Einführung der „Visitbilder", die im Dutzend gekauft werden mußten,<br />

neues Leben ins Geschäft gebracht hatte, so zeigten sich auch schon die Verfallserscheinungen<br />

der Portrait-Photographie in Form von Preisdrückereien. Diejenigen unter den<br />

Photographen, die sich Gedanken um die Zukunft machten, sahen allmählich ein, daß<br />

der drohenden Übersättigung des Publikums nur eine Hebung der Qualität helfen<br />

konnte. Dies diskutierten sie auch in Gemeinschaft Gleichgesinnter und es kristallisierte<br />

sich der Wunsch heraus, eine fachliche Interessengemeinschaft zu gründen. Am 20. November<br />

1863 wurde der „Photographische Verein zu Berlin" von seinem Gründer Dr. Hermann<br />

Wilhelm Vogel (26. 3. 1834-17. 12.1898) aus der Taufe gehoben.<br />

In der Gründungssitzung des Vereins hatte Dr. Vogel unter den künftigen Aufgaben des<br />

Vereins auch die Veranstaltung photographischer Ausstellungen genannt. Dieser Punkt<br />

lag Vogel besonders am Herzen. Er erstrebte eine Ausstellung aus mehreren Gründen.<br />

Unter anderem sollte dem Publikum, das unter Photographie zumeist nur eine billige<br />

Portraitierkunst verstand, die vielseitige Leistungsfähigkeit der Photographie in Wissenschaft,<br />

Kunst und Technik gezeigt werden.<br />

Zwei Jahre später war es dann soweit. Man kündigte Medaillen für die besten Aussteller<br />

an. Und das wirkte Wunder. Vier Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses war die<br />

Zahl der Aussteller schon auf fast 300 angewachsen. In der Ausstellerliste fand man alle<br />

photographischen Größen jener Zeit vertreten. Die Aussteller und die Mitglieder des<br />

Vereins hatten freien Eintritt. Um die beliebte Weitergabe der für diese Personen<br />

bestimmten Ausweise zu unterbinden, führte Vogel eine Neuheit ein: Als Ausweis diente<br />

das mit dem Ausstellungsstempel versehene Visit-Portrait des Betreffenden. Mit dieser<br />

Maßnahme hatte Vogel das photographische Bildnis als Grundlage eines Personalausweises<br />

zwar nicht erfunden, aber wohl als erster in die Praxis eingeführt.<br />

Hermann Wilhelm Vogel, bekannt geworden durch seine zahlreichen Veröffentlichungen<br />

auf dem Gebiet der Photochemie, wurde später zum Leiter der Abteilung für Chemie<br />

an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg ernannt.<br />

Doch wenden wir uns einmal der Berliner Wirtschaft in dieser Zeit zu.<br />

Noch heute bestehen Firmen auf optischem und photographischem Sektor in Berlin, die<br />

im vorigen Jahrhundert gegründet wurden. Hierzu zählen u. a. Firma Kindermann &<br />

Co. (gegr. 1861) und Firma Schmidt & Haensch (gegr. 1864). Auch die Firma Agfa<br />

hatte ihren Beginn 1867 in Berlin.<br />

In der Zimmerstraße 23 gründete im Jahr 1886 der damals noch unbekannte Carl Paul<br />

Goerz (21. 7. 1854-14. 1. 1923, Abb. 2) ein Versandhaus für mathematische Instrumente.<br />

Zwei Jahre später erwarb er eine mechanische Werkstatt, um selbst photographische<br />

116


Abb. 2 Abb. 3<br />

Apparate und Objektive herstellen zu können. Das Schleif- und Poliermaterial mußte<br />

von einem Arbeiter selbst eingekauft werden, und er erhielt zu diesem Zweck vom Mechanikermeister<br />

8 Groschen ausgehändigt mit den Worten: „Daß Sie mir aber oben auf dem<br />

Omnibus fahren, da kostet's bloß einen Sechser!" - Für 35 Pfennig pro Stunde arbeiteten<br />

die Arbeiter 10 Stunden am Tage.<br />

Am 29. und 30. März 1898 fand der vierte Umzug seit Bestehen der Firma statt; dieses<br />

Mal zog man nach Friedenau, Rheinstraße 45-46. An der Ortsgrenze zwischen Friedenau<br />

und Schöneberg wurde die Belegschaft von einer Musikkapelle empfangen, und so zogen,<br />

die Musik voran, die Arbeiter und Möbelwagen unter Freudenklängen die Rheinstraße<br />

hinunter zu der neuen Arbeitsstätte. Die Polizei von Friedenau hatte für dieses „Vergnügen"<br />

kein Verständnis, denn es folgte ein Strafmandat über 12 Mark wegen polizeilich<br />

nicht gemeldeten Aufzuges.<br />

Wir lesen in „Das gewerbliche Leben im Kreise Teltow" von 1900: „... daß ein Teil der<br />

in Friedenau und Steglitz befindlichen optischen Anstalten früher schon in Berlin bestanden<br />

hat, dort aber nicht bleiben konnte, weil für die sorgfältige Prüfung der äußerst<br />

empfindlichen Apparate nicht die erforderliche Ruhe vorhanden war."<br />

Aber betrachten wir die letzten zehn Jahre von der Jahrhundertwende noch einmal<br />

genauer.<br />

117


Sicher werden sich viele Leser dieser Zeitschrift an das photographische Atelier Emilie<br />

Bieber in der Leipziger Straße erinnern. Das Atelier wurde ursprünglich in Hamburg<br />

gegründet. Professor Leonard Berlin, der Neffe von E. Bieber, wurde mit Vorliebe von<br />

Kaiser Wilhelm IL nach Berlin geholt, um Portraits anzufertigen. Auch im Jahre 1892<br />

hatte der Kaiser ihn nach Berlin bestellt. Als der Photograph im Zuge saß, hörte er, daß<br />

Hamburg wegen der Cholera-Epidemie zur gesperrten Stadt erklärt worden war. Da er<br />

also vorerst nicht nach Hamburg zurück konnte, ließ er sogleich seine Familie nachkommen<br />

und gründete in Berlin eine Filiale, die sich zunächst in der Friedrichstraße und<br />

später in der Leipziger Straße befand.<br />

Prof. Leonard Berlin behielt die Leitung des Berliner Hauses bis zum 1. Weltkrieg,<br />

dann verkaufte er das Geschäft und zog sich ins Privatleben zurück. Er starb 1931 in<br />

Hamburg.<br />

Erwähnen muß man noch einen Mann, der bis jetzt in Berlin fast unbekannt geblieben<br />

ist - ein Mann, dem wir zu verdanken haben, daß die Flugversuche von Orro Lilienthal<br />

im Bilde festgehalten wurden. Dr. Richard Neuhauss (17.10.1855-9.2.1915, Abb. 3)<br />

war seit 1886 als praktischer Arzt in Berlin tätig. Als begeisterter Amateurphotograph<br />

machte er zwischen 1894 und 1896 unzählige Aufnahmen der Flugversuche Lilienthals an<br />

dem berühmten „Berg" in Lichterfelde. Einige Bilder erschienen als Serie im Postkartenformat.<br />

Berlin kann auch stolz sein, Erfindertalente auf dem Gebiet der Photographie und Optik<br />

gehabt zu haben. Drei hervorragende Männer sollen hier vorgestellt werden. Sehr große<br />

Verdienste um den Fortschritt der Serienphotographie erwarb sich Ottomar Anschütz<br />

(16.5.1846-30.5.1907). Anschütz befaßte sich 1882 mit Einzelmomentaufnahmen und<br />

erregte 1884 großes Aufsehen mit seinen Momentbildern von fliegenden Tauben und<br />

Störchen, welche eine damals unerreichte Deutlichkeit und ansehnliche Größe besaßen.<br />

Die optische Vereinigung dieser Serienphotographien zu „lebenden" Bewegungsbildern<br />

gelang Anschütz weitaus vollkommener und präziser als allen seinen Vorgängern durch<br />

seinen „Schnellseher". In diesem elektrischen „Schnellseher" konnte er bereits viele dieser<br />

Bildserien (er hatte davon etwa 200!) vorführen. Das photographische Wochenblatt 1887<br />

schrieb: „Anschütz' elektrischer ,Schnellseher' ist der erste Apparat, der in einwandfreier<br />

Weise eine schöne Darstellung photographisch gewonnener lebender Bilder gab, wenn<br />

auch in kleinem Maßstab, so doch für einen kleinen Kreis von Beschauern gleichzeitig<br />

sichtbar." Aufgrund dieses Ergebnisses wurde ihm sogar von Kultusminister von Goßler<br />

ein Zuschuß zum Ausbauen seiner Apparate zugebilligt. Die Bilder wurden auf einer<br />

großen Metallscheibe angeordnet und in stetiger Bewegung an einem Guckloch vorbeigeführt<br />

(siehe Abb. 4). Die Firma Siemens & Halske hatte für Anschütz eine Serie von<br />

„Schnellsehern" angefertigt, die auf Ausstellungen 1891 in Deutschland, 1892 in Wien<br />

und London und 1893 auf der Weltausstellung in Chicago ein Massenpublikum anzogen.<br />

Ebenso bedeutend für die Geschichte der Kinematographie war der Berliner Max Skladanowsky<br />

(30. 4.1863-30.11.1939). Am 1. November 1895 führte Max Skladanowsky in<br />

Berlins berühmtem Variete „Wintergarten" erstmals Filme öffentlich vor. Er benutzte<br />

hierzu den von ihm konstruierten Projektor, „Bioscop" (siehe Abb. 5) genannt. Für diese<br />

Sensation ersten Ranges hatten Max Skladanowsky und sein Bruder Eugen 9 Filme mit<br />

Zwischentiteln gedreht. Die ersten Schauspieler dieser interessanten Erfindung der Neuzeit<br />

waren Emil und Eugen Skladanowsky. Max Skladanowsky gehörte zu den Erfindern,<br />

denen es gelang, die Kinematographie zu verwirklichen.<br />

118


Abb. 4 Abb. 5<br />

Der dritte der erfolgreichen Erfinder war Oskar Meßter (21. 11. 1866-7. 12. 1943). Er<br />

war der einzige der technischen Pioniere und Erfinder, der selbst noch viele Jahre lang<br />

führend auf seinem Gebiet war. Bekannt wurde er durch die Entwicklung des „Deutschen<br />

Getriebes" (Malteserkreuz genannt), einem Getriebe für Projektoren. Er war auch als<br />

Produzent ein Pionier des deutschen Films und blieb es viele Jahre lang, in denen er<br />

seine eigenen Filme herstellte.<br />

Im Dachgeschoß des Hauses Friedrichstraße 94 a eröffnete Meßter 1896 das erste Berliner<br />

Filmatelier, das zugleich mit Kunstlicht betrieben wurde. Im Januar 1897 drehte er erstmals<br />

Filmaufnahmen vom Berliner Presseball. Gleichzeitig begann er seine ersten Filme<br />

zu drehen und, wie damals üblich, war er sein eigener Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann,<br />

Entwickler, Kopierer und Vorführer. Auch die ersten Filmaufnahmen aus einem<br />

Freiballon drehte er 1900 selbst.<br />

Inzwischen wurde das erste Berliner Kinotheater eröffnet. Es befand sich in einem Raum<br />

des Restaurants „Wilhelmshallen", Unter den Linden 21. Kurz danach öffnete in der<br />

Friedrichstraße ein zweites Berliner Kino unter dem Namen „Edison-Theater". Neben<br />

Filmen über aktuelle Ereignisse, wie die „Kaiser-Flottenparade von Helgoland", sah man<br />

kurze, wenn auch reichlich primitive Spielfilme. Kassenmagnet wurde „Der Raubmord<br />

am Spandauer Schiffahrtskanal bei Berlin oder Überfall eines Bierkutschers auf einsamer<br />

Landstraße". Aber auch Filme wie „Hochfliegende Pläne des Prof. Luftikus" begeisterten<br />

119


die Berliner. Titel wie „Die Hochzeitsnacht" oder „Im Separee" versprachen freilich<br />

mehr, als sie hielten.<br />

Ob Klamauk im ,Kintopp' oder der Photograph im Glasatelier - lassen wir zum Schluß<br />

Wilhelm Busch zu Worte kommen:<br />

Wie standen ehedem die Sachen<br />

So neckisch da in ihrem Raum,<br />

Schwer war's, ein Bild davon zu machen,<br />

Und selbst der Beste könnt' es kaum.<br />

Jetzt ohne sich zu überhasten,<br />

Stellt man die Guckmaschine fest<br />

Und zieht die Bilder aus dem Kasten<br />

Wie junge Spatzen aus dem Nest.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 15, Uhlandstr. 45<br />

b. Hildebrandt<br />

Sämtliche Bildvorlagen stammen aus dem Archiv des Verfassers.<br />

Die Geschichte des alten Spandauer Nikolaikirchhofes<br />

Von Jürgen Grothe<br />

Wie archäologische Untersuchungen der letzten Jahre auf dem Spandauer Burgwall<br />

bewiesen, befand sich der erste christliche Begräbnisplatz auf Spandauer Gebiet nicht in<br />

der heutigen Altstadt, sondern an der Krowelstraße 1 . Er gehörte zur Burg 8 und somit<br />

gleichzeitig zur ersten frühdeutschen Siedlung auf dem Gelände des Burgwalls. Den<br />

Funden nach wird dieser Begräbnisplatz in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts<br />

1 von Müller, Adriaan: Wo lag Alt-Spandau? Hrsg. vom Förderkreis des Heimatmuseums<br />

Spandau. Berlin 1975.<br />

120


Abb. 1:<br />

Ausschnitt aus dem<br />

„Plan der Stadt Spandau<br />

Intra Moenia"<br />

von Haestkau, 1724<br />

datiert. Die Toten waren in Holzsärgen, auf Totenbrettern oder ohne jede Ummantelung<br />

beigesetzt.<br />

Noch im 12. Jahrhundert wird die Siedlung auf dem Burgwall aufgegeben und an die<br />

Stelle der heutigen Spandauer Altstadt verlegt. 1972-73 gelang den Archäologen die<br />

bisher älteste Siedlungsschicht in der Altstadt, südlich der Mönchstraße, anzuschneiden 2 .<br />

Häuser mit senkrecht stehenden Holzplankenwänden, aus der zweiten Hälfte des<br />

12. Jahrhunderts, konnten 3 Meter unter dem heutigen Straßenniveau freigelegt werden.<br />

Die Frage, wann die erste Nikolaikirche errichtet worden ist, ist bis heute nicht zu<br />

beantworten. Grabungen von Albert Ludewig, die unzureichend publiziert sind, lassen<br />

ein Gotteshaus um 1200 vermuten 3 . Dieses Gotteshaus und die Kaufmannssiedlung auf<br />

der Altstadtinsel fielen zwischen 1230 und 1240 einem Schadenfeuer zum Opfer. Die<br />

Brandschicht wird bei archäologischen Untersuchungen immer wieder angeschnitten.<br />

Scherbenfunde an der Mönchstraße zeigten, daß die Bewohner deutscher Herkunft waren.<br />

2 Wie Anmerkung 1.<br />

3 Ludewig, Albert: Die Kirchen um St. Nikolai. In: Spandauer Volksblatt Nr. 79 vom 3. 3. 1947.<br />

121


Somit dürfte auch das erste Gotteshaus dem Hl. Nikolaus von Myra, dem Schutzpatron<br />

der Kaufleute und Fischer, geweiht gewesen sein.<br />

Die Frage, wann der Begräbnisplatz an der Nikolaikirche angelegt wurde, ist gleichfalls<br />

noch ungeklärt. Archäologische Untersuchungen auf dem Gelände des heutigen Reformationsplatzes<br />

stehen noch aus. Diese Ausgrabungen sind für die mittelalterliche Geschichte<br />

Spandaus von äußerster Wichtigkeit. Sie könnten Antwort auf folgende Fragen geben:<br />

1. Wann wurde das erste Gotteshaus erbaut?<br />

2. Wann wurde der erste Friedhof angelegt?<br />

3. Befand sich ursprünglich an dieser Stelle ein Handelsplatz, wie Albert Ludewig<br />

vermutet? 4<br />

4. Lag das Gotteshaus, wie A. v. Müller annimmt, außerhalb der Stadtmauer? 5<br />

Im 13. Jahrhundert wird die Nikolaikirche zum erstenmal genannt. 1239 war das<br />

Benediktinerinnen-Kloster St. Marien durch die Markgrafen Johann und Otto vor den<br />

Toren der Stadt gegründet worden. Gleichzeitig wurde ihm das Patronat über die Pfarrkirche<br />

übertragen. Ein Jahr später, am 29. 7. 1240, übertrugen dieselben Markgrafen das<br />

Patronat den Bürgern Spandaus. Das Gotteshaus wird als „ecclesia forensis", Marktkirche,<br />

urkundlich erwähnt 6 .<br />

Nachrichten über die Frühzeit des Kirchhofes fließen spärlich. In einer Urkunde vom<br />

10. 9. 1424, in der Peter Kletzke bekundet, unter welchen Bedingungen der Pfarrer von<br />

Seegefeld dem Spandauer Kloster den Zehnt von 10 Hufen überlassen habe, wird zum<br />

erstenmal ein Begräbnisplatz an der Parochialkirche in Spandau genannt 7 . Die nächste<br />

Nachricht stammt aus dem Jahr 1431. Der Bischof von Brandenburg weihte einen<br />

„Kerkhof" in Spandau. Ohne diese Weihe der Erde durch einen Bischof konnte ein<br />

Begräbnisplatz nicht seiner Bestimmung übergeben werden. Es war eine teure Angelegenheit<br />

für die Spandauer, denn der Bischof erhielt 5 Schock, 6 Gr. und 3 Pfg. Außerdem<br />

benötigte man Wein und 3 Stübchen Bier (Stübchen = altes Flüssigkeitsmaß, ca.<br />

3,5 1) für 5 Gr. 2 Pfg, und weitere 21 Gr. kostete ein Faß Bier, das der Bischof als<br />

Geschenk bekam.<br />

In dieser Zeit erfolgte der Neubau der Nikolaikirche. Da es keine zeitgenössische Baunachricht<br />

gibt, ist die Weihe des Kirchhofes ein Beleg dafür, daß der Neubau zumindest<br />

im Rohbau vollendet war. Sonst wäre eine Weihe des Kirchhofes nicht möglich gewesen.<br />

Auch die Formen des Gotteshauses als Hallenbau der Spätgotik, mit der Weiträumigkeit<br />

des Innenraumes und den breitgelagerten Jochen sprechen für diese Zeit. Ob es sich bei<br />

der Kirchhofsweihe von 1431 um eine Erweiterung oder Neu weihe handelt, ist nicht zu<br />

sagen. Folgt man der These Albert Ludewigs, so muß in dieser Zeit die Umsiedlung des<br />

Marktes von der Nikolaikirche an den heutigen Ort erfolgt sein. Dort wurde 1434-37 8<br />

das „Kophus" zum Rathaus umgebaut. 1439 wird zwar noch „dat Rat Hüsiken up dem<br />

Kerkhof" genannt 9 , das der Nikolaikirche gegenüber an der Westseite der heutigen<br />

4 Ludewig, Albert: Dat Rathüsiken up dem Kerkhof zu Spandau. In: Märkisdier Wandergruß<br />

1951, S. 19.<br />

5 Wie Anmerkung 1.<br />

6 Riedel, Adolph Friedridi: Codex diplomaticus Brandenburgensis, Teil I, Bd. 11 (Berlin 1856),<br />

Nr. 17,2.<br />

7 Riedel, ebenda Nr. 17,114.<br />

8 Sdiulze, Daniel Friedrich: Zur Beschreibung und Geschichte von Spandow. Gesammelte Materialien,<br />

hrsg. von Otto Recke. Spandau 1913, Bd. 2, S. 16.<br />

9 Sdiulze, ebenda S. 22.<br />

122


Carl-Schurz-Straße lag. Diese Bezeichnung wird das Gebäude am Kirchhof noch längere<br />

Zeit besessen haben, obwohl die Verwaltung längst in den Neubau am heutigen Markt<br />

umgezogen war. Als Beispiel sei eben dieses Rathaus am Markt genannt, das man bis<br />

zum Abriß 1929 Rathaus nannte, obwohl bereits 1913 der Neubau an der Carl-Schurz-<br />

Straße 2-6 die Verwaltung aufgenommen hatte.<br />

1493 wird der Friedhof im Zusammenhang mit der Franziskaner-Terminei genannt. Ihr<br />

Platz sei bei dem Kirchhof gegen Abend (Westen). Diese Terminei lag an einem „Kirchgasse"<br />

genannten Gang, der die Carl-Schurz-Straße mit der Kinkelstraße verband. Neben<br />

dem Kirchhof war der Innenraum der Nikolaikirche bevorzugte Begräbnisstätte. In ihr<br />

wurde jedoch nur begraben, wer vornehm oder wenigstens begütert war. Einige Grabsteine<br />

und Erbbegräbnisse zeugen noch heute davon.<br />

Als 1612 in Spandau 927 Menschen an der Pest starben, reichte der Nikolaikirchhof<br />

nicht mehr aus. Am 24. August desselben Jahres begann der Totengräber mit den Beerdigungen<br />

auf dem Moritzkirchhof, der zwischen der Stadtmauer und der Jüdenstraße (seit<br />

1938 Kinkelstraße) lag und den Namen „Neuer Friedhof" erhielt 10 . Die Anlage eines<br />

Pestfriedhofes innerhalb der Stadtmauern kann als Beweis dafür gedeutet werden, daß<br />

zu dieser Zeit bereits Pläne bestanden, die Stadt mit Wallanlagen zu umgeben. Das<br />

Risiko, einen gerade vor den Toren der Stadt angelegten Friedhof deshalb wieder aufzulassen,<br />

ging man nicht ein.<br />

Außer den Erb- und Familienbegräbnissteilen innerhalb des Gotteshauses gab es auch<br />

auf dem Kirchhof Erbbegräbnisstellen. 1670 kaufte Bürgermeister David Dilschmann<br />

vom Rat, Ministerium und den Kirchenvorstehern einen Platz für seine Eltern, seine<br />

Frau, seine Kinder, Kindes-Kinder und sich für 15 Taler 11 . Gleichzeitig gab er seine<br />

Grabstelle in der Nikolaikirche, die ihm als Bürgermeister zustand und 10 Taler wert<br />

war, zurück. Als der Erbe des Bürgermeisters, der Konrektor Dilschmann, das Erbbegräbnis<br />

an die Nikolaikirche zurückgeben wollte, ging das nicht ohne weiteres. Mitglieder<br />

der weitverzweigten Familie hätten Ansprüche auf eine Beisetzung in dem Erbbegräbnis<br />

stellen können. So mußte die Obereignung an die Kirche erst im „Intelligenz-Blatt" und<br />

in den Zeitungen bekanntgegeben werden.<br />

1722-24 wurde die Nikolaikirche renoviert. Am 27. März 1723 genehmigte das Konsistorium,<br />

unleserlich gewordene Grabsteine und Steine ausgestorbener Familien zur Pflasterung<br />

des Mittelganges des Gotteshauses zu verwenden.<br />

Eine Mauer grenzte den Kirchhof zur Klosterstraße, der heutigen Carl-Schurz-Straße,<br />

ab. 2 Tore dienten als Zugang (siehe Abb. 1). Weitere Eingänge befanden sich an der<br />

Mönchstraße, Schulgasse und Havelstraße. 1680 wurde die Umfassungsmauer ausgebessert.<br />

Der Gouverneur, General von Schoening, stellte dafür von der Festung 16 Fuhren<br />

Mauersteine zur Verfügung. 1739 mußte sie jedoch auf Anordnung des Generals von<br />

Derschau auf der Südseite abgerissen werden: „Damit die Soldaten desto mehr Raum<br />

hätten, sich zu stellen, wenn sie auf die Wache ziehen, auch auf der Seite nach den<br />

Offiziantenhäusern und der Schule exerzieren könnten." Der Platz vor dem „Heimhaus"<br />

und der Schule sollte, wie ab 1713 der Lustgarten in Berlin, als Exerzierplatz und zum<br />

Aufstellen der Wache genutzt werden. Alle Proteste des Magistrats und der Kirchenverwaltung<br />

gegen den Abriß halfen nichts. Sie mußten sogar noch die Kosten über-<br />

10 Schulze, ebenda S. 142.<br />

11 Schulze, ebenda Bd. 1, S. 117.<br />

123


nehmen. Die Kämmerei zahlte 2 Taler 7 Gr. 12 Jahre später, im März 1750, ließ Major<br />

Stranz auf Befehl des Prinzen August Wilhelm von Preußen die restliche Mauer abreißen.<br />

Als auf seinen Befehl hin nichts geschah, begann er selbst Teile der Mauer einzureißen.<br />

Das sahen die Spandauer Jungen, die ihm nun mit Freude halfen. Der Maurermeister<br />

Vogt brauchte nur noch den Rest zu entfernen und die Steine im Kirchturm aufzustellen.<br />

Er erhielt eine Entlohnung von 11 Talern 20 Gr. Die Grabsteine wurden abgebrochen<br />

und von Angehörigen der Verstorbenen teils in die Wohnhäuser geholt, teils in der<br />

Kirche befestigt, der Platz planiert und mit Rasen besät. Aber er eignete sich schlecht als<br />

Exerzierplatz, denn durch das Absinken der Grabstellen wurde das Gelände uneben.<br />

Nach 1750 fanden Beerdigungen nur noch hinter den Gittern, die die Kirche umgaben,<br />

statt. Die Grabstelle für einen Erwachsenen kostete 3 Taler und für ein Kind 1 Taler<br />

12 Gr.<br />

Bis zur Eröffnung des neuen Nikolaifriedhofes in der Oranienburger Vorstadt, der<br />

heutigen Neustadt, wurden Mitglieder der Nikolaikirchengemeinde auf dem Moritz- und<br />

Reformiertenkirchhof beerdigt. Da sie lutherisch waren, gab es bei Beerdigungen auf<br />

dem Reformiertenkirchhof, der sich an der Stelle des Schulhofes des heutigen Kantgymnasiums<br />

befand, mitunter Schwierigkeiten, die aber in den meisten Fällen finanziell<br />

geregelt werden konnten.<br />

1752 fertigte der Ingenieur Rhode Pläne des alten und neuen Kirchhofes an. Im selben<br />

Jahr wurde der neue Nikolaifriedhof auf einem 18 Morgen großen Gelände der ehemaligen<br />

Kirchenmeierei zwischen der heutigen Schönwalder-, Kirchhofstraße und Straße<br />

Am Koeltzepark eröffnet.<br />

1777 ließ der Kommandeur des Regiments Prinz Heinrich, Oberst von Kalckstein, einen<br />

Teil des Geländes des ehemaligen Kirchhofes an der Nikolaikirche erneut planieren und<br />

mit Rasen belegen. 1780 erweiterte dessen Nachfolger, Oberst von Stwolinsky, die<br />

Rasenfläche und ließ den Platz mit Walnußbäumen und Birken bepflanzen und mit<br />

einem Holzzaun umgeben. Die Einschränkung stieß auf heftige Kritik der Kirchenverwaltung<br />

unter der Leitung des Spandauer Chronisten Daniel Friedrich Schulze, der zu<br />

dieser Zeit Inspektor an St. Nikolai war. Aber erst 1792 wurde der Zaun durch den<br />

Kommandeur Graf von Wartensieben entfernt und die Rasenfläche durch Schmuckanlagen<br />

im englischen Stil umgestaltet. Im 19. Jahrhundert erhielt der Platz nördlich der Nikolaikirche<br />

den Namen Heinrichsplatz (nach dem Bruder König Friedrichs II.) und der südliche<br />

Teil den Namen Joachimsplatz nach Kurfürst Joachim IL, der am 1.11. 1539 in der<br />

Nikolaikirche zum protestantischen Glauben übergetreten sein soll. Da es an ausreichenden<br />

Überlieferungen fehlt, gibt es über den Ort der Handlung, ob Berlin oder Spandau,<br />

in der Geschichtsforschung einen Jahre währenden Streit. Joachim II. zu Ehren wurde<br />

am 1. November 1889 ein von dem Bildhauer Erdmann Encke geschaffenes Standbild<br />

errichtet. Das Denkmal steht auf einem idealen Platz im Zentrum der Altstadt, mitten<br />

im Verkehr, ohne diesen zu behindern, für jeden sichtbar, in der Hauptachse der Nikolaikirche<br />

vor deren Hauptportal, aber soweit von diesem abgerückt, daß ein Wagen<br />

bequem vor dem Gotteshaus vorfahren kann. 1939 erhielt der gesamte das Gotteshaus<br />

umgebende Platz den Namen Reformationsplatz.<br />

Auf dem ehemaligen Kirchhof, nördlich der Nikolaikirche, steht Spandaus ältestes Denkmal.<br />

Es erinnert an die während der Freiheitskriege 1813-1815 gefallenen Spandauer<br />

124


Abb. 2:<br />

Ehrenwache am Denkmal<br />

für die Gefallenen der Befreiungskriege<br />

auf dem ehem.<br />

Nikolaikirchhof anläßlich<br />

der Gedenkfeier am 20. 4. 1913<br />

Bürger und an die beim Sturm auf die Zitadelle am 20. April 1813 Gefallenen. Es<br />

wurde nach Entwürfen Karl Friedrich Schinkels geschaffen und am 27. April 1816 feierlich<br />

eingeweiht. Das Denkmal ist ein typisches Zeugnis der deutschen Romantik. Durch<br />

Lanzen und Ritterhelme sollte an Spandaus mittelalterliche Vergangenheit und durch<br />

die bekrönende, flammende Bombe an den gerade beendeten Krieg erinnert werden. Das<br />

Denkmal steht auf einem dreistufigen Sockel aus Sandstein. Nach 1900 wurde es durch<br />

eine Untermauerung aus Ziegelsteinen im sogenannten Klosterformat, die von der<br />

Spandauer Stadtmauer stammten, gehoben. Unaufdringlich hat Schinkel das Denkmal in<br />

die Stadtlandschaft, unter Berücksichtigung der Architektur der Nikolaikirche und der<br />

Umbauung des damaligen Heinrichsplatzes, eingefügt. Die Idee zu einem Denkmal für<br />

die Gefallenen entstand bereits 1813. Im Herst 1815 wurden auf dem Heinrichsplatz<br />

3 Eichen und mehrere Linden gepflanzt. Hieraus entwickelte sich der Gedanke, ein<br />

würdiges Denkmal zu errichten. Wie das Spandauer Gartenbauamt 1961 durch Bohrungen<br />

feststellte, stammen heute noch 2 Eichen und mehrere Linden aus dieser Zeit 12 .<br />

Von 1876 bis 1879 entstand die neue Enteeinte (Umwallung) um die Neustadt, so daß in<br />

diesem Stadtteil die Baubeschränkungen entfielen. Als eine intensivere Bebauung ein-<br />

12 Freundliche Auskunft von Herrn Kirchenbuchführer und Archivar Werner Rachais, Spandau.<br />

125


Abb. 3: Gruft an der Südseite der Nikolaikirche: Nordwand der westlichen Gruft mit Strebepfeilerfundament<br />

(1972)<br />

setzte, wurden die Friedhöfe zwischen Neuendorfer- und Schönwalder Straße als störend<br />

empfunden. So wurde der Nikolaifriedhof am 15. 11. 1886 bereits wieder geschlossen<br />

und am 17. 11. desselben Jahres der konfessionslose Friedhof an der Pionierstraße<br />

eröffnet. Das Gelände des Friedhofes und das des benachbarten gemeinsamen Johannisund<br />

Garnisonsfriedhofes wurden 1933 in eine Parkanlage umgestaltet, die 1934 den<br />

Namen Koeltzepark zu Ehren des langjährigen Spandauer Oberbürgermeisters Friedrich<br />

Koeltze erhielt.<br />

Am 21. September 1972 wurde durch Handwerker eine Gruft an der Südseite der<br />

Nikolaikirche, direkt westlich an die Südkapelle (heute Sakristei) anschließend, angeschnitten<br />

13 . Wie die Untersuchungen ergaben, handelte es sich um 2 nebeneinander liegende,<br />

durch einen Gang verbundene Gewölbe. Übereinandergestellte Särge waren zusammengesunken,<br />

dennoch waren 15 Schädel erhalten. Auf einem Sargdeckelrest konnte entziffert<br />

werden: „Eva Geborene von Wreechen Gestorben in Berlin April 1705". Es<br />

handelte sich hierbei um die Frau des Generalleutnants der Kavallerie, Gouverneurs und<br />

Oberhauptmanns von Spandau (1705-13), Johann Georg von Tettau. Eva von Tettau<br />

wurde am 2. Juli 1705 als erste in dem Erbbegräbnis beigesetzt. Ferner wurden Zinnbeschläge<br />

des Sarges Friedrich Christoph von Salderns geborgen, der als letzter, 1785, in<br />

der Tettauschen Gruft beigesetzt wurde.<br />

" Kernd'l, Alfred: Untersuchung einer Gruft an der Südmauer der Spandauer Nikolai-Kirche.<br />

In: Ausgrabungen in Berlin, Nr. 3/1972, S. 177-183.<br />

126


Reste eines versilberten Kupferbleches wiesen auf den 1719 verstorbenen Oberst von<br />

Below hin. Von Below war im oberen Gewölbe des Neumeisterschen Erbbegräbnisses<br />

beigesetzt. Ebenfalls wurde ein versilbertes Wappenschild „Der von Zitzewitz" geborgen.<br />

Die von Zitzewitz hatten in St. Nikolai kein Erbbegräbnis. Auch die Sterbebücher<br />

dieser Gemeinde nennen die Familie nicht. Die Särge müssen 1838 bei der Restaurierung<br />

der Nikolaikirche in die Grüfte gekommen sein, die nach dem „Journal über die Führung<br />

des Baues der Nikolaikirche in Spandow 1838" vertieft und erweitert wurden, um<br />

17 neue Särge aufnehmen zu können.<br />

Zweckentfremdet wird der Reformationsplatz seit einigen Jahren an der Südseite als<br />

Parkplatz genutzt. Im Zuge der Neugestaltung der Altstadt wurde im November 1975<br />

mit dem Bau einer Treppe von der Mönchstraße zum ehemaligen Kirchhof begonnen.<br />

Eine bessere Verbindung vom Markt zur Nikolaikirche soll hergestellt werden. Die<br />

Treppenanlage wurde nötig, da der Kirchhof im Laufe der Jahrhunderte um ca. 90 cm<br />

hochgewachsen ist.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 20, Kellerwaldweg 9<br />

Abbildungsnachweis:<br />

Nr. 1 Geh. Staatsarchiv Berlin, Plankammer Potsdam; Nr. 2 Landesbildstelle Berlin; Nr. 3 vom<br />

Verfasser.<br />

König Friedrich II. und seine Skizzen zum Schloß Sanssouci<br />

Von Prof. Dr.-Ing. Friedrich Mielke<br />

Wir kennen zwei eigenhändige Skizzen Friedrichs IL, die den Grundriß des Schlosses<br />

Sanssouci zeigen. Sie werden in der einschlägigen Fachliteratur als Entwürfe des Königs<br />

bezeichnet, also als Darstellungen eines Zustandes, der noch nicht ausgeführt worden ist 1 .<br />

Diese Annahme kann sich auf Indizien stützen:<br />

a) Wie uns Heinrich Ludewig Manger-, d'Alemberfi und der Berliner Gelehrte Anton<br />

Friedrich Büsching* überzeugend berichten, hat der König vielfach Skizzen angefertigt<br />

und seinen Architekten befohlen, danach zu bauen.<br />

1 Vgl. Eckardt, Götz: Die ersten Entwürfe zur Terrassenanlage und zum Schloß Sanssouci. Ein<br />

Beitrag zu Knobelsdorffs Anteil. In: Anschauung und Deutung - Willy Kurth zum 80. Geburtstag.<br />

Berlin (Ost) 1964, S. 155-169. - Kania, Hans: Potsdamer Baukunst. Eine Darstellung ihrer<br />

geschichtlichen Entwicklung. Berlin 1926, S. 30. - Kurth, Willy: Sanssouci. Ein Beitrag zur<br />

Kunst des deutschen Rokoko. Berlin (Ost) 1962, S. 16f. - Seidel, Paul: Friedrich der Große<br />

und die Bildende Kunst. 2. Aufl. Leipzig/Berlin 1924, S. 95 f. - Streichhan, Annelise: Knobelsdorff<br />

und das friderizianische Rokoko. Diss. Rostock 1931, Burg b. Magdeburg 1932, S. 51.<br />

2 Manger, Heinrich Ludewig: Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König<br />

Friedrichs des Zweiten. Bd. 3, Berlin/Stettin 1790, S. 542.<br />

3 Maugras, Gaston (Hrsg.): Trois mois a la cour de Frederic. Lettres inedites de d'Alembert.<br />

Paris 1886, S. 44.<br />

4 Büsching, Anton Friedrich: Character Friederichs des zweyten, Königs von Preußen. 2. Ausg.<br />

Halle 1788, S. 284.<br />

127


: alHf<br />

1/17/<br />

Abb. 1:<br />

Sdiloß Sanssouci mit Terrassen,<br />

Skizze König Friedridis II.<br />

b) Nach den Beischriften und der Strichführung zu urteilen, sind die Skizzen von der<br />

Hand des Königs.<br />

c) Die Beischriften scheinen darauf hinzudeuten, daß sie Anweisungen zur Ausführung<br />

seien.<br />

d) Die Unterschiede zwischen den skizzierten Details (z. B. Zahl der Terrassen und<br />

Stufen) und dem ausgeführten Bauzustand gelten als Beweise dafür, daß die Skizzen<br />

nur eine Idee andeuten, die später bei der Transponierung in die Realität des Baues und<br />

des Geländes durch den Architekten (v. Knobelsdorjf) modifiziert werden mußte.<br />

Der Gedankengang scheint einleuchtend, berücksichtigt jedoch nicht, daß er umkehrbar<br />

ist, wenn man die Eigenarten des Königs in Rechnung setzt. Auch eine nachträglich<br />

angefertigte Skizze kann von der Wirklichkeit abweichen, zumal wenn der Autor<br />

ungeübt und im Bereich der Architektur ein Dilettant ist. Es ist nachzuweisen, daß<br />

Friedrich II. auch von bereits bestehenden Bauten, speziell vom Schloß Sanssouci, Skizzen<br />

angefertigt hat.<br />

Diesen Beweis liefert uns Henri de Catt, der von 1757 bis 1780 Vorleser des Königs<br />

gewesen ist und diesen in das Feldlager des Siebenjährigen Krieges begleitete. Wenn wir<br />

auch wissen, daß de Catt in der Angabe des Datums bei seinen Berichten nicht sehr<br />

korrekt verfuhr und zeitlich auseinanderliegende Vorgänge zu einem Bericht zusammengefaßt<br />

hat, so ist doch an der historischen Existenz des jeweiligen Ereignisses an sich nicht<br />

zu zweifeln. Unter dem Datum vom 27. 4. 1758 berichtet de Catt, Friedrich II. habe zu<br />

ihm gesagt: „... ich möchte Ihnen eine Vorstellung von meinem Sanssouci vermitteln und<br />

will es Ihnen skizzieren. Sie können sich die Zeichnung, die ich Ihnen entwerfe, aufheben<br />

und wenn Sie es nach dem Kriege sehen, so werden Sie mir frei und offen sagen,<br />

ob meine Zeichnung richtig gewesen ist.. ." 5 .<br />

128


Abb. 2: Schloß Sanssouci, Grundriß. Skizze König Friedrichs II.<br />

Wenige Wochen danach, am 10. 6. 1758, erwähnt de Catt erneut, daß er den König damit<br />

beschäftigt fand, „das Schloß Sanssouci, die Gärten, den Säulengang, das chinesische<br />

Schlößchen auf Papier zu zeichnen, wovon er mir schon einmal eine Skizze entworfen<br />

hatte . . ." 6 .<br />

Es sei dahingestellt, ob die von de Catt erwähnten Skizzen jene beiden sind, die sich<br />

erhalten haben und als Entwürfe zum Schloß Sanssouci angesehen werden. Fest steht<br />

jedoch, daß der König nicht nur Entwürfe lieferte, sondern es auch liebte, sich eine<br />

bereits fertige Situation zeichnerisch zu vergegenwärtigen. Damit ist die Gewißheit, daß<br />

jene beiden Skizzen vor der Erbauung des Schlosses Sanssouci, also in den Jahren<br />

vor 1745, entstanden sein müssen, fragwürdig geworden. Es käme auch ein späteres<br />

Datum, vielleicht sogar das Jahr 1758, in Frage.<br />

Betrachten wir die beiden Skizzen unter dem Gesichtspunkt der Berichte von de Catt, so<br />

erhalten die Anmerkungen des Königs eine neue Bedeutung: sie sind nicht für den ausführenden<br />

Architekten bestimmt, sondern für eine Person, der das Schloß Sanssouci noch<br />

nicht bekannt war.<br />

Wie aber steht es mit den Abweichungen auf den Skizzen von dem gebauten Grundriß,<br />

die so sehr darauf hinzudeuten scheinen, daß die Skizzen vor dem Schloßbau angefertigt<br />

wurden? Wenn die Blätter erst 1758 oder in einem ähnlich späten Jahr entstanden sind,<br />

so sollte man annehmen können, daß der König den von ihm selbst inspirierten 7 und in<br />

den Jahren von 1745 bis 1748 geschaffenen Zustand so genau kennen müßte, daß er ihn<br />

annähernd exakt wiedergeben könnte.<br />

5 Friedrich der Große - Gespräche mit Catt. Vollst. Ausg. Hrsg. von Willi Schüssler, Leipzig<br />

1940, S. 54.<br />

c Ebenda, S. 133.<br />

7 Manger, a.a.O. Bd. 1 (1789), S. 50 schreibt, „daß die erste Idee dazu der König selbst dem<br />

Freyherrn von Knobelsdorff gegeben habe".<br />

129


— -1 _ J, "4<br />

-4 — ,4_,i<br />

54 *> J u<br />

Abb. 3:<br />

Schloß Sanssouci, Grundriß.<br />

Entwurfsskizze von<br />

G. W. v. KnobelsdorfF<br />

Diese Voraussetzung bedarf der Einschränkung durch die in der menschlichen Natur<br />

liegenden Fehlerquellen. Es ist nahezu die Regel, daß im täglichen Umgang vertraut<br />

gewordene Gegenstände nicht präzise beschrieben werden können. Wer hat sich schon die<br />

Zahl der Eingangsstufen zur eigenen Wohnung gemerkt? Und überdies genügt es völlig,<br />

statt der vorhandenen sechs Terrassen nur drei darzustellen, wenn das Prinzip der Lage<br />

des Schlosses erläutert werden soll.<br />

Auffallender und wichtiger als die Zahl der Stufen und Terrassen scheinen mir andere<br />

Details zu sein, die bisher wenig oder keine Beachtung fanden:<br />

A. Die beiden flankierenden Rundräume (Bibliothek und Rothenburgzimmer).<br />

B. Der Zugang zur Bibliothek.<br />

ZuA: Daß für den Grundriß des Schlosses Sanssouci Friedrichs Kronprinzenschloß in<br />

Rheinsberg Pate gestanden hat, ist bekannt. Die dort dreiflügelige Anlage wurde im<br />

Sinne eines maison de plaisance auf einen einflügeligen gestreckten Baukörper reduziert.<br />

Die beiden Rheinsberger Türme wandelten sich zu kreisrunden Pavillonbauten.<br />

Soweit ich weiß, blieb unbekannt, daß der „Grundriß eines Landhauses wie solches ein<br />

vornehmer Herr auf dem Lande anlegen könnte", den Paulus Decker 1711 publiziert<br />

hat, mit dem Grundriß des Schlosses Sanssouci eine prinzipielle Ähnlichkeit besitzt. Bei<br />

Decker finden wir auch die Darstellung eines Schlosses mit zwei flankierenden Kavalierhäusern<br />

in hügeligem Gelände 8 , die sehr weitgehend der Situation des Schlosses<br />

Sanssouci mit den Neuen Kammern und der Bildergalerie entspricht. Ferner sind Anregungen<br />

zum Neuen Palais in Potsdam und zum sog. Pal. Barberini (Potsdam, Humboldtstraße<br />

5-6, 1771/72) bei Decker nachzuweisen 9 . Es ist deshalb nicht abwegig, den Grundriß<br />

des Schlosses Sanssouci als u. a. auch von Decker inspiriert anzusehen. Dabei ist zunächst<br />

gleichgültig, ob die Anregungen vom König selbst oder von seinem Architekten<br />

aufgegriffen wurden. Auffallend ist jedoch, daß der König das Prinzip des Grundrisses,<br />

oblonger Bau mit je einem kreisrunden Raum am Ende, in seinen Skizzen nicht auszu-<br />

• Decker, Paul: Der Fürstliche Baumeister oder Architectura Civilis. Augsburg 1711, Tafel 6<br />

„Prospect des Fürstlichen Lustgartens hinter dem Pallast".<br />

9 Mielke, Friedrich: Friedrich IL, das Neue Palais in Potsdam und Paul Deckers „Fürstlicher<br />

Baumeister". In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- u. Ostdeutschlands, Bd. 18, Berlin 1969,<br />

S. 319-322.<br />

130


drücken vermochte. In beiden Skizzen deutet er den Rundraum nur dort an, wo er ihn -<br />

analog zu Rheinsberg - selbst erlebt hat, nämlich in seiner Bibliothek. Die architektonische<br />

Konzeption des Pendants, des sog. Rothenburg-Zimmers, ist ihm offenbar fremd geblieben.<br />

Der Grundriß dieses Raumes ist auf Friedrichs Skizzen einer Kreisform weitaus<br />

unähnlicher als der Grundriß der Bibliothek. Jeder Autor, sei er Laie oder Fachmann,<br />

wird die von ihm selbst entwickelte Konzeption eines Baues in entsprechender Weise, in<br />

diesem Falle mit Kreisen, auszudrücken versuchen. Da der König sich aber nur bei einem<br />

der beiden Rundräume, dem von ihm bewohnten, um die Kreisform mühte, den anderen<br />

gleichartigen aber offenkundig vernachlässigte, ist daraus zu schließen, daß er das<br />

geometrische Prinzip der Anlage nicht verstanden hat. Diese Erkenntnis läßt zwei<br />

Schlüsse zu:<br />

1. Der Entwurf des Grundrisses kann nicht vom König stammen, und<br />

2. die beiden zur Diskussion stehenden Skizzen sind keine Entwurfszeichnungen, sondern<br />

Reproduktionen eines bereits bekannten Zustandes.<br />

ZuB: Die Beweisführung anhand nur eines Grundrißdetails ist zweifellos ungenügend.<br />

Deshalb wollen wir einen zweiten Beweis führen, indem wir den Zugang vom königlichen<br />

Arbeitszimmer zur Bibliothek untersuchen. Dieser Zugang stellt zugleich die Verbindung<br />

zu den Zimmern der Sekretäre und Diener her. Die Grundrißlösung ist an<br />

dieser Stelle ungewöhnlich, um nicht zu sagen: kompliziert. Selbst Knobelsdorff, der sich<br />

- wie sein Skizzenbuch ausweist - vielfach mit Grundrißlösungen beschäftigte, hatte<br />

offensichtlich Schwierigkeiten, die drei Zugänge einwandfrei zu ordnen (Abb. 3).<br />

Folgen wir der landläufigen Auffassung, nach der Friedrich II, als erster den Grundriß<br />

konzipiert habe und seine Skizzen Knobelsdorff zur Ausführung übergab, dann müssen<br />

die Skizzen des Königs (nennen wir sie der Einfachheit halber A 1 und A 2 = A) entweder<br />

ein Vorstadium des knobelsdorffschen Entwurfes (den wir als B bezeichnen<br />

wollen) darstellen oder aber mit diesem übereinstimmen, d. h. es muß die Entwicklung<br />

vom Stadium der Skizzen A über Skizze B bis zu der ausgeführten Version (die C heißen<br />

soll) erkennbar sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Skizzen A 1 und A 2 entsprechen<br />

in dem zu untersuchenden Detail genau dem Zustand C (Abb. 4).<br />

Abb. 4: Schloß Sanssouci, ursprünglicher Grundriß vor dem Umbau durch Ludwig Persius<br />

131


Von Manger wissen wir, daß nach dem Beginn der Arbeiten am Schloß Sanssouci, als<br />

der König im Dezember 1745 aus dem Schlesischen Krieg nach Potsdam zurückgekehrt<br />

war, „verschiedenes wieder abgebrochen, und weiter heraus gerückt, oder<br />

sonst verändert werden" mußte 10 . Es kann also der Zustand A nicht mit C identisch<br />

sein, wenn A als Entwurf anzusehen ist und wenn B zu C verändert wurde. Es bleibt<br />

deshalb nur zu folgern, daß die Skizzen A nicht vor B und C entstanden sein können,<br />

sondern erst nach C, d. h. nach Fertigstellung des Baues.<br />

Quod erat demonstrandum.<br />

10 Manger, a.a.O. Bd. 1, S. 50.<br />

Abbildungsnachweis:<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 37, Oertzenweg 17 B<br />

Nr. 1 und 2 aus G. Eckardt (siehe Anm. 1); Nr. 3 aus dem sog. Skizzenbuch v. Knobelsdorffs,<br />

Besitz der Verwaltung der Staatl. Schlösser und Gärten Berlin, Schloß Charlottenburg, Plankammer;<br />

Nr. 4 aus Max Baur/Friedrich Mielke, Potsdam wie es war, Berlin 1963, S. 25.<br />

Die Porzellan-Plaketten der KPM 1975/76<br />

Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde von der damals Königlichen Porzellan-Manufaktur<br />

Berlin eine eindrucksvolle Reihe von Plaketten mit Bildnissen namhafter Persönlichkeiten<br />

der Zeit geschaffen. Zu den ersten dieser Porträtierten gehörten Kurfürst Karl Theodor von der<br />

Pfalz (um 1780) und König Friedrich der Große (1785); in der Folgezeit schlössen sich viele<br />

Mitglieder des preußischen Herrscherhauses und des Militärs (Befreiungskriege!) dieser Reihe an.<br />

Die in Biskuit-Porzellan ausgeführten Plaketten gehören zu jenen Kleinkunstwerken, für deren<br />

intimen Reiz man seit dem Rokoko bis hin zur Biedermeierzeit ein sehr feines Gespür besaß.<br />

Miniaturen wie Silhouetten, Gemmenschnitte, Medaillen und eben solche Porzellanplaketten<br />

erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit, wurden von Sammlern begehrt und stellten gern gesehene<br />

Gelegenheitspräsente dar.<br />

Die schönsten und berühmtesten Medaillen hat der aus Österreich zugewanderte Bildhauer und<br />

Modelleur Leonhard Posch (1750-1831) geschaffen, der 1804 zur Königlichen Eisengießerei nach<br />

Berlin kam und hier die Porträtkunst, vor allem feinste Eisengußarbeiten im Plaketten- und<br />

132


Medaillonstil, zu hoher Blüte brachte. So gehörte beispielsweise Gottfried Scbadow zu den<br />

uneingeschränkten Bewunderern dieses auf seinem Gebiet einmaligen Berliner Künstlers. Posch-<br />

Medaillen fanden, bedingt durch die Besatzungen während der napoleonischen Kriege, in<br />

Deutschland und Westeuropa rasch Verbreitung und wurden zu einem festen Begriff künstlerischer<br />

Wertschätzung.<br />

Das ist bis heute so geblieben. Unter den aus den Trümmern des 2. Weltkrieges geborgenen und<br />

wiederhergestellten Plaketten der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin befindet sich rund<br />

ein halbes Hundert von der Hand Poschs. Diese Porträtmedaillons wurden von den Formgestaltern<br />

der Manufaktur Siegmund Schütz und Johannes Henke restauriert, wovon einige<br />

heute - neben zahlreichen anderen verschiedener Künstler des 18. bis 20. Jahrhunderts - zu<br />

Nachformungen verwendet wurden und käuflich zu erwerben sind (17 DM, Größe 8 cm).<br />

Daneben führt die KPM die Tradition der Gestaltung von Bildnisplaketten unverändert fort.<br />

In der Regel erscheinen sie zu den Gedenktagen der Porträtierten, zu sonstigen öffentlichen<br />

Anlässen, teilweise auch nach Aufträgen durch öffentliche Institutionen oder nach Wettbewerben.<br />

Ihre Herstellung geschieht im Handprägeverfahren, wobei das Abbild im sog. Negativschnitt<br />

geformt wird, und auch alle weiteren Arbeitsvorgänge erfolgen ausschließlich von Hand.<br />

Auch die jüngsten von der Berliner Manufaktur herausgebrachten Porträtplaketten stehen ganz,<br />

in dieser Tradition. Straffe, doch präzise Formen und ein zeitloses Stilempfinden verleihen den<br />

Medaillen eine natürliche Klassizität, die durch den ästhetischen Reiz des weißen Biskuitporzellans<br />

noch betont wird. Johannes Henke hat für seine Porträts im Jahre 1975 folgende Persönlichkeiten<br />

ausgewählt:<br />

1. Johann Ernst Gotzkowsky. Der Berliner „patriotische Kaufmann", 1710 in Konitz (Westpreußen)<br />

geboren, übernahm im Jahr 1761 die hiesige Manufaktur und erreichte in kürzester<br />

Zeit eine künstlerisch hochwertige Produktion, die auch nach dem Übergang des Betriebes an<br />

König Friedrich II. (1763) beibehalten werden konnte. Nach vielfältigen wirtschaftlichen Mißerfolgen<br />

starb Gotzkowsky vor 200 Jahren am 9. August 1775 in Berlin.<br />

2. Albert Schweitzer (1875-1965). - 3. Thomas Mann (1875-1955). - 4. Heinrich Mann (1871<br />

bis 1950). Diese drei Plaketten erschienen jeweils zum 100. Geburtstag bzw. zum 25. Todestag<br />

der genannten Persönlichkeiten. Ihre Größe beträgt gleichfalls 8 cm, ihr Preis 17 DM.<br />

Für 1976 schuf Siegmund Schütz (in gleicher Ausstattung) zwei weitere Medaillen, die bedeutenden<br />

Künstlern der Vergangenheit gewidmet sind:<br />

1. Am 24. Januar 1976 jährt sich der Geburtstag E. T. A. Hoffmanns zum 200. Mal. Wir haben<br />

vor einigen Jahren das Leben und das (Berliner) Wirken des Dichters an dieser Stelle ausführlich<br />

gewürdigt. - 2. Carl Maria von Weber, der Tondichter der Romantik, geb. 1786, starb vor<br />

150 Jahren am 5. Juni 1826 in London. Seine epochemachende Oper „Der Freischütz" erlebte<br />

1821 in Berlin ihre Uraufführung. - Insgesamt vier der oben Genannten zeigen die Plaketten<br />

in den beigefügten Abbildungen. Die Vorlagen hierzu wie auch weiterführende Informationen<br />

stellte die Staatliche Porzellan-Manufaktur zur Verfügung, wofür ihr herzlich gedankt sei.<br />

Peter Letkemann<br />

133


Im Schloß Glienicke stellen bis zum 18. Januar 1976 Walter Bewersdorf, Alfred Karl Dietmann,<br />

Ruth Rieger und Harry Woehleke von der Arbeitsgruppe Berliner Architekturmaler sowie als<br />

Gast Jean-Jaques Brombourgh aus Straßburg zum Thema „Wasser in und um Berlin" aus. Wie<br />

stets umfassen die Bilder auch den anderen Teil unserer Stadt. Zur Zeit liefert die Gruppe die<br />

erste Mappe „Schlösser in West-Berlin" ihres großen Berlin-Mappenwerkes aus. Für die zweite<br />

unter dem Titel „Dorfkirchen in West-Berlin" sind Interessenteneintragungen jetzt möglich.<br />

Im Rahmen dieser Ausstellung spricht Günter Wollschlaeger am 3. Januar um 16 Uhr im Schinkelsaal<br />

des Schlosses anhand von Lichtbildern über „Berliner Architektur der Romantik und des<br />

Biedermeier".<br />

Personalien<br />

Karl Bullemer 90 Jahre<br />

Cicero läßt seinen Cato einmal sagen: „Wer in sich selber nicht zum Seligleben Kraft gewonnen,<br />

dem wird jedes Alter beschwerdenreich. Wer aber aus dem eigenen Innern das Beste schöpft,<br />

dem tritt nichts als ein wirkliches Übel entgegen, auch das späte Alter nicht, das jeder erreichen<br />

möchte, aber wenn er's erreicht hat, grämlich beklagt . .." An diese Worte wird man erinnert,<br />

wenn es am 2. Januar 1976 der Vollendung des 90. Lebensjahres unseres hochgeschätzten, lieben<br />

Ehrenmitglieds Direktor i. R. Karl Bullemer zu gedenken gilt. Er ist an der Schwelle zu seinem<br />

zehnten Dezennium alles andere als grämlich, und er hat stets aus dem eigenen Innern das Beste<br />

geschöpft, nicht nur für sich, sondern für alle Organisationen und Ehrenämter, in denen er<br />

Verantwortung trug, und für den großen Kreis seiner Freunde und Mitmenschen. Sein Curriculum<br />

vitae ist schnell abgehandelt. 1909 trat er nach vorangegangener Tätigkeit im westdeutschen<br />

Braugewerbe in den Verein der Brauereien Berlins und der Umgegend ein, nahm am Ersten<br />

Weltkrieg teil und wurde 1919 zum Generalsekretär und später zum Hauptgeschäftsführer dieses<br />

Rechtsvorgängers des heutigen Wirtschaftsverbandes Berliner Brauereien e. V. bestellt. Daneben<br />

hatte er von 1926 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Geschäftsführung des Verbandes<br />

der Deutschen Ausfuhrbrauereien e. V. inne und wurde nach dem Kriege in den Vorstand des<br />

Deutschen Versicherungsschutzes für Brauereien V. a. G. berufen. In den schwersten Jahren des<br />

Wiederaufbaus der Berliner Brauereien und ihrer Organisationen vermochte er seine Erfahrungen<br />

und sein Geschick zum großen Nutzen der ihm anvertrauten Belange einzusetzen. 1959 ist<br />

er in den Ruhestand getreten. Äußerliches Zeichen der Anerkennung seiner Verdienste in einem<br />

halben Jahrhundert ununterbrochener Tätigkeit war die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes.<br />

Wie nicht wenige Brauer vor und nach ihm (wir denken nur an Richard Knoblauch) wußte er<br />

seine Arbeit für dieses traditionsbewußte Gewerbe mit historischen Studien und mit ehrenamtlichen<br />

Diensten in Geschichtsvereinen zu verbinden. Zahlreiche Arbeiten aus seiner gewandten<br />

Feder sind etwa in den Jahrbüchern der Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des<br />

Brauwesens e. V., aber auch in den Publikationen unseres Vereins erschienen. Hier war er nach<br />

dem Kriegsende ein Mann der ersten Stunde, der sich vor allem um die Zusammenführung der<br />

beiden Geschichtsvereine von 1949 und von 1865 bleibende Verdienste erworben hat. Mit Umsicht<br />

und mit Akkuratesse versah er die Geschäfte eines Schriftführers, bis er sie 1969 in jüngere<br />

Hände legte. Die Ehrenmitgliedschaft des Vereins für die Geschichte Berlins war gerechter Lohn<br />

und bescheidener Dank für den Wahl-Berliner, der auch nach dem Tode seiner lieben Gattin der<br />

Stadt Berlin die Treue gehalten hat, mag er dem ärztlichen Rat und dem Wandertrieb folgend<br />

auch hin und wieder in die bayerischen Berge entfliehen, so auch an seinem jetzigen Ehrentag.<br />

Der Alterspräsident unseres Vereins ist eine Persönlichkeit, die Würde und menschliche Nähe in<br />

sich vereint. Wir wünschen Karl Bullemer, daß ihm noch viele gesunde Jahre zwischen Berlin<br />

und Türk-Marzoll beschert sind, daß er immer genügend Papier und Tinte hat und uns noch<br />

lange erhalten bleibt. Mit dem ihm eigenen Sinn für Humor wird er es hinnehmen, wenn wir den<br />

Vers von Börries Freiherr von Münchhausen: „Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, hirschlederne<br />

Reithosen bleiben bestehen" auf ihn ummünzen. H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Am 7. Dezember 1975 ist unserem Mitglied Pfarrer Heinrich Albertz, Regierender Bürgermeister<br />

a. D., von der Deutschen Sektion der Internationalen Liga für Menschenrechte die Carl-von-<br />

Ossietzky-Medaille verliehen worden.<br />

Aus Anlaß der Vollendung des 75. Geburtstages ist die Schriftstellerin Anna Seghers, Präsidentin<br />

des Schriftstellerverbandes der DDR, am 19. November 1975 mit der Ehrenbürgerwürde (Ost-)<br />

Berlins ausgezeichnet worden.<br />

134


Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Frau Käthe Sandeck, Herrn Fritz Votava, Herrn Gerhard Lasson, Herrn<br />

Ernst-Jürgen Otto; zum 75. Geburtstag Herrn Eugen Honnette, Herrn Friedrich Hillenherms,<br />

Frau Charlotte Hardow; zum 80. Geburtstag Frau Hilde Altmann-Reich, Frau Anne-Marie<br />

Grabow, Herrn Dr. Hans Wendorff, Frau Johanna Giesemann; zum 90. Geburtstag Herrn Karl<br />

Bullemer, Frau Annemarie Neitzel; zum 95. Geburtstag Frau Else Schoen.<br />

Buchbesprechungen<br />

Dieter Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland. München/Wien: Oldenbourg 1973. 325 S.,<br />

geb., 42 DM. (Schriften d. Forschungsinstituts der Dt. Gesellsch. f. Auswärtige Politik e. V.<br />

Bonn, Bd. 34).<br />

Ernst R. Zivier: Der Rechtsstatus des Landes Berlin. Eine Untersuchung nach dem Viermächte-<br />

Abkommen vom 3. September 1971. 2. Aufl. Berlin: Berlin-Verlag 1974. 312 S., brosch., 28 DM.<br />

(Völkerrecht u. Politik, Bd. 8).<br />

Walther Stützle: Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962. Bonn-Bad Godesberg:<br />

Verlag Neue Gesellschaft 1973. 253 S., brosch., 32 DM. (Schriftenreihe d. Forschungsinstituts der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 96).<br />

Rudolf Kasmalski: Ein Berlin-Plan. Auftrag und Aufgabe. Ziegelhausen (Neckar): Neuung-<br />

Verlag [1973]. 118 S., brosch., 8,40 DM.<br />

Berlin bleibt - trotz des Viermächte-Abkommens - eine empfindliche Stelle der Ost-West-Beziehungen.<br />

Die zurückliegenden und die gegenwärtigen Konflikte um diese Stadt beherrschen<br />

deshalb weiterhin die politische Berlin-Literatur.<br />

Dieter Mahncke hat in seinem Buch „Berlin im geteilten Deutschland" die vielfältige Berlin-<br />

Literatur zu einer Bestandsaufnahme verarbeitet. Einleitend beschäftigt er sich mit der Rolle<br />

Berlins im Wandel des Ost-West-Verhältnisses. Anschließend untersucht er die politische und<br />

rechtliche Entwicklung der Stadt von 1944 bis 1972, leitet dann zu den Interessen der Sowjetunion<br />

und der Westmächte in Berlin über und analysiert schließlich die wirtschaftliche Lage<br />

der Stadt. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die jüngsten Berlin-Vereinbarungen.<br />

Mahncke warnt vor allzu großen Erwartungen. Die Tragfähigkeit hänge von der langfristigen<br />

Praxis der Berlin-Regelung ab und von der weiteren Entwicklung der Beziehungen West-<br />

Deutschlands zur Sowjetunion und der DDR. Damit sei die Berlin-Situation eng mit der Entspannung<br />

verknüpft. Wenn der gefundene Modus vivendi aber dazu führen sollte, daß Ost-<br />

Berlin auf Dauer Teil der DDR werde, während West-Berlin als letztes aus dem Zweiten Weltkrieg<br />

entstandenes Besatzungsgebiet - vielleicht mit sowjetischem Mitspracherecht - erscheine,<br />

dann wären die Abkommen nichts wert und würden Ansatzpunkte zu neuen Konflikten liefern.<br />

Im Schlußkapitel beschäftigt sich Mahncke mit der Zukunft Berlins. Er hebt hervor, daß selbst<br />

bei einer positiven Praxis der Vereinbarungen weiterhin Probleme hinsichtlich der Insellage, der<br />

Bevölkerungsstruktur und der psychologischen Lage der Bewohner bestehen. Spannungen dagegen<br />

werden erhebliche Auswirkungen auf das Meinungsklima, auf die Wanderungsbewegung<br />

und auf die Wirtschaft haben. Da aber das wirtschaftliche und das politische Meinungsklima bestimmt<br />

werden von der Zuversicht der Bevölkerung in die politische, wirtschaftliche und kulturelle<br />

Zukunft der Stadt, muß nach Ansicht des Verfassers die Attraktivität Berlins erhalten<br />

und laufend erhöht werden. Eine ständige Berlin-Beobachtungs- und Planungs-Gruppe im<br />

Bundeskanzleramt und beim Senat sollte über die Entwicklung der Stadt wachen. Die größte<br />

Gefahr für Berlin sieht Mahncke in dem fehlenden übergeordneten Konzept des Westens. Dadurch<br />

sei die Stadt den Versuchen des Ostens, sie zu einer „besonderen politischen Einheit" zu<br />

degradieren, wehrlos ausgeliefert.<br />

Die Arbeit von Dieter Mahncke ist ausgewogen im Urteil und übersichtlich gegliedert. Handbuchartig<br />

hat er die einzelnen Themenkreise nach Sachzusammenhängen geordnet. Ein umfangreicher<br />

Dokumententeil ergänzt diese überzeugende Darstellung.<br />

Den Charakter eines Handbuches hat auch die Arbeit von Ernst R. Zivier „Der Rechtsstatus<br />

des Landes Berlin". Systematisch beleuchtet der Verfasser im 1. Teil die rechtliche Situation<br />

Berlins vom Londoner Protokoll 1944 bis zu den Viermächte-Verhandlungen 1971. Im 2. Teil<br />

beschäftigt er sich mit dem „Berlin-Status als Rechtsproblem". Zivier weist nach, daß trotz anderer<br />

Auffassungen der Sowjetunion und der DDR und trotz der seit 1948 eingetretenen Veränderungen<br />

der Viermächte-Status für ganz Berlin de jure fortbesteht. Wie in der Arbeit von<br />

Mahncke steht das Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 und die innerdeutschen<br />

Ausführungsverhandlungen im Mittelpunkt der Darstellung. Hat Mahncke stärker die politischen<br />

Probleme herausgearbeitet, so beschränkt sich Zivier auf die rechtlichen Aspekte. Das<br />

Viermächte-Abkommen hat, so hebt der Verfasser hervor, weder einen neuen Berlin-Status<br />

135


geschaffen noch die mit dem Berlin-Problem verbundenen Rechtsfragen umfassend geklärt. In<br />

Zukunft auftauchende Konflikte könnten deshalb nicht ausgeschlossen werden. Abschließend behandelt<br />

Zivier die rechtlichen Auswirkungen des Grundvertrages auf die Berlin-Regelung. Ein<br />

Dokumenten-Anhang mit allen für den Rechtsstatus Berlins wichtigen Texten, vom Londoner<br />

Protokoll bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundvertrag 1973, ergänzt auch<br />

diese Darstellung. Die Arbeit von Zivier enthält nichts Neues, bietet aber all jenen, die sich<br />

schnell über den rechtlichen Status von Berlin und die damit verbundenen Probleme orientieren<br />

wollen, eine zuverlässige Hilfe.<br />

Haben Mahncke und Zivier die politische und rechtliche Position Berlins in Vergangenheit und<br />

Gegenwart behandelt, wendet sich Walther Stützle mit seiner Arbeit „Kennedy und Adenauer<br />

in der Berlin-Krise 1961-1962" einem Teilaspekt der Zeitgeschichte zu. An Hand umfangreicher<br />

Materialien untersucht er die unterschiedlichen Auffassungen Kennedys und Adenauers<br />

in der Berlin-Frage. Während Kennedy den Status quo durch Regelungen mit dem Osten<br />

sicherer machen und durch die Anerkennung überwinden wollte, strebte Adenauer aus der<br />

Position der Stärke die Änderung des Status quo auf Kosten der Sowjetunion an. Stützle versucht<br />

nachzuweisen, daß durch den Bau der Mauer Adenauers Deutschland- und Berlin-Politik<br />

gescheitert ist. Kennedy dagegen habe sich bestätigt gesehen, daß nur auf Grundlage des Status<br />

quo die Mittel zu seiner Überwindung gefunden werden konnten. Das habe Egon Bahr später<br />

als erster Deutscher begriffen und daraus die bekannten Schlüsse gezogen.<br />

Der Zusammenhang zwischen Anerkennung der Realitäten und der Entspannungspolitik ist<br />

heute sichtbar. Hier hat Stützle mit seiner Arbeit wesentlich zum Verständnis beigetragen.<br />

Doch beurteilt er das Vorgehen Kennedys zu sehr aus dem Blickwinkel der gegenwärtigen<br />

Ostpolitik und wird dadurch der Strategie Adenauers nicht ganz gerecht. Der Verfasser sympathisiert<br />

offensichtlich mit der Politik des amerikanischen Präsidenten und wahrt nicht immer<br />

die gebotene kritische Distanz, ein Manko der Arbeit, auf das auch Gilbert Ziebura im Vorwort<br />

hinweist.<br />

Das Buch von Rudolf Kasmalski „Ein Berlin-Plan - Auftrag und Aufgabe" fällt aus dem Rahmen<br />

der bisher besprochenen Arbeiten, da es voller Ungereimtheiten steckt. Kasmalski präsentiert<br />

einen Berlin-Plan in zehn Punkten, der eine freie Stadt Groß-Berlin schaffen soll. Die DDR<br />

wird aufgefordert, den Ostteil der Stadt preiszugeben. Die Bundesrepublik soll den Reichstag<br />

(das Symbol einer verfehlten Politik) abreißen und das Gelände den Vereinten Nationen zur<br />

Verfügung stellen, die ihren Sitz von New York nach Berlin verlegen müßten. Im Berlin-Abkommen<br />

vom 3. September 1971 sieht Kasmalski die Basis für die Durchführung seines Plans,<br />

der darüber hinaus ein erster Schritt für die Errichtung eines „neuen" neutralen Deutschlands<br />

sein soll. Ist dem Verfasser im ersten Teil des Buches bei aller Skepsis gegenüber seinen<br />

utopisch erscheinenden Plänen eine gewisse logische Konsequenz nicht abzusprechen, so wirkt<br />

der zweite Teil konfus. Kasmalski präsentiert dort eine im vereinigten Deutschland einzuführende<br />

„Neue Ordnung". An Stelle der Demokratie, der Volksherrschaft, soll die Volksgemeinschaft<br />

treten, die nach seiner Ansicht alle Konflikte und Merkmale der Spaltung überwinden<br />

wird.<br />

Völlig abwegig sind dann seine Reflexionen über Pornographie, Insemination und die Wiedereinführung<br />

der Todesstrafe. Bezeichnend ist, daß Kasmalski einen eigenen Verlag gegründet<br />

hat, der seine Schriften druckt. Es dürfte schwer sein, sie an anderer Stelle unterzubringen.<br />

Jürgen Wetzet<br />

Ernst Dronke: Berlin. Hrsg. von Rainer Nitsche. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1974.<br />

429 S. mit 111., brosch., 14,80 DM. (Sammlung Luchterhand, 156.)<br />

Mit dem Nachdruck der Erstausgabe dieses 1846 erschienenen Buches wird dem Leser ein höchst<br />

interessantes, lebendiges, von wacher und intelligenter Beobachtungsgabe diktiertes Bild Berlins<br />

wenige Jahre vor den Ereignissen des Jahres 1848 vermittelt. Herausgeber und Verlag sehen<br />

nicht zu unrecht in diesem Werk einen wichtigen und in seiner Authentizität nicht gering zu veranschlagenden<br />

Dokumentarbeitrag zur sozialen Situation Berlins in den Jahren des Vormärz. Die<br />

Lektüre vermittelt unzählige Details und Fakten aus den Lebensgewohnheiten und -formen des<br />

„Berliners" in seiner jeweiligen sozialen Um- und Mitwelt, dem öffentlichen und politischen<br />

Leben, in den Bereichen des Geld- und Finanzwesens, der Parteien, des Beamtentums, des Strafvollzugs<br />

und der Kulturpolitik an der Universität, in den Theatern und in der Kunst. Die Darstellung<br />

nährt sich aus dem unmittelbaren Erleben und Erfahren, das für Dronke nach dem<br />

Erscheinen dieses Berlin-Buches konsequent mit Prozeß, Verurteilung, Festungshaft und Emigration<br />

seinen durchaus „zeitgemäßen" Abschluß fand. In einem erfreulich gestrafften Nachwort<br />

bemüht sich der Herausgeber, dem Leser mit Hinweisen und einem biographischen Abriß zu<br />

Dronkes Persönlichkeit bei der historischen Einordnung des Werkes hilfreich zu sein. Ein übriges<br />

tun die zahlreichen Anmerkungen, mit denen Auskunft über die im Text erwähnten Personen<br />

gegeben wird. Hans Joachim Mey<br />

136


Otto March - Ein schöpferischer Berliner Architekt an der Jahrhundertwende. Reden und Aufsätze.<br />

Hrsg. Werner March. Tübingen: Wasmuth 1972. 104 S. m. 23 Abb., Leinen, 18 DM.<br />

Der als Schöpfer des Berliner Olympia-Stadions weithin bekanntgewordene Architekt Werner<br />

March widmet diese Publikation seinem ebenso bekannten Vater Otto March, dem Klassenkameraden<br />

Max Liebermanns, dem Schüler Stracks an der Berliner Bauakademie, Schadows an<br />

der Preußischen Akademie der Künste und nach dem Krieg von 1870 Ferstels in Wien.<br />

Seine Tätigkeit im Landhausbau, die mit der Villa Holtz in Westend begonnen hatte, wurde<br />

nach der Englandreise von 1888 vom dortigen Bauschaffen maßgeblich beeinflußt. Individuelle<br />

Grundrisse nach den Wünschen der Bauherren und die Eingliederung der Werke in deren Umgebung<br />

lassen Otto March zum gesuchten Architekten auch von Herrenhäusern und Landsitzen<br />

werden. Die hierbei gemachten schöpferischen Erfahrungen schlagen sich unter anderem in der<br />

1896/97 errichteten Landhausgruppe „Amalienpark" in Pankow nieder. Zwei- bis dreigeschossige<br />

Mietwohnhäuser sind um die als Gartenplatz mit zwei Fahrbahnen gestaltete Mitte angeordnet.<br />

Der damalige Direktor der Landhaus-Baugesellschaft Pankow gehört damit zu den Wegbereitern<br />

der nächsten Baumeister-Generation. Seine Berliner Kirchenbauten folgen neben denen<br />

von Osnabrück, Delbrück, Borkum, Oberkassel bei Bonn und Köln-Marienburg strikt der<br />

Forderung der Predigtkirche und fügen sich sowohl in der Funktion des Innenraumes als auch<br />

der städtebaulichen Eingliederung dem Gedanken der Gemeinde. March errichtet die Rennbahnen<br />

in Köln, Hamburg, Breslau, Berlin-Hoppegarten und mit der von Berlin-Grunewald<br />

das erste Stadion in Deutschland. Schon früher hatte sein „Städtisches Spiel- und Festhaus" in<br />

Worms mit der weit in den Zuschauerraum gezogenen offenen Vorderbühne das Theater reformiert.<br />

Diese vielschichtigen Aufgaben setzt er in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen als Architektur-<br />

Theoretiker auseinander. So erlebt der Leser eine Baumeister-Persönlichkeit, die nicht nur<br />

historisches Interesse weckt, sondern im Nachhall ihres Wirkens lebendig geblieben ist.<br />

Günter Wollschlaeger<br />

Peter Lundgreen: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und<br />

Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe. Berlin: Colloquium 1975. XIV, 307 S., Leinen,<br />

68 DM (Einzelveröff. d. Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 16 = Publikationen zur Geschichte d.<br />

Industrialisierung).<br />

Die vorliegende Schrift gehört zu der Reihe der aus dem zentralen Forschungsschwerpunkt<br />

„Frühe Industrialisierung des Raumes Berlin-Brandenburg" entstandenen Arbeiten. Nachdem<br />

nunmehr vor 10 Jahren Ilja Mieck in seiner Studie „Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806<br />

bis 1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus" - erschienen<br />

in der gleichen Reihe - die Bemühungen des Beuthschen Gewerbe-Instituts und des preußischen<br />

Finanzministeriums zur Entwicklung und Verbesserung der Gewerbebetriebe dargestellt hat,<br />

wird hier einer anderen Seite der Gewerbeförderung, der Technikerausbildung und des Einsatzes<br />

der ausgebildeten Techniker in der Wirtschaft besondere Beachtung geschenkt. Als Quelle dienten<br />

vornehmlich die reichen Bestände der Archive in Potsdam und Merseburg.<br />

Der erste Hauptteil des zweiteiligen Buches ist der Technikerausbildung gewidmet. Von besonderem<br />

Gewicht sind hier die Partien über die Herausbildung des Gewerbeschultyps in Preußen<br />

aus den verschiedenen Vorformen des 18. Jh.s und die Bedeutung des französischen Vorbilds.<br />

Auch die Organisation der Provinzial-Gewerbe-Schulen und des Berliner Gewerbe-Instituts, des<br />

Vorläufers der heutigen Technischen Universität, wird eingehend besprochen. Tabellen zur Herkunft,<br />

dem Beruf des Vaters, dem Bildungsgrad und der Verweildauer der Schüler geben einen<br />

guten Einblick in die soziale Struktur der zukünftigen Techniker. Auch die materielle Seite des<br />

Studiums wird behandelt; staatliche und private Stipendien - hier wird das Seydlitz-Stipendium<br />

besonders hervorgehoben - boten begabten Studenten zusätzliche finanzielle Anreize. Aus der<br />

Wahl der Fachgebiete in chronologischer Abfolge zeigt sich deutlich das Nachlassen des Interesses<br />

an dem noch im ersten Vierteljahrhundert führenden Textilbereich zugunsten einer Ausbildung<br />

in den Metallberufen.<br />

Das „Berufsfeld" der Absolventen wird im zweiten Hauptteil behandelt. Hier stützt sich der Vf.<br />

nahezu ausschließlich auf das in den genannten Archivbeständen befindliche Material zum späteren<br />

Lebensweg der ausgebildeten Techniker. Obwohl in dem Material einige wichtige Einzelheiten<br />

zum Arbeitsplatz, der sozialen Position und zum Verdienst des Technikers um die Mitte des<br />

19. Jh.s enthalten sind, ist die Materialbasis doch zu gering, um allgemeine Schlüsse zum Berufsfeld<br />

eines jungen Berufs zu machen. Anzuregen wäre eine Bearbeitung des Verhältnisses der<br />

akademisch ausgebildeten zu den nicht ausgebildeten Technikern.<br />

Wenn auch die Schrift nur den engen Bereich der akademischen Technikerausbildung abdeckt,<br />

so wird doch dadurch ein Aspekt der Industrialisierung hervorgehoben, der auch einen wichtigen<br />

Teil der Geschichte der Bildung und Ausbildung in Berlin umfaßt. Felix Escher<br />

137


Gelandet in Berlin. Zur Geschichte der Berliner Flughäfen. Text: Helmut Conin. Berlin: Berliner<br />

Flughafen-Gesellschaft mbH 1974. 355 S. m. 303 Abb., Leinen, 39 DM.<br />

Das 50jährige Bestehen der „Berliner Flughafengesellschaft mbH" und die baldige Inbetriebnahme<br />

des neuen Flughafens Tegel boten der Flughafengesellschaft doppelten Anlaß zur Herausgabe<br />

einer Festschrift.<br />

Die Entwicklung des Luftverkehrs in und um Berlin vom Aufstieg des ersten Heißluftballons auf<br />

dem alten Exerzierplatz nordwestlich des Brandenburger Tores im Jahre 1788 bis zur Gegenwart<br />

wurde zum Thema des Buches. Besonders großer Raum ist der Zwischenkriegszeit, dem<br />

Ausbau der Berliner Flughäfen zum „Luftkreuz Europas", gewidmet. Die offenbar großen Verluste<br />

an Quellenmaterial erlauben es wohl nicht, eine chronologische Geschichte des Berliner<br />

Flugverkehrs und seiner Flughäfen zu schreiben: so wurde hier ein anderer Weg gesucht. Im<br />

Mittelpunkt steht die ausgezeichnet ausgewählte Bebilderung. Der oft etwas saloppe Text dient<br />

weitgehend nur als Ergänzung des Bildmaterials. Hier muß allerdings beklagt werden, daß mehr<br />

Anekdoten als Fakten geboten werden. Nur beiläufig wird an den verschiedensten Stellen die<br />

nicht ganz unbedeutende Flugzeugindustrie der Vorkriegszeit erwähnt.<br />

Der Ausbau des Zentralflughafens Tempelhof im Rahmen der „Speer-Planung" konnte im<br />

Zweiten Weltkrieg nicht vollendet werden. Trotz zahlreicher Schäden wurde der gewaltige<br />

Gebäudekomplex - einer der größten der Welt - bald wieder in Betrieb genommen, zunächst<br />

provisorisch für die amerikanische Besatzungsmacht.<br />

Die Nachkriegszeit brachte vollständig veränderte Voraussetzungen für den Flugverkehr, der nun<br />

in den Händen der Alliierten lag. Die Luftbrücke und das später einsetzende Ausfliegen von<br />

DDR-Flüchtlingen zeigen die neue politische Dimension des Luftweges als einzigem unkontrollierten<br />

Zugang nach West-Berlin. Auch der Reiseflugverkehr begann wieder im Zentralflughafen<br />

Tempelhof, zeitweise auch im britischen Flugplatz Gatow und dem auf ehem. Militärgelände<br />

während der Blockade angelegten Flugplatz Tegel, wo im Jahre 1960 mit dem zivilen Verkehr<br />

begonnen wurde.<br />

In der Schilderung der jüngsten Zeit ist das nur ein Jahr alte Werk bereits veraltet. Der Umzug<br />

in die modernen Abfertigungsanlagen in Tegel-Süd - die Eröffnung war hier noch für November<br />

1974 vorgesehen (S. 349) - bedeutete nicht eine Entlastung, sondern, im Zeichen der abnehmenden<br />

und erst jetzt sich wieder konsolidierenden Fluggastzahlen, den Abschied vom Zentralflughafen<br />

Berlin-Tempelhof. Felix Escher<br />

Schattenriß von Berlin. 2. Ausg. Amsterdam 1788. Hrsg. und mit kritischen Anmerkungen versehen<br />

von Uwe Otto. Teil 1: Kritische Betrachtungen über das offizielle Berlin, seiner Einwohner<br />

und andere Berliner Sachen. - Teil 2: Kritische Betrachtungen über das private Berlin . . . Berlin:<br />

Berliner Handpresse 1974 und 1975. Je 42 S. mit 17 111., Großformat, bibl. Pappbd., je 32 DM.<br />

(Berliner Handpresse, Reihe Werkdruck Nr. 2 u. 3.)<br />

Um es vorweg zu sagen: Der hier vorliegende Reprint, aus drucktechnischen Gründen in zwei<br />

Teilen, ist eine gefällige und amüsante Sache. Den Herausgebern der rührigen Berliner Handpresse<br />

kam bei diesem Unternehmen der Umstand zugute, daß der bis heute anonym gebliebene<br />

Verfasser den Text so passend in einzelne Kapitel aufgeteilt hat, daß beide Teile unabhängig<br />

voneinander gelesen werden können. Das Original erschien 1788, und als Verlagsort<br />

gilt - trotz gewisser Zweifel - Amsterdam, jene Stadt also, die wegen ihrer Zensurfreiheit im<br />

Zeitalter der Aufklärung überregionalen Ruhm erlangte.<br />

Die für damalige Verhältnisse sicher sehr mutige Kritik und Bestandsaufnahme hob sich entschieden<br />

von den geläufigen Vorstellungen ab, ließen jedoch auch die große Sorge um die weitere<br />

Entwicklung Berlins spürbar werden. Mit dieser Kritik sollten überalterte Zustände<br />

aufgezeigt und zum Wohle der Allgemeinheit, deren Entfaltung durch die große Armut beeinträchtigt<br />

wurde, verbessert werden. Betrachtet man die einzelnen Kapitel dieser Edition, so<br />

muß man unweigerlich zu dem Schluß gelangen, daß sowohl das gesamte öffentliche wie auch<br />

ein überwiegender Teil des privaten Berlins von den „Würmern" zerfressen waren. Mängel<br />

im medizinischen Bereich und Korruption in Verwaltung und Gerichtsbarkeit werden ebenso<br />

angeprangert, wie z. B. die um sich greifende Zuhälterei. Dies sind nur wenige Themen des<br />

Gesamtinhaltes.<br />

Schließlich noch ein Satz zur technischen Ausführung. Obwohl einige Textseiten - aus reprotechnischen<br />

Gründen - nur schwer lesbar sind, ist jene als annehmbar zu bezeichnen. Die jeweils<br />

17 Illustrationen von Wolf gang Jörg und Erich Schönig passen sich dem Text an. Die<br />

numerierte und signierte Auflage von 1200 Exemplaren - für einen Handpressendruck eine<br />

recht hohe Auflage - kann auch noch für Sammler von derartigen Druckerzeugnissen interessant<br />

sein. Claus P. Mader<br />

138


Jürgen Schmädeke: Das Fernsehzentrum des Senders Freies Berlin. Berlin: Haude & Spener<br />

1973. 75 S. Text, 50 Abb. auf Taf., Pappbd., 17,80 DM. (Buchreihe des SFB, Nr. 13.)<br />

Nach dem „Haus des Rundfunks" ist nun auch das „Fernsehzentrum des Senders Freies Berlin"<br />

in Buchform dokumentiert worden. Dem Vf., einem Journalisten, gelingt es, auch die komplizierte<br />

Technik des eindrucksvollen Bauwerks am Theodor-Heuss-Platz für den technischen Laien<br />

durchschaubar zu machen. Von dem Provisorium der Nachkriegszeit über den Wettbewerb, den<br />

Bauablauf bis hin zur Beschreibung der Funktion und Arbeit in dem neuen Komplex geht die<br />

durch einen umfangreichen Bildteil unterstützte Beschreibung des neuen Hauses. Dankenswerterweise<br />

werden die Probleme und Pannen, die bei einem Hochbauvorhaben dieser Größenordnung<br />

unvermeidlich auftreten, nicht verschwiegen. Freilich — auch das wird nicht verschwiegen —<br />

bedeutete die Anlage der großen, erst in ferner Zukunft völlig ausgelasteten Studios eine beträchtliche<br />

Oberkapazität an Fernsehproduktionsstätten und führte damit zu einem Abzug von Produktionen<br />

aus den Tempelhofer und Spandauer Ateliers - eine Frage, der man sich noch mehr<br />

Aufmerksamkeit gewünscht hätte. Erfreulich ist der (bei einer derartigen Schrift sonst durchaus<br />

nicht übliche) Anmerkungsapparat, der den Wert der Arbeit beträchtlich erhöht. Es fehlen<br />

allerdings Aufsätze über den Bau aus einschlägigen Fachzeitschriften, z. B. der „Bauwelt", die<br />

dem interessierten Leser sicherlich noch Anregungen zur weiteren Beschäftigung geben könnten.<br />

Felix Escher<br />

Im IV. Vierteljahr 1975<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Werner August, Rentner<br />

8263 Burghausen, Robert-Koch-Straße 17 a<br />

(Ruth Koepke)<br />

Maria Barthel, Rentnerin<br />

1 Berlin 31, Jenaer Straße 15<br />

Tel. 8 54 38 94 (Hildegard Golisch)<br />

Maria-Gabriele Bauwens, VHS-Dozentin<br />

1 Berlin 28, Bertramstraße 54<br />

Tel. 4 04 49 12 (Ruth Koepke)<br />

James E. Cornwall<br />

1 Berlin 15, Uhlandstraße 45, bei Hildebrandt<br />

Tel. 8 82 23 46 (Mücke)<br />

Horst Drescher, Verlagskaufmann<br />

1 Berlin 41, Steglitzer Damm 8<br />

Tel. 7 91 53 28 (Dr. Leichter)<br />

Irmgard Giering, Oberstudienrätin<br />

1 Berlin 31, Joachim-Friedrich-Straße 53<br />

Tel. 8 85 13 59 (Martin Schröder)<br />

Erika Goosmann, Lehrerin<br />

1 Berlin 42, Alt-Tempelhof 40<br />

Tel. 7 52 44 74 (Gertrud Hedrich)<br />

Eckhard Grothe, Fertigungsingenieur<br />

1 Berlin 41, Beymestraße 19<br />

Tel. 7 91 55 31 (Brauer)<br />

Karin Hindorf, Med. techn. Assistentin<br />

1 Berlin 37, Clayallee 339 a<br />

Tel. 8 01 79 30 (Schriftführer)<br />

Dr. Henner Hummelsiep, Arzt<br />

1 Berlin 41, Plantagenstraße 2<br />

Tel. 7 91 16 99 (Brauer)<br />

Prof. Dr. Guido Jüttner, Hochschullehrer (FU)<br />

1 Berlin 41, Niedstraße 36<br />

Tel. 8 52 29 86 (Vorsitzender)<br />

Eva Kempin<br />

1 Berlin 45, Gardeschützenweg 111<br />

Tel. 8 33 13 46 (Brauer)<br />

Elsa Klages, Soz.-Oberinspektorin i. R.<br />

1 Berlin 42, Kaiserin-Augusta-Straße 13<br />

Tel. 7 52 44 31 (Gertrud Hedrich)<br />

Peter-Jürgen Marcus, Studiendirektor<br />

34 Göttingen, Rosdorfer Weg 1<br />

Tel. (05 51) 4 69 10 (Schriftführer)<br />

Edmund Nawrocki, Pensionär<br />

1 Berlin 65, Nachtigal-Platz 5<br />

Tel. 4 51 95 60 (Werner Nawrocki)<br />

Friedburg Schreiber, Krankenschwester<br />

4504 Georgsmarienhütte, Stadtkrankenhaus<br />

Tel. (0 54 01) 20 21 (Hildegard Mattusch)<br />

Hedwig Wollstein, Rentnerin<br />

1 Berlin 37, Eisvogelweg 28<br />

Tel. 8 13 38 40 (Schriftführer)<br />

139


Veranstaltungen im I.Quartal 1976<br />

1. Dienstag, 13. Januar 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Gerhard<br />

Küchler: „Fürst Hermann von Pückler-Muskau 1785-1871. Ein märkischer Standesherr,<br />

Landschaftsgestalter und Reiseschriftsteller". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

2. Mittwoch, 21. Januar 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr.<br />

Friedrich Mielke: „Palladio und Potsdam". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

3. Mittwoch, 28. Januar 1976, 19.00 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 111. Jahrestages<br />

der Gründung unseres Vereins im Großen Saal der Hochschul-Brauerei, Berlin 65,<br />

Amrumer Straße 31 (Ecke Seestraße; U-Bahnhof Amrumer Straße, Busse 16, 64,<br />

65, 89). Es spricht Herr Alfred Braun.<br />

Voranmeldungen bis 21. 1. 1976 an Herrn Albert Brauer, 1 Berlin 31, Blissestraße<br />

Nr. 27.<br />

4. Dienstag, 10. Februar 1976, 19.30 Uhr: Lesung und Plauderei über „Wanderungen<br />

in der Mark Brandenburg heute" mit Herrn Hanz Scholz. Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

5. Dienstag, 24. Februar 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Börsch-<br />

Supan: „Caspar David Friedrich und Berlin". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

6. Dienstag, 9. März 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger:<br />

„Beispiele Berliner Jugendstilarchitektur". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Dienstag, 30. März 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Jürgen Grothe:<br />

„Häuser und Straßen im Alten Berlin der Vorkriegszeit". Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen<br />

geselliges Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 23. Januar, 20. Februar und 19. März zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Sdiultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 4 65 90 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitarg gedeckt, Bezugspreis für<br />

Nidvtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

140


' 3'' J A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

72.Jahrgang Heft 2 April 1976<br />

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Königin Luise von Preußen mit ihren beiden ältesten Söhnen, dem späteren Köni^<br />

Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Wilhelm I., in Königsberg<br />

(Gemälde von Karl Steffeck, 1886) Foto: Bildarchiv Preuß. Kulturbesitz<br />

141


Briefe und Tagebücher der Königin Luise<br />

im Brandenburg-Preußischen Hausarchiv<br />

Zur 200. Wiederkehr ihres Geburtstages am 10. März 1976<br />

Von Eckart Henning M. A.<br />

Das Brandenburg-Preußische Hausarchiv, 1848/52 errichtet, ist am 23. November 1943<br />

durch einen Bombenangriff auf sein Dienstgebäude am Luisenplatz in Berlin-Charlottenburg<br />

restlos zerstört und seine Geschäftsstelle daraufhin am 29. Dezember 1943 in das<br />

Geheime Staatsardiiv nach Berlin-Dahlem verlegt worden. Nur dreiundzwanzig Prozent<br />

der Bestände konnten durch eine rechtzeitige Verlagerung gerettet werden. Sie befinden<br />

sich heute im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg, wo man das Hausarchiv<br />

als eigenen Archivkörper freilich aufgelöst hat und bestrebt war, seine Bestände Provenienzzusammenhängen<br />

einzugliedern, in denen sie einmal erwachsen waren 1 .<br />

Nur einige besondere Kostbarkeiten des Hausarchivs, die im Flakturm am Berliner Zoologischen<br />

Garten untergebracht waren, sind bei Kriegsende schließlich in das Geheime<br />

Staatsardiiv gelangt (weniger als drei Prozent des Gesamtbestandes). Unter ihnen befinden<br />

sich, außer den Testamenten der Hohenzollern, den Hausverträgen, der Belehnungsurkunde<br />

mit der Mark Brandenburg und weiteren Urkunden, Nadilässen u. a. Wittgensteins<br />

und Saegerts, audi eine Reihe von Briefen und Aufzeidinungen der Königin<br />

Luise aus den Jahren 1807 und 1810, die heute gut die Hälfte aller im Hausardiiv verwahrten<br />

Stücke von ihrer Hand ausmadien. Insgesamt besitzt das Brandenburg-<br />

Preußische Hausarchiv, das als eigener Archivkörper im Geheimen Staatsarchiv fortbesteht<br />

und auch weiterhin in Anlehnung an den Vertrag über die Vermögensauseinandersetzung<br />

zwisdien Preußen und dem vormals regierenden Königshaus vom 12. Oktober<br />

1925 2 betreut und in seinem Wiederaufbau gefördert wird, heute nodi siebenundachtzig<br />

Briefe der Königin, ferner ihre „Description de mon voyage en Hollande" (1798)<br />

sowie ihr „Journal depuis Königsberg jusqu'a Petersbourg" (1808/1809). Von den<br />

Briefen sind achtundvierzig Studie im ungebrodienen Besitz des Hausardiivs, während<br />

es sidi bei den übrigen ebenso wie bei den Reisebesdireibungen um neu-, mitunter audi<br />

um nadi dem zweiten Weltkrieg zurückerworbene Stücke handelt. Trotz des relativ geringen<br />

Umfanges dieses Bestandes ergeben sidi dodi deutlidie Schwerpunkte im Verlobungsjahr<br />

Luises 1793, ferner in den Jahren 1803 und besonders 1807, dem ersten Jahr<br />

nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstädt, sowie im<br />

Todesjahr der Königin 1810.<br />

Eine wesentliche Ergänzung dieses Materials stellt der Nachlaß des zuletzt in Jena lehrenden,<br />

1953 verstorbenen Königin-Luise-Forsdiers Karl Griewank im Brandenburg-<br />

Preußisdien Hausardiiv dar 3 . Er besteht hauptsädilidi aus 1928 angefertigten Absdiriften<br />

und Übersetzungen der französisdi geführten Korrespondenz zwisdien der Königin und<br />

1 Vgl. meine entsprechenden Angaben über das Hausarchiv und die dort vermerkte Literatur im<br />

Führer durch das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1974, S. 43-44.<br />

8 Otto Heinrich Meisner: Das Hausarchiv in Charlottenburg, in: Denkschrift [des Preußischen<br />

Finanzministeriums] zur Frage der Vermögensauseinandersetzung zwischen dem preußischen<br />

Staat und dem vormals regierenden Königshaus. [Berlin 1924], Sp. 184-187.<br />

* Brandenburg-Preußisches Hausarchiv (künftig zit.: Br.-Pr. Hausardiiv), Rep. 192, Nadilaß<br />

Griewank.<br />

142


Briefpapier der Königin Luise aus verschiedenen Jahren<br />

ihrem Gemahl aus den Jahren 1793-1810, die Griewank für seine Veröffentlichungen 4<br />

anfertigte. Der Umfang dieser Sammlung, die auch unveröffentlichte Briefe Luises enthält,<br />

beläuft sich auf siebzehn Mappen.<br />

Prinzessin Auguste Wilhelmine Amalie Luise von Mecklenburg-Strelitz wurde vor<br />

200 Jahren am 10. März 1776 in Hannover im „Alten Palais an der Leinestraße" geboren,<br />

wo ihr Vater, Erbprinz Karl von Mecklenburg-Strelitz (1741-1816) 5 , bis 1787<br />

Gouverneur der Stadt, als großbritannisch-hannöverscher Generalleutnant lebte; Luises<br />

Mutter Friederike, eine Tochter Landgraf Georgs von Hessen-Darmstadt, starb bereits<br />

1782. Das Leben Luises, die in Darmstadt aufwuchs (1786-93), am 24. Dezember 1793<br />

in Berlin mit dem Kronprinzen von Preußen vermählt und 1797 an der Seite ihres<br />

4 Königin Luise. Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. u. erl. von Karl Griewank. Leipzig 1924 (zit.<br />

Griewank I), und Briefwechsel der Königin Luise mit ihrem Gemahl Friedrich Wilhelm III.<br />

1793-1810, hrsg. von Karl Griewank. Leipzig 1930 (zit. Griewank II). - Hinweis: Deutsche<br />

Wörter innerhalb des französischen Brieftextes der Königin sind durch spitze Anführungszeichen<br />

(», «) markiert.<br />

5 Seit 1794 Herzog, nach 1815 Großherzog von Mecklenburg-Strelitz.<br />

143


Gemahls, König Friedrich Wilhelms III., preußische Königin wurde, ist so oft erzählt<br />

worden 6 , daß sich hier eine erneute Darstellung erübrigt.<br />

Ihrem Gedächtnis dienen daher wohl am besten ihre Briefe an Friedrich Wilhelm aus<br />

dem Jahre 1807, von denen wir aus Anlaß ihres Jubiläums einige in den Übersetzungen<br />

Karl Griewanks wiedergeben wollen. In ihnen kommt die Persönlichkeit der Königin,<br />

von der Theodor Fontane mit Recht bemerkt hat, daß sie „mehr als von der Verleumdung<br />

ihrer Feinde, von der Phrasenhaftigkeit ihrer Verherrlicher zu leiden gehabt" hat 7 ,<br />

am unmittelbarsten zum Ausdruck 8 . Es sind meist ernsthafte, mitunter verzweifelte,<br />

zumeist aber hoffnungsvolle und gelegentlich auch humorvolle Briefe, die immer in erster<br />

Linie von der Liebe zu ihrem Manne zeugen, dessen uneingeschränktes Vertrauen sie besaß<br />

und dessen Ohr sie auch in politischen Fragen, denen sie sich meist von der ethischen<br />

Seite her genähert hat, immer wieder suchte.<br />

Vergegenwärtigen wir uns die damalige politische Lage Preußens 9 : Der Separatfrieden<br />

Österreichs mit Napoleon in Preßburg am 26. Dezember 1805 hatte die dritte Koalition<br />

zwischen England, Rußland, Österreich und Schweden endgültig auseinandergesprengt.<br />

Sie war letztlich gescheitert, weil sich Preußen seit dem Baseler Sonderfrieden (1795)<br />

neutral verhielt. In Südwestdeutschland entstand der „Rheinbund" von Napoleons<br />

Gnaden, dem sechzehn Staaten beitraten. Ihre Mitgliedschaft setzte das Ausscheiden aus<br />

dem Reichsverband voraus, worauf Kaiser Franz II. in Wien die Krone des Heiligen<br />

Römischen Reiches Deutscher Nation niederlegte. In Berlin sah man nach Auflösung des<br />

Reiches und der Besetzung Hannovers durch Preußen, dem Pariser Vertrag vom 15. Februar<br />

1806 entsprechend, eine Chance, einen norddeutschen Bund unter preußischer Führung<br />

zu bilden, den Napoleon anfänglich zu tolerieren schien. Zur Absicherung im Osten<br />

war es Hardenberg in Verhandlungen mit Kaiser Alexander I. gerade gelungen, eine<br />

preußisch-russische Verständigung zustande zu bringen, als das preußische Ultimatum<br />

vom 26. September 1806 an Frankreich und seine Folgen allen derartigen Plänen ein<br />

jähes Ende machte. Die vernichtende Niederlage, die Napoleon Preußen bei Jena und<br />

Auerstädt am 14. Oktober bereitete und die nachfolgende Besetzung fast des ganzen<br />

Landes ließen die königliche Familie über Stettin, Graudenz, Osterode und Orteisburg<br />

nach Königsberg, im Januar 1807 schließlich in die äußerste Nordostecke Preußens, nach<br />

Memel, fliehen.<br />

So zeigt der erste der hier wiedergegebenen Briefe, vom 12. April 1807, die Königin<br />

als Flüchtling in Ostpreußen, als sie unter stärksten persönlichen Entbehrungen und Lei-<br />

* Als maßgeblich kann im ganzen immer noch die umfangreiche, aus den Quellen geschöpfte und<br />

1913 auf Vorschlag der Preußischen Akademie der Wissenschaften von Kaiser Wilhelm II. mit<br />

dem Verdun-Preis ausgezeichnete Biographie des Geheimen Archivrats Paul Bailleu gelten:<br />

Königin Luise. Ein Lebensbild. Bln./Leipzig erstmals 1908, 3. Aufl. hrsg. von Hermann Dreyhaus<br />

1926. - Aus der Vielzahl von Veröffentlichungen über die Königin seien aus neuerer Zeit<br />

außerdem genannt: Hans v. Arnim: Königin Luise. Berlin 1969 (= Berlinische Reminiszenzen,<br />

Bd. 24) und Constance Wright: Louise, Queen of Prussia. A Biography. London 1970.<br />

' Vgl. Theodor Fontane: Das Luise-Denkmal, in: Wanderungen durch die Mark Brandenburg,<br />

T. I, S. 479. München 1960 (= Sämtliche Werke [sogen. Nymphenburger Ausg.] Bd. IX, hrsg.<br />

von Edgar Groß).<br />

8 Zur Problematik von Briefen wie anderer autobiographischer Aufzeichnungen als Quellen des<br />

Historikers, vgl. Eckart Henning: Selbstzeugnisse, in: Handbuch der Genealogie, für den Herold<br />

hrsg. v. E. Henning u. W. Ribbe. Neustadt/Aisch 1972, S. 132-142 (Lit.-Ang. S. 280).<br />

* Vgl. Deutschland unter Napoleon. Augenzeugenberichte, hrsg. und eingel. von Eckart Kleßmann.<br />

Düsseldorf 1965.<br />

144


den nach der Begegnung zwischen König Friedrich Wilhelm III. mit Kaiser Alexander<br />

von Rußland in Kydullen (4.-11.4.) allein nach Königsberg zurückkehrte:<br />

„Ich benutze den Eilboten, den General Rüchel 10 Dir schickt, um Dir mitzuteilen,<br />

daß ich mehr tot als lebendig angekommen bin, infolge der schrecklichen Wege, die ich<br />

gerade bei einem Regen, Sturm und Schmutz, von denen ich bis jetzt noch keine<br />

Ahnung hatte, zurücklegen mußte. Von Sanditten bis hierher brauchte ich 8 Stunden,<br />

mitten auf dem Wege blieb ich im Schmutz stecken. Zwei Pferde sind im Kot fast<br />

umgekommen, nur mit Hilfe von Menschenkräften konnte ich mich nach einer halben<br />

Stunde Arbeit daraus befreien, 10 Männer hielten den Wagen, andere hatten Hacken,<br />

Klötze und Schaufeln, um die Räder freizumachen; Bäume und Balken wurden unter<br />

den Wagen gelegt, um vorwärtskommen zu können. Kurz, es ist die unglaublichste<br />

Reise, die ich in meinem Leben machte. Ich habe meine Frauen seit Kydullen nicht<br />

gesehen, ich zog mich an und aus, machte mein Bett, packte ganz allein ein; nein,<br />

lieber Freund, es ist stark. Ich beabsichtige sie hier zu erwarten und diese Stadt<br />

nicht eher zu verlassen, ehe ich nicht weiß, ob man die Wege bei Kranz passieren<br />

kann. Morgen werde ich Dir mehr darüber mitteilen, aber für heute bin ich tot . . ."<br />

[Königsberg, 12. 4. 1807J 11 .<br />

Alexander und Friedrich Wilhelm hatten sich von Kydullen, wo der König Hardenberg<br />

zum Kabinettsminister ernannte 12 , weiter nach Bartenstein begeben, wo sie am 23. April<br />

1807 einen neuen Vertrag schlössen, der die Zurückdrängung Frankreichs über den Rhein<br />

und die Wiederherstellung Preußens vorsah.<br />

Königin Luise hielt sich in Königsberg vom 12. April bis zum 10. Juni, dem Tag ihrer<br />

Rückkehr nach Memel, auf. Der folgende Brief an Friedrich Wilhelm III. stammt aus der<br />

„besten Zeit" Luises 13 in diesen schrecklichen Jahren, nämlich der Zeit nach der -<br />

unentschieden verlaufenen - Schlacht bei Preußisch-Eylau (7./8. 2. 1807) und der bei<br />

Friedland am 14. Juni 1807, die den militärischen Widerstand Preußens wie auch Zar<br />

Alexanders vollständig brach. — Der König hatte seine Frisur geändert - die „Zopfzeit"<br />

war vorüber:<br />

„Das Geschenk, daß Du mir gemacht hast, ist wirklich ganz neuartig und gewiß<br />

werde ich diesen Zopf mein ganzes Leben aufbewahren; er hat mich zu einer recht<br />

eigenartigen Betrachtung geführt, und das Ergebnis ist nicht angenehm. Denn vor<br />

zwei Jahren hätte man in Preußen nicht gewagt, an diese Änderung zu denken,<br />

wegen der Idee und des Wertes, die man dem alten Kostüm der preußischen Armee<br />

beimaß. Der siebenjährige Krieg hatte seine Macht bis auf die Haartracht ausgedehnt,<br />

und wer sie hätte ändern wollen, hätte ein Majestätsverbrechen begangen. Die Macht<br />

der französischen Revolution hat diese Änderung gestattet, denn, meiner Treu, niemand<br />

wird den Zopf tragen wollen, um die Erinnerung an den Tag des 14. Oktober<br />

zu verewigen, der gegen die Revolutionäre verloren ging. Jedenfalls habe ich bis zu<br />

Tränen gelacht über das »Zäpfchen«, und es soll unangetastet aufbewahrt bleiben bis<br />

an der Welt Ende . . . Ich muß Dir noch sagen, daß das Geschenk Deines Zopfes mir<br />

10 General Ernst Philipp v. Rüchel (1754-1823), seit 7. Dezember 1806 Gouverneur von Preußen.<br />

11 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 34; Griewank II, S. 271 f.<br />

n Der König hatte ihm zugleich die Führung der auswärtigen Politik übertragen. In Kydullen<br />

durfte Hardenberg ihm überdies, zum ersten Male in der preußischen Geschichte, ohne Vermittlung<br />

eines Kabinettsrates Vortrag halten.<br />

18 Vgl. Paul Bailleu: Königin Luise a. a. O., S. 227.<br />

145


wirklieb Vergnügen gemacht hat, denn ich wünschte diese Toilettenänderung längst,<br />

und im Kriege ist alles, was die Toilettenbedürfnisse vereinfachen kann, wirklich<br />

gut . . ." [Königsberg, 6. Mai 1807] u .<br />

Sechs Tage später nimmt Luise in einem ebenfalls noch heute im Hausarchiv aufbewahrten<br />

Brief an Friedrich Wilhelm unmittelbar zu politischen Fragen Stellung. Sie empfiehlt<br />

ihm dringend, wie so oft in diesen Tagen, sich von Generalmajor Wilhelm von Zastrow<br />

(1758-1830), seit Januar 1807 Minister des Äußern, zu trennen und legte ihm stattdessen<br />

immer wieder Hardenberg (1758-1822) und dessen politische Freunde ans Herz, von<br />

denen sie die innere Erneuerung und schließlich äußere Rettung Preußens erhoffte.<br />

Nicht minder mitteilenswert erscheint uns aber auch ein anderer Teil dieses Briefes zu<br />

sein, in dem Luise philosophierend einige Betrachtungen an das Wetter knüpft, die ihre<br />

innersten Überzeugungen berühren: sie glaubt, daß es im Grunde genommen im Leben<br />

nur darauf ankomme, sich „des Herzens Unverdorbenheit zu bewahren" (wie sie auf<br />

deutsch bekräftigend hinzufügt), ja, daß es nur einer reinen „Seele und eines einfachen<br />

Herzens" bedürfe, den Menschen wirklich glücklich zu machen und ihn an seine eigentlichen<br />

Pflichten zu erinnern. Anklänge an Schiller, den Luise den meisten anderen<br />

Dichtern ihrer Zeit vorzog 15 , werden hier spürbar.<br />

„. .. Wenn ich Dir übrigens sagen soll, was ich denke, so glaube ich, daß Du Dich<br />

des Herrn Zastrow entledigen mußt, denn ein Mann, der den Waffenstillstand aus<br />

Überzeugung unterschrieben hat, ich sage aus Überzeugung, wird Dir<br />

niemals gut dienen; »never never good*. - Die Leidenschaft mischt sich in alle seine<br />

Taten; ich muß Dir gestehen, er ist mir doppelt verdächtig, weil er Ländereien in<br />

14 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 46; Griewank II, S. 299 f.<br />

15 Vgl. die Ausführungen Caroline Friederikes von Berg, Luises vertrauter Freundin, in ihrem<br />

anonym erschienenen Buch: Die Königin Luise. Der preußischen Nation gewidmet. [Berlin]<br />

1814, S. 13 f. Vgl. auch Luises Schiller-Zitat im letzten wiedergegebenen Brief vom 29. Juni 1807.<br />

18 Gemeint ist der Charlottenburger Waffenstillstand vom 16. November 1806, den der König,<br />

hauptsächlich auf Betreiben Steins und Voß', abgelehnt hatte.<br />

146


Polen hat; die Ratschläge, die er seit seinem Eintritt ins Ministerium gegeben hat,<br />

schmeckten etwas nach dem Bestreben, sie sobald wie möglich wieder zu erlangen.<br />

König, Staat und Patriotismus kamen hinterher, und der Egoist zeigte sich nicht<br />

schlecht. Er bietet Dir an, Dich zu verlassen, wünsche ihm glückliche Reise . . . Alle<br />

Wohlgesinnten begrüßen, was Du zur Förderung des Guten getan hast, d. h. alles<br />

Vertrauen, das Du Hardenberg bezeigst. Er ist umgeben von den besten Köpfen des<br />

Königreichs, und die Wahl seiner Beamten und Berater wird allgemein gebilligt .. .<br />

Nach drei Gewittern haben wir hier Kälte, einen kleinen Februarwind und leuchtenden<br />

Sonnenschein, der sich nur über uns lustig macht; denn die Strahlen, mit denen er uns<br />

berührt, sehen so aus, als ob sie wärmen, und sind nur gelb gefärbt. Könnte man nicht<br />

diesen kalten schönen Sonnenschein mit einem koketten Mädchen vergleichen, wenn<br />

man nicht zuviel Philosophie in einem Briefe scheute? Wenn Reichtum der Seele und<br />

des Herzens nicht die Handlungen eines Menschen erwärmen, ist alles verführerische<br />

Äußere nichts; einen Augenblick dauert das, erfreut das; aber dann sind wir enttäuscht,<br />

denn niemals werden wir getröstet durch eine kalte Seele; wir verlassen diesen<br />

Menschen, ohne eine angenehme Erinnerung von ihm zu bewahren, da er uns<br />

nichts Tröstliches gibt; er lehrt uns nichts, er gibt uns nichts; denn er will genießen,<br />

will bedient werden. Möge Gott jedem Menschen, um ihn glücklich zu machen, eine<br />

reine Seele und ein einfaches Herz bewahren, so daß er nur einen Augenblick zu überlegen<br />

braucht, um sich seiner Pflichten zu erinnern. ]e mehr man »des Herzens Unverdorbenheiu<br />

bewahrt, um so glücklicher ist man. - Aber basta, das paßt nicht in einen<br />

Brief, denn es gleicht einer Predigt . .." [Königsberg, 12. Mai 1807J 17 .<br />

Der folgende Brief vom 24. Juni 1807, der an ihren Vater in Neustrelitz gerichtet ist,<br />

steht bereits ganz unter dem Eindruck der endgültigen Niederlage der Verbündeten bei<br />

Friedland. Das Schreiben aus Memel nimmt den philosophierenden Ton des früheren<br />

Briefes unter veränderten Bedingungen wieder auf; aus ihm spricht Luises unbeirrbare<br />

Standhaftigkeit, aber auch ihre ganze Hoffnungslosigkeit.<br />

„. . . Auf dem Wege des Rechts leben, sterben, ja wenn es sein muß, Brot und Salz<br />

essen, nie, nie werd' ich unglücklich sein. Nur hoffen kann ich nicht mehr. Wer so wie<br />

ich von seinem Himmel heruntergestürzt ist, kann nicht mehr hoffen. Kommt das<br />

Gute, o! kein Mensch ergreift, genießt, empfindet es dankbar so wie ich, aber hoffen<br />

kann ich nicht mehr. Kommt Unglück, so setzt es mich auf Augenblicke in Verwunderung,<br />

aber beugen kann es mich nie, sobald es nicht verdient ist. Nur Unrecht, nur<br />

Unzuverlässigkeit des Guten unsererseits bringt mich zu Grabe, da komm' ich nicht<br />

hin, denn wir stehen hoch. Sehen Sie, bester Vater, so kann der Feind des Menschen<br />

nichts über mich . .." [Memel, 24. Juni 1807 J ls .<br />

Am 7. und 9. Juli 1807 wurde in Tilsit der Friedensvertrag zwischen Preußen und Frankreich<br />

geschlossen, der Preußen nach Napoleons Willen auf die Gebiete östlich der Elbe<br />

beschränkte, während der westliche Teil zum Königreich Westfalen zusammengefaßt<br />

wurde. Damit zahlte Preußen, auch wenn Kaiser Alexander seine gänzliche Auflösung<br />

verhinderte, schließlich den Preis für die französisch-russische Verständigung.<br />

Am 27. Juni 1807 versuchte Luise noch, wie immer, dem niedergeschlagenen und unschlüssigen<br />

Friedrich Wilhelm brieflich beizustehen, in dem sie ihm Ratschläge, fast möchte man<br />

17 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 49; Griewank II, S. 310 ff.<br />

18 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 63; Griewank I, S. 221 f.<br />

147


sagen „Verhaltungsmaßregeln", für die politischen Gespräche in Tilsit mitzugeben versucht,<br />

Zeilen, die ihre Vertrautheit mit allen anstehenden Problemen verraten und zugleich<br />

von einem heroischen Idealismus getragen sind, der dem König Halt gab und ihm<br />

half, Mut und Selbstbewußtsein wiederzuerlangen.<br />

„... aber verstehen kann ich nicht und werde ich niemals den Aufenthalt der drei<br />

gekrönten Häupter in Tilsit . . . Aber ich beschwöre Dich, eines »zu beherzigen«:<br />

Wende bei diesem Handel alle Energie auf, deren Du fähig bist, und gib in keiner<br />

Weise irgend etwas zu, was Deine Unabhängigkeit zerstört. Das Unglück soll uns<br />

wenigstens eine große Lehre gegeben haben: wir haben so entbehren lernen, daß uns<br />

solche Art von Aufopferung, daß uns ein Opfer an Land nichts sein darf im Vergleich<br />

zu dem Opfer unserer Freiheit. Mag Napoleon Dir die Hälfte Deines bisherigen<br />

Besitzes nehmen, wenn Du das, was Dir zugebilligt wird, nur in vollem Besitz behältst,<br />

mit dem Vermögen, Gutes zu tun, die Untertanen, die Gott Dir läßt, glücklich<br />

zu machen und Dich politisch dort anzuschließen, wohin die Ehre Dich ruft und wohin<br />

Deine Neigungen Dich führen. Hardenberg darf nicht geopfert werden . . .; es wäre<br />

geradeso, wie wenn Du die Entfernung Talleyrands fordertest . . . Ich wage zum<br />

zweitenmal die Bitte, daß Du in diesem Handel alle Energie anwendest, deren Du<br />

fähig bist. Ich wiederhole: Was ist Opfer an Land im Vergleich mit dem Opfer der<br />

Freiheit des Geistes, der Freiheit zu edler Tat, kurz des eigenen Vermögens? Mit<br />

Napoleon würdest Du böse und schlecht werden, das Gelächter der Welt . . . Ich mißtraue<br />

sehr diesem Tilsiter Aufenthalt; Du und der Kaiser [Alexander], die Redlichkeit<br />

selbst, zusammen mit der Hinterlist, dem Teufel, »Doktor Faust und sein Famulus<br />

29 cela n'ira jamais, und keiner ist dieser Gewandheit gewachsen. Tant pis und<br />

gottlob!« . . ." [Memel, 27. Juni 1807p 1 .<br />

Der letzte Brief Luises, aus dem noch einige Partien wiedergegeben werden, zeigt die<br />

Königin wenige Tage vor ihrer Begegnung mit Napoleon am 6. Juli 1807 in Tilsit, wo<br />

sie vergeblich versucht hat, den Sieger milder zu stimmen und günstigere Friedensbedingungen<br />

für Preußen zu erwirken. Der Brief vom 29. Juni an Friedrich Wilhelm zeigt,<br />

wie Luise unter der „Hinterlist" Napoleons leidet und läßt leicht ermessen, welche Überwindung<br />

es sie kostete, von Memel aus nun ihren Gang nach Canossa anzutreten.<br />

„. . . Es gibt kein grausameres Los als unseres . . . Seine [Napoleons] schlechten Absichten<br />

gegen uns setzen mich nicht in Erstaunen, ich habe sie nie bezweifelt, nur Lombard<br />

iz und Haugwitz 23 zweifelten eine Zeitlang daran. Was Du mir berichtest von<br />

Hardenberg und von dem anspruchsvollen Wesen seines Feindes, bringt mich wirklich<br />

zur Verzweiflung, denn ich kenne niemand, aber auch niemand, der ihn ersetzen<br />

könnte. Da Napoleon sich anspruchsvoll nennt, erkläre Du Dich für starrköpfig wie<br />

ein Maultier, dann werden wir sehen, was dabei herauskommt. Ich weiß nicht, was<br />

ich von seinen Absichten denken soll, aber ich glaube, entweder will er Dich wieder<br />

einsetzen in Deine Staaten und Dich abhängig machen wie die reizenden Könige sei-<br />

18 Charles-Maurice von Taüeyrand-Perigord, Fürst von Benevent (1754-1838), französischer<br />

Minister des Auswärtigen seit 1797 bzw. 1799.<br />

*° Napoleon und Talleyrand.<br />

S1 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 65; Griewank I, S. 224 ff.<br />

11 Johann Wilhelm v. Lombard (1767-1812), preußischer Geheimer Kabinettsrat und Kabinettssekretär.<br />

85 Christian August Heinrich Kurt Graf v. Haugwitz und Frhr. v. Krappnitz (1752-1831).<br />

148


ner Fabrik, oder Didi ganz einfach aus Deinem Königreich verjagen und es den reizenden<br />

Murat 2i und ]erome 2!i zum Geschenk machen . .. Seine unhöflichen Manieren<br />

setzen mich nicht in Erstaunen, denn dafür gibt es zwei Gründe: Mangel an gutem<br />

Willen oder Mangel an Lebensart und an Kenntnis der höfischen Gebräuche. Denn<br />

wie sollte wohl dieses höllische Wesen, das sich »aus dem Kot emporgeschwungen*<br />

hat, wissen, was Königen zukommt? . . . Die Zeichen N. und A. am Pavillon ohne<br />

das Deine, die Einladung des Kaisers zum Essen ohne Dich, all das sind wirklich<br />

Grobheiten zu seiner Belustigung. Zunächst gehört die Memel Dir; warum läßt er<br />

denn das Zeichen dessen fort, dem das Land gehört, und warum lädt er Dich nicht<br />

auch ein, nachdem er Deine Bekanntschaft gemacht hat? »Nun, es lebt doch noch ein<br />

Gott, der wird ihm schon den Lohn geben, den er verdient.« Hat er etwa zu Dir<br />

etwas von Hardenberg gesagt? Und wem hat er seinen Plan vorgeschlagen, sich Preußen<br />

zu reservieren, um den Krieg mit Rußland zu führen? Nein, das ist wahrhaftig<br />

zu stark, und nichts, was ich noch gesehen habe, gleicht diesem würdelosen, niederträchtigen<br />

Mörder. Ich bin sicher, wenn Du es auch nicht gesagt hast, hast Du lebhaft<br />

gefühlt, was Maria Stuart beim Anblick der Elisabeth von England sagt: »In dieser<br />

Brust wohnt kein Herz!«"*« . . . [Memel, 29. Juni 1807]".<br />

Nicht allein, weil es an unmittelbaren Zeugnissen im heutigen Hausarchiv über die oft<br />

beschriebene Tilsiter Begegnung der Königin mit Napoleon mangelt, in der Luise dem<br />

Kaiser auf seine Frage: „Aber wie konnten Sie den Krieg mit mir anfangen?" die berühmt<br />

gewordene Antwort gab: „Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere<br />

Mittel getäuscht" 28 , sondern mehr aus Raummangel muß ein näheres Daraufeingehen<br />

unterbleiben 29 .<br />

Die vorstehend abgedruckten Briefstellen müssen dem einen als Erinnerung, dem anderen<br />

als ersten Anhaltspunkt für eine Beschäftigung mit Luise genügen, die als einzige unter<br />

allen preußischen Königinnen wirklich volkstümlich geworden und deren Name auch<br />

heute noch weiten Kreisen ein Begriff ist. Ob ihr über Berühmtheit hinaus „Größe" zugeschrieben<br />

werden kann, scheint heute zweifelhaft geworden zu sein. Während die erste<br />

Ausgabe des bekannten Sammelwerkes „Die Großen Deutschen" Karl Griewanks kompetente<br />

Würdigung der Königin, fast möchte man sagen „selbstverständlich", noch enthält<br />

30 , meinten die Herausgeber der neuen Ausgabe 31 ohne die Biographie Luises auskommen<br />

zu sollen. Auch im fünften (Nachtrags-)Band findet man sie nicht, obwohl Theodor<br />

Heuss in seiner Einleitung „Über Maßstäbe geschichtlicher Würdigung" mit Recht an-<br />

24 Joachim Murat (1771-1815), Schwager Napoleons, Großherzog von Cleve und Berg (1806 bis<br />

1808), dann König von Neapel.<br />

25 Jerome, jüngster Bruder Napoleons (1784-1860), König von Westfalen.<br />

86 Friedrich v. Schiller, Maria Stuart 111,4: „O Gott, aus diesen Zügen spricht kein Herz!"<br />

27 Br.-Pr. Hausarchiv, Rep. 49 Nr. 67; Griewank I, S. 133.<br />

28 Zit. nach v. Arnim, Königin Luise a. a. O., S. 77. Etwas abweichend vgl. H. Sandt/W. Schlegel,<br />

Königin Luise, Charlottenburg o. J., S. 52.<br />

29 Vgl. am ausführlichsten Tessa Klatt: Königin Luise von Preußen in dem Zeitalter der Napoleonischen<br />

Kriege. Berlin 1937, II. Abschnitt: Königin Luise und Napoleon, S. 130-198<br />

(= Schriften d. kriegsgeschichtlichen Abteilung des Histor. Seminars a. d. Friedrichs-Wilhelms-<br />

Universität zu Berlin, H. 20).<br />

30 Die Großen Deutschen, 4 Bde., hrsg. v. Willy Andreas und Wilhelm v. Scholz, Berlin 1935/36,<br />

Bd. II, S. 476-489.<br />

31 Die Großen Deutschen, 4 Bde., 1 Nachtrags-Bd., hrsg. v. Hermann Heimpel, Theodor Heuss<br />

und Benno Reifenberg. Berlin 1956/57.<br />

149


merkt, daß derjenige „ein Grundelement der ,Größe' verspielt", der „im Unterliegen<br />

menschlich versagt", ja „Seelengröße" als Kategorie ausdrücklich gelten läßt 32 . Mag man<br />

auch heute dazu neigen, Luises Rolle als „Schutzgeist" 33 für die Männer der Stein-Hardenbergschen<br />

Reformen stärker zu betonen als ihre eigene innere Haltung in dieser Zeit,<br />

so gehört doch in Wahrheit beides, die Seelengröße der Königin, von der schon die wenigen<br />

angeführten Briefzitate zeugen, und die Wirkungen, die von ihr auf die Zeitgenossen<br />

ausgingen, untrennbar zusammen. Zwei von ihnen, Heinrich von Kleist und Wilhelm<br />

von Humboldt, mögen hier stellvertretend für viele sprechen:<br />

Kleist schrieb am 6. Dezember 1806 an seine Schwester Ulrike:<br />

„In diesem Kriege, den sie [Luise] einen unglücklichen nennt, macht sie einen größeren<br />

Gewinn, als sie in einem ganzen Leben voll Frieden und Freuden gemacht haben<br />

würde. Man sieht sie einen wahrhaft königlichen Charakter entwickeln. Sie hat den<br />

ganzen großen Gegenstand, auf den es jetzt ankommt, umfaßt; sie, deren Seele noch<br />

vor kurzem mit nichts beschäftigt schien, als wie sie beim Tanzen, oder beim Reiten,<br />

gefalle. Sie versammelt alle unsere großen Männer, die der K[önig] vernachlässigt,<br />

und von denen uns doch nur allein Rettung kommen kann, um sich; ja, sie ist, die<br />

das, was noch nicht zusammengestürzt ist, hält" M .<br />

Humboldt äußerte sich am 31. Juli 1810 in einem Brief an seine Frau Caroline, ferner<br />

am 29. August 1810 über Königin Luise:<br />

„Ich leugne nicht, daß mich diese Tage sehr erschüttert haben. Die Königin war, auch<br />

bloß als Frau betrachtet, von einer seltenen Harmonie in ihrem ganzen Wesen; sie<br />

hatte wirkliche Größe und alle Sanftmut, die nur aus den herzlichsten häuslichen Verhältnissen<br />

hervorgehen kann; sie war dabei uns sehr gut, und wir haben unendlich<br />

viel mit ihr verloren . . , 35 Sie hatte im höchsten Grade die Gabe zu beseelen, zu ermutigen,<br />

zu beleben und wieder zu beruhigen allein schon durch ihre Gegenwart,<br />

selbst in gefahrvollen Augenblicken; sie erkannte alle Talente; sie besaß die Kunst,<br />

selbst diejenigen zu entdecken, die sich am wenigsten selbst hervortaten. Man muß ihr<br />

die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß sie mit äußerster Schlichtheit und Milde,<br />

und obwohl sie sich fast niemals in eingehender Weise mit Staatsgeschäften befaßt<br />

hat, dem Staate und den Staatsgeschäften alle Eigenschaften nützlich zu madien<br />

wußte, durch welche die vornehmsten Frauen Leben und Seele über die Gesellschaft<br />

verbreiten" si .<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 38, LückhoffStraße 33<br />

3S Ebenda Bd. I, S. 14 f.<br />

53 Ein in der Literatur gängiger Ausdruck, vgl. u. a. Paul Seidel: Die zeitgenössischen Bildnisse<br />

der Königin Luise, im Anhang zu Paul Bailleus Biographie, a. a. O., S. 359.<br />

" Heinrich v. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Helmut Sembdner, Bd. II, München<br />

1961, S. 773 f.<br />

35 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hrsg. von A. v. Sydow, Bd. III, Berlin<br />

1909, S. 451.<br />

30 Zit. nach H. Sandt/W. Schlegel a. a. O., S. 165 f.<br />

150


Gerhart Rodenwaldt<br />

Archäolog und Berliner (1886-1945)<br />

Von Dr. Hans B. Jessen<br />

Aber nichts ist verloren und verschwunden,<br />

"Was die geheimnisvoll waltenden Stunden<br />

In den dunkel schaffenden Schoß aufnahmen -<br />

SCHILLER: Die Braut von Messina III, 5<br />

„Die Friedrichs-Sitzung der Preußischen Akademie der Wissenschaften war in diesem<br />

Jahre" - berichtet am 30. Januar 1945 die Deutsche Allgemeine Zeitung - „ohne jeden<br />

herkömmlichen Glanz. Die Würde der Einfachheit fand gleichsam ihr Spiegelbild in dem<br />

Vortrag von Professor Rodenwaldt über Griechisches und Römisches in Berliner Bauten<br />

des Klassizismus", endend mit dem Anruf dreier Denkmale, ohne allen Prunk, nur dem<br />

Zwecke gehorchend, „schön und einfältig aufgeführt" (Winckelmann), wie kaum andere<br />

Berlins Gesicht und Berlins Geist bedeutend, in strenger Großgestalt, über alle Architektur<br />

hinaus, exempla patriae: „Aber mit Stolz sollten wir uns dessen bewußt sein, daß in<br />

Bauten wie dem Brandenburger Tor, der Neuen Wache und dem Museum aus der Begegnung<br />

preußisch-berlinischen Geistes mit der Antike, aus der Erinnerung an die Taten<br />

Friedrichs und dem Erlebnis der Notzeit und der Befreiungskriege, aus der Bewahrung<br />

guter Tradition und der Meisterung neuer Aufgaben Werke entstanden sind, die es mit<br />

demselben Recht, wie antikische Bauten der Renaissance oder Schöpungen der zeitgenössischen<br />

Literatur verdienen, nicht klassizistisch, sondern klassisch genannt zu werden."<br />

Kaum drei Monate später gibt Gerhart Rodenwaldt sich in der eingeschlossenen Stadt<br />

den Tod. Die Eroberung, die auch die Wirkensstätte seiner früheren Mannesjahre, das<br />

Deutsche Archäologische Institut, zur Ruine macht, erlebt der Achtundfünfzigjährige<br />

nicht mehr. Er geht in einem Augenblick davon, als seine Hand von allen die notwendigste,<br />

gerade für jenes Haus die rettendste werden sollte. Wie schrill, wie beklemmend<br />

der Ausgang - vermochte ein mit Berlin, mit seinen Menschen von einst und damals,<br />

seiner Wissenschaft, seinem künstlerischen Wollen auf das fühlsamste und fruchtbarste<br />

verflochtenes Gelehrtenleben wie dieses wohl würdiger, sinnhaltiger, ja trotz aller Bitternis<br />

wagen wir es: schöner zu schließen als an solchem Tage, solchem Ort, mit solchen<br />

abermals eindringsamen Bemühen um das alte, vaterstädtisch-heimatländische Thema<br />

„Preußen und die Antike"? Ob bewußt, ob vom Sprecher kaum geahnt - die Friedrichs-<br />

Rede am 25. Januar 1945 ist wie ein Scheidegruß an seine Welt, an die beiden Vaterländer,<br />

das des Geistes, das der Geburt, ist über alle fachliche Bekenntnis zu ihr, die einzig<br />

unter Deutschlands Städten auch in der Hinwendung, in dem vielfältig wiederschaffenden<br />

Bunde mit den Alten, ist eines Berliners „letztes Wort", sein heimisch-berlinisches<br />

Vermächtnis über den Tag hinaus.<br />

1922 war Rodenwaldt, am 16. April 1886 in einem Altberliner Hause geboren, nach<br />

Studium, Wanderjahren, Kriegsdienst und nur kurzer auswärtiger Lehrtätigkeit nach<br />

Berlin zurückgekehrt, als Präses des Deutschen Archäologischen Instituts, des 1829 ins<br />

Leben getretenen, weit über Deutschland hinaus wirkenden, als Gelehrten-Korporation<br />

wie überhaupt als geistesgeschichtliches Phänomen einzigartigen Zentrums zur Erkundung<br />

151


antiker Kunst. Nach Eduard Gerhard im früheren und Alexander Conze im späteren<br />

19. Jahrhundert - beide viele Jahrzehnte in Berlin amtierend - sollte Rodenwaldt dieser<br />

„Akademie über den Völkern" ein dritter Gründer werden, als deren durch mancherlei<br />

Kriegsungunst verwirrte Fäden geordnet, sie wieder strapazierbar, dichtmaschiger und<br />

damit leistungsfähiger gemacht. Dem internen Geschäftsgang, vor allem aber dem wissenschaftlichen<br />

Programm gab er Richtsätze, eröffnete zwischen Spanien und dem Iran, von<br />

Ägypten hinauf zur Germania Romana um Wesentliches, nicht bloß graduell vermehrte<br />

Möglichkeiten, verlieh zündendste Impulse, die nicht wenige Denkmäler, Denkmäler-<br />

Gruppen und damit ganze Kunst-Epochen von der Minos-Zeit bis zum heraufdämmernden<br />

Mittelalter neu und anders als bisher anschauen und deuten ließen. Solche Belebung<br />

haben selbst unruhigste Zeitläufe nicht entwertet, geschweige denn zunichte gemacht, sie<br />

in ihrer vorausschauenden Modernität und Wegweisung mehr als einmal bestätigt.<br />

Was lange vor dieser Zeit, 1889, in den „Preußischen Jahrbüchern" der Archäologe Adolf<br />

Michaelis als das „schwierigste Amt" eines Präses beschrieb, „das Ganze der Unternehmungen<br />

und der Ziele des Instituts unablässig im Auge zu haben, überall anzutreiben,<br />

auszugleichen, Hindernisse hinwegzuräumen, neue Wege zu eröffnen, neue geeignete<br />

Kräfte aufzufinden", dem ist Rodenwaldt, damals fast noch „junger Mann", ohne jede<br />

geräuschvolle Betriebsamkeit - „Wissenschaftliche Anstalten, die ihre Aufgabe ernst nehmen,<br />

pflegen ein Stilleben zu führen" (Michaelis) - mit solcher, ihrer selbst gewissen<br />

Energie, solcher diplomatischen Umsicht gerecht geworden, hat die Lenkung dieses wissenschaftlichen<br />

„Großbetriebs" (um Mommsens leidvoll nüchterne Diagnose moderner<br />

Institutionalität zu zitieren) allerwegen so souverän moderierend betrieben, daß seine<br />

Amtszeit dem ganzen Hause nachgerade ein neues Fundament, ein aus jahrhundertealter,<br />

reicher Vergangenheit ohne abrupte Zäsur behutsam fortentwickeltes Arbeitssystem eintragen<br />

mußte.<br />

Als das Institut 1929 in Berlin mit Festsitzungen im Reichstage, im ehemaligen Herrenhause<br />

und im Palais Friedrich Leopolds, nicht zuletzt mit feierlicher Einkehr vor dem<br />

(eben wiedererstellten) Pergamon-Altar als dem wohl volkstümlichsten Markstein deutschen<br />

Dienstes an der Antike und mit einer erstaunlich aspektreichen „Internationalen<br />

Tagung für Ausgrabung" seines hundertjährigen Bestehens gedachte, wurde diese aus<br />

aller Welt beschickte Aprilwoche zum Höhepunkte Rodenwaldtscher Präsidentschaft,<br />

unversehens-ungewollt zu seinem Jubiläum, feierte man gleichermaßen seine, mit so geringem<br />

bürokratischem Aufwand und wenigen Mitarbeitern erreichten Erfolge, ward<br />

ohne viel Aufheben einer Gelehrten-Fortune gratuliert, wie nicht häufig in Deutschland.<br />

Dieses letzte Fest des abendländischen Humanismus, dessen hochgestimmtes Pathos zehn<br />

Jahre später, schon auf der Schwelle des Krieges, dem Internationalen Archäologen-<br />

Kongreß in Berlin (auch er noch „Frucht seiner Saat") füglich nicht mehr zu eigen, ließ<br />

von Rodenwaldts Gestalt, seinem menschenvereinigenden Vermögen, der Unvoreingenommenheit<br />

und Intensität seiner Antikenerkenntnis, seiner phrasenlosen pietas den<br />

Alten gegenüber wie selten noch, ein Licht ausgehen, das nicht verlöschen wird, nicht<br />

erkalten, seinen sicher lenkenden Strahl nicht verlieren mag.<br />

Wenig später nach der Zentenarfeier schied Rodenwaldt, antikisch weise, aus dem Amte<br />

und auch dessen zehrenden Geschäften, widmete sich an der Berliner Universität allein<br />

der Lehre und der Forschung wie nicht zuletzt der Akademie, der er seit 1933 angehörte<br />

und der das opus ultimum geweiht, während die Bereiche des Ausgrabens und des Museums<br />

ihn eigentlich nie unmittelbar beschäftigt haben. So ist denn auch er der für Ber-<br />

152


Prof. Dr.<br />

Gerhart Rodenwaldt<br />

liner Archäologen „klassischen" Fünfzahl der Funktionen nahe gekommen: Institut, Lehrstuhl,<br />

Akademie, Archäologische Gesellschaft und Museum, welcher fast hundert Jahre<br />

zuvor, gewiß unter äußerlich reduzierteren Verhältnissen und Voraussetzungen, Eduard<br />

Gerhard vollkommen genügte. Mit rührigen Schülern von nah und oft sehr fern ward<br />

nun aufs neue die Oikumene in ihren bildnerischen Hinterlassenschaften durchgearbeitet,<br />

wobei manches „Zukunftsarchäologische" sich ankündigte: „ungeahnte Zusammenhänge"<br />

der klassischen Mittelmeerwelt mit dem, was jenseits von Tajo und Oxus, von Nil und<br />

Rhein, ja in Zentralasien, Indien, gar China sich bald zögernder, bald bestürzend schnell<br />

zu enthüllen begann. Insonderheit aber für die „klassischen" Epochen, für deren jeweils<br />

essentiell Ureigenes, für das perikleische Hellas und seine, wie auch immer „selig in sich<br />

selbst", stillen Gestalten, für das Rom der Caesaren, deren auch im Künstlerischen nicht<br />

nachlassende Welt-Unifizierung, die unmittelbare Tagesbezogenheit imperialer Bauten<br />

und Bilder erschlossen sich neue Erkenntnisschichten, präzisiertere Ansätze, fern esoterischem<br />

Ästhetisieren manche verfeinerte Einsicht in die künstlerische wie überhaupt geschichtliche<br />

Wertung und Wertigkeit jener Zeiten.<br />

Auch jetzt, wiewohl hinter Universitätsmauern tätig, entzog sich Rodenwaldt keineswegs<br />

der schon früher gerne gewahrten Verpflichtung, weiteren, gerade nicht-akademischen<br />

Kreisen Welt und Werk der Alten verstehbarer zu machen, überhaupt auf Forderungen,<br />

Stimmungen, Gebilde dieser seiner Zeit - wie war er den Malereien Noldes zugetan -<br />

sehr Acht zu geben. Dies gewiß nicht mit ideologisch mahnendem Zeigefinger, mit blasierten,<br />

gegenwartslosen Programmen, sondern das für seinen Tag und seine Umwelt ihm<br />

vonnöten Dünkende unerzwungen entwickelnd, die wenn auch wechselnde, so doch<br />

153


perennierende Präsenz der Antike von seinem Hauptgeschäft, von den Monumenten her<br />

erhärtend. Dafür gibt es, bis in die hier ausgelassene Tagespublizistik, manches markante<br />

Zeugnis: so die vier Auflagen der monumentalen „Kunst der Antike" in der alten Propyläen-Kunstgeschichte,<br />

die vielbegehrten, mit dem Meisterphotographen Walter Hege<br />

herausgegebenen Bilderbücher von der Akropolis, Olympia und griechischen Tempeln,<br />

die beiden, für sein eigenes Empfinden so vernehmlich sprechenden Essais „Kunst um<br />

Augustus" und der über Goethe in Verona, das liebevoll kongeniale Album über den<br />

Romantikermaler und „Entdecker der griechischen Landschaft", Otto Magnus v. Stackelberg<br />

(1787-1837). Nicht zu vergessen sei die zwar kaum ostensible, doch deshalb nicht<br />

weniger folgenlose Teilhabe an der unvergleichlichen Zeitschrift des Berlin zwischen den<br />

Kriegen, „Die Antike", welche, abermals bereicherten Wissens, tiefer erweckten und erweckenden<br />

Geistes, jener „urbildlichen Schöpfungen" sich nach eigener Art neu zu bemächtigen<br />

suchte. Die überlegene Führung der hiesigen Archäologischen Gesellschaft, in<br />

der sich seit mehr als einem Jahrhundert Freunde des Altertums, wer es auch sei, treffen<br />

und besprechen, stellt ein besonders rührendes, fein instrumentiertes Kapitel Rodenwaldtscher<br />

Öffentlichkeitsarbeit' dar.<br />

So seiner weiteren Mit- und Umwelt keineswegs abgewandt, ihr fördernd und mannigfach<br />

formend zugetan, war der von Natur sehr an sich haltende, gemessene Rodenwaldt<br />

doch alles andere als ein Mann des Marktes, war weder dirigierender Behördenchef gewesen<br />

noch brillierender Kathederfürst geworden, wie solche auch dem nachwilhelminischen<br />

Berlin nicht fremd. Er machte nicht „Figur", wirkte darum auf Freunde wie Fremde<br />

nur um so unangefochtener, unauslöschbar. Wo traf - und trifft noch immer - die überlegen<br />

ausgleichende, überaus durchsichtige Diktion seiner Bücher und Aufsätze nicht<br />

ins Schwarze? Wo kristallisiert sich hier nicht prägnant wie kaum sonst das, was zu<br />

Kunst und Künstler, über Wechsel und Verzweigung, über Verwandlung und zäheres,<br />

geheimes Beharren antiker Form als solcher, bis ins Methodologische, Kunstphilosophische<br />

dringend, vorgetragen ist? „Diejenige Harmonie, die unseren Geist entzücket, besteht<br />

nicht in unendlich gebrochenen, gekettelten und geschleifeten Tönen, sondern in einfachen<br />

und langanhaltenden Zügen." Nicht Weniges von diesem Winckelmannwort weht<br />

auch durch Rodenwaldts Niederschriften. Das klar Gesetzte dieses Mannes, das unprätentiös<br />

Gelassene, das nur dem Objekt als solchem Dienende, spricht und weiß von mehr,<br />

als was Thema und Titel der Schriften und Reden im Einzelnen wohl anzeigen. Dieser<br />

Archäolog ist nicht bloß Fachmann und Spezialist. Er ist Humanist schlechthin, umsichtig<br />

bedachtsamster Deuter der Bilder jenes formendsten Universums unserer Geisteswelt. Er<br />

hat das Herz des Philhellenen mit dem eines Deutsch-Römers vereint. Er hat, in der<br />

Sache nie zu bestechen und nie zu beirren, stets an sich haltend, Jedwedem das Seine<br />

gebend, „preußische Archäologie" praktiziert.<br />

Das zu Erforschende scheint der ganzen Person, dem ganzen Sensorium, einer ungeteilten<br />

Gedanklichkeit eingesenkt, Beobachtung, Betrachtung wie Diagnose aus tieferer Wurzel<br />

genährt, nicht pures, papierenes Schreibtischreservat, nicht routiniert kläubelndes Handund<br />

Stückwert zu sein. Die Gesinnung ist es, diese sehr persönliche, schwer auszumessende<br />

Symbiose von Gefühl und Gedanke, die auch dieses Auge, diese Hand führt - die<br />

sie adelt, in „lang anhaltenden Zügen" ihren Stoff, ohne ihn zu stilisieren, auf ein Ganzes<br />

stimmt. Solchermaßen muß es dem Forscher Rodenwaldt am Ende „ganz unspekulativ"<br />

zu einer „archäologisch fundierten Geistesgeschichte" (um ein Wort Schadewaldts<br />

zu variieren) gedeihen - ähnlich wie bei seinem engeren Fach- und Fakultätskollegen<br />

154


Werner Jaeger ein „historischer Humanismus" das Bemühen um die Alten krönt. Bei dem<br />

einen wie dem anderen drängt das Forschen umfassenderem Verstehen-Wollen zu, einem<br />

Wiedererkennen des Antiken im Ganzen von solcher Temperatur und Kohärenz, daß ein<br />

Weg in die „Pädagogische Provinz" sich auftun will - daß alles Erkennen, ohne jedes<br />

Schul-Erzieherische, wieder bildend werden muß. Zu höchst persönlichem Entscheid fühlt<br />

man sich gerufen, zu Konsequenzen jenseits jeder Historie. Das innere Beteiligtsein der<br />

Forschenden, Ernst und Anspannung ihres Ausgreifens, die Wucht und die Eindeutigkeit<br />

des dieserart Geförderten zieht sowohl für den Gelehrten selbst wie für den, der zuhört<br />

und zusieht, wie spielend weitere und weiteste Kreise.<br />

Es ist die neue Optik der Antike, wie sie bald nach dem Ersten Weltkriege vornehmlich<br />

in Deutschland festzustellen, die so denn auch über Rodenwaldt folgenschwer Macht<br />

gewonnen und Macht behält. Nach mehr als einem Jahrhundert extensiven Sammeins<br />

und breit schichtenden Dokumentierens beherrscht Verdichtung die Stunde, zügig sichtende<br />

Systole, erhält der gesamte Wissensbestand, von einem sehr eigenen Standpunkt<br />

erfaßt, gerafft und abermals, aber anders als ein Ganzes verstanden (und Eigenes<br />

schärft und beflügelt nur Blick wie Feder), demgemäß Form und Gesicht. Solches gewiß<br />

nicht spekulativ wie in früheren Jahrhunderten häufiger (geschweige denn normativ als<br />

nur ästhetisches Programm, als „Historische Metaphysik" ä la Winckelmann), sondern<br />

ausgesprochen pragmatisch, tatsachenfundiert, faktenbezogen, in diesem Sinne noch<br />

immer historisch, unanfechtbar „eigentliche Geschichte" (Herder). Allein, dieser „direkte",<br />

rechtverstanden voraussetzungslose, doch höchst aktiv aktualisierte Forschungsansatz,<br />

den keine Stoffmasse als solche noch eine vom Eigentlichen ablenkende Doktrin verstellt,<br />

erwirkt eine so überraschende, bis heute in vielem noch lebendige Phänomenologie der<br />

Alten, daß der Schritt nach vorne auf diesem Wege nicht zu leugnen. Unter den Vordersten<br />

aber, die hier so intransigent am Werke, die fragen und sehen, scheiden und<br />

wieder ordnen, denen eine, weit über ihr Katheder und Seminar hinausgehende Vernehmbarkeit,<br />

oft ein gläubiger Zuspruch und demzufolge eine wiedererstandene Autorität,<br />

eine nicht bezweifelte Würde von Fach und Amt zugekommen, steht, in unaufdringlich<br />

steter Disziplin zielstrebend die Bahn nehmend, neben einem Buschor und Härder,<br />

neben Kaschnitz, Reinhardt und Weber, Rodenwaldt - in allem und für alle professor<br />

antiquitatum.<br />

Vorzüglich also kraft einer ihm eigentümlichen, so konzentrierten wie konzentrierenden<br />

inneren Vitalität (welches „Gewand" sie auch trage- und es gibt mehr als ein „Gewand")<br />

eröffnete dieser Kreis, die Genannten wie mancher Ungenannte, gewissermaßen schlaglichtartig<br />

Sicht und tieferen Einstieg in die Elemente der Antike, ihre legislativen Konstanten,<br />

vermag er an das Band rühren, das alles umfaßt und hält. Ja, nicht nur das:<br />

alles erscheint von neuer, recht eigentlich „frischerer" Qualität erkannt und befunden,<br />

wie mit Naturgewalt wieder wesentlich geworden. Was Standbild und Tempel, was<br />

Theater und Triumphbogen, was Markt, Straße, Grab und Altar, was Epos und Gedicht<br />

und Drama, was Staatserlaß, Ehreninschrift oder Kaufmannstat einstens war und galt<br />

und wirkte: im Kraftfeld solcher scienza nuova - sie freilich nur, wie sie selber zu gut<br />

weiß, Erbe und Mehrer der Väter- und Vorvätergeneration - scheint jedwedes wie neu<br />

aufgeführt, wie eben geschrieben, wie heute getan, tritt das scheinbar Abgelebte in die<br />

tätigste Nachbarschaft zur Gegenwart, greift an Leben und Existenz schlechtweg.<br />

Was aber Rodenwaldts unleugbares Hauptgeschäft, das Archäologische Institut angeht,<br />

dem er wirklich Regent und Gestalter und mehr als akkurater Verwalter war, - ein<br />

155


Dezennium wie das seine von 1922 bis 1932 hat es nicht wieder gesehen. Nie seither war<br />

es sich dessen inniger und niemals so segensvoll bewußt, daß es auch ein Berliner Institut<br />

sei, daß es ein solches in mehr denn einer Hinsicht und zu mehr denn einem Ziele bleiben<br />

müsse. Präsident und Institut, Person, Dienst und Ort kamen damals zu einer Identität,<br />

deckten einander so sehr, daß kaum noch etwas zu wünschen schien, um das Singulare<br />

dieses, nach Funktion nicht wenig zentrifugalen, faktisch in Berlin gründenden, immer<br />

Berlin suchenden' Institutsverbundes (von mittlerweile zehn Häusern) verständlich zu<br />

machen. Geistiger Eigenwuchs, forscherliche Fähigkeit, schmiegsam genug arbeitende<br />

Organisation und ein Ertrag, gewonnen wie eigentlich noch nie, ward unter, ward durch<br />

diesen einen Mann nahezu ideal repräsentiert und personifiziert. Und das, kaum zufällig,<br />

an einem Orte, wo schon unter dem Großen König mehr als einer, von hier wie von<br />

außen (so 1782 Friedrich Munter aus Kopenhagen), „glaubt im alten Rom zu wandeln,<br />

unter den Säulengängen, auf den foris - lauter äußerst schöne Straßen, lauter Palläste".<br />

Die jüngst wieder betrachtete Vorgeschichte des Friedrichs-Denkmals Unter den Linden<br />

bestätigt figurenreich genug solche Rom-Neigungen.<br />

Was schon einmal, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, einem Großen unter Deutschlands<br />

Humanisten, Christian Gottlob Heyne (1729-1812) in Göttingen, als kaum gewöhnlich<br />

nachgerühmt wurde: die einander stimulierende Verflechtung von Wissenschaft<br />

und Wissenschafts-Organisation, ein doppelgleisig-gleichgewichtiges Mühen um Forschung<br />

und „Geschäft" zugleich (was bei Mommsen, freilich in sehr andersartiger Ausprägung<br />

und Tendenz, abermals gipfelt) sollte bei Rodenwaldt, gewiß individuell nuanciert, dennoch<br />

seltsam konvergent, wiederkehren: „Es sind aber zwey Seiten, von denen er dargestellt<br />

werden muß, als Gelehrter und als Geschäftsmann. Daß die Anlagen zu beyden<br />

in einem so ausgezeichneten Grade in ihm vorhanden waren, daß man zweifeln kann,<br />

wozu ihn die Natur am meisten bestimmt hatte; daß diese Anlagen zu beyden so ausgebildet<br />

wurden, daß man zweifeln kann, ob er mehr Gelehrter oder mehr als Geschäftsmann<br />

gewirkt hat - dieß ist es, was ihn zu einem der seltensten Männer, was ihn zu<br />

dem Manne machte, .. . die richtige Ansicht der Dinge zu fassen" (A. H. L. Heeren 1813).<br />

Wieder und wieder wird das Erinnern, wird bewegtester Dank, wird ein stiller,<br />

wehmütiger Stolz nach Lichterfelde hinausgehen, wo der Präsident sein Haus hatte und<br />

nun auf dem Parkfriedhof ruht - neben seiner Frau, neben dem Stein für den Sohn,<br />

alle Opfer des Krieges. Einer seiner Nachfolger im Institut, der jüngst in Berlin dahingegangene<br />

Carl Weickert, suchte, noch in trübster Nachkriegszeit, Summe zu ziehen, die<br />

in solchem Leben, durch solche Leistung offenbarte, schlechtweg sittigende Kraft in eins<br />

zu fassen: „Wir werden nicht in Hoffnungslosigkeit versinken, wenn wir dieses Mannes<br />

gedenken." Er hat kaum Unrecht behalten seither. Er wird es auch fürderhin nicht.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 33, Peter-Lenne-Straße 28-30<br />

Literatur:<br />

Gustav Hirschfeld, Nord und Süd, Jg. 48 (1889), S. 297 ff.<br />

Ludwig Curtius, Gerhart Rodenwaldt 1886-1945, in: Forschungen und Fortschritte 21/23,<br />

Berlin 1947, S. 222.<br />

Carl Weickert, Archäologischer Anzeiger Bd. 63/64, Berlin 1948/49, S. 169 ff.<br />

Ders., Gerhart Rodenwaldt f, in: Gnomon 21, München 1949, S. 82 ff.<br />

G. Rodenwaldt, Griechisches und Römisches in Berliner Bauten des Klassizismus, Berlin 1956;<br />

ebd. S. 34 ff. Rodenwaldt-Bibliographie.<br />

Wolfgang Schadewaldt, Gedenkrede auf Werner Jaeger, Berlin 1961.<br />

156


Kurt Bauch, Das Brandenburger Tor, Berlin 1967.<br />

Hans B. Jessen, Ein archäologisches Forschungszentrum in Berlin, in: Mitt. d. Vereins f. d. Geschichte<br />

Berlins Jg. 68 (1972), H. 8, S. 211 ff.<br />

Friedrich Mielke/J. v. Simson, Das Berliner Denkmal für Friedrich IL, den Großen, Berlin 1975<br />

(Sonderdruck Propyläen).<br />

Gewehrfabrik - Kirchenmeierei - Salzhof<br />

Ein altes Industriegebiet an der Havel<br />

Von Arne Hengsbach<br />

Im Osten Spandaus, jenseits der Havel, befanden sich im Umkreis der Zitadelle einige<br />

zerstreute Ansiedlungen, an deren Stelle im Laufe der Zeit schließlich ein zusammenhängendes<br />

Industriegebiet von gut 2 km Ausdehnung längs der Oberhavel und einer Tiefe<br />

von 500 bis 1000 m trat. Nur eines der ursprünglich in dieser Gegend vorhanden gewesenen<br />

Etablissements wurde Ansatzpunkt für die Gestaltung der späteren Industrielandschaft.<br />

Es war die<br />

Gewehrfabrik auf dem Plan.<br />

Sie wurde auf Veranlassung Friedrich Wilhelms I. gegründet, der mit dieser Rüstungsfabrik<br />

unabhängig von den Waffeneinfuhren aus anderen Staaten werden und zugleich<br />

die Bewaffnung und damit die Schlagkraft seiner Armee verbessern wollte. Diese Schöpfung<br />

merkantilistischer Wirtschaftspolitik war ein halbstaatlicher Betrieb: die Leitung<br />

hatten private Unternehmer, aber der Staat beaufsichtigte die Produktion, bestimmte<br />

deren Umfang und nahm sie ab. Die erforderlichen Facharbeiter wurden zuerst in Lüttich<br />

angeworben, für sie wurde eine kleine Werksiedlung neben der Fabrik errichtet, zu der<br />

auch ein katholisches Gotteshaus gehörte. Die Lütticher Handwerker waren Katholiken,<br />

denen man die freie Ausübung ihrer Religion zugesagt hatte. Diese kleine Kapelle war<br />

eine der ältesten katholischen Kirchen der Mark Brandenburg, die nach der Reformation<br />

errichtet wurden. Die Gewehrfabrik lag östlich der Zitadelle am östlichen Abzugsgraben,<br />

in dem sich die Mühlengerinne der Fabrik befanden, nördlich des Zitadellenweges, und<br />

erstreckte sich nach Osten hin bis ungefähr an die Stichstraße, die vom Zitadellenweg<br />

nach Norden abgeht.<br />

Die Fabrik hatte die schreckensvolle Belagerung der von der französischen Besatzung<br />

gehaltenen Spandauer Zitadelle durch die preußischen Truppen im April 1813 trotz<br />

mancher Verluste leidlich überstanden und wurde nach und nach weiter ausgebaut. Im<br />

Jahre 1852 übernahm der preußische Staat die Gewehrfabrik, die bis dahin die Firma<br />

Gebrüder Schickler betrieben hatte, und 1855 wurde der Potsdamer Zweig der Gewehrfabrik,<br />

ebenfalls 1722 ins Leben gerufen, auch nach Spandau verlegt. Diese organisatorische<br />

Straffung hatte zur Folge, daß die auf dem Gewehrplan bestehende Werksiedlung<br />

1853 aufgelöst wurde: die dort ansässigen Handwerker und Arbeiter siedelten in die<br />

Stadt Spandau über, die bisherigen Wohn- und Gartengrundstücke wurden in das Werksgelände<br />

einbezogen. Trotz der Aussiedlung der Bewohner schuf der Militärfiskus aber<br />

wieder zahlreiche Werkswohnungen für Offiziere, Beamte und technisches Personal auf<br />

dem Fabrikgelände; 1861 wohnten 223 Personen im Gelände der Gewehr- und der an-<br />

157


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grenzenden Pulverfabrik. An Stelle der meist baufälligen kleinen Fachwerkkapelle der<br />

katholischen Gemeinde auf dem Plan wurde bereits 1847/48 die katholische Kirche auf<br />

dem Behnitz erbaut.<br />

Den noch unbebauten Teil zwischen dem Zitadellenweg und der Gewehrfabrik nahm<br />

seit 1874 die Munitionsfabrik ein, die anfangs noch dem militärischen Direktor der Gewehrfabrik<br />

unterstand. Beide Fabriken wurden im Laufe der Zeit immer wieder erweitert,<br />

und 1883 griff die Bebauung mit der Patronenfabrik über auf das Wiesenland<br />

südlich des Zitadellenweges. Dieser führte zu dieser Zeit noch nicht den heutigen Namen,<br />

sondern war Teil der über Haselhorst führenden „Berliner Chaussee". Um die militärischen<br />

Einrichtungen und Fertigungsstätten von der Öffentlichkeit abzuschließen und im<br />

Zuge der Chaussee eine militärfiskalische Güteranschlußbahn anlegen zu können, wurde<br />

1890/91 die Berliner Chaussee verlegt und weiter südlich außerhalb der Werksanlagen<br />

durch die Spreewiesen geführt. Dieser neue Abschnitt der Berliner Chaussee erhielt 1939<br />

den Namen „Am Juliusturm". Der alte durch die Fabriken verlaufende Teil der Chaussee<br />

wurde eingezogen, seit etwa 1929 aber wieder dem Verkehr freigegeben, er trägt jetzt<br />

die Bezeichnung „Zitadellenweg". Im ersten Weltkrieg wurden die Gewehr- und Munitionsfabriken<br />

abermals beträchtlich vergrößert. Die Fabrikbauten und Werkhallen erreichten<br />

nun die Straße „Am Juliusturm" und nahmen deren Nordseite fast in ganzer Länge<br />

ein, während an der Südseite die Geschoßfabrik sich an die Straße heranschob, so daß<br />

die Straße nun wieder streckenweise durch das Industriegebiet des Militärs führte. Im<br />

Jahre 1919, nach dem verlorenen ersten Weltkriege, mußte die Waffenproduktion, die<br />

Verwaltungsgebäude und Wohnhaus der Munitionsfabrik am Zitadellen weg (Foto: Gammrath)<br />

159


fast zwei Jahrhunderte hindurch in diesem Bereich betrieben worden war, aufgegeben<br />

werden. Die zahlreichen, über ganz Deutschland verstreuten staatlichen Waffen- und<br />

Munitionsfabriken wurden nun von den „Reichswerken" übernommen, aus denen 1920<br />

die „Deutschen Werke" hervorgingen. Diese Aktiengesellschaft, deren Kapital fast ausschließlich<br />

das Deutsche Reich besaß, sollte die großen Vermögenswerte, die in den bisherigen<br />

Heeresbetrieben steckten, vor weiterem Verfall bewahren, denn in den ersten<br />

wirren Nachkriegsmonaten waren erhebliche Bestände an Vorräten und Produktionsmitteln<br />

vergeudet oder verschoben worden, später verfielen zahlreiche Gebäude und<br />

Maschinen der Zerstörung bzw. Demontage aufgrund der Abrüstungsauflagen. Die Bestrebungen<br />

in den Kriegsfabriken, nun friedensmäßige Fertigungen für den zivilen Bedarf<br />

aufzulegen, waren zugleich von dem sozialpolitischen Bemühen geleitet, von den zehntausenden<br />

von Facharbeitern der Rüstungsbetriebe einen möglichst großen Personenbestand<br />

in die neuen Werke zu übernehmen. Audi die sieben großen Spandauer Heereswerkstätten,<br />

die im ersten Weltkriege eine ungewöhnliche Ausweitung erfahren hatten<br />

und in denen 1918 70 000 bis 80 000 Männer und Frauen beschäftigt waren, wurden in<br />

die „Reichs"- und danach in die „Deutschen Werke" eingegliedert. Die Areale und Gebäudegruppen<br />

der nördlich der Spree belegenen Rüstungsbetriebe, in der Hauptsache die<br />

Gewehr- und die Munitionsfabrik, wurden organisatorisch in dem „Werk Haselhorst"<br />

zusammengefaßt.<br />

Doch litt der bunt zusammengewürfelte Konzern des Reiches stark unter dem Mangel an<br />

Betriebs- und Investitionskapital und den Schwierigkeiten, die vielen verschiedenen Fabriken<br />

wirtschaftlich in einem Verbund zu organisieren; dazu kamen die Auflagen der<br />

die Abrüstung Deutschlands überwachenden Interalliierten Militär-Kontrollkommission,<br />

die Betriebsführung und Fertigungen erschwerten. So waren Stillegungen und Massenentlassungen<br />

unausbleiblich. Das „Werk Haselhorst" gehörte allerdings zu den Betriebszweigen,<br />

die noch verhältnismäßig erfolgreich waren. Hier wurde eine Sport- und Jagdwaffenfabrikation<br />

aufgenommen, die aber 1923 auf Anordnung der Interalliierten Militärkommission<br />

wieder stillgelegt werden mußte, was die Entlassung von etwa 2000<br />

Arbeitern im Werk Haselhorst zur Folge hatte. Hingegen brachte die 1921 begonnene<br />

Herstellung von Motorrädern seit 1923 immer bessere Ergebnisse. Das „D-Rad", das im<br />

Haselhorster Werk bis 1926 gebaut wurde, gehörte zuerst zu den leistungsfähigsten und<br />

beliebtesten deutschen Motorradmarken. Auch die Produktion eines Kleinautos, dessen<br />

Bau nach amerikanischem Vorbild vorgesehen war, befand sich 1924 in Vorbereitung.<br />

Der „D"-Wagen kam aber über eine Vorserie von 1500 Stück nicht hinaus, weil die notwendigen<br />

Investitionsmittel nicht zu beschaffen waren. Die private deutsche Automobilindustrie<br />

betrachtete diese Produktion von Motorfahrzeugen in einer staatlichen Fabrik<br />

als eine ungehörige Konkurrenz, zumal die D-Räder billiger ausgeliefert werden konnten<br />

als ihre eigenen Fabrikate; sie fragte, ob ihre Unternehmen „um der Umstellung der<br />

Munitionswerkstätten willen ruiniert werden" sollten. Schließlich wurde die erfolgreiche<br />

Fertigung der D-Räder aufgegeben, da der Absatz immer mehr sank und keine Rentabilität<br />

gegeben war.<br />

Nachdem nun die bisher noch genutzten Komplexe der ehemaligen Heeresfabriken an<br />

der Straße „Am Juliusturm" und am Zitadellenweg leer standen, begannen die Deutschen<br />

Werke 1927 das Industriegelände der alten fiskalischen Fabriken an Privatunternehmen<br />

zu veräußern. Im benachbarten Siemensstadt hatten die Siemensfirmen zu jener Zeit den<br />

höchsten Stand der Konzentration ihrer Werke erreicht. Mit ihrem weiteren Raumbedarf<br />

160


gingen die Siemensfirmen 1927/28 in das angrenzende Industriegebiet der Deutschen<br />

Werke hinein und erwarben an der Straße „Am Juliusturm" Grundstücke und Gebäude<br />

für ihr Leitungswerk sowie am Zitadellenweg Grundstücksflächen der einstigen Gewehrfabrik<br />

für ihr Flugmotorenwerk; dieses wurde 1933 in die Brandenburgischen Motorenwerke<br />

eingebracht, die dann 1939 auf die Bayerischen Motorenwerke übergingen. Auch<br />

die Firma „Auto Union" siedelte sich dort an. Das allmählich wiederbelebte Industriegebiet,<br />

vorwiegend von Firmen des Motoren- und Werkzeugbaues besetzt, diente seit der<br />

Wiederaufrüstung in den dreißiger Jahren abermals der Rüstungs- und Kriegsfertigung.<br />

Nach teilweiser erheblicher Kriegszerstörung ist es heute mit Unternehmen verschiedener<br />

Branchen belegt. Neben der Firma BMW, die hier Motorräder herstellt, der „Stahlform"<br />

und einem Zweigwerk der Firma „Bosch-Elektronik" für Funkanlagen sind hier u. a.<br />

eine Großspedition und eine Fleischwarenfabrik ansässig. Das einstige militärfiskalische<br />

Industriegebiet ist seit 1961 über die Straße „Am Juliusturm" nach Süden hin bis fast an<br />

die Spree erweitert worden. Auf dem Gelände der einstigen Rohrbruchwiesen hat sich die<br />

„Adoros"-Teppich-Fabrik mit ihrem endlos lang wirkenden Flachbau etabliert. Von dem<br />

einstigen militärfiskalischen Gebäudebestand sind noch einige Baulichkeiten vorhanden;<br />

auch zwei altertümliche achteckige Schornsteine mit knaufartigen Bekrönungen stehen<br />

noch.<br />

Das Schicksal der<br />

Kirchenmeierei<br />

war ebenfalls eng mit der Spandauer Festung und der Entwicklung der militärischen<br />

Rüstungsfabriken im näheren Bereich der Zitadelle verbunden, allerdings spielte die<br />

Meierei in diesen Beziehungen eine durchaus passive Rolle. Kurfürst Johann Georg hatte<br />

1584 dem Festungsbaumeister Graf Rochus zu Lynar die schon vorhandene Meierei geschenkt,<br />

Lynars Sohn übereignete sie der Stadt Spandau im Jahre 1611, aus dem Besitz<br />

der Stadt ging sie 1658 in den der Nikolaikirche über, wobei der Magistrat als Patron<br />

der Kirche diese in der Verwaltung des Grundstücks nachweislich seit 1800 unterstützte.<br />

Die Kirchenmeierei wurde stets verpachtet, sie bestand 1812 aus einem zweigeschossigen<br />

Fachwerkgebäude mit vier Wohnungen, Scheunen, Stallungen, Gärten und ungefähr<br />

55 Morgen Acker bzw. Wiesen. Sie erstreckte sich von der Ostgrenze der Gewehrfabrik<br />

weiter nach Osten und Norden. Das Gehöft muß, soweit die unmaßstäblichen alten Pläne<br />

einen Vergleich mit dem heutigen Gelände zulassen, in der Gegend des heutigen Telegrafenweges<br />

gelegen haben, und seine Entfernung von den Befestigungswerken der Zitadelle<br />

hat nicht mehr als 800 Schritt oder rund 600 Meter betragen, denn sie lag nach im<br />

Jahre 1814 erlassenen Vorschriften innerhalb des ersten Festungsrayons, der diese Tiefe<br />

hatte. Im Jahre 1806 errichteten die Franzosen auf einem Acker neben der Gewehrfabrik<br />

eine Befestigungsanlage, ein sogenanntes Hornwerk, womit der Kirchenmeierei über<br />

3 Morgen nutzbaren Geländes verloren gingen; außerdem brachen sie eine Scheune, die<br />

die Arbeiten an den Verschanzungen behinderte, ab. Schließlich brannten die französischen<br />

Truppen am 1. März 1813 die Kirchenmeierei mit allen Gebäuden ab, um in Anbetracht<br />

der bevorstehenden Belagerung der von ihnen gehaltenen Spandauer Festung<br />

durch die Preußen ein freies, übersehbares und deckungsloses Vorfeld vor den Festungswällen<br />

zu erhalten. Die Belagerer sollten keinerlei Möglichkeit haben, sich irgendwo verbergen<br />

und festsetzen zu können und somit ohne Schutz von den Festungsanlagen her<br />

unter Feuer genommen werden. Nach dem Ende der Kämpfe nahm das preußische Heer<br />

seine Festung wieder in Besitz, und dieses verfuhr nach den gleichen taktischen Grund-<br />

161


sätzen wie die Franzosen; das Vorfeld der Festung mußte frei bleiben und durfte<br />

keine Deckung bieten. Das im Umkreis um die Festung gelegene Gelände wurde in<br />

Rayons aufgeteilt, d. h. Zonen, die sich um die Festungsanlagen herumzogen. In dem<br />

erwähnten ersten 600 Meter tiefen Rayon waren nur kleine bretterne Nothütten zugelassen,<br />

die im Ernstfalle jederzeit beseitigt werden konnten. Im anschließenden zweiten<br />

Rayon mit einer Tiefe von 500 Schritten oder rund 375 Meter durften schon Fachwerkgebäude<br />

unter gewissen Auflagen erbaut werden, allerdings gegen „Revers", d. h. der<br />

Eigentümer wurde verpflichtet, auf Anordnung der Kommandantur seine Baulichkeiten<br />

entschädigungslos abzureißen.<br />

Diesen Vorschriften mußte sich auch der neue Pächter der verwüsteten Kirchenmeierei,<br />

der Bleicher Koch vom Eiswerder, der mit der Bewirtschaftung des Kirchenackers bereits<br />

im Frühsommer 1813 begonnen hatte, unterwerfen. Er durfte auf der Brandstätte der<br />

alten Meierei nur eine Bretterhütte aufführen. Koch erbaute dann 1819 im zweiten<br />

Rayon sein neues Meiereigebäude; dieses Gehöft wird in der Nähe der Daumstraße, und<br />

zwar östlich von ihr, zu lokalisieren sein. Die neue Meierei hat keinen langen Bestand<br />

gehabt, denn bereits 1831 mußte Koch Haus und Hof und das Pachtland räumen. Der<br />

Militärfiskus erwarb nämlich nun den größten Teil der Kirchenmeierei und dazu größere<br />

Flächen vom Gut Haselhorst, um den Bau seiner Pulverfabrik in die Wege leiten zu<br />

können. Sie wurde 1839 aus Berlin, wo sie in der Gegend des nachmaligen und jetzt<br />

wieder verschwundenen Lehrter Bahnhofs gelegen hatte, nach Spandau verlegt. Die Pulverfabrik<br />

war von eigenen Befestigungsanlagen, u. a. von sieben kleinen Lünetten umgeben,<br />

und am Fuße der Wälle floß der nachmalige Grützmachergraben in zickzackförmigem<br />

Laufe dahin. Die Ost- und Nordgrenze der alten Pulverfabrik hält die heutige<br />

Daumstraße noch ungefähr fest, sie ist hervorgegangen aus einem Wege, der außerhalb<br />

vor den Festungswerken verlief und dann nach Norden zum Salzhof führte.<br />

Von der früheren Pulverfabrik sind nur noch wenige Reste vorhanden. An der Daumstraße<br />

steht noch ein altes Wachgebäude, das gewerblich genutzt wird, ein weiterer einstiger<br />

Militärbau befindet sich am Pulvermühlenweg und wurde 1953 zum Jugendheim<br />

umgestaltet. Übrig geblieben sind ferner ein paar Meter der alten roten Backsteinmauer<br />

auf dem Grundstück des „Stahlform"-Werkes und ein kleines Stück des Eisenzauns, der<br />

einst die Pulverfabrik umgab. Und die leicht welligen Sandflächen an der Ostseite der<br />

Daumstraße sind die letzten heruntergetretenen Rudimente der einstigen Wälle, die die<br />

Pulverfabrik schützen sollten. Wegen der Explosionsgefahr bei der Fabrikation der brisanten<br />

Stoffe waren die einzelnen Fabrikationsstätten sehr weitläufig angelegt worden<br />

und mit Baumpflanzungen umgeben, die im Laufe der Jahrzehnte einen parkartigen<br />

Charakter annahmen. Nach Stillegung der Pulverfabrik 1919 blieb der größte Teil des<br />

Geländes frei von neuen Industriebetrieben, lediglich ein Teilstück am Telegrafenweg<br />

wurde 1929 an die Konsumgenossenschaft Berlin veräußert, die hier eine Großbäckerei<br />

errichtete; im Jahre 1938 zog hier das „T-Werk" der Firma Siemens ein. Die zum großen<br />

Teil ausgebombten Baulichkeiten wurden 1973 abgetragen, jetzt hat sich die „Metalu"<br />

= Metallbau GmbH mit einer Fertigung von Aluminium-Bauteilen hier niedergelassen.<br />

Das nur wenig genutzte Gelände der Pulverfabrik erwarb die Stadt Berlin im Jahre<br />

1939 als „Pulverpark", aber in den Notjahren 1945/47 wurde der alte Baumbestand von<br />

der notleidenden Bevölkerung gefällt und als Brennholz verwendet. Nur einige wenige<br />

alte Bäume wie die drei Eichen am Grützmacher- Ecke Goldbeckweg erinnern noch an<br />

162


Neue Pulverfabrik beim Salzhof (Bau aus der Zeit des 1. Weltkrieges) (Foto: Gammrath)<br />

die einst ausgedehnten Grünanlagen des Pulverparks. Da nur kleine Teile des Areals der<br />

Pulverfabrik zur Ansiedlung neuer Industrien verwendet wurden, dient der überwiegende<br />

Flächenbestand heute kommunalen Zwecken. Den nördlichen Teil nehmen ausgedehnte<br />

Sportanlagen ein. Außer dem erwähnten Jugendheim entstand 1953 noch eine<br />

städtische Wohnsiedlung, weitere Flächen nehmen eine Gartenschule und ein Lagerhof<br />

des Gartenbauamtes ein. Nach der Havel zu erstreckt sich ein Campingplatz, und die<br />

alten Mühlengerinne der Pulverfabrik wurden etwa 1957 teils zugeschüttet, teils verändert.<br />

Eine Erweiterung nach Norden erfuhr die Pulverfabrik im Jahre 1890. Das neu hinzugenommene<br />

Gebiet erstreckte sich nördlich der Daumstraße an der Havel entlang bis<br />

zum Salzhof hin. Dieser neue Teil der Pulverfabrik wurde von den „Deutschen Werken"<br />

Ende der zwanziger Jahre an mehrere Firmen, vor allem der Baubranche, verkauft. Hier<br />

erwarb z. B. die Firma Siemens-Bauunion 1929 umfangreiche Areale, um ihren Gerätepark<br />

unterzubringen. Nördlich der Daumstraße, unweit der Havel, war im letzten Weltkriege<br />

eine Giftgasfabrik betrieben worden, auf deren Gelände sich 1950 die CCC-Filmgesellschaft<br />

niederließ, die in den ersten Jahren häufig Szenen in der nächsten Umgebung<br />

ihres Ateliers drehte. Dieses Filmunternehmen war übrigens nicht das erste auf dem<br />

Gelände der Pulverfabrik. Schon 1923/25 befand sich auf deren ausgedehntem Terrain<br />

die „Ewald-Film GmbH", die Zeichentrick-Filme, u. a. für Reklamezwecke, herstellte.<br />

Von der „neuen" Pulverfabrik sind noch einige bauliche Zeugen vorhanden, z. B. ein ehemaliger<br />

Wasserturm und einige Fabrikbauten an der Straße „Salzhof".<br />

163


Nördlich des „Plans" und der Pulverfabrik lag an der Oberhavel dieser<br />

Salzhof.<br />

Die Unterlagen über dieses abgelegene Etablissement der staatlichen Salzverwaltung sind<br />

sehr lückenhaft. Es bestand aus der eigentlichen Salzniederlage, wo im ausgehenden<br />

18. Jahrhundert das in Eibkähnen aus der Provinz Sachsen herantransportierte Salz auf<br />

die kleineren Oderkähne zur weiteren Beförderung in die nördlichen Teile der Mark<br />

Brandenburg und nach Pommern umgeladen wurde. Nördlich an die Salzmagazine schloß<br />

sich der „Königliche Stabholzplatz" längs der Havel an, auf dem das für die Herstellung<br />

und Reparatur der Salztonnen benötigte Stabholz lagerte. Dieses Stabholzlager wurde<br />

1749 aus der Stadt Spandau, wo noch heute der Name „Stabholzgarten" seine Erinnerung<br />

wachhält, an die Oberhavel verlegt, und zu gleicher Zeit ist auch die dem Platz<br />

benachbarte Salzniederlage entstanden. Ende des 18. Jahrhunderts befand sich dort noch<br />

ein weiterer Holzplatz, auf dem Brennholz gelagert wurde. Verwalter des Stabholzlagers<br />

war ein „Salz-Tonnen-Holz-Schreiber". Der Name „Salzhof" taucht zum ersten<br />

Male in einer Anzeige aus dem Jahre 1833 auf, in der „zur Salztonnen-Verfertigung<br />

unbrauchbares Wrackstabholz" angeboten wurde. Der Salzinspektor auf dem Salzhof<br />

scheint nebenher Landwirtschaft betrieben zu haben, wenigstens geht das aus einer 1834<br />

erstatteten Anzeige eines Aufsehers der Baustelle der Pulverfabrik hervor, wonach die<br />

Magd des Salzbeamten vier Kühe auf Wiesen, die zum Terrain der Pulverfabrik gehörten,<br />

gehütet hatte. Aufschlußreich ist eine Anzeige aus dem Jahre 1857: „Das der Salzverwaltung<br />

gehörige baufällige Wärterhaus auf der Stabholz-Niederlage bei Saatwinkel<br />

im Jagen 38 der Königlich Tegelschen Forst soll .. . zum Abbruch verkauft werden".<br />

Demnach bestand neben dem Lager am Salzhof noch ein weiteres in dem etwa<br />

lVä km entfernten Saatwinkel.<br />

Nach Aufhebung des Salzmonopols veräußerte die Steuerverwaltung das funktionslos<br />

gewordene Salzdepot im Jahre 1869. Die Hypothekenbucheintragung aus jener Zeit<br />

beschreibt das Grundstück: „Das bei der Stadt Spandau unweit Saatwinkel belegene<br />

Grundstück, der sogenannte Salzhof, worauf sich ein Wohnhaus nebst Stall sowie drei<br />

Magazine befinden und zu welchem circa 1 Morgen Garten, 1 Morgen Wiese, 15 Morgen<br />

Acker, ein Hafen, Stichkanal und die Hafen-Schutzvorrichtungen gehören". Auf dem<br />

Grundstück des bisherigen Salzhofs wurde 1871, ohne daß zunächst die alten Salzspeicher<br />

abgerissen wurden, eine Dampfschneidemühle errichtet nebst einem viergeschossigen<br />

„Familienhaus" für die dort beschäftigten Arbeiter. Bei der abgeschiedenen Lage konnten<br />

Arbeitskräfte zum Salzhof kaum einpendeln. Der rote Ziegelrohbau steht heute noch als<br />

einzige Erinnerung an das einstige Sägewerk, in dem 1881/82 auch einmal vorübergehend<br />

eine Sargfabrik untergebracht war. Die Schneidemühle besaß eine eigene Gasanstalt<br />

mit Gasometer, die 1883 erwähnt wird, aber nicht lange bestand. Als die Pulverfabrik<br />

erweitert wurde, erwarb die Aktiengesellschaft „Chemische Fabrik Griesheim" zu<br />

Frankfurt am Main das Sägemühlengrundstück und richtete nach Abriß alter Baulichkeiten<br />

eine Zulieferfabrik für die südlich angrenzende Pulverfabrik ein: Auf dem Salzhof<br />

wurde nun aus spanischem Kies in Röstöfen und Bleikammern die zur Pulverherstellung<br />

erforderliche Salpetersäure gewonnen. „Oft zogen", wie sich ein Zeitgenosse erinnert,<br />

„braungelbe Rauchschwaden von der Fabrik über den Salzhof und die breite Havel<br />

hinweg. Heute würde man das Umweltverschmutzung nennen, damals sagten die Fahrgäste<br />

auf den Vergnügungsdampfern: Der Salzhof stinkt mal wieder, während die Salzhofer,<br />

die dort wohnten, die Fenster schlössen."<br />

164


Ehem. Wasserturm<br />

der neuen Pulverfabrik<br />

(nach 1890)<br />

(Foto: Gammrath)<br />

Mit der Stillegung der Pulverfabrik war auch das Schicksal der eng mit ihr verbundenen<br />

Säurefabrik auf dem Salzhof besiegelt. Die Firma Griesheim verkaufte 1919 das Fabrikgrundstück,<br />

dessen Anlagen nun, nach den Bestimmungen der Entmilitarisierung restlos<br />

ausgebaut und ausgeschlachtet wurden. Sogar das kleine werkseigene Elektrizitätswerk<br />

wurde ausgebaut. Wegen seiner abgeschiedenen Lage - auf dem Landwege war der Salzhof<br />

nur auf einem großen Umweg über Haselhorst zu erreichen, und selbst wer einen<br />

Passierschein besaß und auf dem kürzeren Weg über die Eiswerderbrücke und weiter<br />

durch die Pulverfabrik zum Salzhof gehen durfte, hatte einen langen Anmarsch -<br />

hielten in den Jahren vor Ausbruch des ersten Weltkrieges auch die Personendampfer am<br />

Salzhof an. Das Schiff war hier - für Berlin ist das selten - das einzige öffentliche Verkehrsmittel.<br />

Als nach 1918 infolge der Kohlennot die Fahrgastschiffahrt nur noch in sehr<br />

reduziertem Umfange aufrecht erhalten werden konnte, wurde die Anlegestelle am Salzhof<br />

aufgegeben, sehr zum Kummer der über 30 auf dem Salzhof ansässigen Arbeiterfamilien,<br />

die nun überhaupt keine Verkehrsverbindung mehr hatten. Bei der Errichtung<br />

165


der neuen Pulverfabrik im Jahre 1889 wurde auch der Weg vom Salzhof bis zu jenem<br />

im Zuge der heutigen Daumstraße eingezogen, um keinen öffentlichen Verkehr in dem<br />

Fabrikterrain zu haben. Als Ersatz wurde der „Salzhofweg" angelegt, aus dem später<br />

die Rhenaniastraße hervorging.<br />

Die Firma „Rhenania-Ossag", Vorläuferin der „Shell", erwarb das tote Grundstück des<br />

alten Salzhofes und legte hier 1926/27 ein Tanklager an, da der bereits vorhandene<br />

„Nobelshof" bei Rummelsburg für den zunehmenden Bedarf an Mineralölen nicht mehr<br />

aufnahmefähig genug war. Das mit Wasser- und Bahnanschluß versehene neue Lager -<br />

mit 35 000 cbm Kapazität war es seinerzeit eines der größten in Deutschland - sollte den<br />

Vertrieb der Mineralölprodukte in Berlin und der Provinz verbessern. Neben dem um<br />

das vielfache des einstigen Umfanges erweiterte Shell-Lager hat die Esso 1964-1966 ein<br />

zweites Großtanklager angelegt, so daß das Gelände des Salzhofs und seiner Umgebung<br />

jetzt das größte Tanklager West-Berlins aufweist.<br />

Aus drei ursprünglich verstreut liegenden, von Äckern und Wiesen getrennten kleinen<br />

Siedlungen, der Gewehrfabrik auf dem Plan, der Kirchenmeierei und der Salzniederlage,<br />

ist im 19. und 20. Jahrhundert ein zusammenhängendes Industriegebiet geworden, das<br />

1918 seine größte Ausdehnung erreicht hatte. Der Ansatz zu dieser Entwicklung war<br />

wohl in erster Linie von der Zitadelle bestimmt. In ihrem Schutze konnten sich ohne<br />

Beachtung der Rayonvorschriften die Fabriken für Rüstungsgüter entfalten, so, wie es<br />

die jeweiligen Bedürfnisse des Heeres und der Wehr- und Kriegspolitik notwendig machten.<br />

Die unbesiedelte, ausschließlich landwirtschaftlich genutzte Umgebung der Fabriken<br />

nach Osten und Nordosten hin ließ auch nicht befürchten, daß sich alsbald eine städtische<br />

Bebauung zu nahe an die Pulverfabrik mit ihren Explosivstoffen heranschieben könnte.<br />

Nach dem Zusammenbruch der staatlichen Rüstungsindustrie, ihrer Auflösung und Demontage<br />

entstand hier seit den späten zwanziger Jahren ein neues Industriegebiet, in dem<br />

sich Privatfirmen niederließen und das trotz starker Kriegszerstörungen und Demontagen<br />

wieder intakt ist; die Zahl der Firmen, die Art der Branchen sind veränderlich, unverändert<br />

aber ist die Macht der Funktion: Einmal als Industriegrundstücke ausgewiesene<br />

Terrains werden meist wieder gleichen oder doch ähnlichen Zwecken zugeführt. Nur im<br />

Falle der Pulverfabrik hat schließlich der Baumbestand bewirkt, daß das Gelände aus<br />

dem zusammenhängenden Industrieband herausgelöst wurde.<br />

Nachrichten<br />

Die DressePsche Chronik von Charlottenburg<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 31, Joachim-Friedrich-Straße 2<br />

Eines der wichtigsten noch vorhandenen Quellenwerke zur Geschichte Charlottenburgs hat wieder<br />

einen Ehrenplatz und ein würdiges Aussehen erhalten: die Chronik des von 1778 bis 1824 amtierenden<br />

Oberpfarrers Jobann Christian Gottfried Dressel mit dem Titel: „Die Geschichte Charlottenburgs<br />

von der Erbauung dieser Stadt an bis auf die jetzigen Zeiten, besonders was das<br />

Kirch- und Schulwesen betrifft aus schriftlichen und mündlichen Nachrichten mit Benutzung Rathauslicher<br />

Acten gesammelt und zu beschreiben angefangen 1813 vom Ober Prediger und Senior<br />

der Cöllnischen Superint. Johann Christian Gottfried Dreßel und fortgesetzt von ... im 2ten<br />

Bande". Der Band ist, nachdem er einige Zeit vergeblich gesucht und schließlich auf einem Abfallhaufen<br />

wiedergefunden wurde, noch gut erhalten, die Schrift ist klar und leicht zu lesen. Er steht<br />

166


im Eigentum der Ev. Luisen-Kirchengemeinde, wurde jetzt restauriert und neu gebunden. Von<br />

dieser Pfarrchronik gibt es eine gekürzte Neubearbeitung des Verfassers als „Rathauschronik";<br />

sie ist Eigentum der Stadt bzw. des Bezirksamts Charlottenburg.<br />

Diese Mitteilungen verdanken wir dem geschäftsführenden Pfarrer der Luisen-Kirchengemeinde<br />

zu Charlottenburg, unserem Mitglied Klaus Eckelt.<br />

Dressel gehört ohne Zweifel in die erste Reihe der Geschichtsschreiber des Berliner Raumes, verdienstvoll<br />

als Prediger und Schulreformator, emsig als Literat, als Persönlichkeit jedoch umstritten.<br />

Wilhelm Gundlach widmet ihm in seiner 1905 erschienenen „Geschichte der Stadt Charlottenburg"<br />

naturgemäß viel Raum, beleuchtet ihn aber fast ausschließlich von der „weltlichen" Seite,<br />

bei der es mehr Schatten als Licht gab: Dressel entwickelte eine Geschäftstüchtigkeit, die sich oft<br />

nur schwer mit der Würde eines Pfarrers vereinigen ließ. Er nahm gutes Geld durch Sommergäste<br />

ein, für die er sogar ein eigenes Haus auf Pfarrterrain bauen ließ, trat als Wirtschaftspächter oder<br />

Makler auf und legte sogar eine Milchwirtschaft an, vergab Leibrenten und spekulierte auf Testamente.<br />

Seine weitverzweigten Interessen hoben ihn sichtlich über den Kreis seiner Mitbürger hinaus,<br />

brachten ihm indessen viel Ärger und Anfeindungen ein. Neben seinen zahlreichen religiösen<br />

und pädagogischen Schriften stellen vor allem sein minutiös geführtes, sechsbändiges Tagebuch,<br />

das bis unmittelbar an seinen Tod 1824 heranreicht, und die darin enthaltene „Lebensbeschreibung",<br />

die beide nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und in Familienbesitz geblieben waren,<br />

eine nicht nur biographische, sondern auch hervorragende kulturgeschichtliche Quelle dar. Im Jahre<br />

1886 verfaßte H. Rücker im 12. Jahrgang der Wochenschrift „Der Bär" (S. 242-244) eine Eloge,<br />

die vor allem Dresseis Fürsorge für Schule und Unterricht hervorhebt und ihn als „warmen treuen<br />

Menschenfreund" bezeichnet. Pfarrer Wilhelm Kraatz hat dann 1916 in der „Geschichte der Luisengemeinde<br />

zu Charlottenburg" ein ausgewogeneres Bild dieses vielseitigen und rastlosen Mannes<br />

zu geben versucht, dessen Zeugnisse - wenigstens zu einem Teil - der Nachwelt erhalten geblieben<br />

sind. Peter Letkemann<br />

Stadtbezirksarchiv Pankow<br />

In einer Bürgerwohnung aus dem Jahre 1893, die restauriert und teilweise auch mit historischen<br />

Möbeln ausgestattet ist, kann in der Pankower Heynstraße 8 das Stadtbezirksarchiv Pankow<br />

besichtigt werden. Allerdings beschränkt sich die Darstellung der Geschichte dieses Berliner Bezirks<br />

auf die Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Die Ausstellung umfaßt Fotografien,<br />

Broschüren, Ansichtskarten usw. und wird durch Leihgaben des Märkischen Museums<br />

abgerundet. Die Sammlung ist dienstags von 9 bis 12 Uhr und von 15 bis 18 Uhr geöffnet.<br />

Franz-Neumann-Archiv<br />

Ende 1975 ist in der Rognitzstraße 8 in Berlin-Charlottenburg das Franz-Neumann-Archiv<br />

eröffnet worden, das die Rechtsform eines eingetragenen Vereins hat und hinter dem ein Freundeskreis<br />

steht, der bislang 50 000 DM als Spenden für die wissenschaftliche Arbeit aufbrachte.<br />

In etwa zwei Jahren werden der Historiker Graf Westarp und der Politologe Dietmar Staffelt<br />

eine erste zusammenfassende Darstellung über den Nachlaß von Franz Neumann, den 1974<br />

verstorbenen langjährigen Vorsitzenden der Berliner SPD, vorlegen. Das Archiv, das seine<br />

Bestände in 360 Aktenordnern gesammelt hat, ist nach vorheriger Absprache mit dem Vorsitzenden<br />

des Vereins, Bezirksstadtrat a. D. Reinhold Walz, Telefon 4 11 13 64, zugänglich.<br />

Berlin-Brunnen in München<br />

In der Stadtmitte der bayerischen Landeshauptstadt, in einer Grünanlage am Oskar-von-Miller-<br />

Ring, soll ein Berlin-Brunnen die Verbundenheit zwischen München und der alten Reichshauptstadt<br />

zum Ausdruck bringen. Dem Brunnen liegt ein Entwurf von Professor Andreas Rauch<br />

zugrunde, den die Denkmal- und Brunnenkommission der Stadt München gutgeheißen hat. Er<br />

zeigt eine schlanke weibliche Figur aus Bronze, die Berolina darstellend, die auf dem Rand eines<br />

Säulenstumpfes sitzt und mit ihrer rechten Hand einen aus der Säulenmitte aufsteigenden<br />

Wasserstrahl teilt (nicht unbedingt als Symbol der Teilung Berlins zu verstehen). Das ablaufende<br />

Wasser fließt auf eine rund gepflasterte Bodenfläche und von dort in die Umwälzanlage.<br />

Zu den 67 000 DM aus dem Haushalt der Stadt München kommen 10 000 DM eines unbekannten<br />

Spenders.<br />

167


Mit Ausnahme eines Renommierbrunnens in Berlin scheinen hierzulande nicht nur die Brunnen<br />

selbst versiegt zu sein, sondern auch die Ideen, die Stadt mit Brunnen zu beleben und zu verschönern.<br />

Nicht einmal eine städtische Denkmal- und Brunnenkommission ist vorhanden, die sich<br />

nützlich betätigen könnte. H. G. Schultze-Berndt<br />

Gymnasiast als Berlin-Botschafter<br />

„Wenn an der Spree zuweilen über die Berlin-Müdigkeit der Bundesbürger geklagt wird, darf<br />

sich ein fünfzehnjähriger Gymnasiast aus Wetter hiervon getrost ausgenommen fühlen. Für Bert<br />

Becker ist Berlin mehr als nur eine Reise wert; mehr als nur ein Bummel über den Kurfürstendamm<br />

zwischen Haiensee und KaDeWe. Die alte Reichshauptstadt ist sein liebstes Hobby, immer<br />

wieder faszinierend und zugleich schon fast vertraut." (Westfälische Rundschau v. 23. September<br />

1975.)<br />

Mit ein paar Berlin-Postkarten begann es, die ein Schuljunge vor Jahren fein säuberlich auf<br />

einen Bogen klebte und einen erklärenden Kurztext hinzufügte. Mittlerweile ist aus diesen wenigen<br />

Bogen ein ganzes Berlin-Archiv entstanden. Alljährlich reist Bert Becker nach Berlin zu<br />

seiner Großmutter, und von hier aus unternimmt er seine Streifzüge, photographiert, besucht<br />

Archive, Bibliotheken, Sammlungen und ist in seiner Heimatstadt Wetter (Ruhr) so etwas wie<br />

ein Berlin-Experte. Durch Vorträge und Gespräche wirbt er in Ausübung seines Hobbys ungewollt<br />

für Berlin in seinem Bekanntenkreis, in dem sich, wie er bei seinem letzten Besuch erzählte,<br />

manch einer befindet, der Berlin und seine Probleme kaum kennt.<br />

Für uns Ältere, die wir von Geburt her oder später in dieser Stadt Wurzeln geschlagen haben<br />

und wie John F. Kennedy sagen können „Ich bin ein Berliner", ist es erfrischend zu sehen, wie<br />

der Begriff „Berlin" auch in der jungen Generation auf Verständnis trifft. Wir Älteren sollten<br />

diese Entwicklung, wo immer es geht, unterstützen, um an die Jungen das weiterzureichen, was<br />

uns unsere Heimatstadt einst war und heute noch bedeutet. Das beginnt mit persönlichen Erlebnissen<br />

und reicht bis zu dem, was wir aus unserem Bestand an Berolinensien entbehren können,<br />

um es in jüngere Hände zu legen, bevor solche Dinge, etwa bei Haushaltsauflösungen, auf der<br />

Müllkippe landen. Der Verfasser hat gerade in dieser Beziehung nicht selten schmerzliche Erfahrungen<br />

machen müssen. Mit einem solchen Weiterreichen haben wir die Möglichkeit, mit zu verhindern,<br />

daß sich die Bewohner der Bundesrepublik gefühlsmäßig allmählich von den Berlinern<br />

entfernen. Die Jugend reicht uns, wie wir sehen, hierzu die Hand. Kurt Pierson<br />

Personalien<br />

Fidicin-Medaille für Kurt Pomplun<br />

Eingebettet in das vorweihnachtliche Beisammensein am 20. Dezember 1975 in den Festsälen<br />

„Hochschul-Brauerei" war die Verleihung der Fidicin-Medaille für Förderung der Vereinszwecke<br />

an den langjährigen 2. stellvertretenden Vorsitzenden Kurt Pomplun. Dieser hatte sich mit Rücksicht<br />

auf seine Pensionierung und die inzwischen eingetretene Vollendung seines 65. Lebensjahres<br />

einer Wiederwahl nicht mehr gestellt. Die Urkunde, die der Vorsitzende Professor Dr. Dr.<br />

W. Hoffmann-Axthelm unter dem Beifall der Teilnehmer verlas, hebt die Verdienste Kurt<br />

Pompluns um die Erforschung und Popularisierung der Geschichte Berlins sowie seine langjährige<br />

Mitarbeit im Vorstand als stellvertretender Vorsitzender hervor. In seinen Dankworten bekannte<br />

sich der neue Träger der Fidicin-Medaille dazu, ein „schlechtes Mitglied" gewesen zu<br />

sein. Er habe das Amt eines 2. stellvertretenden Vorsitzenden gern ausgeübt, doch sei es ihm nicht<br />

vergönnt gewesen, auch einmal den Vorsitzenden wirklich zu vertreten, da sich dieser wie der<br />

1. Stellvertreter einer hervorragenden Gesundheit erfreuten. Er zitierte dann Theodor Fontane<br />

aus seinen „Wanderungen", als der alte Gottfried Schadow bei der Verleihung des Ordens<br />

Pour le merite den Überbringer fragte: „Ach Majestät, watt soll ick alta Mann mit'n Orden?"<br />

und sich dann ausbat, daß dieser Orden nach seinem Tode auf seinen Sohn Wilhelm überginge.<br />

Zum allgemeinen Leidwesen ist von einer Dynastie Pomplun in vergleichbarer Weise aber nichts<br />

bekannt.<br />

Der Vortrag „Weihnachtszeit im alten Berlin" von Hans Werner Klünner war ebenso stimmungsvoll<br />

wie sachlich fundiert und mit Kenntnis und Fleiß aufgebaut. Er traf den richtigen<br />

Ton dieser Vorweihnachtsstunde, die mit Betrachtungen des Vorsitzenden zum Geschehen der<br />

Christnacht eingeleitet und in bewährter Weise von Frau Erika Wolff-Harms musikalisch umrahmt<br />

war. H. G. Schultze-Berndt<br />

168


Ehrenmitglied Walter Mügel 75 Jahre<br />

75 Jahre eines reichen Lebens, mehr als eine Generation öffentlicher Dienst, ein Vierteljahrhundert<br />

Mitgliedschaft im Verein für die Geschichte Berlins, mehr als zwei Jahrzehnte verdienstvoller<br />

Tätigkeit als Schatzmeister - das sind nur einige Daten, die Leben und Wirken von Walter Mügel<br />

kennzeichnen. Am 6. Mai 1976 vollendet er gemeinsam mit seiner lieben Gattin, unserem Mitglied,<br />

sein 75. Lebensjahr. Beiden gilt unser herzlicher Gruß!<br />

Wenn man es recht bedenkt, kann Walter Mügel auf seine Arbeit im öffentlichen Dienst ebenso<br />

stolz sein wie auf seine ehrenamtliche Tätigkeit für den Verein. Seit 1934 im öffentlichen Dienst,<br />

wurde er 1947 in der Abteilung Ernährung des Bezirks Charlottenburg Hauptreferent und übernahm<br />

dann die Leitung des Verwaltungsamtes. Von 1957 bis 1961 war er Rechnungsdirektor des<br />

Haushaltsamtes Charlottenburg, danach übte er das Amt des Verwaltungsdirektors des Städtischen<br />

Bürgerhaus-Hospitals und der Frauenklinik aus. In einem Dankschreiben bei seinem Übertritt<br />

in den Ruhestand im Jahre 1966 würdigte der Bezirksbürgermeister von Charlottenburg<br />

Günter Spruch die treuen Verdienste, die Walter Mügel dem Land Berlin geleistet hat: „Umfassende<br />

Verwaltungskenntnisse, stete Einsatzbereitschaft und ein besonders ausgeprägtes Geschick,<br />

Geplantes in die Wirklichkeit umzusetzen, befähigten Sie zu Leistungen, auf die Sie heute mit<br />

Stolz und Genugtuung zurückblicken dürfen. Besonders hervorzuheben ist Ihre Aufgeschlossenheit<br />

gegenüber neuen Vorstellungen, die während Ihrer Dienstzeit an Sie herangetragen wurden."<br />

Wenn gleichzeitig das „umfangreiche Wissen über die Geschichte Charlottenburgs" dankbar erwähnt<br />

wird, so ist die Brücke geschlagen zu unserem Verein, dem Obermagistratsrat a. D. Walter<br />

Mügel von 1955 bis 1973 als Schatzmeister diente. Einen Höhepunkt bildete die Verleihung der<br />

Ehrenmitgliedschaft im Rahmen einer Feierstunde am 27. November 1973 anläßlich der Übernahme<br />

der Vereinsräume im Rathaus Charlottenburg. Diese neue Heimstatt für die Bibliothek<br />

samt dem stimmungsvollen Intarsienzimmer ist wesentlich Walter Mügel zu verdanken, der damit<br />

sich, dem Vorstand und allen Mitgliedern einen Herzenswunsch erfüllte. Wenn man das Ehrenmitglied<br />

Mügel jetzt bei den Veranstaltungen sieht, wo er auch bei den organisatorischen Dingen<br />

aus altem Pflichtgefühl mit Hand anlegt, so möchte man ihm seine 75 Jahre nicht glauben. Möge<br />

er in gleicher Rüstigkeit und in unveränderter Anhänglichkeit an den Verein noch viele Jahre in<br />

unserer Mitte weilen! H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Auf der Mitgliederversammlung der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg<br />

e. V. wurde am 30. Januar 1976 Dr. Werner Vogel, Archivdirektor am Geheimen Staatsarchiv<br />

Preußischer Kulturbesitz, zum neuen 1. Vorsitzenden gewählt. Der bisherige Inhaber dieses<br />

Amtes, Gerhard Küchler, hatte aus Altersgründen auf eine Wiederwahl verzichtet. In freundschaftlicher<br />

Verbundenheit gehen auch an den neuen Vorsitzenden unseres Nachbarvereins die<br />

besten Wünsche für ein erfolgreiches Wirken in der Zukunft.<br />

*<br />

Unserem Mitglied Axel C. Springer wurde für „seine hervorragenden Verdienste um das Zeitschriftenwesen"<br />

die Jakob-Fugger-Medaille verliehen.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Herrn Wolfgang Knochenhauer, Frau Magdalena Schwenn, Herrn Hans<br />

Höltje, Herrn Dr. Roland Kuhn, Frau Ruth Sassmannshausen, Herrn Günther Linke, Herrn<br />

Kurt Kühling; zum 75. Geburtstag Herrn Reinhold Napirala, Herrn Kurt Meurer, Frau Elise<br />

Mügel, Herrn Walter Mügel, Herrn Gotthilf Hahn; zum 80. Geburtstag Frau Dr. Hildegard de<br />

la Chevallerie; zum 90. Geburtstag Herrn Johannes Posth; zum 95. Geburtstag Herrn Prof. Dr.<br />

Johannes Schultze.<br />

169


Buchbesprechungen<br />

Hans-Joachim Schreckenbach: Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg. Teil 3 und 4.<br />

Weimar: Böhlau 1972 u. 1974. 584 u. 398 S., Leinen, 48 bzw. 42 M. (Veröff. d. Staatsarchivs<br />

Potsdam, Bd. 10 u. 12.)<br />

Nach den in den „Mitteilungen", Jg. 67/1971, S. 95 angezeigten beiden ersten Teilen dieser umfangreichen<br />

Bibliographie liegen nun auch die „Orte und Ortsteile" behandelnden Bände vor. Wie<br />

in den zuvor erschienenen Teilen wird das gesamte Gebiet der ehem. Provinz Brandenburg unter<br />

Ausschluß von Groß-Berlin und der Niederlausitz, jedoch mit Einschluß der jenseits von Oder<br />

und Neiße liegenden Gebiete der ehem. Neumark behandelt. Die Ortsteile werden unter der<br />

jeweiligen Gemeinde aufgeführt. Stichjahr für die Gemeindezugehörigkeit ist für das Gebiet innerhalb<br />

der DDR 1968, für die Neumark 1927. Besonders begrüßt werden kann die Aufnahme<br />

moderner polnischer Titel bei den neumärkischen Orten. Für Orte mit umfangreicherer Literatur<br />

sind die Titel nach Bibliographien, Allgemeines, Sozialökonomische Verhältnisse, Allgemeine und<br />

politische Geschichte, Stadt und Recht, Kultur und Kunst, Sprache und Kirche sowie Geschichte<br />

der Ortsteile unterteilt. Dieses Schema, das eine weitere Unterteilung zuläßt, wird den Charakteristiken<br />

der einzelnen Orte entsprechend gehandhabt. Neben Einzeltiteln sind auch die topographischen<br />

Beschreibungen von Bratring, Berghaus und Fidicin sowie neuere Übersichten, z. B. die<br />

von B.Schulze bearbeitete Statistik der brandenburgischen Ämter und Städte 1540-1800, Berlin<br />

1935, und die in den Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte der Dt. Akademie der<br />

Wissenschaften Berlin (Ost) erschienenen Inventare von J. Herrmann: Die vor- und frühgeschichtlichen<br />

Burgwälle Groß-Berlins und des Bezirks Potsdam, Berlin (Ost) 1960 und B. Krüger: Die<br />

Kietzsiedlungen im nördlichen Mitteleuropa, Berlin (Ost) 1962, aufgeführt. Nicht zuletzt durch<br />

die Auswertung dieser Inventare wird ein großer Teil auch der kleineren und unbedeutenderen<br />

Gemeinden mit einem eigenen Stichwort erfaßt. Die Literaturangaben für die wichtigsten Plätze<br />

können dagegen innerhalb der Bibliographie selbst zu Buchstärke anwachsen. So werden für<br />

Potsdam (mit allen heutigen Ortsteilen) 1484 Titel auf nahezu 60 S. genannt. Die neuere, vor<br />

1969 in der Bundesrepublik und Berlin (West) erschienene Literatur ist - wie Stichproben erweisen<br />

- weitgehend eingearbeitet. Etwas geringeren Umfang haben die Ortsbibliographien von<br />

Brandenburg und Neuruppin.<br />

Mit dem vorliegenden Werk hat Schreckenbach nicht nur ein vorzügliches Hilfsmittel zur allgemeinen<br />

Landesgeschichte, sondern auch zur speziellen Ortsgeschichte vorgelegt. Hoffentlich gelingt<br />

es, diese große Arbeit bald durch die noch ausstehenden Register - vorgesehen ist ein Verfasserund<br />

ein Sachregister - zum Abschluß zu bringen. Felix Escher<br />

Werner Oehlmann: Das Berliner Philharmonische Orchester. Kassel: Bärenreiter-Verlag 1974.<br />

199 S., 130 Abb., Leinen, 48 DM.<br />

Hier ist ein Werk auf den Markt gebracht worden, das den Leser schon durch hervorragende<br />

textliche Information besticht. Der Verfasser des Buches hat den Weg des Orchesters über viele<br />

Jahrzehnte selbst aus nächster Nähe beobachten und begleiten können, was beim Lesen immer<br />

wieder deutlich wird. Das Buch widmet vor allem der Idee und der Geschichte des Orchesters<br />

reichlich Raum. Nicht durch staatliche Planung oder private Institutionen entstand im Frühjahr<br />

1882 mit zunächst 52 Musikern das Berliner Philharmonische Orchester, sondern aus dem Bestreben<br />

der Musiker, die Geschicke ihrer künstlerischen Gemeinschaft selbst zu lenken und in<br />

freier Entscheidung den Weg zu gehen, der ihnen zur Erfüllung des Vermächtnisses der großen<br />

Tondichter nötig erschien. Der Leser muß mit dem Verfasser übereinstimmen, daß der beschrittene<br />

Weg richtig war.<br />

Der Reichtum des Werkes an Bildmaterial, Mitgliederlisten von 1882, 1922, 1932, 1942, 1974 und<br />

einer Zeittafel von 1882-1973 verdienen hervorgehoben zu werden. Der Musikfreund erhält<br />

durch diese sinnvollen Ergänzungen eine Fülle von zusätzlichen Informationen über das traditionsreiche<br />

und wohl einmalige Orchester, wird aber nicht nur mit Namen, Daten und Ereignissen<br />

konfrontiert, sondern erfährt darüber hinaus so manches Wissenswerte aus der Historie des Berliner<br />

Musik- und Konzertlebens über eine Zeitspanne von fast 100 Jahren. Berühmte Namen,<br />

wie Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache und Herbert<br />

von Karajan, um nur einige zu nennen, erfahren eine Würdigung ihrer künstlerischen und<br />

menschlichen Persönlichkeit. Die klare Gliederung des Buches, die sorgfältige Auswahl des - zum<br />

Teil seltenen - Bildmaterials sowie die bereits erwähnte Zeittafel, die die im jeweiligen Spieljahr<br />

herausragenden musikalischen und künstlerischen Höhepunkte im Schaffen der Berliner Philharmoniker<br />

zum Inhalt hat, bieten dem Leser dieses Buches aus der Feder eines kompetenten<br />

Verfassers ein wohl einmaliges Erlebnis. Klaus Streu<br />

170


Berliner Abendblätter [1. X. 1810-30. III. 1811]. Hrsg. v. Heinrich von Kleist. Nachwort und<br />

Quellenregister von Helmut Sembdner. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973. (Reprographischer<br />

Nachdruck der Ausgabe von G. Minde-Pouet, Leipzig 1925.) 306, 304 und 34 S.,<br />

Leinen, 36,50 DM (f. Mitglieder).<br />

Die schon im Jahre 1925 in der Nachfolge von Reinhold Steig durch den Kleist-Forscher Georg<br />

Minde-Pouet herausgegebenen „Berliner Abendblätter" sind vor einiger Zeit durch Helmut<br />

Sembdner dem wissenschaftlich und allgemein interessierten Leser neu zugänglich gemacht worden.<br />

Hiermit wurde einem zweifachen Bedürfnis Genüge getan: Den an der Geschichte Berlins<br />

Interessierten erwartet mit der vollständigen Textwiedergabe dieser von Kleist nur unter Aufbietung<br />

aller Kräfte von Herbst 1810 bis zum Frühjahr 1811 - seinem letzten Lebensjahr -<br />

herausgegebenen Tageszeitung ein farbenreiches, in seinen sozialen, politischen und kulturellen<br />

Details außerordentlich faszinierendes Bild Berliner Zustände im Zenit der napoleonischen Ära;<br />

auch der literarhistorisch interessierte Leser wird in seinen Erwartungen, durch den Herausgeber<br />

Helmut Sembdner neue wissenschaftlich fundierte Einsichten in die Verfasserschaft<br />

Kleists an den Beiträgen der „Berliner Abendblätter" zu erhalten, nicht enttäuscht. Neben<br />

einem Nachwort, das über die Stationen der literaturwissenschaftlichen Erschließung der „Abendblätter"<br />

im Rahmen der Kleist-Forschung berichtet, werden im Anhang die jeweiligen Verfasser<br />

bzw. - bei übernommenen Meldungen aus fremden Journalen - deren jeweilige Quelle bestimmt.<br />

Ungeachtet dieser wichtigen, von jedem Freund und Kenner des Kleistschen Werkes dankbar<br />

registrierten Informationen wird der Leser es als besonderen und eigenen Reiz dieses Bandes<br />

empfinden, im Faksimiledruck dieser Ausgabe all jene Beiträge zu entdecken, die der Dichter an<br />

dieser Stelle den Zeitgenossen zum erstenmal vorlegte. Hans Joachim Mey<br />

Felix Gilbert (Hrsg.): Bankiers, Künstler und Gelehrte. Unveröffentlichte Briefe der Familie<br />

Mendelssohn aus dem 19. Jahrhundert. Tübingen: Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1975.<br />

329 S., 12 Abb., 2 Klapptafeln, Leinen, 87 DM. (Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des Leo<br />

Baeck Instituts, 31.)<br />

Ein Verantwortungsgefühl für geistige Werte habe in vielen der Nachkommen Moses Mendelssohns<br />

gelebt, stellt der Historiker Felix Gilbert, Professor am Institute for Advanced Study in<br />

Princeton (USA) am Ende seines Einführungsessays zu dem von ihm herausgegebenen Werk fest.<br />

Und er fügt hinzu, ein äußeres Zeichen möge man darin finden, daß die Nachkommen Wert darauf<br />

legten, gute Briefschreiber zu sein. Wie recht er damit hat, zeigt der hier vorgelegte Briefband,<br />

obwohl er natürlich nur einen gewissen Ausschnitt bieten kann.<br />

Gilberts Introduktion „Die Familie Mendelssohn in historischer Sicht" ist in ihrem Reichtum<br />

auch an sozialhistorischen Erkenntnissen und in ihrer Prägnanz der Darstellung hervorragend<br />

gelungen. Auch deshalb, weil sie wesentliche Probleme, wie den Glaubens Wechsel von Moses'<br />

Nachkommen und die Integration der Familie in die deutsche Gesellschaft so objektiv wie<br />

möglich behandelt. Zudem ist der Autor, das muß man wissen, ein emigrierter Urenkel des<br />

Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. So ist hier ein über hundert Jahre reichendes<br />

Familien- und zugleich Zeitbild entstanden, mit den vielen Erklärungen sehr aufschlußreich,<br />

fast aufschlußreicher als die 164 Briefe, die den wesentlichen Teil des Bandes ausmachen. „Die<br />

Abstammung von Moses Mendelssohn und der Stolz, der mit dieser Abstammung verbunden<br />

war", so äußert Gilbert an einer Stelle, „schuf das Bewußtsein einer Familienzusammengehörigkeit<br />

und hielt die Erinnerung an den Ursprung der Familie am Leben." Doch könne die bewußte<br />

oder unbewußte Neigung zu einer Distanzierung von der Umwelt nicht nur als Ausdruck eines<br />

Elements von Familienstolz gesehen werden. „Die Frage muß gestellt werden", so fährt Gilbert<br />

fort, „ob und inwieweit diese Zurückhaltung auch von dem Gefühl bestimmt war, nicht in<br />

Kreise eindringen zu wollen, die der Aufnahme jüdischer Elemente in Gesellschaft und Regierung<br />

feindselig gegenüberstanden." Das Problem des Aufgehens in die umgebende soziale Welt<br />

sei auch von der Reaktion dieser Welt zum Judentum und von der Art, wie die emanzipierten<br />

oder getauften Juden von dieser Welt aufgenommen wurden, bestimmt gewesen.<br />

Dieses Buch, schön ausgestattet mit einigen charakteristischen Porträts, enthält auch mehr oder<br />

minder ausführliche Biographien der „handelnden Personen" und zwei Stammbaumtafeln (Moses<br />

Mendelssohn und Daniel Itzig). Daß es lange gedauert hat, bis das schon in den fünfziger<br />

Jahren in Aussicht genommene Werk herauskam, liegt auch an der mühevollen Beschaffung und<br />

Bearbeitung des umfangreichen Materials. Das Leo-Baeck-Institut in New York hat sich durch<br />

seine intensiven Bemühungen, das Vorhaben zu verwirklichen, verdient gemacht. Übrigens: Der<br />

Band ist Professor Dr. Fritz Bamberger gewidmet, seit bald 50 Jahren ein anerkannter Moses-<br />

Mendelssohn-Forscher und seit Bestehen Vizepräsident des New Yorker L.B.I. Bis gegen Ende<br />

der dreißiger Jahre wirkte er als Pädagoge und Wissenschaftler in Berlin.<br />

Bei den Briefen, unterschiedlich in Art und Bedeutung, handelt es sich um zwei auch äußerlich<br />

171


voneinander getrennte Gruppen. Zum einen um 125 Familienbriefe, die in der Zeit von 1806<br />

und 1888 zwischen Brüdern und Schwestern, zwischen Eltern und Kindern und mit Verwandten<br />

und Freunden gewechselt worden sind. Zum andern und an Zahl weit geringer sind es sogenannte<br />

Professorenbriefe, 19 davon an Benjamin (Georg) Mendelssohn (1794-1874) gerichtet, ab<br />

1835 Geographieprofessor in Bonn, und fast ebensoviele an Karl Mendelssohn-Bartholdy<br />

(1838-1897), der bis 1874 als Historiker in Freiburg wirkte. Namentlich in der ersten Gruppe<br />

tritt neben Familienangelegenheiten und der Sorge um Angehörige das kulturelle und politische<br />

Berlin öfters hervor. Aber auch das Wetter und mancher Berlin-Klatsch kommen nicht zu kurz.<br />

Briefschreiber sind vor allem Moses Mendelssohns Söhne Joseph Mendelssohn (1770-1848), der<br />

Berliner Bankier, Abraham Mendelssohn-Bartholdy (1776-1835), gleichfalls Bankier in Berlin,<br />

der Vater des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und dessen Schwester Fanny Hensel,<br />

sowie Nathan Mendelssohn (1782-1852), der nach Teilnahme an den Freiheitskriegen Techniker<br />

wurde und Mitbegründer der Polytechnischen Gesellschaft in Berlin war. Aber auch deren Ehefrauen<br />

Hinni, Lea und Henriette und, nicht zuletzt Moses Mendelssohns älteste Tochter, die<br />

Schriftstellerin Dorothea Veit/Schlegel (Berlin 1764 - Frankfurt/M. 1839), treten in Erscheinung.<br />

Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt aus Berlin, Düsseldorf und Leipzig, seinen Hauptwirkungsstätten,<br />

meist kurz, aber warmherzig; einer seiner Briefe beschäftigt sich mit der Frage „einer<br />

ordentlichen Gesamtausgabe des Großvaters" (Moses Mendelssohn). Auch sein Schwager, der<br />

preußische Hofmaler Professor Wilhelm Hensel (1794-1861), ist in dem Briefband vertreten,<br />

neben ihm Persönlichkeiten wie Alexander von Humboldt (1769-1859), der dem Chef des<br />

Bankhauses Mendelssohn & Co., Alexander Mendelssohn (Berlin 1798-1871), freundschaftlich<br />

verbundene Naturforscher und Geograph, und Heinrich von Treitschke. Ernst G. Lowenthal<br />

Heinrich Braulich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Zweite, veränderte<br />

Aufl. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1969. 320 S. m. Abb., Leinen, 15 M.<br />

Aus einer Ost-Berliner Dissertation von 1957 hervorgegangen, erschien Braulichs Buch zuerst<br />

1966 im Henschelverlag, der seit Jahrzehnten für seine sorgfältigen theaterhistorischen Publikationen<br />

bekannt ist. Der Erfolg der ersten wissenschaftlichen Gesamtdarstellung des Phänomens<br />

Max Reinhardt ermöglichte drei Jahre später eine zweite, vom Verlag geheimnisvoll als „verändert"<br />

bezeichnete Auflage, die man aber getrost „verbessert" nennen kann. Die um 6 Seiten<br />

erweiterte Ausgabe weist stilistische Glättungen und einige neue überleitende oder zitierende<br />

Passagen auf. Leider ist die wichtige Bibliographie am Schluß des Bandes, die trotz ihrer Reichhaltigkeit<br />

(mehr als 170 Titel) einige wesentliche Lücken enthält, nicht ergänzt worden. Die Verbreitung<br />

des Werkes auch im Westen zeugt von der Sachlichkeit der Darstellung, auch wenn von<br />

Zeit zu Zeit ideologische Pflichtübungen eingeschaltet werden, die dem Leser den „Scheidepunkt<br />

zwischen bürgerlicher und sozialistischer Kunst" deutlich machen sollen. Daß ein marxistischer<br />

Autor, der sich mit dem Inbegriff bürgerlich-kulinarischen Theaters, den die Reinhardt-Bühnen<br />

nun einmal verkörperten, befaßt, in Schwierigkeiten geraten würde, wenn er seinen Gegenstand<br />

in positivem Licht zeigen will, war von vornherein zu erwarten. Deshalb hatte er in seiner Dissertation<br />

schon „Reinhardts Weg zum Massentheater des Großen Schauspielhauses" hervorgehoben.<br />

Da aber nun in der Gesamtdarstellung diese sehr kurze Episode unter den vielen Experimenten<br />

Reinhardts nur einen Bruchteil des Stoffes ausmachen konnte, muß Braulich oft genug<br />

über die Praxis des bürgerlichen Geschäftstheaters unter Reinhardt Klage führen, die im Widerspruch<br />

zu dessen „zutiefst humanistischer Weltanschauung" gestanden habe. Abgesehen von solchen<br />

wohl unvermeidlichen ideologischen Bemühungen des Verfassers bietet Braulichs Buch jedoch<br />

einen zuverlässigen, detailreichen und zumeist treffend kommentierten Überblick über das gesamte<br />

Schaffen Max Reinhardts, so daß es trotz der genannten Einschränkungen als wichtiges<br />

Standardwerk gelten muß. Bei seiner Auswertung sollte man allerdings die ideologischen Verzerrungen<br />

nicht, wie das so oft geschieht, als sattsam bekannt hinnehmen und überlesen, sondern<br />

man sollte ihnen widersprechen, wo immer es nötig ist. Rainer Theobald<br />

Rolf König: Mit Pille, Spritze und Skalpell. Anekdoten um Berliner Ärzte und ihre Patienten.<br />

Berlin: Rembrandt Verlag 1975. 140 S. m. Zeichn., geb., 14,80 DM.<br />

Mit viel Liebe, Geschick und Ausdauer hat der Autor eine Fülle von Anekdoten um Berliner<br />

Ärzte und ihre Patienten zusammengestellt. Selbst ein in Berlin geborener Medicus, der in Berlin<br />

studiert und dort die längste Zeit seines Lebens gewirkt hat, rindet noch manches ihm Unbekannte<br />

(wenn er auch natürlich dem Autor noch einiges zu erzählen hätte). Wer sich hier und da<br />

eine fröhliche Minute machen, auch einmal auf Kosten der Großen im weißen Mantel herzhaft<br />

lachen will, der greife getrost zu diesem Buch. Walter Hojfmann-Axthelm<br />

172


Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik im 19. Jahrhundert. 6. Gespräch der<br />

Georg-Agricola-Gesellschaft. Düsseldorf: VDI-Verlag 1970. 197 S., 19 Abb., 1 Faltblatt, brosch.<br />

26 DM. (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen, hrsg. v. Verein Dt. Ingenieure, Nr. 16.)<br />

Der vorliegende Band enthält die ausgearbeiteten Beiträge einer 1969 in Essen durchgeführten<br />

Tagung im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens zu Problemen des 19. Jhs. Neben<br />

anderen wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlungen, z.B. von Alwin Diemer: „Der Begriff Wissenschaft<br />

und seine Entwicklung im 19. Jahrhundert" (S. 7-11), von Karl-Heinz Manegold:<br />

„Die Entwicklung der Technischen Hochschule Hannover zur wissenschaftlichen Hochschule. Ein<br />

Beitrag zum Thema ,Verwissenschaftlichung der Technik im 19. Jahrhundert'" (S. 13-46), von<br />

Mathias Riedel: „Die Entwicklung von Clausthal zur wissenschaftlichen Hochschule" (S. 47-80)<br />

und der Untersuchung von Heinz Gummen: „Entwicklung neuer technischer Methoden unter<br />

Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der deutschen Schwerindustrie, gezeigt am<br />

Beispiel der Firma Krupp, Essen" (S. 113-132) werden besonders die beiden Berlin betreffenden<br />

Aufsätze größeres Interesse finden.<br />

Walter Ruske stellt in seinem Aufsatz zu „Wirtschaftspolitik, Unternehmertum und Wissenschaft<br />

am Beispiel der chemischen Industrie Berlins im 19. Jahrhundert" (S. 81-111) anhand der<br />

Behörden- und Firmengeschichte die Besonderheiten der Entwicklung der Berliner chemischen<br />

Industrie dar. Es lassen sich mehrere Epochen voneinander unterscheiden. In der frühen Phase<br />

war die Industrie allgemein stark von der staatlichen Gewerbeförderung abhängig, die auch eine<br />

Hebung des wissenschaftlichen Niveaus der Firmenleiter bewirkte. In der folgenden Epoche<br />

setzte das stürmische Wachstum, insbesondere der Berliner chemischen Industrie, ein. Am Ende<br />

des 19. Jahrhunderts und besonders nach der Jahrhundertwende bildeten sich auch in der Berliner<br />

chemischen Industrie einige Konzerne heraus, deren Entstehungsetappen zusätzlich durch Tabellen<br />

verdeutlicht werden, z. B. Kali-Chemie und Schering-AG. Parallel dazu veränderte sich das<br />

Produktionsprogramm: die Produktion chemischer Grundstoffe trat gegenüber der von Feinchemikalien<br />

und Synthetika zurück.<br />

Die Zusammenhänge von theoretischer und angewandter Wissenschaft sind kaum so deutlich zu<br />

erkennen wie in der Geschichte der Siemens-Werke. Bereits durch Werner v. Siemens wurde die<br />

enge Verbindung zwischen Forschung und angewandter Technik angelegt. Ferdinand Trendelenburg<br />

beschreibt diese Entwicklung in seiner Studie über „Die Verwissenschaftlichung der Technik<br />

im Bereich der elektrotechnischen Industrie gezeigt an Beispielen aus der Forschung des Hauses<br />

Siemens" (S. 133-171). Die zunächst in getrennten Einzellaboratorien arbeitenden Wissenschaftler<br />

des Hauses Siemens konnten durch Neuentwicklungen bereits um die Jahrhundertwende<br />

größere Erfolge erringen, wie das Beispiel der Entwicklung der Tantallampe (1905) zeigt. Die<br />

Zusammenlegung der Forschungsstätten zu einem Zentrallaboratorium in Siemensstadt im Jahre<br />

1924 bedeutete einen weiteren Schritt zu einer großangelegten wissenschaftlichen Forschung innerhalb<br />

der Firmengruppe. Maximal 300 Mitarbeiter waren in dem Bau am Rohrdamm beschäftigt,<br />

der zeitweise unter der Leitung von Gustav Hertz stand. Der Neuaufbau der Forschungsstätten<br />

des Hauses Siemens nach 1945 erfolgte in Erlangen und München.<br />

Notgedrungen können bei einem so weitgesteckten Problemkreis einer Tagung nicht alle Aspekte<br />

des Themas erörtert werden. So fehlt die Auseinandersetzung mit den unter maßgeblichem Mitwirken<br />

der Industrie gegründeten Behörden, wie der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und<br />

dem aus einem Institut der Technischen Hochschule in Charlottenburg entstandenen Materialprüfungsamt.<br />

Auch wäre es reizvoll gewesen, die Anfänge der Forschungsinstitute einzelner<br />

Industriezweige bis vor dem Ersten Weltkrieg zurückzuverfolgen. Zur Verwissenschaftlichung der<br />

Technik wurde im 19. Jahrhundert in Berlin Wesentliches geleistet. Felix Escher<br />

Georg Hermann: Kubinke. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1974. 293 Seiten, Leinen,<br />

22 DM.<br />

Nun schon geraume Zeit dem Freund liebenswerter und dennoch anspruchsvoller Berlin-Literatur<br />

auf dem Markt der Büchereitelkeiten neu vorgelegt, gilt es auch hier davon Kenntnis zu nehmen,<br />

daß Georg Hermanns berühmter sozialkritischer Roman „Kubinke" in einer preiswerten und<br />

schönen Neuausgabe dem Lesepublikum wieder zugänglich ist. In der Sammlung „Fischernetz"<br />

hat sich der S. Fischer-Verlag als der früheste Mentor des deutschen Naturalismus dieses Buches<br />

aus der Nachfolge Fontanes und Kretzers aufs neue angenommen. Nicht weniger meisterhaft<br />

als in seinem „Jettchen Geben" hat Hermann den Berliner in seinem unverwechselbaren Naturell,<br />

seiner schlagenden Lakonik, aber auch seiner oft nur verschämt aufblitzenden Herzlichkeit<br />

festgehalten. Wie indes Hermann den Nicht-Helden Kubinke an den grausamen Härten der<br />

sozialen Wirklichkeit, und das heißt an der Häne und Rücksichtslosigkeit seiner Mitmenschen<br />

zerbrechen läßt, hebt diesen Roman über die Trivial- und Dokumentarliteratur auf die Ebene<br />

der Dichtung. Hans Joachim Mey<br />

173


Horst-Johs Tümmers (Bearb.): Kataloge und Führer der Berliner Museen. Berlin: Gebr. Mann<br />

1975. XIV, 191 S., Leinen, 80 DM. (Verzeichnis der Kataloge und Führer kunst- und kulturgeschichtlicher<br />

Museen in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin-West, Bd. 1).<br />

Die im Jahre 1964 gegründete Arbeitsgemeinschaft der Kunstbibliotheken gab den Anstoß zur<br />

Zusammenstellung und Veröffentlichung dieser wichtigen Daten; die Realisation wurde durch die<br />

Fritz-Thyssen-Stiftung ermöglicht. Die bibliografischen Angaben des ersten Bandes umfassen insgesamt<br />

38 Museen in Berlin. Der erste Teil enthält zunächst die Führer und Kataloge vor 1830,<br />

danach die der Königlichen (ab 1918 Staatlichen) Museen bis 1970 mit allen ihren Abteilungen.<br />

Im zweiten Teil sind dann die Publikationen der Staatlichen Schlösser und Gärten sowie u. a.<br />

des Märkischen Museums, des Berlin-Museums, des Brücke-, des Kolbe- und des Jüdischen Museums,<br />

der Museen der Preußischen Staatstheater, des Reichsarbeitsministeriums sowie der Reichspost<br />

genannt. Weiter sind aufgeführt das Schriftmuseum, das Städtische Schulmuseum, das Gymnasium<br />

zum Grauen Kloster, der Verein für die Geschichte Berlins sowie der Kunstbesitz der<br />

Stadt Berlin.<br />

Bei fast allen Institutionen ist der Aufzählung des Schrifttums eine Einleitung vorangestellt, aus<br />

der die Gründung, Entwicklung und Bedeutung der Sammlungen hervorgeht. Nachträge und Ergänzungen<br />

und im dritten Teil Aufstellungen von Besitznachweisen und der bibliografischen<br />

Fundstellen sowie ein gutes Namensregister komplettieren diesen ,Katalog der Kataloge'. Als<br />

lobenswert soll auch die Arbeit des Autors erwähnt werden, der die über 2000 bibliografischen<br />

Angaben zusammengetragen und geordnet hat. Insgesamt gesehen liegt mit diesem Buch ein gut<br />

vorbereitetes und schon lange gesuchtes Standardwerk vor, mit dem für die Zukunft Maßstäbe<br />

gesetzt sind. Die technische Ausführung und Aufmachung entsprechen der eines guten soliden<br />

Handbuches, das auch bei täglichem Gebrauch noch ansehnlich bleiben wird. Claus P. Mader<br />

Annemarie Weber: Die jungen Götter: Roman. München: Desch 1974. 262 S., Ln., 26 DM.<br />

Brutalität am Anfang - Brutalität am Ende. Zunächst bekommt die Romanheldin Susanne Blau<br />

eine unmotivierte Tracht Prügel von ihrem Freund Max, ehe dieser Bett und Wohnung verlassen<br />

muß. Dann, am Ende geschieht die Verwüstung ihrer Habe durch die neue Freundin - von Max<br />

aus Rache angestiftet - und von einem Schlägertrupp gründlich ausgeführt. Zwischen diesen zwei<br />

extremen Handlungen wird dem Leser ein mehrjähriger Abschnitt aus dem an Episoden reichen<br />

Liebesleben einer Fünfzigerin geboten. Susanne, die der Berliner Kunstszene mannigfaltige, wenngleich<br />

keine entscheidenden Impulse gibt, sucht und findet ihre Bestätigung bei ihren „Jungen<br />

Göttern" Ewald, Leonhard, Henry u. a. Mit ihnen, den teilweise noch Pubertierenden, bricht sie<br />

mit ihrem „glückswütigen Temperament" alle bürgerlichen Tabus. Auch ihre alten Freunde und<br />

ihre Tochter Jehanne vermögen sie nicht zu zügeln, ja sie lassen sich je nach eigenem Temperament<br />

mitreißen.<br />

Wenngleich nach dieser kurzen Inhaltsangabe der Eindruck entstehen kann, es hier mit einem<br />

.unmoralischen' Buch zu tun zu haben, ist es doch ein Buch mit sehr viel Moral, einer Moral<br />

allerdings, die mit dem althergebrachten Begriff nur noch die Schreibweise teilt. Annemarie Weber<br />

hat mit diesem Roman gute deutsche Unterhaltungsliteratur geschaffen. Die Autorin mit ihrem<br />

Engagement zum Thema und ihrer Sympathie für Susanne Blau hat hier bestimmt nicht den<br />

schlechtesten Beitrag zum vergangenen „Jahr der Frau" geleistet. Claus P. Mader<br />

Berlin wie es lacht. Eine Sammlung Berliner und brandenburgischen Humors, hrsg. von Reinhold<br />

Scharnke mit Zeichnungen von Helmut Hilm Hellmessen. Frankfurt a. M.: Weidlich 1971.<br />

144 S. mit 10 Zeichn., Leinen, 12.80 DM.<br />

Hier wird eine Sammlung Berliner Humors (oder Berliner Witze) vorgelegt, die nicht besser und<br />

nicht schlechter ist als die meisten dieser Anthologien, sich aber immerhin sympathisch offen zu<br />

allen Quellen bekennt (so auch neben der DDR-Presse in Übereinstimmung mit dem Viermächtecharakter<br />

Berlins zur „National-Zeitung", Ost-Berlin). Hier hilft weniger das Rezensieren als das<br />

Lesen, und gelegentlich stößt man auf aktuelle Bezüge wie denjenigen über Herbert von Karajan:<br />

„Wie kann irgend etwas mit Karajan jemals schiefgehen? Alles, was man in der Bundesrepublik<br />

zu vergöttern pflegt, vereinigt er in seiner Person - Beethoven und Gunter Sachs!"<br />

Ein Kapitel trägt die berechtigte Oberschrift „Aus dem alten Zettelkasten", und aus diesem sei<br />

die unsterbliche Anekdote vom alten Geheimrat Heim zitiert: „Einige Studenten wollten Heims<br />

gerühmte Sicherheit in der Diagnostik erproben. Einer von ihnen hatte sich ins Bett zu legen<br />

und die ihm aus dem Kolleg bekannten Symptome irgendeiner Krankheit herzubeten. Heim<br />

sagte: ,Stecken Se mal die Zunge 'raus!' Während dies geschah, drehte sich der alte Heim um<br />

und sagte über seine Schulter weg: ,So, nu können Se mich mal!'"<br />

Vielleicht identifiziert sich auch jemand mit Adolf Glaßbrenner, der zum Thema „Bad Berlin"<br />

das folgende Gedicht beisteuerte: „Weeßte wat? / Dett beste Bad, / wo man hat, / is unsre<br />

Stadt: / Jeden Tag in'n Jrunewald, / da wirste alt. / In'n Wannsee rin mit Schwung: / Dett<br />

174


hält jung. / Und 'ne Molle druff mit'n Schuß: / Hochjenuß - Hochjenuß!" - Übrigens beziehen<br />

Glaßbrenners Hefte „Berlin wie es ist - und trinkt" ihren Witz gerade daraus, daß das „ist"<br />

nicht wie hier „ißt" geschrieben wird. H. G. Schultze-Berndt<br />

Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Hrsg.<br />

für die Mendelssohn-Gesellschaft e.V. von Cecile Lowenthal-Hensel. Bd. 2. Berlin: Duncker &<br />

Humblot 1975. 238 S., 9 Abb.-Taf., brosch., 36 DM.<br />

Drei Jahre nach Band 1 (vgl. P. Letkemann in den „Mitteilungen" Jg. 70/1974, Nr. 15, S. 464)<br />

legte die Berliner Mendelssohn-Gesellschaft kürzlich den 2. Band ihrer Mendelssohn-Studien vor.<br />

Er knüpft verschiedentlich an seinen Vorgänger an. Wiederum findet sich an erster Stelle ein Beitrag<br />

von Alexander Altmann über Moses Mendelssohn (Moses Mendelssohn's Proofs for the<br />

Existence of God). Boyd Alexander führt das Thema „Felix Mendelssohn Bartholdy and Young<br />

Women" fort, diesmal bezogen auf Mary Alexander, die jüngste von drei Londoner Schwestern,<br />

deren Liebe zu dem Komponisten keine Erfüllung fand. Rudolf Elvers schließlich ergänzt das<br />

„Verzeichnis der Musik-Autographen von Fanny Hensel im Mendelssohn-Archiv zu Berlin"<br />

(Bd. 1) um „Weitere Quellen zu den Werken von Fanny Hensel".<br />

Darüber hinaus betreffen noch zwei andere Aufsätze Moses Mendelssohn, und zwar von Hans<br />

von Haimberger (Die Rolle der Illusion in der Kunst nach Moses Mendelssohn) und Julius H.<br />

Schoeps (Ephraim Veitel Ephraim - Ein Vorkämpfer der Judenemanzipation). Der friderizianische<br />

„Hofjuwelier" holte erst ein Gutachten von Moses Mendelssohn ein, ehe er seine hier erstmals<br />

abgedruckte Denkschrift „Über die Lage der Juden in Preußen" aus dem Jahre 1785 dem<br />

König übermittelte.<br />

An Hand neuer Quellen, nämlich bisher unveröffentlichter Briefe von Alexander von Humboldt<br />

an Joseph Mendelssohn und seine Angehörigen, die in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz<br />

aufbewahrt werden, beleuchtet Hanns G. Reissner die engen persönlichen und wirtschaftlichen<br />

Bindungen, die zwischen dem großen Gelehrten und der Bankiersfamilie bestanden (Alexander<br />

von Humboldt im Verkehr mit der Familie Joseph Mendelssohn). Auch in Werner Vogels<br />

Aufsatz „Der Brand Hamburgs im Jahre 1842 und die preußischen Hilfsmaßnahmen" spielen die<br />

Stadt Berlin und ihre Bürger, darunter ebenfalls Joseph Mendelssohn und sein Neffe Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy, eine wichtige Rolle.<br />

Den Abschluß bilden zwei Studien über die Historiker „Georg Benjamin Mendelssohn und Karl<br />

Mendelssohn Bartholdy - Zwei Professoren aus dem 19. Jahrhundert" (von Felix Gilbert) und<br />

den Maler „Wilhelm Hensel in England" (von Cecile Lowenthal-Hensel). - Die Beiträge von<br />

J. H. Schoeps, W. Vogel und C. Lowenthal-Hensel gehen auf Vorträge zurück, die die Genannten<br />

in den letzten Jahren auf Abendveranstaltungen der Mendelssohn-Gesellschaft hielten.<br />

Ingeborg Stolzenberg<br />

Im I.Vierteljahr 1976<br />

haben sich folgende Damen, Herren und Institutionen zur Aufnahme gemeldet:<br />

Fa. Borsig GmbH<br />

1 Berlin 27, Berliner Straße 19-37<br />

(Schriftführer)<br />

Annamarie Hagsphil, Hausfrau<br />

1 Berlin 37, Fürstenstraße 21 a<br />

Tel. 8 Ol 82 45 (Irmtraud Köhler)<br />

Heinz Knappe, Dipl.-Ing., Mitglied des Vorstandes<br />

der Bergmann-Elektricitätswerke AG<br />

1 Berlin 12, Wilmersdorfer Straße 39<br />

Tel. 3 12 44 60 (Schriftführer)<br />

Margot Krohn, Lehrerin i. R.<br />

1 Berlin 31, Brandenburgische Straße 71<br />

Tel. 8 61 43 69 (H. Müller)<br />

Hans-Joachim Müller, Angestellter<br />

1 Berlin 20, Bollmannweg 10 (R. Mücke)<br />

Margarete Petersen<br />

1 Berlin 28, Oppenheimer Weg 7<br />

Tel. 4 01 24 07 (Dr. Schultze-Berndt)<br />

Anneliese Pinnow<br />

1 Berlin 31, Bernhardstraße 17<br />

Tel. 8 53 14 74 (Gertrud Warzecha)<br />

Hilmar Schreiber, Speditions-Kaufmann<br />

1 Berlin 37, Winfriedstraße 13<br />

(Friedburg Schreiber)<br />

Dr. Wilfried Schreiber, Regierungsdirektor i. R.<br />

29ÖMenburg, Nedderend 17<br />

(Friedburg Schreiber)<br />

Hartmut Solmsdorf, Dipl.-Ing.<br />

1 Berlin 19, Kaiserdamm 10<br />

Tel. 3 06 15 47 (Schriftführer)<br />

Leo Spik, Kunstversteigerungen<br />

1 Berlin 15, Kurfürstendamm 66<br />

Tel. 8 83 61 70 (Dr. H. Leichter)<br />

Hildegard Steffen, Rentnerin<br />

1 Berlin 61, Lobeckstraße 19/IV<br />

Tel. 6 14 25 72 (W. Mügel)<br />

Gisela Steinberg<br />

1 Berlin 20, Zweibrücker Straße 51<br />

Tel. 3 71 31 04 (Kurt Mulack)<br />

175


Veranstaltungen im IL Quartal 1976<br />

1. Dienstag, 13. April 1976, 19.30 Uhr: Filmvortrag „Vom Brandenburger Tor zum<br />

Wittenbergplatz - von Asta Nielsen zu Hans Albers". Leitung: Herr Wolf Rothe.<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

2. Sonntag, 25. April 1976, 10.00 Uhr: Spaziergang zu den Denkmälern des Tiergartens<br />

- Werke Berliner Bildhauer des 19. Jahrhunderts. Leitung: Herr Hans-Werner<br />

Klünner. Treffpunkt: Eingang zur Philharmonie (Autobus 48).<br />

3. Dienstag, 27. April 1976, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Bürgersaal<br />

des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung:<br />

1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und Bibliotheksberichtes<br />

2. Berichte der Kassen- und der Bibliotheksprüfer<br />

3. Aussprache g''<br />

4. Entlastung des Vorstandes<br />

5. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern<br />

6. Verschiedenes<br />

Anträge aus den Kreisen der Mitglieder sind bis spätestens 17. April 1976 der<br />

Geschäftsstelle einzureichen.<br />

Im Anschluß zeigt Herr Karl-Heinz Kretschmer einen Film über die Studienfahrten<br />

des Vereins nach Celle und Hannoversch Münden.<br />

4. Dienstag, 11. Mai 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Felix Escher:<br />

„Havelberg und Bad Wilsnack - zur mittelalterlichen Geschichte der Prignitz".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Sonnabend, 22. Mai 1976: Exkursion in die Prignitz unter der Leitung von Herrn<br />

Joachim Schlenk. Besucht werden Ritter Kahlbutz in Kampehl, Dom von Havelberg,<br />

Roland von Perleberg, Wunderbiut-Wallfahrtskirche Bad Wilsnack, Johanniter-Komturei<br />

Werben. Die Teilnahme an der Veranstaltung am 11.5.1976 ist<br />

für alle Interessenten verbindlich.<br />

6. Dienstag, 1. Juni 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Hans-Dieter<br />

Holzhausen: „E. T. A. Hoffmanns Handzeichnungen - Bilder, Karikaturen, Illustrationen".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Sonnabend, 19. Juni 1976, 10.00 Uhr: Führung zu heimischen Pflanzen im Botanischen<br />

Garten. Leitung: Herr Prof. Volkmar Denckmann. Treffpunkt: Berlin-Lichterfelde,<br />

Eingang Unter den Eichen/Begonienplatz (Autobus 48).<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 30. April, 28. Mai und 25. Juni 1976, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17.00 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt, Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

176


A 20 377 F<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

72. Jahrgang Heft 3 Juli 1976<br />

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Foto: Ellen Brast (1969)<br />

177


Adolf Glassbrenner (1810-1876)<br />

Zum Gedenken an seinen hundertsten Todestag<br />

Von Claus P. Mader<br />

„Meine Aufregung ist furchbar. Die Barrikaden wuchsen aus der Erde; nicht nur die<br />

Männer, auch die Frauen riefen zu den Waffen - das Ereignis ist groß. Versäume ja nicht<br />

die Schilderungen derselben in den Zeitungen zu lesen und dich vor dem Volke zu<br />

beugen."<br />

Diese Zeilen stammen aus einem Brief, den Adolf Glassbrenner am 21. März 1848 an<br />

seine Frau Adele in Neustrelitz schrieb. Von dort war er zwei Tage zuvor abgereist, unmittelbar<br />

nachdem auch in Neustrelitz durch die Extrapost die „ungeheuerlichen" Revolutionsnachrichten<br />

eintrafen. Obwohl von der preußischen Regierung zur „persona non<br />

grata" erklärt und ohne Rückkehrmöglichkeit nach Berlin, hielt es ihn nicht mehr in der<br />

„Verbannung", er mußte in diesen Zeiten bei „seinen" Berlinern sein.<br />

Wer war nun dieser Adolf Glassbrenner?<br />

Er wurde am 27. März 1810 in dem Bürgerhaus „Zum fliegenden Rosse" in der Leipziger<br />

Straße geboren. Sein Vater, aus Schwaben zugezogen, war Besitzer einer kleinen<br />

Schmuckfederfabrik, deren Ertrag die vielköpfige Familie zu einer einfachen Lebensweise<br />

zwang. Das war auch der Grund, den jungen Adolf nach vierjährigem Besuch des Friedrich-Werderschen<br />

Gymnasiums 1824 als Kaufmannslehrling in eine Seidenhandlung zu<br />

geben. Doch Wissensdurst und ein unruhiges Temperament ließen ihn nicht zur Ruhe<br />

kommen. Er schrieb sich an der Berliner Universität als Schüler Hegels ein, verfaßte ab<br />

1827 Literarisches für den „Berliner Courier" von Moritz Saphir und gab 1830 den<br />

Kaufmannsberuf auf, um in noch größerem Umfang an der Zeitschrift mitzuarbeiten.<br />

Nach dem Fortgang Saphirs nach München noch im selben Jahre übernahm die „Sonntags-Gesellschaft",<br />

deren Mitglied Glassbrenner auch war, die Redaktion des „Berliner<br />

Courier". Mit dem Erscheinen des „Berliner Don Quixote" im Januar 1832 trat Glassbrenner<br />

erstmalig als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift hervor. Obwohl diese Publikation<br />

der Unterhaltung für gebildete Stände dienen und unpolitisch sein sollte, verbot<br />

die preußische Regierung nach Ermahnungen, keine „iniuriösen Artikel" aufzunehmen,<br />

das Blatt und belegte den Herausgeber mit einem auf fünf Jahre festgesetzten Berufsverbot<br />

für ein Zeitblatt. Doch trotz finanzieller Einbußen machte sich Glassbrenner zunächst<br />

keine großen Sorgen. Er hatte schon 1832 das erste Heft „Berlin, wie es ist und -<br />

trinkt" herausgegeben und der überraschend große Erfolg veranlaßte die Buchhandlung<br />

Bechthold u. Hanfe, mit ihm einen Vertrag über weitere zwölf Hefte abzuschließen. Er<br />

scheint diesen Vertrag dann sehr schnell gebrochen zu haben, denn schon Heft V zeigt<br />

das Impressum L. F. Hermann in Berlin; Heft V, zweite Auflage, bis Heft XII Vetter u.<br />

Restosky und ab Heft XIII Ignaz Jackowitz, die beiden letzteren in Leipzig, als Verlagsträger.<br />

Mit Heft 6 dieser Reihe, dem „Guckkästner" (1834), begann auch eine ständige Zusammenarbeit<br />

Glassbrenners mit Theodor Hosemann, die sich auf eine große Anzahl von<br />

Publikationen erstreckte und zum beiderseitigen Vorteil über zwei Jahrzehnte andauerte.<br />

1836 begannen für Glassbrenner, der seine Arbeiten nun immer häufiger mit Brennglas<br />

zeichnete, sehr unerfreuliche Jahre. Durch das Verbot der Jungdeutschen im Frankfurter<br />

Bundestag (1835) war die Möglichkeit liberaler Meinungsäußerung kaum noch gegeben.<br />

178


Titelkupfer von C.Reinhardt (1847) und Th. Hosemann (1851). Die Hefte erschienen zunächst<br />

in der Expedition des Komischen Kalenders von M. Simion in Berlin, später in Hamburg im Verlags-Comptoir.<br />

Hinzu kam, daß die Zensurbehörden selbst seine vergleichsweise harmlose Serie „Berlin,<br />

wie es ist und - trinkt" nach dem sechsten Heft auf den Index setzten. So sah er sich<br />

gezwungen, wollte er als freier Schriftsteller weiter existieren, zu harmloseren Themen<br />

zu greifen. Sein „Deutsches Liederbuch" (1837), seine „Taschenbücher für ernste und<br />

heitere Poesie" (1836—1838) und die Serie „Buntes Berlin" (1837-1853) geben davon<br />

Zeugnis. Schon 1838 - nach Ablauf der fünfjährigen Sperrfrist - hatte er sich um eine<br />

neue Zeitschriftenlizenz bemüht, die ihm jedoch vom Preußischen Oberzensurkollegium<br />

mit dem Bemerken „nicht würdig" versagt worden war. Als „unverantwortlicher" Mitarbeiter<br />

verdingte er sich für einige Monate beim „Freimüthigen". Nachdem sich die<br />

Arbeitsbedingungen weiter verschlechterten, ging er 1841 mit seiner Frau, der Wiener<br />

Schauspielerin Adele Peroni, nach Neustrelitz, wo dieser ein lebenslängliches Engagement


an der dortigen Hofbühne angetragen worden war. Zuvor hatte die Intendanz des Berliner<br />

Königstädtischen Theaters nach der Heirat (1840) der inzwischen bekannt gewordenen<br />

„Peroni" mit dem „berüchtigten" Volksaufwiegler und Zeitungsliteraten Glassbrenner<br />

den Vertrag gelöst.<br />

Obwohl die Jahre in Neustrelitz für ihn im persönlichen Bereich recht niederdrückend<br />

waren, sank er nicht - wie so mancher Jungdeutsche - zum Renegaten ab. Ja, er entwickelte<br />

sich in dieser Zeit zu einem typischen Vertreter des Vormärz, dessen Waffen die<br />

Satire und das Tendenziöse waren. Hier seien als Beispiel seine „Neuen Berliner Guckkastenbilder"<br />

(1841), die „Verbotenen Lieder" (1844) oder „Herrn Buffey's Wallfahrt<br />

nach dem heiligen Rocke" (1845) aufgeführt. Auch die Texte in „Berlin, wie es ist und -<br />

trinkt" und im „Neuen Reineke Fuchs" werden schärfer und stehen denen eines Herweg!?,<br />

Freiligrath oder Dingelstedt an politischer Entschiedenheit in nichts nach. Weitere, mehr<br />

oder weniger politische Schriften, so z.B. der „Komische Volkskalender" (1846-1854)<br />

und die dreibändige Sammlung „Berliner Volksleben" (1847) runden die Arbeit eines<br />

schriftstellerisch recht fruchtbaren Lebensabschnittes ab. Wiederholt hatte Glassbrenner<br />

1847 versucht, von der preußischen Regierung die Genehmigung zum Besuch seiner Vaterstadt<br />

Berlin zu erhalten, doch vergebens. Jetzt im März 1848 nahm er sich diese Freiheit.<br />

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Berlin ohne literarische Bedeutung. Zwar gab es<br />

auf der einen Seite den zum königlichen Hof orientierten Kreis der Spätromantiker, darunter<br />

Tieck, auf der anderen Seite den skurrilen Amateursalon des „Tunnels über der<br />

Spree", in dem der junge Fontane immerhin seine ersten bescheidenen Erfolge feiern<br />

konnte. Der „Realismus" der speziellen Berliner Posse ging eigene Wege; der Kreis der<br />

Vaudeville-Autoren war beträchtlich, wenngleich überwiegend von mittelmäßigen Talenten<br />

bestimmt, deren Produktion dem Bedürfnis nach Unterhaltungslektüre und -Schauspiel<br />

offenbar sehr entgegenkam und daneben im Publikum eine Atmosphäre schuf, die<br />

auch für den treffsicheren politischen Witz einen guten Nährboden abgeben sollte. Ansonsten<br />

aber herrschte Windstille, nur unterbrochen vom Sturm der Revolution von 1848,<br />

deren politische Erfolge den Possendichtern und Satirikern mit Hilfe der errungenen<br />

Pressefreiheit ein großes und dankbares Betätigungsfeld verschafften. Die Berliner Presse<br />

und das entstehende moderne Journalistentum gewannen auch für das literarische Leben<br />

der Stadt entscheidende Bedeutung. Einige der besten Köpfe, die damals in Witz, Satire<br />

und Ironie auch zugleich die „tiefere Bedeutung" einzuflechten vermochten, wagten sich<br />

in das bewegte Fahrwasser der neuen Publizistik.<br />

Unmittelbar nach seiner Ankunft in Berlin schloß Glassbrenner mit dem Berliner Verleger<br />

M. Simion am 24. März einen Vertrag, der die Herausgabe einer wöchentlichen<br />

Zeitschrift zum Inhalt hatte. Die Konditionen waren günstig, denn Glassbrenner erhielt<br />

für die redaktionelle Mitarbeit vier und für eigene Beiträge zwanzig Taler je Ausgabe,<br />

deren Umfang auf vier Quartseiten festgelegt wurde. Obwohl mit der Arbeit sofort begonnen<br />

wurde, konnte der 1. Mai als Erscheinungstag der ersten Nummer nicht eingehalten<br />

werden. Erst am 6. Mai erschien diese unter dem Titel „Freie Blätter, illustrirte<br />

politisch humoristische Zeitung". Unter dem Motto: „Der Staat sind wir" wollten auch<br />

sie sich an der Revolution beteiligen und es auf politischem und literarischem Gebiet all<br />

jenen Schriften gleichtun, deren Geburt ebenfalls in diesen Tagen lag. Aus der Vielzahl<br />

seien nur einige der wichtigeren genannt: „Berliner Charivari", der monatlich erschien<br />

180


Erste Umschlagseite von Heft 14 aus dem Jahre Titelblatt<br />

1852. Zeichnung von Th. Hosemann<br />

und zu seinen Mitarbeitern u. a. Tb. Hosemann und W. Scholz zählen konnte, ferner die<br />

„Locomotive", der „Berliner Krakehler", „Die ewige Lampe", „Der Demokrat", „Tante<br />

Voss mit dem Besen", „Berliner Großmaul" und der „Kladderadatsch". Allein dieses<br />

„Organ für und von Bummler" konnte sich - obwohl zu Beginn mit den gleichen Schwierigkeiten<br />

kämpfend - über neunzig Jahre behaupten, ehe es 1944 nur noch als „ein Schatten<br />

seiner selbst" entschlief. Alle anderen genannten und noch mehr die ungenannten<br />

Zeitschriften, Blättchen oder Flugblätter belebten zwar die Szenerie, konnten dieser aber<br />

keine allzu nachhaltigen Impulse verschaffen.<br />

Auch die „Freien Blätter" machten da keine Ausnahme. An der Spitze der einzelnen<br />

Nummern, deren Wert sehr ungleich war, befanden sich ein oder mehrere längere Artikel.<br />

Scherzhafte Gedichte und zum Schluß ein Feuilleton aus teilweise recht boshaften Nach-<br />

181


ichten und Bemerkungen komplettierten den Inhalt. Trotz des Vermerks im Titel fand<br />

der Leser nur vereinzelte Illustrationen. Glassbrenner schrieb zunächst fast alle Artikel<br />

selbst. Erst ab Heft 9 (1. Juli 1848) wird noch Ernst Kossak als Mitredakteur genannt,<br />

doch wurden dessen Beiträge bald sehr spärlich. Unterdessen verschob sich die politische<br />

Lage zugunsten der Reaktion. So erschienen die Blätter im August und September wegen<br />

Arbeitseinstellung der Setzer und Drucker nur unregelmäßig. Im November und Dezember<br />

trat eine Pause ein, und mit Heft 56, das, wie die Ausgaben der letzten Monate, bei<br />

Reclam in Leipzig gedruckt wurde, stellte das Blatt sein Erscheinen ein: Wrangel hatte<br />

es verboten.<br />

Neben dieser Arbeit hatte Glassbrenner während der letzten Monate noch ein Heftchen<br />

„Neue Volkslieder nach alten Melodien" herausgegeben und versucht, eine Kandidatur<br />

für die Deutsche Nationalversammlung zu erhalten. Sein Programm wurde jedoch von<br />

mehreren Seiten in der Presse so stark angegriffen und fand auch bei „seinen Berlinern"<br />

so geringe Unterstützung, daß sein Name auf der offiziellen Wahlliste nicht mehr aufgeführt<br />

wurde. Ein Flugblatt ist von ihm bekannt, welches aus den Tagen des Sturmes<br />

auf das Zeughaus zu stammen scheint und in dem er die „armen Arbeiter, Landleute und<br />

Bürger Deutschlands" zur Ruhe ermahnte.<br />

Mit dem Sieg der Reaktion und um einer Inhaftierung zu entgehen, zog er sich nach Neustrelitz<br />

zurück. Hier wählten ihn die fortschrittlichen Kräfte gemeinsam mit dem Strelitzer<br />

Sprachforscher Daniel Sanders zum Führer des Reformvereins und der demokratischen<br />

Partei in Mecklenburg-Strelitz. Als am 9. November 1848 Robert Blum als Teilnehmer<br />

an den Kämpfen in Wien wegen seines „Freisinns" und als „Führer der Linken"<br />

zum Tode verurteilt und erschossen wurde, nahm sich Glassbrenner dieser Sache publizistisch<br />

u. a. in den „Blättern für freies Volkstum" an. Dieses Engagement und seine<br />

Aufsätze z. B. im „Komischen Volkskalender" und im „März-Almanach" führten mit zur<br />

Ausweisung durch die Behörden. 1850 ging er nach Hamburg.<br />

In den nun folgenden Jahren bis 1856 erschienen kleinere Beiträge in den verschiedenei:<br />

Zeitschriften, weitere Hefte einiger seiner Reihen und Kinderbücher wie „Lachende Kinder",<br />

„Insel Marzipan" oder „Sprechende Tiere". Mehrere Reisen und Vorträge vervollständigen<br />

das Programm jener sechs Jahre.<br />

Erst 1856 wandte er sich wieder einer redaktionellen Arbeit zu, doch dauerte es bis zum<br />

April 1857, bis er für den „Ernst Heiter" verantwortlich zeichnete. Schon wenige Nummern<br />

danach belegte die Regierung dieses Blatt mit Zensurauflagen. Glassbrenner ließ<br />

deshalb dieses Periodikum eingehen und gründete als Nachfolgeschrift den „Phosphor",<br />

dem aber gleichfalls nur eine Lebensdauer von 27 Heften beschieden war. Unterdessen<br />

hatte Glassbrenner sich dem Berliner Verleger Hoff mann verpflichtet und vertragsmäßig<br />

die Leitung der Montagszeitung „Berlin" übernommen. Die hiesigen Behörden hatten zuvor<br />

den Publizisten wissen lassen, daß ihm, bei noch längerem Verweilen außerhalb der<br />

preußischen Residenz, die Heimatberechtigung verlorengehen würde. So kehrte er zu<br />

Beginn des Jahres 1858 nach Berlin zurück, wo er sich nach eigenen Aussagen wie ein<br />

Fremder vorkam. Zuviel hatte sich in den vergangenen sechs Jahren verändert.<br />

Glassbrenner konzentrierte sogleich seine ganze Arbeitskraft auf diese neue Aufgabe.<br />

Literatur und Theater waren seine Lieblingsthemen, die Politik nur noch soweit, wie sie<br />

vom Schreibtisch aus erledigt werden konnte. In einem Brief schrieb er 1859 an F. Wehl:<br />

„Ich konzentriere alle meine Kräfte auf ,Berlin', auch ehrlich gestanden, um mir vielleicht<br />

für mein Alter einen materiellen Halt zu schaffen". Und an anderer Stelle des Briefes<br />

182


fährt er fort: „Die Herren vom ,Kladderadatsch' verdienen jährlich mit leichter Mühe<br />

ihre 3- bis 4000 Thaler. Kaiisch über 8000 Thaler! Was haben wir?"<br />

Nun, zunächst nichts! Die Zeitschrift geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Mehrmals<br />

wechselte sie den Verleger und den Titel, ehe sie Ende der sechziger Jahre als „Berliner<br />

Montags-Zeitung" in Glassbrenners Verlag erschien und nach einigen Jahren für ihn eine<br />

gute Rendite abwarf. Diese Redaktion blieb endlich seine einzige Tätigkeit und erforderte<br />

kaum große Anstrengung, zumal ab 1860 Schmidt-Cabanis Mitredakteur war und<br />

ihm den überwiegenden Teil der Arbeit abnahm.<br />

Kurz ist die Liste der weiteren Publikationen aus diesem letzten Lebensabschnitt: „Humoristische<br />

Plauderstunden", „Burleske Novellen", eine Neuauflage von Saphirs „Konversationslexikon<br />

für Geist, Witz und Humor" in fünf Bänden und die „Neuen Gedichte".<br />

Am Sonnabend, dem 23. September 1876 verstarb er nach einem bewegten Leben in seiner<br />

Berliner Wohnung. Eine große Menschenmenge, die Vertreter der Presse und die<br />

Berliner Schriftstellerwelt hatten sich am Dönhoffplatz eingefunden, um einem der Ihren<br />

das letzte Geleit zu geben.<br />

Adele Glassbrenner machte Schmidt-Cabanis zum Hauptredakteur und führte unter<br />

finanziellen Verlusten die „Berliner Montags-Zeitung" bis zum Februar 1884 weiter, ehe<br />

sie sich schließlich genötigt sah, an das mächtig aufstrebende Mossesche „Berliner Tageblatt"<br />

zu verkaufen. Am 31. Juli 1895 starb sie 82jährig. An der Seite ihres Mannes<br />

wurde sie auf dem dritten Friedhof der Jerusalems-Gemeinde beigesetzt, in unmittelbarer<br />

Nähe E. T. A. Hoffmanns, Adelbert von Chamissos und vieler anderer Vertreter von<br />

Kunst und Wissenschaft des alten Berlins.<br />

Nach diesem kurzen Blick auf Glassbrenners Vita und seine Opera soll zum Schluß dieser<br />

Würdigung noch der Versuch unternommen werden, die Frage nach seinem politischen<br />

Konzept zu beantworten. Es läßt sich relativ leicht auf einen Grundnenner bringen.<br />

Glassbrenner, der - wie fast alle jungen Liberalen jener Jahre - in seinen Anfängen unter<br />

dem Einfluß des „Jungen Deutschland" stand, gehörte zum fiörwe-Flügel dieser Bewegung.<br />

Ihm war der Heine-Flügel zu weit vom Volkstümlichen entfernt. Auch aus sozialen<br />

Gründen hielt er es mehr mit einem kleinbürgerlichen Demokratieverständnis, welches<br />

auf einen engagierten politischen Tageskampf hinzielte. So erschöpfte sich auch seine<br />

Politik in ununterbrochener Propaganda. Er hoffte dadurch den deutschen „Michel" zu<br />

einer spontanen Tatgesinnung für die Ideale der Demokratie zu begeistern. Anders als<br />

zum Beispiel Gutzkow, Laube und Mundt, die im Verlauf der zeitlichen Ereignisse immer<br />

vorsichtiger wurden, griff Glassbrenner zu der literarischen Waffe. Unerbittlich drängte<br />

er auf einen Umbruch der bestehenden Verhältnisse. Dieser sollte aus dem politischen<br />

Zusammenschluß von Kleinbürgern, Handwerkern und Arbeitern hervorgehen. Anhaltende<br />

Verbote seiner Schriften und sogar die Ausweisung aus Berlin konnten ihn nicht<br />

von seiner Grundauffassung abbringen. Gerade die Publikationen aus den Jahren 1844<br />

bis 1848 waren voller offener Revolutionsbereitschaft. Als sich dann die langgehegten<br />

Hoffnungen zerschlugen, erging er sich noch einmal in literarischen Zornesausbrüchen<br />

gegen das Unvermeidbare, um dann - wie viele andere auch - allmählich zu resignieren.<br />

Die nun einsetzende politische Entwicklung blieb Glassbrenner weitgehend fremd. Zwar<br />

183


war er noch immer gegen die „Rrrreaktion" und gegen Bismarck und die fortschreitende<br />

Militarisierung Preußens, doch fehlte es ihm an Alternativen. Ohne den Weitblick für<br />

das Überregionale in der Politik verstand er die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen<br />

Wandlungen der folgenden Jahrzehnte nicht mehr; Glassbrenner war eben kein Politiker.<br />

Betrachten wir nun noch die Form seiner politischen Agitation. Es waren neben den Zeitungen<br />

und Zeitschriften vor allem jene Druckerzeugnisse, die bis in unsere Zeit nur selten<br />

Eingang in die Literatur gefunden haben: die sogenannten Dreigroschenhefte. Er ließ<br />

seine Texte, meist mit tagespolitischem Hintergrund, durch eine Reihe von Berliner Volkstypen<br />

vortragen, die er sich aus der Realität seiner täglichen Umgebung auslieh. Klatschbasige<br />

alte Weiber, Fuhrleute, besoffene und politisierende Eckensteher, Hökerinnen,<br />

Nachtwächter und Dienstmädchen belebten die Szenerie der Straßen, Märkte, Läden und<br />

Kneipen und schufen so mit ihrer ihnen in den Mund gelegten dialektischen Schnoddrigkeit<br />

und mit ihrem entlarvenden Witz jenen freien Spielraum, der notwendig schien, um<br />

Tagesprobleme unterzubringen. Dies wurde von Glassbrenner glänzend gemacht.<br />

Nach seinem Tode geriet auch er über Jahrzehnte in Vergessenheit. Erst zu Beginn<br />

unseres Jahrhunderts erschienen wieder Texte und auch vereinzelt Anthologien seiner<br />

Werke - selten jedoch mit annehmbaren Kommentaren. So bleibt bis zum heutigen Tage<br />

die Frage offen: Glassbrenner - ein kleinbürgerlich-demokratischer Börne-Anhänger und<br />

politisierender Volksdichter oder nur ein „umwerfender" Humorist? Die bislang vorliegende<br />

Sachliteratur ist unzureichend und widersprüchlich.<br />

Literaturhinweise<br />

Robert Rodenhauser: Adolf Glassbrenner. Ein Beitrag zur Geschichte des „Jungen Deutschland"<br />

und der Berliner Lokaldichtung. Nikolassee: Max Harrwitz 1912.<br />

Willi Finger: Adolf Glassbrenner. Ein Vorkämpfer der Demokratie. (Ost-)Berlin: Kongreß-<br />

Verlag 1952.<br />

Adolf Glassbrenner: Der politisierende Eckensteher. Auswahl und Nachwort von Jost Hermand.<br />

Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1969. (Universal-Bibliothek Nr. 5226-28).<br />

(Die aufgeführten Bücher verfügen über weiterreichende Literaturhinweise.)<br />

184


Friedhofskapelle<br />

Aufnahme vom 1. 7. 1939<br />

aus dem Ardiiv des Autors<br />

Der jüdische Friedhof in Spandau im 19. und 20. Jahrhundert<br />

Von Jürgen Grothe<br />

Ein schwieriges Kapitel in der Spandauer Geschichte ist eine Chronik der jüdischen Friedhöfe.<br />

Bereits 1324 wird ein „Juden Kiewer" in Spandau genannt. Herzog Rudolph von<br />

Sachsen überließ der Stadt einen Hof, mit allen Rechten und Freiheiten, den ein „Nicolaus<br />

Toepper gehabt" und der neben dem „Juden Kiewer" lag. Die bisherige Meinung,<br />

daß dieser Begräbnisplatz bis 1510 bestand und dann innerhalb eines Pogroms eingeebnet<br />

wurde, ist nicht mehr haltbar. Man war bisher der Ansicht, die Steine wurden um<br />

1520-1523 beim Umbau der Burg als Baumaterial verwendet. Seit 1957 konnten in der<br />

Zitadelle in den Wänden des Palas sowie in Mauerteilen südlich und östlich des Gebäudes<br />

über 30 jüdische Grabsteine freigelegt werden; die bis jetzt identifizierten sind von<br />

1244-1347 datierbar. Da sie teilweise direkt auf dem Eichenpfahlfundament des Palas<br />

auflagen, ist auch eine Datierung des Palas heute möglich: Er muß um 1350 in gotischen<br />

Formen erbaut oder umgebaut worden sein. Für diese Datierung spricht ebenfalls ein<br />

gotisches Portal, das im Juli 1971 an der Nordseite freigelegt werden konnte. In seiner<br />

185


gedrückten Form kann es in die Mitte des 14. Jahrhunderts gehören. Bis heute ist ungeklärt,<br />

aus welchem Grund zu ebendiesem Zeitpunkt der jüdische Friedhof in Spandau<br />

eingeebnet wurde. 1428 wird der „Juden Kiewer" erneut genannt. Er war Eigentum der<br />

Stadt und die Juden mußten eine jährliche Abgabe für die Benutzung zahlen. Er diente<br />

auch Berliner Juden als Begräbnisplatz. Die Lage dieses Friedhofes ist bis heute unbekannt<br />

geblieben.<br />

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaßen die Spandauer Juden keinen eigenen<br />

Friedhof. Sie begruben ihre Toten in Berlin. Eine Angliederung der Spandauer an die<br />

Berliner Synagogengemeinde lehnten die Berliner aus finanziellen Gründen ab. 1854<br />

wollte die Potsdamer Regierung für die Spandauer Gemeinde einen Friedhof anlegen.<br />

Wegen der zu erwartenden Kosten lehnten die Spandauer Juden ihrerseits dieses ab.<br />

1859 kaufte man dennoch eine Fläche Forstland in den Schülerbergen. Im Spandauer<br />

Grundbuch findet sich dazu folgende Eintragung: „Der jüdische Ortsverband zu Spandau<br />

hat von der Stadtgemeinde zu Spandau und zwar von dem vor dem Oranienburger Tor<br />

belegenen Forstgrunde, die Schülerberge genannt, für welche ein Folium im Hypothekenbuche<br />

noch nicht besteht, die auf dem Titelblatte I verzeichnete Parzelle von 96 Quadratruten<br />

Flächeninhalt mittels Vertrages vom 24. Februar/7. Juli 1859, notariell anerkannt,<br />

den 13. April 1865 für 35 Thaler zu einem Begräbnisplatz erworben und ist der Titel<br />

auf Grund des Attestes des Magistrats zu Spandau vom 18. Juli 1865 über den mehr als<br />

zehnjährigen Besitzstand der Stadtgemeinde zu Spandau und des obigen Vertrages berichtigt<br />

worden zufolge Verfügung vom 30. September 1865."<br />

Die Schülerberge bildeten eine Hügelkette, die sich von der Havel an der Schützenstraße<br />

bis zur Schönwalder Straße erstreckte. Sie wurde für den Bau der Artillerie-Wagenhäuser,<br />

der im Februar 1872 begann, abgetragen. Der Militärfiskus wollte dazu auch das<br />

jüdische Friedhofsgelände, das nördlich der heutigen Neuen Bergstraße lag, erwerben.<br />

Die Gemeinde verkaufte das Gelände indes nicht. Da der Friedhof sich jetzt innerhalb<br />

des Areals der Artillerie-Wagenhäuser befand, pachtete man vom Militärfiskus, gegen<br />

eine Anerkennungsgebühr von 1,- Mark jährlich, einen Geländestreifen als Zugang. 1907<br />

wurde eine provisorische Leichenhalle errichtet und 1913 ein massiver Neubau nach Plänen<br />

des Architekten Adolf Steil, den die Firma Haertner-Herfarth ausführte.<br />

Nach dem ersten Weltkrieg kaufte die Gemeinde, nach Verhandlungen mit dem Reichswehrministerium,<br />

vom Fiskus ein Gelände von 500 qm zur Vergrößerung des Friedhofes.<br />

Der Vertrag war auf den 20. Juni 1923 datiert, 400 000 Mark waren zu zahlen.<br />

Eine Mauer grenzte den Friedhof gegen das militärfiskalische Gelände ab. 1939 mußte<br />

die Begräbnisstätte aufgegeben werden; sämtliche Gräber wurden nach Berlin-Weißensee<br />

umgebettet und das Gelände vom Heereszeugamt genutzt. Den ursprünglichen Zugang<br />

auf den Friedhof mauerte man zu. Er ist heute gegenüber dem Eingang zum Stadt.<br />

Krankenhaus an der Lynarstraße noch erkennbar.<br />

Auf den Friedhof führte ein Doppelportal für Fußgänger und Leichentransportwagen.<br />

Den Zufahrtsweg säumten Rasenstreifen. Am Weg stand ein fensterloser Geräteschuppen<br />

für den Transportwagen und die Geräte für die Bestattung. Der Bau war aus genuteten<br />

Brettern zusammengefügt und mit einem grünen Anstrich versehen. Das Dach zeigte eine<br />

Walmkonstruktion. Wilder Wein rankte an den Wänden empor.<br />

Am Ende des Weges stand die Leichenhalle, ein Rundbau aus Ziegelsteinen mit grauem<br />

Edelputz verkleidet. Das als Kuppel ausgebaute Dach war mit Kupferplatten belegt, die<br />

durch ihre Oxydation dem Bau den typischen Farbakzent gaben. Die bleiverglasten Fen-<br />

186


Eingang zur<br />

Fricdhofskapclle<br />

Aufnahme vom 1. 7. 1939<br />

aus dem Archiv des Autors<br />

ster zeigten jeweils eine andere Gestaltung, aber ohne figürliche Darstellung. Das nach<br />

Westen gerichtete enthielt als beherrschendes Motiv den Davidstern, das gegenüberliegende<br />

besaß eine einfache Aufteilung von drei gleichmäßig geformten und gefärbten<br />

Rillenglasscheiben. An den Rundbau waren im Nordosten und Südwesten je ein halbrunder<br />

Bau angefügt, der die Formen des Hauptbaues wiederholte. Auch die Dachdeckung<br />

und Gliederung der Fenster entsprach der des Hauptbaues. Den Eingang betonten<br />

zwei halbrunde Säulen, auf denen ein dreieckiger Giebel mit eingelegtem Davidstern<br />

ruhte. Das Portal aus Eichenholz besaß in der Mitte ein ovales Fenster, das durch einen<br />

Davidstern aus Holz gegliedert war. Drei Stufen aus handgestrichenen Verblendern, von<br />

zwei gebogenen, einfachen schmiedeeisernen Gittern flankiert, führten in den Innenraum.<br />

1939 wurde der Bau abgerissen.<br />

Ansdirift des Verfassers: 1 Berlin 20, Kellerwaldweg 9<br />

187


Nachrichten<br />

Mitgliederversammlung 1976<br />

Die Ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins am 27. April 1976 im Bürgersaal des Rathauses<br />

Charlottenburg wurde in Vertretung des durch einen Empfang des Senats von Berlin verhinderten<br />

Vorsitzenden, Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm, vom Schriftführer, Dr. H. G.<br />

Schultze-Berndt, eröffnet und mit den Regularien eingeleitet. Nach seinem Eintreffen konnte<br />

Professor Ho ff mann-Axthelm dann die Ehrung der Toten vornehmen. Seit der letzten Hauptversammlung<br />

sind die folgenden Mitglieder verstorben, deren die Versammlung mit einer Schweigeminute<br />

gedachte: Professor Dr. Walter Artelt, Herbert Bantelmann, Magdalena Beilee, Dr.<br />

Albert Brandes, Professor Dr. Wilhelm Moritz Freiherr von Bissing, Dr. Joachim Härtel, Ernst<br />

Hartmann, Friedel Holtz, Walter Marziellier, Annemarie Neitzel, Adolf Persdike, Dr. Kurt<br />

Sdimeisser, Dr. Fritz Taute, Lucia Winter, Herbert Wollstein, Arno Wagner, Susanne Heller.<br />

Der Tätigkeitsbericht lag der Versammlung schriftlich vor; er wird im Jahrbuch 1976 „Der Bär<br />

von Berlin" abgedruckt werden. Auch der Kassenbericht sowie der Voranschlag für 1976 waren<br />

schriftlich vorgelegt worden. Der Schatzmeister, Frau R. Koepke, erläuterte die einzelnen Positionen.<br />

Ausdruck des engen Zusammengehörigkeitsgefühls der Betreuer der Bibliothek war die Tatsache,<br />

daß der Bibliotheksbericht diesmal von H. Schiller erstattet wurde. Aus den Berichten der<br />

Kassenprüfer Mulack und Kretschmer (von diesem verlesen) und der Bibliotheksprüfer Kemnitz<br />

und Schlenk (von Schlenk vorgetragen) ergaben sich die Sorgfalt in der Arbeit der ehrenamtlich<br />

tätigen Kräfte und die Ordnungsmäßigkeit ihrer Handlungen. In der Aussprache wurde von<br />

K. Pierson unter Hinweis auf den Tätigkeitsbericht die weitergehende Zerstörung des Stadtbildes<br />

von Berlin bedauert (H. Müller vertrat ein ähnliches Anliegen) und die Möglichkeit diskutiert,<br />

vom Verein aus dieser Entwicklung zu wehren. Landgerichtsrat a. D. Rechtsanwalt D. Franz beantragte<br />

die Entlastung des Vorstandes, der einmütig zugestimmt wurde. Für den auf eigenen<br />

Wunsch nicht mehr kandidierenden Kassenprüfer Mulack wurde das Mitglied Degenhardt neu<br />

gewählt und der bisherige Kassenprüfer Kretschmer in seinem Amt bestätigt. Nach dem Verzicht<br />

des Mitgliedes Kemnitz wurden die Mitglieder Mende und Schlenk gleichfalls einstimmig zu<br />

Bibliotheksprüfern gewählt.<br />

Weitere Fragen in der zügig abgewickelten Jahreshauptversammlung galten dem Jahrbuch „Der<br />

Bär von Berlin", den historischen Stätten in Charlottenburg im Hinblick auf die Tätigkeit der<br />

Eosander-Gesellschaft sowie den künftigen Veranstaltungen des Vereins. Freundlicher Ausklang<br />

der Mitgliederversammlung waren Filme, die das Mitglied Kretschmer auf den Studienfahrten<br />

nach Celle und nach Hann.-Münden gedreht hatte. Zum Zeitpunkt der Hauptversammlung gehörten<br />

dem Verein 827 Mitglieder an. H. G. Schultze-Berndt<br />

Themenheft „Städte + Landschaften"<br />

Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel bringt als Heft 32 T vom 22. April 1976 zum<br />

ersten Mal ein Themenheft unter dem Titel „Städte 4- Landschaften" heraus. Es gilt zu einem<br />

sehr großen Teil der Stadt Berlin. Namhafte Autoren schreiben nicht nur über Buchhandlungen<br />

und Verlage, Bücher und Autoren, Bibliotheken, Fachorganisationen und Vereinigungen, sondern<br />

sie versuchen vielmehr durch einzelne Beiträge die Berliner Kulturlandschaft aufzuzeigen. So widmet<br />

Robert Wolf gang Schnell seinen Aufsatz der Berliner Kneipenkultur; Ilse Nicolas schreibt<br />

über Berliner Friedhöfe; Detlev Meier berichtet über die „Vernichtung" von Kreuzberg; Professor<br />

Friedrich Luft zieht eine kritische Bilanz der Schauspielbühnen unserer Stadt, und Dr. Lucie<br />

Schauer stellt Museen, Maler und Galerien vor. Aber auch der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft<br />

und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz fehlen nicht.<br />

In einem Grußwort spricht der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, dem Börsenblatt<br />

seinen Dank aus. Er weist darauf hin, daß die Berliner seit je ein lesefreudiges Publikum<br />

gewesen sind, die sich über Zuspruch freuen, aber auch überzeugende Kritik gern entgegennehmen.<br />

Jährlich werden allein in den öffentlichen Büchereien unserer Stadt mehr als 11 Millionen Bücher<br />

ausgeliehen - Zahlen, die in Europa nur schwer zu überbieten sind, stellt man dieser Menge die<br />

zwei Millionen Mitbürger gegenüber. CPM<br />

*<br />

Vom 11. bis zum 26. September dieses Jahres stellt die Arbeitsgruppe Berliner Architektur-Maler<br />

in Spandau im Schützenhof, Niederneuendorfer Allee 12-18, Spandauer Motive aus.<br />

188


Ein Bachfest in Berlin<br />

Es ist erfreulich, daß auch die Neue Bachgesellschaft den Weg wieder nach Berlin gefunden hat,<br />

um nach 75 Jahren auf Einladung der Stadt ihr 51. Bachfest vom 25. bis 30. August 1976 zu<br />

feiern. In Berlin finden jährlich Bachtage statt, die in diesem Jahr als „Das Fest der Neuen Bachgesellschaft"<br />

gelten.<br />

Das Musikgeschichtsbild Johann Sebastian Bachs und seine Rezeption der doppelchörigen Kompositionsweise<br />

sind Thematik dieser Tage. „Bachs Fundament ,aller gottgefälliger Kirchen-<br />

Musik'" heißt ein Vortrag der Baseler Musikwissenschaftlerin Helene Werthemann. Der Göttinger<br />

Musikwissenschaftler Alfred Dürr spricht über „Das Bachbild im 20. Jahrhundert". International<br />

sind die Interpreten der Bach-Konzerte, Messen, Kantaten, Lobgesänge usw., die - laut Programm<br />

- in vielen Festsälen und in Kirchen (hier Eintritt frei) zu Gehör kommen. Von besonderer<br />

Art ist ein Konzert mit dem Collegium Musicum Judaicum und der Choralschola der Benediktinerabtei<br />

Maria Laach. Beide Chöre treten zum ersten Male in einem weltlichen Rahmen,<br />

d. h. in der Hochschule der Künste gemeinsam mit dem Staats- und Domchor Berlin auf. Viele<br />

Berliner Chöre, aber auch der Monteverdi-Chor Hamburg und die Camerata Accademica Hamburg,<br />

sind für die Festkonzerte vorgesehen.<br />

Von ganz besonderem Interesse für die Mitglieder des Vereins für die Geschichte Berlins wird<br />

neben den Konzerten die Ausstellung im Musikinstrumentenmuseum des Staatlichen Instituts für<br />

Musikforschung Preußischer Kulturbesitz an der Bundesallee sein, die am 25. August um 17 Uhr<br />

mit der Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen" eröffnet wird. Im Programm heißt es dazu:<br />

„Bachs Besuche in Berlin und Potsdam und sein Nachwirken in der Berliner Musikgeschichte bilden<br />

die Grundlage für eine zeitgeschichtliche, auch klingende Übersicht aus Noten, Briefen,<br />

Tageszeitungen, Bildern und historischen Instrumenten aus Berlin und Potsdam. Ein reich bebilderter<br />

Ausstellungskatalog wird die Berliner Musikgeschichte zur Zeit Bachs und einige Fragen<br />

des Nachwirkens dokumentarisch belegen."<br />

„Meine Herren, der alte Bach ist gekommen!" Das waren die Worte Friedrichs des Großen, als<br />

ihm Bachs Besuch angesagt wurde. Freude und Genugtuung, aber auch ehrfürchtige Erwartung<br />

spürt man aus diesen Worten, die zugleich den Titel der jetzigen Ausstellung bilden. Gleichgültig<br />

mögen Ort und Zeit sein - wo Bach angesagt wird, erfüllt die Menschen immer wieder dieselbe<br />

ehrfürchtige und freudige Erwartung. Über das Bachfest der Neuen Bachgesellschaft können weitere<br />

Einzelheiten erfragt und auch Karten vorbestellt werden im Organisationsbüro: 1 Berlin 12<br />

(Charlottenburg), Knesebeckstraße 32. Lucie Brauer<br />

Wiederaufbau am Gendarmenmarkt<br />

Wie aus der in Ost-Berlin erscheinenden Tageszeitung „Der Morgen" vom 25. Mai 1976 zu erfahren<br />

ist, sollen die den Gendarmenmarkt - seit 1951 Platz der Akademie genannt - umrahmenden<br />

Bauten von 1978 an wiederaufgebaut werden. Dies betrifft sowohl den Französischen als auch<br />

den Deutschen Dom, die frühere Heimstatt des Vereins für die Geschichte Berlins. Das von<br />

Schinkel errichtete ehemalige Königliche Schauspielhaus wird zu einem Konzerthaus umgestaltet.<br />

Die im Norden, Süden und Osten noch klaffenden Lücken in der Umgebung werden geschlossen,<br />

wobei auch ein neuer Standort für die Akademie der Künste gefunden wurde. Neben den beiden<br />

historischen Gaststätten Lutter und Wegner und Cafe Bauer, die neu erstehen sollen, werden<br />

kleine Boutiquen den Platz beleben, der nach Westen hin in gelockerter Form zum Fußgängerboulevard<br />

der Friedrichstraße überleiten soll. Das Ensemble des Gendarmenmarktes wird zur<br />

Fußgängerzone umgebildet, der Platz selbst mit Bäumen und Bänken belebt.<br />

Im Komplex von Schloß Glienicke hatte sich der als dritter Sohn des Königs Friedrich Wilhelm<br />

III. und der Königin Luise am 29. Juni 1801 in Charlottenburg geborene Prinz Friedrich<br />

Karl Alexander von Preußen im Zusammenwirken mit seinen Baumeistern Schinkel, Persius und<br />

von Arnim in den Jahren von 1824 bis 1850 eine aus einer Barockanlage hervorgegangene Heimstatt<br />

für seine Kunstsammlungen geschaffen. Hier entstand im Biedermeier, dem Übergang von<br />

der Geistigkeit der Romantik zum Realismus, ein heiteres Abbild des Südens in der Mark, das<br />

an der Havel noch heute durch den Zusammenklang von Natur und Kunst verzaubert, weil es<br />

zugleich das Lebensgefühl dieser Epoche vermittelt. 150 Jahre nach dem Umbaubeginn des Hauptgebäudes<br />

durch Schinkel 1826 werden im kommenden Oktober die „Musischen Wochen in Glienicke"<br />

eröffnet, die auch weiterhin jeweils von Oktober bis zum Januar durchgeführt werden<br />

189


sollen. An jedem zweiten Sonnabend eines Monats werden um 16.00 Uhr Veranstaltungen Kunst<br />

und Kultur der Mark Brandenburg in dieser reizvollen Atmosphäre widerspiegeln. Weihnachtsausstellungen<br />

bildender Künstler werden das Programm vervollständigen, das rechtzeitig in Glienicke<br />

und in der Tagespresse bekanntgegeben werden wird.<br />

Um die Denkmalpflege in Ost-Berlin<br />

Nach Ausführungen der Ost-Berliner Zeitung „Der Morgen" vom 10. März 1976 wird gegenwärtig<br />

eine Bezirksdenkmalliste für Ost-Berlin entworfen, auf der ebenso wie auf der zentralen<br />

Denkmalliste rund 350 Objekte von historischem Wert stehen, die erhalten werden müssen. Im<br />

einzelnen werden aufgeführt das „Lindenensemble", das Deutsche Theater und das Berliner Ensemble<br />

(Theater am Schiffbauerdamm), der Wasserturm in der Knaackstraße im Bezirk Prenzlauer<br />

Berg, der sogenannte Magistratsschirm in der Schönhauser Allee und schließlich auch das<br />

Hochhaus an der Weberwiese als, wie es heißt, „erstes nach 1945 erbautes Wohnhaus Berlins".<br />

Auswirkung der verstärkten Bestrebungen zur Erhaltung und Rekonstruktion historischer Gebäude<br />

und Stadtviertel im heutigen Ost-Berlin ist ferner die Neugestaltung des Gebietes Sophienstraße/Hackescher<br />

Markt/Große Hamburger Straße, die für die nächsten Jahre vorgesehen ist.<br />

Alle wertvollen Fassaden in diesem Teil des alten Berlins, der vor 225 Jahren entstanden ist,<br />

sollen restauriert werden. Man verbindet diesen Plan mit dem auch an anderen Orten bewährten<br />

Vorhaben (Schnoor in Bremen!), ausgefallene Handwerksberufe wie Goldschmiede, Kunsttischler,<br />

Graveure und Instrumentenbauer in diesem Viertel anzusiedeln. SchB.<br />

Personalien<br />

Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz hat unserem Mitglied Kurt Meurer in Firma Buchhandlung<br />

Elwert & Meurer im Zusammenhang mit der Vollendung seines 75. Lebensjahres am<br />

19. April die Ernst-Reuter-Plakette in Silber überreicht.<br />

Der österreichische Bundespräsident hat unserem Mitglied Ministerialrat a. D. Dr. Johannes<br />

Broermann, Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Berlin, in Anerkennung seiner wissenschaftlichen<br />

Arbeit den Titel „Professor" verliehen. Professor Dr. /. Broermann, der in der Weimarer<br />

Zeit Pressereferent im Reichsministerium des Innern war, hat den im Krieg zerstörten<br />

namhaften Verlag wieder aufgebaut und mehr als 3000 Bücher aus dem Bereich der Geisteswissenschaften<br />

und der Geschichte, aber auch der Naturwissenschaften veröffentlicht.<br />

*<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Herrn Dr. Gerhard Krause, Frau Ruth Pappenheim, Frau Hermine Pfeiffer;<br />

zum 75. Geburtstag Herrn Werner Haube, Frau Anna Kuckkuck, Herrn Dr. Robert Rieger, Herrn<br />

Dr. Robert Venter, Herrn Wilhelm Weick; zum 80. Geburtstag Herrn Eugen Ernst, Herrn Konrad<br />

Lindhorst, Frau Dr. Margarete Pfand, Frau Elisabeth Rexhausen.<br />

Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin", Folge 25 (1976) wird im Spätsommer dieses Jahres<br />

erscheinen.<br />

190


Buchbesprechungen<br />

Martin Sperlich u. Helmut Börsch-Supan (Hrsg.): Schloß Charlottenburg • Berlin • Preußen.<br />

Festschrift für Margarete Kühn. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1975. 340 S. m. zahlr.<br />

Abb., brosch., 80 DM.<br />

Untrennbar ist der Name Margarete Kuhns mit der Erforschung preußischer Kunst- und Geistesgeschichte,<br />

die sich allseits sichtbar im Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg dokumentiert,<br />

verbunden. So würdigt die ihr gewidmete, von Martin Sperlich und Helmut Börsch-Supan herausgegebene<br />

und mit einem Vorwort von Georg Kauffmann und einem Brief Hann Triers eingeleitete<br />

Festschrift die Leistung, die das Wiedererstehen dieses Baudenkmals ermöglicht hat, ohne<br />

die anderen Bereiche wissenschaftlicher Tätigkeit der der Architektur verpflichteten Kunsthistorikerin<br />

außer Acht zu lassen. Die Beiträge werden daher auch zur spannenden Lektüre für den<br />

heimatkundlich interessierten Berliner. Goerd Peschken schreibt nach neuen, von Martin Sperlich<br />

beobachteten, Baubefunden Andreas Schlüter den Umbau des Corps de Logis und die Errichtung<br />

einer Orangerie (im heutigen östlichen Seitenflügel) zu. Die Bauleitung Schlüters nach dem Interim<br />

Martin Grünbergs war entgegen der auf eine Nachricht des Mitglieds der Berliner Akademie<br />

der Künste Abraham d'Humbert - eine Generation nach Schlüter - fußenden Tradition seit Ende<br />

des vorigen Jahrhunderts mehr und mehr angezweifelt worden.<br />

Martin Sperlich äußerte sich über denkmalpflegerische Prinzipien beim Wiederaufbau und streift<br />

unter anderem den Sinneswandel, der sich in der Denkmalpflege seit Dehios kategorischem Nein<br />

zu willkürlichen Restaurationen unter dem Eindruck der Vernichtung zahlloser Kulturgüter im<br />

zweiten Weltkrieg vollzogen und gerade mit dem Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg<br />

eingesetzt hat.<br />

Hans Reuther nennt als Vorbild des Treppenhausentwurfes von Nicodemus Tessin d. J. für<br />

Schloß Charlottenburg das von dessen Vater Nicodemus Tessin d. Ä. erstellte Stiegenhaus von<br />

Drottningholm. (Die Tessins waren die führenden Barockarchitekten Schwedens gewesen.) Er<br />

reiht den Charlottenburger Entwurf in den Zusammenhang mit dessen anderen Arbeiten und in<br />

einen größeren Rahmen ein.<br />

Den Zopfstilbau des Neuen Palais in Potsdam stellt Horst Drescher in die Traditionen des<br />

Schlüter-Kreises und in die Knobelsdorff-Nachfolge, wie man überhaupt gern in der Schlußphase<br />

einer Epoche auf die Formensprache deren Beginns zurückgreift, und weist auf die Verwandschaft<br />

mit dem Residenz-Entwurf aus Paul Deckers 1711-1716 erschienenen architektonischen Musterbuch<br />

„Fürstlicher Baumeister oder architektura civilis". Neben anderen Zeitbezügen zur Wiederbelebung<br />

barocker Traditionen sieht der Autor den speziellen Grund hierfür in der Hinwendung<br />

des Königs zur Geschichtsforschung und dessen Interesse an der politischen und kulturellen Entwicklung<br />

Preußens unter dem Einfluß Voltaires.<br />

Eva-Börsch-Supan beschreibt einen unbekannten in Privatbesitz befindlichen Entwurf Schinkels<br />

zum bereits 1848 ausgebrannten Festsaal des von Grahl aus dem Jahre 1736 stammenden Palais<br />

Redern, mit dessen Umbau der Gilly-Schüler zwanzig Jahre vorher beauftragt worden war. Sie<br />

leitet ihn direkt von antiken Vorbildern ab und begründet die Unwahrscheinlichkeit von Einwirkungen<br />

tonnengewölbter Raumformen der französischen Revolutionsarchitektur.<br />

Tilmann Buddensiegs Beitrag über Peter Behrens und die AEG gibt anhand neuer Dokumente<br />

einen Oberblick über die Baugeschichte der Fabriken am Humboldthain, der sich auf umfangreiches<br />

Photomaterial und erhaltene Bauakten stützt und generelle Arbeiten zu diesem Thema<br />

zitiert.<br />

Heinrich Brauer stellt den zu seiner Zeit in Berlin sehr erfolgreichen und später vergessenen<br />

Portraitmaler Johann Samuel Otto (1798-1878) und einiges, das sich aus dessen Werk erhalten<br />

hat, vor. Geformt durch die Romantik hält der Maler auch in der Biedermeier-Nachfolge Individualität<br />

und Geistigkeit der portraitierten Prominenten in den den Betrachter auch heute fesselnden<br />

Bildnissen fest. In diesem Aufsatz wird ebenfalls die Entwicklung des Künstlers deutlich.<br />

Liselotte Wiesingers und Eva Krafts Arbeiten über den Berliner Hofarzt und Verwalter der chinesischen<br />

Abteilung der kurfürstlichen Bibliothek Christian Mentzel gewähren Einblick in eine<br />

weithin unbekannte Epoche brandenburgischer Natur- und Geistesgeschichte der zweiten Hälfte<br />

des 17. Jahrhunderts.<br />

Hans Bleckwenns Beitrag über ein von Margarete Kühn 1964 aus dem Kunsthandel erworbenes<br />

Portrait Adam Friedrich von Wreechs, des Gatten der von Kronprinz Friedrich verehrten Eleonore<br />

von Wreech, macht wieder mit der „Chefgalerie Potsdam" bekannt, die sich Friedrich Wilhelm<br />

I. mit den Portraits seiner Generale und Regimentschefs anlegt. Helmut Börsch-Supan und<br />

Winfried Baer publizieren Nachkriegserwerbungen der Berliner Sdilösserverwaltung.<br />

Otto von Simsons Aufsatz über Karl Blechen ordnet vier undatierte Zeichnungen in die letzte<br />

Stufe dessen künstlerischer Entwicklung ein. Die Beiträge von Matthias Winner über Michel-<br />

191


angelo, von Heinz Riehn über zwei Federzeichnungen der Grotte und der Warte im Schloßpark<br />

Wiihelmsthal, von Detlef Heikamp über Leo von Klenzes Besuch in Pratolino und von Hans<br />

Huth über den Denkmalschutz in den Vereinigten Staaten seien, weil sie mit Berlin-Brandenburgischer<br />

Thematik nicht unmittelbar zusammenhängen, nur erwähnt.<br />

Diese dem Wirken Margarete Kuhns angemessene Festschrift spiegelt auch die Menschlichkeit der<br />

Kunsthistorikerin wider, der die „Verehrung eines Kunstwerkes . . . tiefes Bedürfnis ist", wie<br />

Georg Kauffmann in seinem Vorwort schreibt. Günter Wollschlaeger<br />

Walther G. Oschilewski: Ein Mann im Strom der Zeit. Richard Timm. Berlin: Westkreuz-<br />

Druckerci 1975. 68 S. m. Abb., brosch., 9,80 DM.<br />

W. G. Oschilewski setzt mit dieser Biographie einem sozialdemokratischen Politiker ein Denkmal,<br />

der niemals Schlagzeilen machte. Es ist der Bericht über einen Mann, der noch vor dem Ersten<br />

Weltkrieg zum „Verein der Lehrlinge, jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen Berlins und Umgebung"<br />

stieß, der nach Abschluß der Volksschule seine Bildung in der „Freien Hochschule Berlin"<br />

und später auf der „Arbeiterbildungsschule Berlin" erwarb, der als gelernter Tischler im gewerkschaftlichen<br />

Zusammenschluß der Holzarbeiter tätig wurde. Die politische Tätigkeit Timms, der<br />

von 1930 bis 1933 Geschäftsführer der Bundesschule des ADGB in Bernau war, wurde durch die<br />

nationalsozialistische Machtergreifung unterbrochen. 1944 erfolgte die Verhaftung Timms, der<br />

zuvor in der gewerkschaftlichen Widerstandsgruppe um Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser mitgearbeitet<br />

hatte. Auch nach der Befreiung aus dem Zuchthaus Brandenburg (1945) war der politische<br />

Kampf für Timm noch nicht beendet. Auf Partei und Gewerkschaftsebene setzte er der<br />

neuen Machtübernahme von kommunistischer Seite aus Widerstand entgegen. Im kommunalen<br />

Bereich wirkte er nach 1948 als zeitweiliger Bürgermeister von Neukölln und als Direktor der<br />

BVG; darüber hinaus widmete sich Timm der Tätigkeit in der Dt. Gesellschaft für die Vereinten<br />

Nationen und in internationalen Widerstandsorganisationen.<br />

Zahlreiche Namen, von Friedrich Ebert über Erich Ollenhauer, Erich Honecker (den T. im Zuchthaus<br />

Brandenburg kennenlernte) bis hin zu den Politikern des Nachkriegs-Berlin, ziehen an dem<br />

Leser vorbei.<br />

Mit dieser Biographie zeichnet Oschilewski das Bild eines Mannes und Weggenossen, der in den<br />

letzten siebzig Jahren deutscher und speziell berlinischer Geschichte stets im „Strom der Zeit"<br />

stand und seine Auffassung vertrat. Felix Escloer<br />

Stefan Heym: 5 Tage im Juni. Roman. München: C.Bertelsmann Verlag 1974. 384 S., Leinen,<br />

29,50 DM.<br />

Der Autor, deutscher Emigrant, dann Amerikaner und seit 1953 in Ost-Berlin lebend, schrieb<br />

diesen Text unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse. Schon seit Mitte der 50er Jahre<br />

wanderte das Manuskript, aufgrund des schwarzen Kalikoeinbandes als „Das Schwarzbuch" bezeichnet,<br />

von Lektorat zu Lektorat einiger DDR-Verlage. Erscheinen durfte es nicht, denn die<br />

hier geschilderten „Ereignisse" waren tabu.<br />

Erst jetzt, 21 Jahre danach, wurde das Buch anläßlich der Frankfurter Buchmesse (1974) mit sehr<br />

großem Werbeaufwand dem Publikum vorgelegt. Schon hier kommen deswegen erste Zweifel an<br />

der ehrlichen Absicht des Autors auf, ein objektives Zeitdokument vorzulegen, die sich - leider -<br />

nach eingehendem Studium bestätigen.<br />

Wie seinerzeit beispielsweise bei Biermann und Havemann mußte auch bei Heym, der eigens aus<br />

Berlin zur Messe kam und den Massenmedien bereitwillig Rede und Antwort stand, ein West-<br />

Verlag publizistische Schützenhilfe leisten; die Literatur der DDR findet eben auch ihren Platz<br />

im Westen.<br />

„Der Tag X", wie der Titel ursprünglich lautete, beginnt zeitlich-chronologisch um 14 Uhr des<br />

13. Juni 1953 und endet am Mittwoch, dem 17. Juni. Ein zweiseitiges Nachspiel ist auf den<br />

14. Juni 1954 datiert.<br />

Obwohl der Roman stellenweise von beachtlicher Rapidität ist, bleibt er auf der anderen Seite ob<br />

seiner langatmigen Passagen sehr schwer lesbar und unübersichtlich. Die Handlung arrangiert sich<br />

um den Genossen Witte. Dieser, Parteiarbeiter und Gewerkschaftler im Ost-Berliner Betrieb VEB<br />

Merkur, entscheidet sich nach Schwierigkeiten mit Parteileitung und Staatssicherheitsdienst (warum?)<br />

gegen den Streik und versucht seine Kollegen ebenfalls daran zu hindern. Ohne Hilfe von<br />

„oben" irrt er, das Parteiabzeichen auf der Brust, durch jene Tage. Deutsche und sowjetische Genossen,<br />

Kumpels der Halle 7, Strichmäddien, Westler, Halbstarke auf chromblitzenden Fahrrädern<br />

und Bewohner der Gegend bilden eine lebendige Staffage. Das Geschehen, kolportagehaft aufgezeichnet,<br />

verläßt nur hin und wieder das Niveau eines Thrillers, als dessen dokumentarischer<br />

192


Anstrich die eingestreuten Reden, Ansprachen und Rundfunkansagen sowohl westlicher als auch<br />

östlicher Politiker, Kommentatoren und Nachrichtenagenturen zu werten sind.<br />

Es würde den Rahmen dieser Publikation sprengen, wollte man auf alle Banalitäten im Text<br />

eingehen, so z. B. die Liebesszene zwischen Witte und Anna im Gras des Bahndammes, dessen<br />

Schienen „zu singen begannen" oder der Tod einer West-Prostituierten am Brandenburger Tor.<br />

Hier hätte es dem Werk Heyms sicher gut getan, wenn sich das Lektorat dieses Textes angenommen<br />

und eine Straffung veranlaßt hätte. Das Buch wäre lesbarer - verständlicher geworden.<br />

Als „Wanderer zwischen zwei Welten" zeigt sich Heym, trotz aller Wertschätzung angesichts der<br />

heutigen politischen wie auch literarischen Strukturen und mitten auf der Scheidelinie von Ost<br />

und West doch überfordert, die vielschichtigen Ereignisse um den 17. Juni dem Leser überschaubar<br />

darzubringen. Er bietet eben ,nur' einen Diskussionsbeitrag. Der Zukunft und ihrer Geschichtsforschung<br />

wird es vorbehalten bleiben, den Wert dieses Beitrages herauszufinden.<br />

Claus P. Mader<br />

Uwe Bahnsen u. James P. O'Donnell: Die Katakombe. Das Ende in der Reichskanzlei. Stuttgart:<br />

Deutsche Verlags-Anstalt 1975, 437 S., Leinen, 38 DM.<br />

Boris Polewoi: Berlin 896 km. Aufzeichnungen eines Frontkorrespontenten. Aus dem Russ.<br />

2. Aufl. (Ost-)Berlin: Verlag Volk und Welt 1975. 332 S., Leinen, 7,20 M.<br />

In der Flut der Veröffentlichungen zum 30. Jahrestag des Kriegsendes ist häufig auch der Reichskanzlei<br />

mit ihren unterirdischen Bunkeranlagen gedacht worden. Für das Autorenteam Bahnsen-<br />

O'Donnell stehen dieser Bau und seine Insassen im Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Über das<br />

Leben in den Bunkeranlagen während der letzten Kriegsmonate sind allerdings insbesondere<br />

durch Autoren wie H. R. Trevor-Roper, A. Zoller und A. Speer bereits die wichtigsten Ereignisse<br />

sowie die bizarre und unwirkliche Atmosphäre dieser letzten Tage nationalsozialistischer Herrschaft<br />

bekannt geworden, daß die Vff. dazu nur noch Randbemerkungen beisteuern können. Die<br />

Detailinformationen zu ihrer Arbeit erhielten sie durch bisher kaum bekannte Augenzeugen, etwa<br />

den Chefelektriker der Reichskanzlei, Hitlers Piloten, SS-Wachmannschaften und Militärs. Die<br />

neuen Informationen können jedoch das bisher bekannte Bild vom Ende in der Reichskanzlei in<br />

wesentlichen Punkten nicht ändern. Darüber hinaus - auch dies betonen die Autoren - gelingt es<br />

nicht immer, die Augenzeugenberichte zu koordinieren.<br />

Die zweifellos interessantesten Teile dieses Buches beschäftigen sich mit den Ausbruchsversuchen<br />

einzelner Gruppen aus der eingeschlossenen Reichskanzlei. Das Ende Bormanns - ihm wurde u. a.<br />

mangelnde Kenntnis des Berliner U-Bahnnetzes bei der Flucht durch die Tunnel zum Verhängnis<br />

- ist plausibel dargestellt. Die zahlreichen Mängel dieses recht spartanisch ausgestatteten Bandes<br />

dürfen nicht verschwiegen werden. Nicht einmal ein zeitgenössischer Stadtplan war für die Autoren<br />

zu beschaffen gewesen! Zahlreiche Druckfehler verstärken den Eindruck, daß man sich bei<br />

dieser Veröffentlichung keine große Mühe gegeben hat. Das Fehlen jeglicher Anmerkungen läßt<br />

den wissenschaftlichen Wert der neuen Informationen auch etwas fragwürdig erscheinen. Auch<br />

sind die Aussagen zu Person und Bericht B. Polewois nicht zutreffend, wie die Lektüre dessen<br />

Buches „Berlin 896 km" beweist.<br />

Ganz im Gegensatz zu dem vorangegangenen Titel schreibt B. Polewoi, ein sowjetischer Frontkorrespondent,<br />

über die gleichen Ereignisse aus der Sicht der Sieger. In Episoden schildert er<br />

seine Erlebnisse während des sowjetischen Vormarsches von Moskau nach Berlin. Auch er besichtigt<br />

und beschreibt den soeben eroberten „Führerbunker" unter der Reichskanzlei. Zuvor hatte<br />

er an dem Angriff der südlich, von Zossen her, auf Berlin vordringenden Truppen teilgenommen.<br />

Nicht ohne versteckte Seitenhiebe berichtet er auch von Begegnungen mit den westlichen Verbündeten,<br />

u. a. bei Torgau und in Prag. Felix Escher<br />

Alfred Döblin: Griffe ins Leben. Berliner Theaterberichte 1921-1924, hrsg. von Manfred Beyer.<br />

Berlin-Ost: Henschelverlag 1974. 287 S., brosch., 6 DM.<br />

Wer Döblins Sprachkraft kennt, seine beißende Ironie und satirische Schlagfertigkeit anhand seiner<br />

Schriften bewundern gelernt hat, dem werden die hier gesammelten Korrespondentenberichte,<br />

die der Dichter in den Jahren 1921-1924 für das Prager Tagblatt schrieb, eine Quelle neuer<br />

Freuden sein.<br />

Bereits in seinen „Aufsätzen zur Literatur" hatte Döblin unerbittlich den bürgerlichen Theaterbetrieb<br />

samt der diesem verbundenen Kritik in seine Schranken gewiesen. In den hier vorliegenden<br />

„Theaterfeuilletons" hat er diese Grundeinsichten an zahlreichen praktischen Beispielen erläutert<br />

und daneben gleichzeitig das buntfarbige Bild vom Berliner Theaterleben in den ersten<br />

193


Jahren der Weimarer Republik Wiederaufleben lassen. Der journalistische Stil, den Döblin hier<br />

salopp handhaben darf, erhöht die Wirkung seiner Kritiken noch. Neben einem Gang durch die<br />

Berliner Theatersale werden auch immer wieder Bezüge zum Zeitgeschehen hergestellt. Döblin<br />

konnte das politische Tagesgeschehen nicht einfach vom Kulturbetrieb abtrennen. Wie eng diese<br />

Bereiche damals ineinander übergehen konnten, mögen einige Beispiele verdeutlichen.<br />

Zur Inszenierung von Schnitzlers „Professor Bernhardi" heißt es: Diese Komödie „greift munter<br />

in das hakenkreuzlerische Menschenleben - brachte es besonders im dritten Akt zu einem rauschenden<br />

Beifall, als der Augenarzt menschliches und ärztliches Gefühl gegen Parlamentarismus,<br />

Korruption und so weiter verteidigte. Die Leute applaudierten mehrmals bei offener Szene; man<br />

sage, die Berliner sind verbildet. Daß am Schluß zweier Akte aber ein Herr vortrat zu einer<br />

Ansprache für die Ruhrhilfe, gefiel mir gar nicht. Man gönne den Menschen die kurze Entrücktheit<br />

aus der ärmlichen schrecklichen Gegenwart (zwei Stunden, die sie im Residenztheater horrend<br />

bezahlen), lasse die Gefühle des Stückes sich ruhig auswirken. Diese Ansprachen sind Regiefehler."<br />

(S. 163.)<br />

Rosige Zeiten waren es in der Tat nicht! Anläßlich eines Theaterbesuches im Oktober 1923 bemerkt<br />

Döblin: „Es war mir aufgefallen, wie ich die Garderobe betrat, daß nur vier bis fünf<br />

Sachen dahingen; im Rang aber saßen mehrere Dutzend Menschen. Wo hatten sie ihre Garderobe?<br />

Als ich hinausging am Schluß, beobachtete ich die Leute. Sie gingen die Treppe hinunter;<br />

ich dachte, sie haben ihre Hüte und Mäntel unten. Nein. Sie gingen - hinaus. Sie hatten gar<br />

nichts mitgebracht. Die ganzen Scharen, Männlein, Weiblein, spazierten so! Sparten Garderobengeid.<br />

Und es - regnete." (S. 216 f.)<br />

Vierzehn Tage später - im Lessing-Theater wird Strindbergs „Rausch" aufgeführt - beschreibt<br />

Döblin selbst, wie rasch die Menschen aus der „kurzen Entrücktheit" während des Theaterbesuchs<br />

in die harte Wirklichkeit gerissen werden konnten: „Trübe Straße, da bin ich wieder.<br />

Werde wieder hell. (Aber die Straße ist nicht für lyrische Anrufe. Beim Heimgang kam ich in<br />

einen Auflauf am Straußberger Platz; da knackten sie und plünderten ein Konfektionsgeschäft.)"<br />

(S. 220.) Das politische und kulturelle Leben Berlins wird in diesen „Theaterberichten" eindringlich<br />

und anschaulich geschildert. In den wenigsten Fällen wird zuvor klar gesagt: „Kein Theaterbericht"<br />

(S. 258). Für den am schriftstellerischen Schaffen Döblins Interessierten bieten die „Theaterfeuilletons"<br />

reiches Studienmaterial. Gelegentlich geht Döblin auch auf seine eigenen Arbeiten<br />

ein. In den „Eindrücken eines Autors bei seiner Premiere" berichtet er z. B. über die Aufführung<br />

seines Stückes „Die Nonnen von Kemnade", die in Leipzig (Mai 1923) stattfand (S. 175-178).<br />

Ein Personen- und Werkregister erleichtert die Suche nach einzelnen Theaterberichten. Das Vorwort<br />

des Herausgebers liefert einen instruktiven Überblick zu diesem Band (S. 5-14).<br />

Hans Jürgen Meinik<br />

Cornelius Ryan: Der letzte Kampf. München: Droemer Knaur 1975. 416 S. mit 74 Abb. u.<br />

Karten, brosch., 9,80 DM. (Knaur-Taschenbuch Nr. 387.)<br />

Unter dem „letzten Kampf" ist die Schlacht um Berlin im April 1945 zu verstehen, und insofern<br />

ist es gerechtfertigt, daß der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt dem<br />

Buch, das er als „sehr erregend, sehr menschlich und sehr wichtig" bezeichnet, ein Geleitwort<br />

vorangestellt hat. Er knüpft an die Widmung des Buches an, die Peter Fechter gilt, der in den<br />

letzten Kriegsmonaten in Berlin geboren wurde. „1962 erschossen ihn seine Landsleute und ließen<br />

ihn an der Berliner Mauer, dem tragischen Denkmal des Sieges der Alliierten, verbluten." Hierzu<br />

Willy Brandt: „Die Mauer muß nicht nur überwunden werden, weil sie für uns Deutsche unerträglich<br />

ist. Sie muß auch überwunden werden, weil sie die großen Anstrengungen einer herausgeforderten<br />

Welt beleidigt."<br />

Cornelius Ryan wurde 1920 in Dublin geboren und starb 1974 in New York. Während des<br />

Zweiten Weltkriegs war er Kriegsberichterstatter. Er stützt seine Chronik auf umfangreiche<br />

Untersuchungen und verknüpft seine Schilderungen aus den Hauptquartieren und von den Fronten<br />

mit Episoden aus dem Leben unbekannter und bekannter Berliner, um die Authentizität des<br />

Buches zu erhöhen. So treten in Episoden Siegmund Weltlinger, Hans Rosenthal und Joachim<br />

Lipschitz auf, daneben der Pathologe Professor Rudolf Hückel, der allerdings während des Krieges<br />

nicht an der Humboldt-Universität, sondern an der Friedrich-Wilhelms-Üniversität tätig war.<br />

Ein umfangreicher Abschnitt ist auch den Deutschlandplänen der Alliierten mit ihren Überlegungen<br />

eines Berlin-Korridors gewidmet, ferner den strategischen Plänen vor allem der Westmächte<br />

im Hinblick auf Berlin, die durch die unheilvolle Überschätzung eines gar nicht existenten nationalen<br />

Bollwerks, der „Alpenfestung", geändert wurden. Der Autor ist um Wirklichkeit und um<br />

Wahrheit bemüht und frei von Vorurteilen. Wer diese schlimmen Tage miterlebt hat, wer wissen<br />

will, was es mit der Armee Wenck wirklich auf sich hatte oder wer die Leistung und das Leiden<br />

der älteren Generation aus den Seiten eines Buches ermessen will, wird zu diesem Band greifen.<br />

Selbst so vermeintlich belanglose Begebenheiten sind festgehalten worden, daß während der gan-<br />

194


zen Tage auch des Todeskampfes der Stadt elf der siebzehn Berliner Brauereien Bier herstellten.<br />

Auf der letzten Seite des Buches sind die Verluste aufgezeichnet. Die aus der Feder desselben<br />

Verfassers stammende Arbeit „Der längste Tag" über die Invasion in der Normandie ist verfilmt<br />

worden. Möge diesem Buch ein ähnliches Schicksal erspart bleiben. H. G. Schultze-Berndt<br />

Max Reinhardt: Sdiriften. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern.<br />

Herausgegeben von Hugo Fetting. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1974. 528 S. m. Abb.,<br />

Leinen, 34 M.<br />

Nachdem schon 1963 Franz Hadamowsky in Wien mit einer mustergültigen Edition von Schriften<br />

und Reden Max Reinhardts vorangegangen war, folgte nun der gleichermaßen als Herausgeber<br />

bewährte Hugo Fetting mit einer ähnlichen Publikation für die „Akademie der Künste der<br />

DDR, Sektion Darstellende Kunst". Da sie aus einer Fülle inzwischen neu erschlossener Quellen<br />

schöpfen kann, ist Fettings Sammlung erheblich umfangreicher als die seines Vorgängers, ohne sie<br />

allerdings in jeder Hinsicht zu ersetzen. Das ausgebreitete Material entstammt zum großen Teil<br />

bereits gedruckten Vorlagen (früheren Dokumentationen über Reinhardt, Zeitungsartikeln und<br />

anderen heute schwer zugänglichen Aufsätzen), zu einem beträchtlichen Teil aber auch Archiven<br />

der DDR, der Bundesrepublik und Österreichs, die unveröffentlichte Schriftstücke beisteuern und<br />

damit den Quellenwert des Bandes erhöhen konnten. Vor allem das Staatsarchiv Potsdam, die<br />

Theatersammlung der Universität Hamburg und die kürzlich verstorbene zweite Gemahlin Max<br />

Reinhardts, Helene Thimig, haben bemerkenswerte Dokumente zur Verfügung gestellt, während<br />

leider die großen Reinhardt-Archive in Binghamton (USA) und in der österreichischen Nationalbibliothek<br />

dem Herausgeber nicht zugänglich waren. Auch die West-Berliner Archive blieben ausgespart.<br />

Das Werk ist in vier Abschnitte gegliedert: Auf die biographisch-chronologische Dokumentation<br />

des Theaterpraktikers Reinhardt folgen seine theoretischen Äußerungen; daran schließen<br />

sich Stimmen seiner Mitarbeiter zu allen Aspekten seiner Theaterführung. Da bis hierher<br />

stofflich bedingte Objektivität herrscht, wurde ein vierter Abschnitt angehängt, der dem Buch den<br />

notwendigen sozialistischen Charakter verleihen soll: „Beiträge zur Max-Reinhardt-Ehrung 1973<br />

in der DDR". Fünf Persönlichkeiten aus Theaterpraxis und -Wissenschaft kommen hier zu Wort,<br />

von denen jedoch nur Dieter Hoffmeier mit seinem „Versuch über Reinhardt" einer entschiedenen<br />

Widerlegung bedarf.<br />

Die Reichhaltigkeit an kultur- und zeitgeschichtlich bedeutsamen Schrift- und Bilddokumenten um<br />

die zentrale Gestalt Reinhardts, ihre geschickte Zusammenstellung und der vorbildliche wissenschaftliche<br />

Apparat machen Fettings Publikation, die sich im übrigen auch durch verhältnismäßig<br />

gute Papier- und Einbandqualität auszeichnet, zu einem der brauchbarsten Werke in der vielbändigen<br />

Literatur zur Reinhardt-Forschung. Der Henschelverlag setzt damit die Reihe der Anthologien<br />

von Schriften hervorragender Regisseure fort, die u. a. zu Heinrich Laube, Erwin Piscator<br />

und Erich Engel bereits ausgezeichnete Editionen hervorgebracht hat und der Förderung der<br />

Theaterwissenschaft in der DDR ein gutes Zeugnis ausstellt, während im Westen gewöhnlich nur<br />

für belanglose Fotobände oder Schauspieler-Memoiren sich ein Verleger findet. Rainer Theobald<br />

Max Mechow: Berliner Studenten. Von 1810 bis 1914. Berlin: Haude und Spenersche Verlagsbuchhandlung<br />

1975. 119 S. mit Abb., brosch., 14,80 DM. (Berlinische Reminiszenzen Bd. 42.)<br />

Nachdem zu den Jubiläen Berliner Hochschulen einige Darstellungen zur Hochschulgeschichte<br />

erschienen sind, fehlte noch eine Kulturgeschichte der Berliner Studenten. M. Mechow hat sich<br />

dieser reizvollen, aber auch problematischen Arbeit angenommen und in der nun bald 50 Bände<br />

umfassenden Reihe „Berlinische Reminiszenzen" auch diesen Aspekt städtischer Geschichte beleuchtet.<br />

Neben den großen Werken zur Hochschulgeschichte und anderen einschlägigen Werken<br />

dienten ihm vor allem gedruckte Lebenserinnerungen ehemaliger Berliner Studenten als Quelle.<br />

Der Bearbeitungszeitraum reicht von der Gründung der Berliner Universität bis zum Ersten<br />

Weltkrieg. Geboten wird nicht nur eine geistesgeschichtliche Übersicht zu Lehrplänen und studentischen<br />

Vereinigungen, sondern es werden auch, je nach Vorarbeiten, Herkunft, Zahl und<br />

materielle Situation der Studierenden behandelt. Zu jedem Zeitabschnitt stellt Mechow überdies<br />

einzelne besonders hervorragende Berliner Studenten biographisch vor.<br />

Es ist natürlich, daß dem studentischen Verbindungswesen ein breiter Raum zugewiesen wird.<br />

In der jungen Berliner Universität hatten die Burschenschaften durch administrative Maßnahmen<br />

einen schweren Stand; erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. sollte sich dies ändern. Auch die<br />

gesellschaftliche Stellung der Studenten war in der Großstadt Berlin stets geringer als in den<br />

alten kleinen Universitätsstädten. So fehlten nahezu von Beginn an speziell studentische Verlockungen.<br />

Die Hochschule galt als „Arbeitsuniversität", die nach der Reichsgründung immer<br />

stärker auch von ausländischen Studenten besucht wurde. In die Zeit der Jahrhundertwende fällt<br />

auch der Anfang des Frauenstudiums.<br />

195


Eine Geschichte der Studentenschaft ist stets auch Geschichte der wissenschaftlichen, politischen und<br />

sozialen Ideen ihrer Zeit. Dies gilt nicht nur für die Reformzeit des 19. Jh., sondern gerade für<br />

die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.<br />

Hier sieht Mechow einiges wohl zu harmlos. Dies gilt etwa für die Rolle Treitschkes im Antisemitismusstreit<br />

und die in dieser Zeit beginnende Abschließung zahlreicher Studentenverbindungen<br />

gegen jüdische Studierende. Der zunehmend unkritische Nationalismus der wilhelminischen<br />

Zeit, durch die für den öffentlichen Dienst notwendige Verkoppelung von Universitätsabschluß<br />

und Reserveoffizierspatent noch verstärkt, erleichterte sicherlich den Weg in die Katastrophe. Der<br />

Erste Weltkrieg forderte dann auch einen hohen Blutzoll von den Berliner Studenten. Doch in<br />

der Universität wurde daraus nicht gelernt. Das von einem Theologen geprägte Motto des Gefallenendenkmals<br />

der Universität, von Mechow ebenfalls erwähnt, „Invictis victi vict<br />

u r i " weist die Richtung zum Zweiten Weltkrieg.<br />

Kleinere Fehler fallen hingegen kaum ins Gewicht. So handelt es sich bei dem Droysen-Biograph<br />

(S. 32) um J. Rüsen. Teilweise scheint auch die Quellenauswahl etwas einseitig: so hätte neben<br />

anderen Zitaten aus dem „Erlebten" Friedrich Meineckes über seine Zeit als Verbindungsstudent<br />

auch der sicherlich für viele seiner Kommilitonen ebenfalls geltende Satz: „Ich hatte nach der<br />

blauen Blume der Romantik gestrebt und war dabei in Auerbachs Keller geraten" Erwähnung<br />

finden können. Nicht ausreichend ist der Kollegbetrieb beschrieben. Die neben der Universität<br />

existierenden Hochschulen bleiben etwas am Rande. Felix Escher<br />

Alfred B. Gottwaldt: Eisenbahn-Brennpunkt Berlin. Die Deutsche Reichsbahn 1920-1939. Stuttgart:<br />

Franckh 1976, 112 S. mit 190 Abb., geb., 34 DM.<br />

Dem durch zahlreiche eisenbahnhistorische Arbeiten ausgewiesenen Autor ist es gelungen, durch<br />

Zusammenstellung einer langen Reihe fotografischer Reproduktionen einen längst vergangenen<br />

Zeitabschnitt aus der Geschichte des Berliner Eisenbahnwesens mit neuem Leben zu füllen.<br />

„Eisenbahn-Brennpunkt Berlin" reiht sich nicht als ein weiteres Werk bereits vorhandenen Vorgängern<br />

der gleichen Thematik an, sondern kann durch die einmalige Aussagekraft einer Vielzahl<br />

künstlerisch und technisch erstklassig gelungener Aufnahmen mit Fug und Recht eine Sonderstellung<br />

auf dem einschlägigen Sektor beanspruchen.<br />

Die behandelte Epoche bildet den Zeitraum zwischen 1920 und 1939. Der Hauptschauplatz der<br />

aufgezeigten Entwicklung ist die alte Reichshauptstadt Berlin. Vor dieser Kulisse entfaltet sich<br />

dem Betrachter das eindrucksvolle Panorama aus dem Alltag des Berliner Eisenbahn-Nah- und<br />

Fernverkehrs, sowie die Umrüstung des Stadt-, Ringbahn- und Vorortverkehrs vom Dampfbetrieb<br />

auf elektrische Zugförderung. Auch der Fernschnellverbindungen zwischen Berlin und den<br />

Großstädten im Reich mittels des „Schienenzepp" und anderer Schnellfahrtbetriebsmittel jener<br />

Zeit ist gedacht. Jede der 190 Aufnahmen wird durch einen für den Fachmann informativen,<br />

aber dem Laien dennoch verständlichen Text erläutert.<br />

Der Bildband führt uns vornehmlich in die Gegenden Berlins, in denen Gleisanlagen verlegt<br />

sind. Schon das Aufschlagen des Bandes zeigt uns - doppelseitig - das enorme Gelände des Verschiebebahnhofs<br />

Tempelhof mit seinem verzweigten Gleisnetz und einer Vielzahl von Bahnfahrzeugen<br />

aller Art. Straff geraffte textliche Erläuterungen und Werkfotos informieren den Leser<br />

über die damals im Groß-Berliner Raum angesiedelten Lokomotivfabriken. Da die Lokomotive<br />

im Bahnbereich auch visuell die tragende Rolle spielt, befaßt sich die Bildreportage besonders<br />

ausgiebig mit der Zugbespannung, wovon eine Reihe hervorragender Fotos von Hochleistungs-<br />

Dampf- und Dieselloks zeugt. Ein bebilderter Gang, beginnend auf dem Stadtbahnsektor, schließt<br />

die Berliner Fernbahnhöfe ebenso ein wie eine Reihe von Bahnbetriebswerken in den Stadtrandzonen.<br />

Der Autor hat nicht beabsichtigt, ein rein eisenbahntechnisches Referat, mit Konstruktionszeichnungen<br />

und tabellarischen Betriebsergebnissen gewürzt, zu halten, sondern ein lebenserfülltes<br />

Lokalkolorit zu zeichnen, das die Erinnerung an eine für immer geschwundene Epoche - den<br />

Dampfbahnbetrieb im Berliner Bereich - wachhalten soll. Daß ihm dieses Vorhaben aufs beste<br />

gelungen ist, beweist eine lange Reihe besonders wirklichkeitsnaher Reproduktionen. Zu ihnen<br />

gehört der jedem Alt-Berliner lebenslang vertraute Anblick von Ringbahn- und Vorortzügen<br />

bestehend aus der für diese Zugaggregate typisch gewesenen T-12-Lok mit den schwarz-weißen<br />

Richtungsschildern wie „Vollring", „Berlin, Wannseebahnhof" oder „Beelitz, Heilstätten" und<br />

den paarweise gekoppelten, dreiachsigen Abteilwagen mit den überhöhten Zugbegleiterhäuschen<br />

und den Sondersektionen „Für Reisende mit Hunden und Traglasten". Weitere, nicht weniger<br />

aussagestarke Fotos zeigen Szenen der Zugabfertigung, des Gewühls von Reisenden auf den<br />

Bahnsteigen, fauchende Loks bei der Ausfahrt aus den Bahnhöfen und auf freier Strecke dahinbrausend.<br />

Aufnahmen wie die von Bauarbeiten am Bahnkörper (Nr. 37 und 137), von Physiognomien<br />

des Zugpersonals (Nr. 62-65), der Verabschiedung eines Ferienzuges (Nr. 166) und ein<br />

Schnappschuß aus dem Mitropa-Speisewagen (Nr. 88) vermitteln dem Betrachter die Illusion, die<br />

196


Vergangenheit als handgreiflich nahe Gegenwart wiederzuerleben. Oberhaupt besitzt der Bildteil<br />

weniger durch gestellte Industriefotos als vielmehr durch zahlreiche stimmungsvolle Liebhaberaufnahmen<br />

eine besondere Atmosphäre.<br />

Dieser „Eisenbahn-Brennpunkt" ist als ein bebilderter Meilenstein im Rahmen der Geschichtsschreibung<br />

des Berliner Verkehrswesens zu betrachten. Hans Schiller<br />

Klaus Scherff: Luftbrücke Berlin. Die Dokumentation des größten Lufttransportunternehmens<br />

aller Zeiten. Mit einem Geleitwort des Reg. Bürgermeisters Klaus Schütz. Stuttgart: Motorbuch-Verlag<br />

1976. 246 S., ca. 75 Fotos, Leinen, 26 DM.<br />

Anders als die großen offiziellen Dokumentationen des Senats wendet sich dieser journalistisch<br />

aufgemachte Band an ein breites Publikum. Anlaß, Beginn, Durchführung und Ende der Versorgung<br />

einer Millionenstadt aus der Luft wird übersichtlich dargestellt. Auch persönliche Erinnerungen<br />

des Autors kommen hier zu Recht. Die etwas gekünstelten „Reportagen" hätten allerdings<br />

getrost wegfallen können. Eine Übersicht über den zeitlichen Ablauf und die eingesetzten Flugzeuge<br />

schließen den Band ab. Hervorgehoben werden muß die gute und reichliche Bebilderung.<br />

Felix Escher<br />

Dieter F. Grote: Berlin im Blickfeld der Philatelie. Bielstein (Rheinl.): Selbstverlag 1975. 138 S.<br />

mit Abb., brosch., 11,80 DM.<br />

Hier hat sich ein Berlin-Freund und zugleich engagierter Philatelist die Aufgabe gestellt, eine<br />

kleine Berlin-Geschichte, bedeutende Persönlichkeiten dieser Stadt und deren früheres und heutiges<br />

Bild in beiden Teilen anhand von Briefmarken zu belegen. Dabei schließt er auch die Berliner<br />

Verkehrsmittel ein und würdigt Ausstellungen und Tagungen, die Anlaß zur Ausgabe einer<br />

Briefmarke waren. In dem Kapitel „Berliner Briefmarkenkrieg" wird stärker auf den Bereich<br />

der Post Bezug genommen.<br />

Der Autor erweist sich als gut unterrichtet, und wenn auch der Berlin-Kenner nur sein Wissen<br />

bestätigt findet, so eignet sich der Band doch als Geschenk vor allem für (auswärtige) Berlin-<br />

Liebhaber. Vielleicht bedauert man es, daß der Philatelist etwas zu kurz kommt, da den Abbildungen<br />

der Briefmarken keine Katalognummern oder Angaben über Erscheinungsjahr, Graphiker<br />

usw. beigegeben worden sind. Dies wäre sogar in einem Anhang möglich gewesen. Wenn dieses<br />

Buch nicht nur über den Buchhandel, sondern auch über Briefmarkengeschäfte vertrieben wird,<br />

dürfte es auf diesem Umweg zahlreiche Leser finden, denen mit einer Bekanntschaft mit Berlin<br />

und seiner Problematik gedient ist. H. G. Schultze-Berndt<br />

Berlin vor hundert Jahren. Ein Bilderalbum aus der Fontane-Zeit, ausgewählt und kommentiert<br />

von Klaus J. Lemmer. Berlin: Rembrandt-Verlag 1975, 88 S. mit 88 Abb., Linson, 28,80 DM.<br />

Der Juniorchef des Verlages Rembrandt hat hier eine Auswahl bekannter und auch besonders<br />

typischer Berlin-Ansichten aus der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts zusammengestellt und mit<br />

den notwendigen Erläuterungen versehen. Es handelt sich dabei vorwiegend um Gebäude und<br />

Interieurs, gelegentlich um Szenen und Ereignisse, wie z. B. die Enthüllung der Siegessäule oder<br />

die Beisetzung Kaiser Wilhelms I. Die Vorlagen sind zumeist Stahlstiche oder Xylographien, wie<br />

sie damals in Büchern und Zeitschriften verbreitet waren und durch die künstlerische, häufig auch<br />

idealisierende Darstellung der Stadtlandschaft ihren besonderen Reiz vermitteln. Das 1883 erschienene<br />

Ansichtenwerk „Die deutsche Kaiserstadt" von Robert Springer, inzwischen eine bibliophile<br />

Kostbarkeit geworden, stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar, bevor das photographische<br />

Abbild seinen Siegeszug antritt.<br />

Berlin zwischen 1850 und 1900, zwischen Biedermeier und Kaiserglanz, zwischen Beschaulichkeit<br />

und beginnender Weltstadthektik, war eine Stadt des Umbruchs vorher nie gekannten Ausmaßes<br />

in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Der Griff in die Bildermappe der damaligen Zeit ist<br />

denn auch ebenso ergiebig wie demaskierend: die „gute alte Zeit" verfängt sich in den stillen<br />

Winkeln von gestern, allenfalls vor den Bauten des 18. Jahrhunderts, in denen Berlins architektonische<br />

„Größe" am eindrucksvollsten ist, während das neuere Stadtbild mehr von der Bewegung,<br />

der Unruhe und zunehmend auch von der Technik beherrscht wird, überschattet von der<br />

Monumentalität eines unkontrollierten Bauempfindens. Dies nur für denjenigen, der genauer hinsehen<br />

möchte und dem sich hinter den Fassaden oder Szenen mehr offenbart als nur die Atmosphäre<br />

einer versunkenen Epoche. Daß diese trotz des vereinfachenden Offsetdruckverfahrens<br />

auch zu ihrem Recht kommt, ist ein Positivum dieses Bandes, der überhaupt in seiner technischen<br />

Ausführung, ohne jedes schnörkelhafte Beiwerk, einen sehr guten Eindruck hinterläßt.<br />

Peter Letkemann<br />

197


Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

Nachstehend aufgeführte Restauflagen von Publikationen sind noch käuflich zu erwerben. Bestellungen<br />

sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten.<br />

DER BÄR VON BERLIN • Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

1951<br />

1952<br />

1953<br />

1957/58<br />

1959<br />

1960<br />

1961<br />

4,80 DM<br />

4,80 DM<br />

4,80 DM<br />

4,80 DM<br />

4,80 DM<br />

4,80 DM<br />

5,80 DM<br />

1962<br />

1963<br />

1964<br />

1965<br />

1966<br />

1967<br />

1968<br />

5,80 DM<br />

5,80 DM<br />

5,80 DM<br />

38,00 DM<br />

9,80 DM<br />

9,80 DM<br />

9,80 DM<br />

MITTEILUNGEN des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

1969<br />

1970<br />

1971<br />

1972<br />

1973<br />

1974<br />

1975<br />

9,80 DM<br />

11,80 DM<br />

11,80 DM<br />

11,80 DM<br />

12,80 DM<br />

12,80 DM<br />

12,80 DM<br />

Einzelhefte aus den verschiedenen Jahrgängen sind noch zum Stückpreis von 3,- DM erhältlich.<br />

Anfragen an die Geschäftsstelle des Vereins.<br />

SCHRIFTEN des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

Heft 59: Johann David Müller: Notizen aus meinem Leben. Preis 9,80 DM.<br />

Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing: Königin Elisabeth von Preußen. Preis 11,80 DM.<br />

Der Beitrag „Fontanes Umgang mit Bismarck" unseres verstorbenen Mitgliedes Kurt Ihlenfeld,<br />

veröffentlicht im „Bär von Berlin" 1973, wurde mit Unterstützung von Frau Ihlenfeld in kleiner<br />

Auflage als Sonderheft herausgebracht. Er kann zum Preis von 3,- DM zuzüglich Portokosten bei<br />

der Geschäftsstelle bestellt werden.<br />

Ebenso „Unser Ehrenmitglied Theodor Fontane" von Rudolf Danke zum Preis von 2,- DM.<br />

Im IL Vierteljahr 1976<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Rosemarie Cramer, Seminarleiterin i. R.<br />

1 Berlin 38, Matterhornstraße 94<br />

Tel. 8 03 67 31 (Leonore Franz)<br />

Hertha Eichhardt, Rentnerin<br />

1 Berlin 31, Cicerostraße 54<br />

Tel. 8 86 67 48 (Ilse Kabisch)<br />

Christian-Günther Frey, Fabrikant<br />

1 Berlin 47, Walkenrieder Straße 20<br />

Tel. 6 25 27 41 (Brauer)<br />

Horst Hartstock<br />

6230 Frankfurt 80, Lutherstraße 55<br />

Tel. (06 11) 39 65 05 (Schriftführer)<br />

Erhard Ingwersen, Techniker<br />

1 Berlin 65, Togostraße 39 e<br />

Tel. 4 52 39 75 (Schriftführer)<br />

Hadwig Landmann, Heimleiterin<br />

1 Berlin 33, Eberbacher Straße 4<br />

Tel. 8 21 52 44 (Schriftführer)<br />

Hugo Oberbeck, Rentner<br />

1 Berlin 48, Bahnstraße 22 (Brauer)<br />

198<br />

Anneliese Pfeiffer-Schrutek, Lehrerin i. R.<br />

1 Berlin 41, Albrechtstraße 59 b<br />

Tel. 7 96 44 96 (Rolf Pfeiffer)<br />

Jan Rickeis, Angestellter<br />

1 Berlin 45, Ostpreußendamm 24<br />

Tel. 7 72 59 41 (Schriftführer)<br />

Ferdinand Romanski, Wäschereibesitzer<br />

1 Berlin 45, Knesebeckstraße 12<br />

Tel. 8 32 66 19 (Dr. Schultze-Berndt)<br />

Günter Rutenborn, Pfarrer i. R.,<br />

Direktor des Hugenottenmuseums<br />

1 Berlin 44, Schillerpromenade 16-17<br />

Tel. 6 23 52 19 (Vorsitzender)<br />

Lilli Silbermann, Oberstudienrätin i. R.<br />

1 Berlin 28, Huttenstraße 16<br />

Tel. 4 01 14 04 (Schriftführer)<br />

Heinz Schünemann, Regierungsdirektor a. D.<br />

1 Berlin 31, Ruhrstraße 20<br />

Tel. 8 61 34 51 (Schriftführer)<br />

Jürgen Weber, Techniker<br />

1 Berlin 45, Celsiusstraße 17<br />

Tel. 7 12 89 85 (Brauer)


Studienfahrt nach Duderstadt<br />

Die diesjährige Exkursion führt vom 3. bis 5. September 1976 nach Duderstadt und in das Untereichsfeld,<br />

das auch die „Goldene Mark" genannt wird. Das Eichsfeld mit den drei Hauptorten<br />

Duderstadt, Worbis und Heiligenstadt gehörte bis zur Säkularisation politisch zum Erzbistum<br />

Mainz und ist eine katholische Enklave zwischen Thüringer Wald und Harz. Beim Wiener Kongreß<br />

wurde das Eichsfeld geteilt: das Untereichsfeld kam zum Königreich Hannover, das Obereichsfeld<br />

zur preußischen Provinz Sachsen. Seit 1945 läuft die Zonengrenze mitten durch das<br />

Eichsfeld.<br />

Das Untereichsfeld, gut zweihundert Quadratkilometer groß, wird von 40 000 Menschen bewohnt.<br />

Duderstadt erinnert mit der Fülle seiner Fachwerkhäuser an die bei früheren Exkursionen<br />

besuchten Städte Celle, Wolfenbüttel und Homburg. Das älteste Rathaus im deutschen Sprachgebiet<br />

steht in Duderstadt, einst eine „urbs opulentissima", die noch im 19. Jahrhundert ein höheres<br />

Grundsteueraufkommen hatte als Hannover.<br />

Es ist das folgende Programm vorgesehen:<br />

PROGRAMM<br />

Freitag, 3. September 1976<br />

6.30 Uhr Abfahrt von der Hardenbergstraße 32 (Berliner Bank)<br />

13.00 Uhr Besichtigung der Städtischen Brauerei Northeim<br />

Führung durch Dipl.-Br.-Ing. Klaus Thinius und einführende Worte<br />

Dr. H. G. Schultze-Berndt „Zur Geschichte des Brauwesens in Northeim".<br />

Anschließend Mittagessen<br />

17.00 Uhr Ankunft in den Hotels in Duderstadt<br />

19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen im Hotel Deutsches Haus<br />

Sonnabend, 4. September 1976<br />

9.00 Uhr Stadtrundgang unter Führung von Verkehrsdirektor Gerlach mit Besichtigung der<br />

St.-Cyriakus-Propsteikirche und St.-Servatius-Kirche<br />

Besichtigung des Rathauses mit Vortrag über die Stadtgeschichte und Besuch des<br />

Stadtarchivs (Stadtarchivar Dr. Lerch)<br />

Besichtigung des Heimatmuseums des Eichsfeldes (Museumsleiterin Frau Blaschke)<br />

12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen im Hotel Deutsches Haus<br />

14.00 Uhr Fahrt zur Rhumequelle und nach Pöhlde. Besichtigungen der Kirche (Pastor Gierth)<br />

und der Grabungen<br />

19.00 Uhr Essen und zwangloses Beisammensein im Hotel zum Löwen<br />

Sonntag, 5. September 1976<br />

10.00 Uhr Aufbruch mit Zwischenstationen in Germershausen (Wallfahrtskirche Maria in der<br />

Wiese), am Seeburger See und an den Thiershäuser Teichen<br />

12.00 Uhr Mittagessen, anschließend Rückfahrt<br />

22.00 Uhr Ankunft in Berlin<br />

Es werden keine gesonderten Einladungen verschickt, alle Interessenten aber weiter schriftlich<br />

unterrichtet. Der Kostenbeitrag beläuft sich auf 60 DM je Person und schließt die Omnibusfahrt,<br />

Eintrittsgelder und Honorare für Besichtigungen und Führungen ein. Das Städtische Verkehrsbüro<br />

Duderstadt hat vorsorglich 60 Betten reserviert und hofft, auch alle Wünsche nach Einzelzimmern<br />

befriedigen zu können. Da zwei Hauptmahlzeiten im Hotel Deutsches Haus eingenommen<br />

werden, wurden der günstigere Vollpensionspreis von durchschnittlich 34,50 DM sowie einmal<br />

Übernachtung und Frühstück zum durchschnittlichen Endpreis von 23 DM vereinbart. Für<br />

das gemeinsame Sonntagsessen im Hotel-Restaurant Rodetal, 3412 Nörten-Hardenberg, wurde<br />

ein Preis von 9 DM festgelegt (Schweinekotelett „Westmoreland" mit Sauce Robert, feinen Salaten<br />

und gebackenen Kartoffeln).<br />

Richten Sie bitte Ihre Anmeldungen formlos bis zum 25. Juli 1976 an Dr. H. G. Schultze-Berndt,<br />

Seestraße 13, 1000 Berlin 65. In gewohnter Weise werden Sie dann durch Rundsdireiben über<br />

weitere Einzelheiten einschließlich der Kontonummer für die Überweisung des Kostenbeitrags<br />

unterrichtet.<br />

199


Veranstaltungen im III. Quartal 1976<br />

1. Sonnabend, 17. Juli 1976, 10.00 Uhr: Sommerausflug nach Frohnau. Rundgang und<br />

anschließende Besichtigung des Buddhistischen Hauses. Führung durch Herrn Günter<br />

Wollschlaeger.<br />

Treffpunkt vor dem S-Bahnhof Frohnau.<br />

2. Mittwoch, 28. Juli 1976, 19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. theol. Friedrich Weichen:<br />

„Bismarck als Staatsmann und Christ".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

Im Monat August finden keine Vorträge und Führungen statt. Die Bibliothek ist<br />

zu den üblichen Zeiten geöffnet.<br />

3. 3. bis 5. September: Studienfahrt nach Duderstadt<br />

Ausführliches Programm auf der vorhergehenden Seite. Bitte Anmeldemodus beachten.<br />

4. Dienstag, 21. September 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr.<br />

Peter Bloch, Direktor der Skulpturenabteilung der Staatlichen Museen Preuß. Kulturbesitz<br />

Berlin: „Berliner Denkmäler des 19. Jahrhunderts und die dringend erforderlichen<br />

Maßnahmen zu ihrer Erhaltung".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 30. Juli, 27. August und 24. September 1976, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17.00 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt, Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

200


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A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

72. Jahrgang Heft 4 Oktober 1976<br />

DANIEL CHODÖHTECKI .<br />

201


Zwischen Rokoko und Romantik<br />

Zum 250. Geburtstag von Daniel Chodowiecki<br />

Von Walther G. Oschilewski<br />

Viele der kunst- und kulturfreudigen Berliner erinnern sich der schönen Chodowiecki-<br />

Ausstellung Ostern 1965, mit der das von dem unvergessenen Edwin Redslob gegründete<br />

Berlin-Museum in seinem ersten Domizil im „Haus am Tiergarten" eröffnet wurde. Die<br />

seit Jahren unter der umsichtigen und einfallsreichen Leitung von Frau Professor Dr.<br />

Irmgard Wirth stehenden stadtgeschichtlichen Sammlungen konnten seinerzeit bereits mit<br />

eigenen Beständen aufwarten: Es waren Teile aus der Chodowiecki-Sammlung von<br />

Friedrich Nicolai (1733-1811), die die Berliner Firma Hermann Meyer & Co. erworben<br />

und dem jungen Berlin-Museum gestiftet hatte 1 .<br />

Man hat Daniel Chodowiecki als Person und als Maler und Radierer im Zusammenhang<br />

mit der Geschichte des bürgerlichen Alltags, der Gesamtkunst des Rokoko und der Berlin-<br />

Historie immer wieder und ausgiebig geschildert und gewürdigt 2 . Dennoch wäre es ein<br />

Versäumnis, wenn nicht der Verein für die Geschichte Berlins aus Anlaß des 250. Geburtstages<br />

dieses hervorragenden künstlerischen Repräsentanten Berlins gedenken würde.<br />

Es kann sich dabei nur um einen Überblick rezeptiver Natur handeln.<br />

Daniel Nicolaus Chodowiecki, am 16. Oktober 1726 in Danzig geboren, entstammte<br />

einem ursprünglich polnischen Adelsgeschlecht. Der Vater, Gottfried Chodowiecki, betrieb<br />

einen Kornhandel, die Mutter Maria Heinrica war eine geborene Ayrer, deren<br />

Vater in Leipzig beheimatet war. Die ersten künstlerischen Anregungen erhielt der junge<br />

Daniel durch seinen zeichnerisch begabten Vater, in der Malerei wurde er frühzeitig von<br />

der Schwester seiner Mutter unterrichtet. Zunächst erlernte er den Kaufmannsberuf in<br />

seiner Vaterstadt; 1743 kam der Siebzehnjährige nach Berlin, um die Lehre in der Eisen -<br />

und Kurzwarenhandlung seines Onkels Antoine Ayrer fortzusetzen. Gemeinsam mit seinem<br />

Bruder und Lehrkollegen Gottfried wurde er hier nebenher mit Aquarellminiaturen<br />

auf Dosen beschäftigt, für die französische Kupferstiche als Vorlagen dienten. Durch den<br />

Maler Johann Jakob Haid (1704-1767), aus der berühmten Augsburger Künstlerfamilie,<br />

wurden er und sein Bruder auch in der Emailmalerei unterrichtet. Diese Tätigkeiten wurden<br />

für die beiden Brüder bald zur einträglichen Hauptbeschäftigung. Aber Daniel, der<br />

stärker Begabte, wollte höher hinaus. Die kunsthandwerkliche Brotarbeit war das eine,<br />

künstlerische Ambitionen in freier Selbstentfaltung das andere. Das Zeichnen wurde ihm<br />

zur Leidenschaft. In seinem Tagebuch schreibt er: „War ich in Gesellschaft, so setzte ich<br />

mich so, daß ich die Gesellschaft oder eine Gruppe aus derselben oder auch nur eine ein-<br />

1 Edwin Redslob: Daniel Chodowiecki, Führer durch die Ausstellung im Haus am Tiergarten.<br />

Zweite Veröffentlidiung des Berlin-Museums, Berlin 1965. - Es sei in diesem Zusammenhang<br />

auch an die Chodowiecki-Ausstellung im Märkischen Museum im Oktober/November 1926<br />

erinnert.<br />

2 Zur Literatur über Chodowiecki siehe die Berlin-Bibliographie (bis 1960), 1965, S. 154 sowie<br />

den Folgeband (1961-1966), 1973, S. 68; Ernst Wermke, Bibliographie der Geschichte von Ostund<br />

Westpreußen (bis 1929), Königsberg 1933, Nr. 13271-13283 (bes. zu Herkunft u. Familie);<br />

desgl. Bd. II f. d. Jahre 1930-1938, Aalen 1964, Nr. 6579-6586; desgl. Bd. III f. d. Jahre<br />

1939-1970, Bonn 1974, Nr. 18045-18073; ferner die Angaben in dem oben Anm. 1 genannten<br />

Ausstellungsführer. Zuletzt erschien die romaneske Biographie von Carl Brinitzer: Die Geschichte<br />

des Daniel Ch., Stuttgart 1973.<br />

202


„Le Cabinet d'un Peintre" — Das Familienblatt des Künstlers, 1771<br />

zige Figur übersehen konnte, und zeichnete sie so geschwind oder auch mit so vielem<br />

Fleiß, als es die Zeit oder auch die Stetigkeit der Personen erlaubte. Bat niemals um<br />

Erlaubnis, sondern suchte es so verstohlen wie möglich zu machen; denn wenn ein Frauenzimmer<br />

(oder auch zuweilen Mannspersonen) weiß, daß man's zeichnen will, so will es<br />

sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird gezwungen . . . Was habe ich<br />

da zuweilen für herrliche Gruppen mit Licht und Schatten, mit allen den Vorzügen, die<br />

die Natur, wenn sie sich selber überlassen ist, vor allen den so gerühmten Idealen hat,<br />

in mein Tagebuch eingetragen! Auch des Abends bei Licht habe ich das oft getan ... Ich<br />

habe gehend, stehend, reitend gezeichnet; ich habe Mädchen im Bette in allerliebsten, sich<br />

selbst überlassenen Stellungen durchs Schlüsselloch gezeichnet." 3<br />

Angesichts dieser natürlichen und ungezwungenen Einstellung zu den Objekten denkt<br />

man unwillkürlich an Heinrich Zille, der mit gleicher Objektivation, wenn auch in einem<br />

anderen Milieu, zu einem kongenialen Umwelt- und Sittenschilderer Berlins wurde.<br />

Chodowiecki ging es um Wirklichkeitstreue, in der das Manirierte, die Idealisation keinen<br />

Platz hatte. Das entspricht sicher nicht unseren heutigen Vorstellungen, die in der Ver-<br />

3 Zit. nach Wolfgang v. Oettingen: Daniel Chodowiecki. Ein Berliner Künstlerleben im 18. Jh.<br />

Berlin 1895 (Das Tagebuch). - Chodowieckis Autobiographie ist als Ganzes unveröffentlicht.<br />

203


deutlichung des Gegenwärtigen auch das Hintergründige, das Transzendente als autonome<br />

Elemente einbeziehen, nur sollte man dabei bedenken, daß das vor über 200 Jahren<br />

geschah. Da gab es noch keinen Klee, keinen Bellmer, Janssen, Altenbourg, und es<br />

konnte sie nicht geben. Daniel Chodowiecki war und ist der Entdecker und Schilderer<br />

des bürgerlichen Alltags, ein poetischer, empfindsamer, unkonventioneller Realist zwischen<br />

Rokoko und Romantik, jener denkwürdigen Phase am Ende des galanten Jahrhunderts,<br />

aber eben kein präsumtiver Vertreter des Zopfstils, obgleich er auch viele<br />

Zöpfe gemäß dem Stil der Zeit zeichnete.<br />

Um auf Chodowieckis Jugendentfaltung zurückzukommen, soll daran erinnert werden,<br />

daß er sich auch der Ölmalerei zuwandte. 1754 ging er zu Bernhard Rode (1725-1797) 4 ,<br />

der sich von dem nach Berlin als Hofmaler berufenen Franzosen Antoine Pesne ausbilden<br />

ließ, in die Schule. Akt war ein Thema in Rodes damaliger Privatakademie, und man<br />

konnte die Brüste- und Popomalerei recht und schlecht erlernen, das war aber auch<br />

alles. Chodowiecki versuchte sich in der Genre-, Historien-, Gesellschafts- und Bildnismalerei<br />

- aber doch ohne großen Erfolg. Hier und dort sind Boucher und Watteau Vorbilder;<br />

Stiche nach Gemälden von Boucher kopierte er sogar überflüssigerweise mit Feder<br />

und Tuschpinsel. Dennoch war er mit Bernhard Rode und Johann Christoph Frisch<br />

(1738—1815) 5 einer der ersten Historienmaler, die das Realistische betonten, eigentlich<br />

auch der Stammvater des „Berliner Realismus".<br />

Chodowieckis eigentliches Feld blieb aber die Radierung, mit der er 1756 begann. Sein<br />

Mentor war Johann Wilhelm Meil (1733-1805), der Meister der zarten Titelblätter und<br />

Vignetten im französischen Rokokogeschmack. Von ihm besitzt das Berlin-Museum über<br />

1100 Arbeiten. Chodowiecki wohnte damals in dem Rollet'schen Hause in der Brüderstraße,<br />

das in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die Nr. 7 trug 0 . Ein Jahr vor Beginn<br />

seiner Tätigkeit als Radierer ehelichte er die aus einer Berliner Hugenottenfamilie stammende<br />

Jeanne Barez, Tochter eines angesehenen Gold- und Silberstickers. Chodowieckis<br />

zweite Wohnstätte befand sich seit 1777 im Barez'schen Hause in der Behrenstraße<br />

(seinerzeit Nr. 31). Im Oktober 1772 hatte er als Hypothekengläubiger das Grundstück<br />

Nr. 57 in der Großen Frankfurter Straße für 2500 Taler erworben, aber nie dort gewohnt.<br />

Mit seinen Radierungen beweist sich Chodowiecki trotz seines polnischen Familiennamens<br />

als ein bedeutender Künstler von unverkennbar norddeutscher Art 7 , der es durchaus mit<br />

den besten Sittenschilderern Frankreichs, sei es nun Fragonard, Laueret oder Debucourt<br />

und Moreau, aufnehmen konnte. Aus Frankreich kam seinerzeit auch die Mode der<br />

künstlerisch gestalteten Almanache und Kalender nach Deutschland. In diesem publizistischen<br />

Bereich fand Chodowiecki sein eigentliches Betätigungsfeld als Illustrator. Da war<br />

zunächst der Berliner „Historisch-Genealogische Kalender", den die Königliche Akademie<br />

der Wissenschaften alljährlich herausgab. Hierfür hat er von 1768 bis zu seinem Todesjahr<br />

1801 viele Bildbeilagen geschaffen. Diese Illustrationen standen nicht immer in unmittelbarem<br />

Zusammenhang mit dem Text des Kalenders, es waren oft selbständige,<br />

1 Thieme/Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd. 28, Leipzig 1934, S. 455 ff.<br />

•"' Thieme/Becker, a. a. O. Bd. 12 (1916), S. 491 ff.<br />

• Das Entree dieses Hauses zeigt die erste Zeidinung (Absdiiedsszene) von Chodowiedcis Reiseskizzen<br />

„Von Berlin nach Danzig", 1773 (siehe unten Anm. 8).<br />

' Chodowiedci - Zwischen Rokoko und Romantik. Mit 76 Abb. Ausgew. u. eingel. von E. W.<br />

Bredt, München o. J. (1918), S. 6.<br />

204


höchst subtile Bildberichte zur Geschichte Brandenburg-Preußens und zur Geschichte<br />

Friedrichs des Großen. Darüber hinaus arbeitete er über drei Jahrzehnte für den „Gothaischen<br />

Hof-Kalender", den „Göttinger Taschen-Kalender" und für ähnliche Publikationen<br />

seiner Zeit.<br />

Viele Stiche zur Literatur Deutschlands, aber auch des Auslands (Ariost, Rasender<br />

Roland; Cervantes, Don Quichote; Goldsmith, Landprediger u. a.) bezeugen die künstlerische<br />

Essenz seiner enormen Wahrnehmungen. Mit genialer Naivität und mit dem ihm<br />

eigenen Sinn für das Wesentliche hat er die literarischen Folien in bewegte Szenerien<br />

umgesetzt. So bei dem berühmten Zyklus zu Lessings „Minna von Barnhelm" vom Jahre<br />

1769, in den acht Kupfern zu Gottfried August Bürgers „Gedichten" (1778), in Claudius'<br />

„Sämtliche Werke des Wandsbecker Bothen" (1775 ff.), in Goethes „Schriften" (1775 bis<br />

1779) und in der Ausgabe von 1787-1790, in Schillers „Historischem Kalender für Damen<br />

für die Jahre 1791 bis 1793" und mit den vier Trachtenkupfern zu Lichtenbergs<br />

„Vermischten Schriften" (1800-1806). Für Lavaters „Physiognomische Fragmente" (1775<br />

bis 1778) schuf er viele Tafeln, und für Basedows, vom Geiste Rousseaus durchwirktes<br />

dreibändiges „Elementarwerk" hat er, neben sechs selbstradierten Kupfern, von den<br />

hundert Tafeln zwei Drittel Zeichnungen in Tusche und Feder als Vorlagen beigesteuert.<br />

Das Allegorische und Mythologische, das verlangt wurde, lag ihm weniger, jedenfalls<br />

fehlte ihm hierfür die größere Erfindungskraft. Die „Spannbreite" seiner Themen ist erstaunlich:<br />

sie reicht von Modekupfern bis zu Theater- und Arbeitsdarstellungen. Zu den<br />

schönsten Arbeiten gehören wohl die Kupferstichfolge mit den zwölf verschiedenen Arten<br />

205


von Liebes- und Heiratsanträgen im „Göttinger Taschen-Kalender" vom Jahr 1781 und<br />

die brillanten 108 Tafeln seiner Reise „Von Berlin nach Danzig", 1773 8 .<br />

Als Berliner liebt man das Berlinische. Nun, im Hinblick auf Chodowieckis Werk, vergegenwärtigt<br />

der allergrößte Teil seiner über 2000 Radierungen (davon 170 Einzelblätter),<br />

der Gemälde und der Handzeichnungen Leben und Menschen der preußischen<br />

Hauptstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es gibt aber auch nicht wenige<br />

Kostbarkeiten, die unsere Stadt topographisch erfassen. Es sei nur auf die Bleistiftzeichnung<br />

„Die Kirche in Pankow", auf die Radierungen „Das [alte] Brandenburger Tor"<br />

(1764), „Zu den Zelten im Tiergarten" (1772), von der es auch eine ölarbeit gibt, und<br />

auf die „Wallfahrt nach Französisch Buchholz" (1775) hingewiesen.<br />

Im Zeitgenössischen war Chodowiecki stets gegenwärtig. Sein Werk präsentiert als Ganzes<br />

gesehen einen bürgerlichen Kosmos, der sowohl individuelle und gesellschaftliche<br />

Bezüglichkeiten als auch Begrenztheiten des Gesellschaftlichen sinnbildlich verdeutlicht.<br />

Vieles ist naturgemäß sehr preußisch (nicht nur im Motiv), eine Bilderwelt der friderizianischen<br />

Metropole und des geistigen Deutschland, wobei auch das politische Leben jener<br />

Zeit nicht ausgespart wurde. Eine seiner ersten Radierungen „Lesender Bauer", noch ganz<br />

dem Formwillen des Barocks verhaftet, ist ein Beispiel dafür.<br />

Zweifellos dominiert bei Chodowiecki das Rokokohafte mit seinem intimen, liebenswürdig-sinnlichen<br />

Reiz, mitunter erfüllt von Mozartschen Melodien. Mutterwitz vermischt<br />

sich mit Grazie, Drolerie mit sibyllinischer Hintergründigkeit. Der Kammerton<br />

überwiegt, aber es gibt auch eine Unmenge von faszinierenden Blättern voll praller, dramatischer<br />

Realistik. Die Kaltnadel-Radierung beherrscht Chodowiecki ebenso meisterhaft<br />

wie die Aquatinta-Technik mit ihren tonigen Wirkungen und den immer wieder verblüffenden<br />

Hell-Dunkel-Effekten.<br />

In Berlin war Daniel Chodowiecki eine stadtbekannte Persönlichkeit von europäischem<br />

Ansehen. 1764, schon nach seinen frühen geätzten Drucken, wurde er Mitglied der Akademie<br />

der bildenden Künste, 1788 ihr Vizedirektor, 1797, als Nachfolger von Bernhard<br />

Rode, Direktor. Kaum vier Jahre später, am 7. Februar 1801, starb er an den „Folgen<br />

eines Schlagflusses" (Ferdinand Meyer). Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem 1780<br />

angelegten Friedhof der Französischen Gemeinde in der Chausseestraße (heute Nr. 127)<br />

vor dem damaligen Oranienburger Tor 9 .<br />

Der Göttinger Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) nannte ihn einen „Seelenmaler",<br />

was er im „bürgerlichen" Sinne wohl auch war, aber seine Berühmtheit gewann<br />

er als einer der großen Charakterzeichner des 18. Jahrhunderts.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 37, Am Fischtal 19<br />

8 Daniel Chodowiecki: Von Berlin nadi Danzig. Eine Künstlerfahrt im Jahre 1773. 108 Facsimiledrucke<br />

nach den in der Kgl. Akademie der Künste zu Berlin aufbewahrten Originalzeidinungen<br />

hrsg. vom Verlag Amsler & Ruthardt, Berlin o. J. (1883). Nachdrucke, z.T. mit Erläuterungen<br />

und dem Text aus Chodowieckis Reisetagebuch, erschienen u. a. 1923, 1937 und 1973.<br />

8 Ferdinand Meyer, einst Hauptschriftwart des Vereins für die Geschichte Berlins, schreibt in<br />

seinem Chodowiecki-Buch (Berlin 1888, S. 109), daß das Grabmal „im Laufe von fast neun<br />

Jahrzehnten verschwunden" sei. Prof. Dr. Paul Ortwin Rave suchte Grab und Grabstein vergeblich.<br />

Willi Finger-Hain fand den kleinen Grabstein zufällig im Mittelgrund des Friedhofes<br />

vom Haupteingang rechts. Eine Abbildung zeigt er in seinem Buch: „Gräber unserer Großen<br />

in Berlin", Flensburg o. J. (1965), S. 27 vor der Erneuerung nach 1960.<br />

Bildnachweis: Titelbild: Punktierstich von Mcno Haas, Berlin 1799. Originalgröße (Geh. Staatsarchiv<br />

Berlin); Seiten 203 u. 205 nach Vorlagen aus Privatbesitz bzw. bei Ferdinand Meyer,<br />

Daniel Chodowiecki, der Peintre-Graveur, Berlin 1888.<br />

206


Adolph Donath in Berlin<br />

Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages<br />

Von Dr. Ernst G. Lowenthal<br />

„Der Berliner Kaufmann als Kunstfreund" lautet der Titel der heute noch lesenswerten,<br />

reich illustrierten Darstellung, die Adolph Donath im Jahre 1929 in der prächtig ausgestatteten<br />

Jubiläumsschrift des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller anläßlich<br />

des 50jährigen Bestehens dieser Organisation veröffentlichte („Berlins Aufstieg zur Weltstadt",<br />

Verlag Reimar Hobbing, Berlin 1929). Der 9 Dezember 1976 erinnert an diesen<br />

Kunstschriftsteller und Kunstmarktkenner, der an diesem Tage vor 100 Jahren in Kremsier<br />

(Mähren) geboren wurde. Aber die Blütezeit seines Lebens verbrachte er in Berlin.<br />

Als Emigrant starb er 1937 in Prag.<br />

Nach Studien in Wien hatte Donath an der dortigen „Neuen Freien Presse" begonnen,<br />

aber schon damals fand er die Verbindung zu deutschen Zeitungen. So kam es, daß er<br />

1905 der Kunstkritiker der „B.Z. am Mittag" wurde. Ein Jahrzehnt übte er diese Tätigkeit<br />

aus und wechselte sodann zum „Berliner Tageblatt" über, um über die Ereignisse<br />

auf dem Kunstmarkt zu berichten und 1928, nach dem Tode von Dr. Fritz Stahl, das<br />

gesamte Kunstressort dieser großen Zeitung zu übernehmen. Daneben war er, seit dem<br />

Ende des Ersten Weltkrieges, der Herausgeber der auf dem Gebiet des Kunstmarkts und<br />

des Sammlerwesens maßgebenden Halbmonatsschrift „Der Kunstwanderer" (die er in der<br />

Emigration erneut ins Leben rufen konnte). 1933 konnte er sich in sein Heimatland nach<br />

Prag retten, wo er, ungeachtet schwerer Krankheit, noch eine Zeitlang weiterarbeitete.<br />

Es muß ihm eine besondere Genugtuung gegeben haben, daß sein Opus „Wie die Kunstfälscher<br />

arbeiten" noch 1937 in Prag herauskommen konnte. Sein breites Fachwissen und<br />

seine Erfahrungen von 40 Jahren hatten ihn zur Abfassung dieses Werkes befähigt; es<br />

reihte sich würdig an seine früheren Bücher wie „Die Psychologie des Kunstsammeins"<br />

(1911), „Die Technik des Kunstsammeins" (1925) und an das von ihm herausgegebene<br />

„Jahrbuch für Kunstsammler" an.<br />

„Kunstkritik ist Sache der Erfahrung und des Gewissens. Zum Komplex ,Gewissen' gehört<br />

auch die Andacht vor dem ernsten Schaffen." Dieses ebenso überzeugende wie verpflichtende<br />

Bekenntnis schrieb Donath in das Stammbuch des Presseball-Almanachs von<br />

1930, dem das hier beigefügte Porträt entnommen ist.<br />

Kein geringerer als sein etwas älterer Fachkollege, der Kunst- und Kulturhistoriker<br />

Dr. Max Oshorn (1946 in New York gest.), der übrigens zu der erwähnten Jubiläumsschrift<br />

den Hauptteil beisteuerte, hat Adolph Donath wiederholt nachgerühmt, daß er im<br />

Bereich der Kunst als solcher und namentlich in der Kunsthändler- und Sammlerwelt<br />

„unheimlich" Bescheid wußte. Seine Kenntnisfülle und Urteilsreife zeigen sich allein<br />

schon in der in der Form äußerst knappen, aber in der Sache ergiebigen und dazu mit<br />

vielen kleinen Geschichten ausgeschmückten Berlin-Studie. Zeitlich beginnend mit dem<br />

Großen Kurfürsten und endend mit den Fayencesammlungen Berliner Kaufleute Mitte<br />

der zwanziger Jahre, vermittelt sie einen Einblick in das Berliner Kunstsammlerwesen<br />

und dessen Aufschwung vor allem im ersten Viertel unseres Jahrhunderts. Vorher gab es<br />

nur schwache Ansätze, repräsentiert beispielsweise durch Johann Ernst Gotzkowsky, den<br />

„patriotischen Kaufmann", durch den Konsul Wagner, der 1876 den Grundstock der<br />

207


Nationalgalerie gab, den Bankier Michael Wolff und Mitglieder der Familie Mendelssohn.<br />

Nach dem Kriege von 1870/71 war es (laut Donath) Dr. Wilhelm v. Bode, ein „Menschenfänger",<br />

wie ihn Wilhelm Waetzoldt an seiner Bahre rühmend-scherzhaft charakterisierte,<br />

der es verstand, die privaten Kunstsammler für die Berliner Museen zu interessieren.<br />

Als 1883 in der Akademie der Künste eine erste Ausstellung aus Berliner Privatbesitz<br />

stattfand, zählte man unter den rund 50 Leihgebern etwa 20 aus der Kaufmannschaft<br />

(so Otto Pein, Karl von der Heydt, Wilhelm Gumprecht, Oscar Hainauer). Sammler<br />

großen Stils waren Geheimrat Eduard Arnhold (1849-1925), besonders an zeitgenössischer<br />

Malerei interessiert, der Chemie-Industrielle Professor Dr. Ludwig Darmstädter<br />

(1846-1927), der Porzellane und Autographen sammelte, und Konsul Georg Jacoby<br />

(1921 gest.), der auf Japankunst spezialisiert war. Aus einer Fülle persönlicher Erinnerungen<br />

und Beziehungen schöpfend, erinnert Donath da auch an den Uhrensammler Carl<br />

Marfels, an die reichen Sammlungen von Rudolf Mosse, die er in vielen Einzelheiten<br />

beschreibt, an Carl von Hollitscher (Rembrandt, Franz Hals), an Oskar Huldschinsky,<br />

an die Graphiksammlung des Fabrikanten Paul Davidsohn, die Gläsersammlung von<br />

Kommerzienrat ]acques Mühsam und andere mehr. Am Ende des Berlin-Aufsatzes beschäftigt<br />

sich Donath mit den Beständen und dem Schicksal der Privatsammlungen des<br />

208


Geheimen Kommerzienrats Dr. Eduard Simon und von Dr. h. c. James Simon (1851 bis<br />

1932), den er als den „gesteigerten Typus des patriotischen Kaufmanns" bezeichnet.<br />

Angesichts der Tatsache, daß so viel menschliches Leben der Verfolgung durch die Nationalsozialisten<br />

und dem Krieg zum Opfer gefallen und so viel wertvolles Kunstgut in<br />

jener Zeit untergegangen ist, kommt Adolph Donaths kleinem Berlin-Kompendium, zumal<br />

es überdies manche nützliche Information über Künstler, Kunsthändler und Kunstwerke<br />

bietet, größere Bedeutung zu, als man jemals vorausahnen konnte. Auch aus solchen<br />

Erwägungen verdient das Zentenarium des Autors an dieser Stelle Erwähnung.<br />

Karl Schmidt-Rottluff<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 37, Kaunstraße 33<br />

Zum Tode des großen Künstlers, Mäzens und Berliner Ehrenbürgers<br />

Von Günter Wollschlaeger<br />

Fast 92 Jahre alt geworden, ging in den frühen Morgenstunden des sonnigen 10. August<br />

dieses Jahres einer der großen Maler unseres Jahrhunderts von uns, den Leopold Reidemeister<br />

in seinem Nachruf so treffend charakterisiert hatte: „Verfemt oder geehrt, er<br />

blieb, der er war, der unbestechliche, nur aus dem inneren Wachstum wandelbare Künstler."<br />

Karl Schmidt, der sich ab 1905 nach seinem Heimatort benannte.<br />

Der am 1. Dezember 1884 in Rottluff in der Nähe des damaligen Chemnitz geborene<br />

junge Architekturstudent erkannte schon mit 21 Jahren seine wahre Berufung in Neigung<br />

und Leidenschaft zur Malerei. Mit seinen ihr ebenfalls verfallenen Freunden und Kommilitonen<br />

der Dresdner Technischen Hochschule Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner und<br />

Erich Heckel - die gegenseitigen Begegnungen und Bekanntschaften datieren teilweise<br />

schon aus dem Jahre 1902 - gründet er voll jugendlichen Feuers am 7. Juni 1905 die<br />

Künstlergemeinschaft „Brücke", die - daher der Name - die im allgemeinen noch immer<br />

in überlebten Konventionen verhaftete Malerei und darüber hinaus mit ihr die deutsche<br />

Kunst in die Moderne führen sollte.<br />

„Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der<br />

Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt,<br />

wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen<br />

älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt,<br />

was ihn zum Schaffen drängt." Kein künstlerisches Programm im engen Sinne, eher ein<br />

leidenschaftlicher Aufruf von Jugend zu Jugend, sich aus akademischen Traditionen zu<br />

lösen, sich endlich freizumachen von den überkommenen Schematismen, von einer bindenden,<br />

in die Sackgasse führenden Endgültigkeit. Aber schon dieses von Ernst Ludwig<br />

Kirchner in Holz geschnittene Postulat der Gruppe, das 1906 veröffentlicht wurde, verrät,<br />

was sieben Jahre später zu ihrer Auflösung führen sollte: Die künstlerische Individualität<br />

des einzelnen stand höher als die Gemeinschaft. Schmidt-Rottluff, Kirchner und<br />

Heckel wurden hierbei die Wegweiser einer neuen Kunstrichtung, der als „Deutscher<br />

Expressionismus" internationale Geltung erlangen sollte. Wie von selbst ergab sich die<br />

Verwandtschaft mit den französischen Fauves, die unter den gleichen Einflüssen standen:<br />

209


van Gogh, Gauguin, den Neo-Impressionisten und der afrikanischen und ozeanischen<br />

Plastik, nur Munchs Einwirkung fehlt. Von ihnen standen van Dongen und Vlaminck<br />

den Brücke-Malern am nächsten, die auch deren dritter Ausstellung im Juni 1908 im<br />

Dresdner Kunstsalon Richter teilnahmen. In leuchtend intensiven Farben entwickelte<br />

sich jener ausdrucksstarke, harte Stil schroffer, eckiger Konturen, den Karl Schmidt-<br />

Rottluff am kraftvollsten vertrat. Wuchtig und grell monumentalisierte er vereinfachte<br />

Naturformen. Diese radikale Formvereinfachung und die Farbreduzierung auf ungebrochene<br />

Töne bildeten die Antwort auf den Impressionismus. Trotzdem standen, wie auch<br />

bei den anderen Brücke-Malern, psychologischer Sinn, Thema und Inhalt der Schöpfungen<br />

über allem.<br />

In der groben Eckigkeit der Formen ließ sich die Künstlergruppe ebenfalls den Holzschnitt<br />

angelegen sein und erreichte auch hier durch die Vereinfachung der Zeichnung<br />

großartige Kontraste.<br />

Man arbeitete zunächst gemeinsam in der Unterkunft Kirchners, im Atelier Heckeis,<br />

einem ehemaligen Laden in Dresden-Friedrichstadt, und im Lüttichaupalais bei Fritz<br />

Bleyl.<br />

Im Jahre 1906, als die erste Wanderausstellung der „Brücke" in der Braunschweiger<br />

Kunsthandlung Dörbrandt eröffnet wird, gewinnt Schmidt-Rottluff Emil Nolde, mit<br />

dem er im Herbst zusammen auf Alsen malt, für die Gemeinschaft. Auch Hermann Max<br />

Pechstein wird durch die Bekanntschaft mit Heckel auf der Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung<br />

in Dresden jetzt Mitglied der „Brücke". Im Sommer 1907 weilt<br />

Schmidt-Rottluff zum ersten Mal in Dangastermoor am Jadebusen, wo er auch in den<br />

kommenden Jahren den Sommer über malen wird, und reist als Mitglied der Vereinigung<br />

Nordwestdeutscher Künstler im Spätherbst nach Worpswede, dem Malerdorf in der<br />

Nähe Bremens. Zwei Aufenthalte in Berlin rahmen im übernächsten Jahr gewissermaßen<br />

die Monate an der See; im März 1909 besucht er in Begleitung der Kunsthistorikerin<br />

Rosa Sckapire, die er vor drei Jahren in Hamburg kennengelernt hat, die Marees-Ausstellung<br />

der Berliner Sezession und sieht sich im November bei Cassirer Cezanne an.<br />

1910, in dem Jahr, in dem die „Brücke" der unter dem Vorsitz von Pechstein in Berlin<br />

gegründeten „Neuen Sezession" beitritt, sich an ihren Ausstellungen beteiligt, und Otto<br />

Mueller Freundschaft mit Heckel und Kirchner schließt und Mitglied der Gruppe wird,<br />

arbeitet in Dangast die Oldenburger Malerin Emmy Ritter gemeinsam mit Schmidt-<br />

Rottluff.<br />

Stolz auf ihre Erfolge, siedelt die „Brücke" im Herbst des nächsten Jahres nach Berlin<br />

über: Ernst Ludwig Kirchner nach Wilmersdorf in die Durlacher Straße 14, in das Haus,<br />

in dem auch Pechstein bis zu seiner Heirat wohnt; Erich Heckel übernimmt nach dessen<br />

Umzug in die Hewaldstraße das ehemalige Atelier Otto Muellers in Steglitz in der<br />

Mommsenstraße 60, der heutigen Markelstraße, und Karl Schmidt-Rottluff mietet sich<br />

in Friedenau ein, in der Niedstraße 14, in einem Haus, dessen Bau im Gründungsjahr<br />

der „Brücke" begonnen worden war, in unmittelbarer Nachbarschaft des Marinemalers<br />

Hans Bohrdt, dessen kleines Haus heute von Günter Grass bewohnt wird. Auch Pechstein<br />

zieht nach Friedenau um, in die Offenbacher Straße 1. In Kontakt mit Herwarth<br />

Waiden, der sich mit Zeitschrift und Galerie „Sturm" für alle ihm bedeutungsvoll erscheinenden<br />

Talente einsetzt und auch die Dresdner Maler ausstellt, wandelt sich ihr<br />

Ausdruck. Sicher unter Einwirkung des Kubismus gestalten sie ihre Kompositionen in<br />

stärkerer Betonung der Geometrie konstruktiver als bisher.<br />

210


Foto: Hans Kinkel<br />

(Brücke-Museum,<br />

Bildarchiv)<br />

In Berlin arbeiteten damals viele europäische Künstler. Hier zu leben, hier zu malen und<br />

hier auszustellen, hieß Impulse zu empfangen, Anerkennung zu erhalten, Freunde zu<br />

gewinnen, bekannt zu werden und vielleicht letztlich auch Erfolg zu haben. Den Dresdnern<br />

war er beschieden.<br />

Schon seit dem Sommer 1907 verband sie - wie schon erwähnt - nur locker die Zusammengehörigkeit.<br />

Sie stellten zwar als Gruppe aus (Schmidt-Rottlufj hatte übrigens den<br />

Namen „Brücke" gefunden), sie gaben gemeinsam ihre Grafikmappen heraus, doch in den<br />

Sommermonaten malten sie - wie Schmidt-Rottluff von Anfang an - meist allein oder<br />

zu zweit, von gegenseitigen Besuchen abgesehen, an der Nord- und Ostsee oder in der<br />

Umgebung Dresdens. Schon ab 1909 enthielten auch die Mappen nur Grafiken eines einzelnen<br />

Mitglieds. Jetzt, hier in Berlin, trennen sie ihre verschiedenen Bindungen an<br />

Architekten, Kunsthändler, Museumsdirektoren oder private Sammler noch mehr. 1912<br />

stellt die Gruppe in der Galerie Fritz Gurlitt aus, und Karl Schmidt-Rottluff schafft für<br />

die Kapelle der Sonderbundausstellung in Köln in getriebenem Messing die reliefierten<br />

Köpfe der vier Evangelisten. Meinungsverschiedenheiten mit Pechstein kommen auf und<br />

im Mai 1913 löst sich die „Brücke" auf, weil eine von Kirchner für die fördernden Mitglieder<br />

verfaßte „Chronik der Künstlergruppe Brücke" nicht die Zustimmung der an-<br />

211


deren findet. Jeder Künstler hatte seine eigene Individualität bewußter entwickelt und<br />

wollte sie wahrscheinlich auch weiterhin intensiver geltend machen. Aber die Freundschaft<br />

untereinander blieb.<br />

Schmidt-Rottlujf verbringt den Sommer 1913 auf der Kurischen Nehrung in Nidden und<br />

reist über die Masurischen Seen nach Berlin zurück. Den Kriegsausbruch 1914 kurz nach<br />

dem Tod des Vaters erlebt er in Hohwacht zwischen Kiel und der Insel Fehmarn. Dieser<br />

Sommer schlägt sich in schweren, melancholischen Bildern nieder. 1915 wird er eingezogen.<br />

Nach den Kriegsjahren an der Ostfront heiratet er 1918 die Fotografin Emy Frisch aus<br />

Chemnitz; ihre und Kirchners Eltern wohnten im selben Haus. 1919 arbeitet er wieder<br />

an der Hohwachter Bucht. Höhepunkt seines Schaffens bildet jetzt die Grafik mit der<br />

Reduzierung auf Elementarformen. Er lehnt die Berufung an das Bauhaus ab und bleibt<br />

in Berlin. Ab 1923 findet er - mehr unter dem Einfluß der beiden sächsischen Bildhauer<br />

Georg Kolbe und Richard Scheibe, mit denen er in diesem Jahr nach Italien reist, als<br />

unter der Einwirkung der Malerei der Neuen Sachlichkeit, die ihm nicht liegt - zurück<br />

zur Naturnähe. Stärker konturierte Kurven lösen die eckigen Formen ab, der Stil wird<br />

sich beruhigen. Der Frühling des nächsten Jahres sieht ihn mit Georg Kolbe in Paris.<br />

1925 weilt er in Dalmatien und in den April-Monaten der Jahre 1928 und 1929 holt er<br />

sich neue Schaffenskraft im Tessin, dessen einsame Bergwelt nun in seinen künstlerischen<br />

Motivbereich einzieht.<br />

Als Studiengast der Villa Massimo in Rom durchwandert er im nächsten Jahr antike<br />

Stätten, er malt die Villa Hadriana und in der Campagna di Roma interessieren ihn die<br />

alten römischen Aquädukte. Dann, 1931, verbringt er den elften und letzten Sommer in<br />

Jershöft in Pommern. Die Preußische Akademie der Künste trägt ihm die Mitgliedschaft<br />

an, aber schon vier Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, im Mai<br />

1933, wird ihm der Austritt nahegelegt. Er vollzieht ihn ohne Umschweife. Die Jahre<br />

als „entarteter Künstler" beginnen, er wird diffamiert und verleumdet. Von 1932 bis<br />

1943, wiederum elfmal, verlebt er den Frühling im Taunus, den Sommer und Herbst<br />

dann am Lebasee in Pommern. In diesen dreißiger Jahren stilisiert er die Landschaften<br />

weniger, legt sie aber bei klarem Bildaufbau monumentaler an als früher. Großflächig<br />

formt er die Gegenstände. Insgesamt 608 Stück seiner Schöpfungen werden ab 1937 in<br />

Museen beschlagnahmt. Vier Jahre später schließt ihn die „Reichskammer der bildenden<br />

Künste" zusammen mit Nolde aus. Damit verliert er seine Existenz, denn das Berufsverbot<br />

wird polizeilich kontrolliert. Im folgenden Sommer - man schreibt nun das<br />

Kriegsjahr 1942, und die 6. Armee stürmt ihrem Untergang in Stalingrad entgegen - verbringt<br />

er auf Einladung des Grafen von Moltke einige Monate sorgenfrei malend auf<br />

dessen Stammgut Kreisau. In nicht allzu ferner Zeit wird der britische Luftmarschall<br />

Harris seine Bomberverbände verstärkt gegen Berlin einsetzen und inmitten des Widerscheins<br />

einer grausamen, ganze Wohnviertel vernichtenden Illumination heftiger Brände<br />

pausenlos einschlagender Bomben, auf das Straßenpflaster und in Häuser fallender<br />

Phosphorkanister, inmitten des Infernos stürzender Trümmer, schwirrender Steine und<br />

Splitter wird auch Schmidt-Rottluff im August 1943 in der Wilmersdorfer Bamberger<br />

Straße Atelier und Wohnung verlieren. Mit seiner Frau zieht er sich nach seinem Heimatort<br />

zurück und findet bei seinem Bruder Unterkunft. Eine fast unübersehbare Vielzahl<br />

von Aquarellen entsteht, die sechzehn Monate nach Kriegsende, im September 1946,<br />

auf seiner ersten Nachkriegsausstellung in Chemnitz zu sehen sind. Dann kehrt das Ehe-<br />

212


paar im Spätherbst nach Berlin zurück. Mit der Aufnahme der Lehrtätigkeit an der<br />

Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg 1947 erfüllt der Maler die<br />

schon bald nach Kriegsende von Carl Hof er ausgesprochene Bitte. Im November 1949<br />

reist er nach vollen zwanzig Jahren erstmals wieder nach Ascona, und einige Monate<br />

später weilt er wieder in Hofheim im Taunus. 1954 scheidet er aus dem Lehrkörper der<br />

Hochschule aus; seinen 70. Geburtstag feiert man in Berlin, Hamburg, Kiel und Stuttgart<br />

mit großen Ausstellungen, aber es wird stiller um ihn. Sierksdorf an der Lübecker Bucht<br />

bildet den Endpunkt seiner Aufenthalte am Meer. In dinglicher Festigkeit haben die<br />

Farben wieder Glanz und Leuchtkraft erhalten.<br />

Er hat Landschaften, Stilleben, Aktbilder und Szenen am Meer gestaltet, er hat das<br />

Leben der Bauern und Fischer dargestellt, immer unmittelbar und aus der Natur heraus.<br />

Sie zu deuten, wie er sie erfühlt, bleibt bis in sein hohes Alter persönliches Bekenntnis.<br />

Zu seinem 80. Geburtstag regt er den Bau des „Brücke"-Museums an und schenkt der<br />

Stadt, in der er fast sieben Jahrzehnte gelebt hat, in die er immer wieder zurückgekehrt<br />

ist, in ihre Lichter und in ihre Trümmer, in der er anerkannt und verfemt worden war,<br />

die 74 ihm zu Ehren in der Akademie der Künste gezeigten Schöpfungen. Leopold<br />

Reidemeister, der Freund, gewinnt auch Erich Heckel, der seit 1944 in Hemmenhofen<br />

am Bodensee lebt, für die Idee. So kann der Senat am Geburtstag Schmidt-Rottluffs, am<br />

1. Dezember 1964, den Bau des Museums beschließen. Er wird im August 1966 nach<br />

einem Entwurf Werner Düttmanns begonnen, von dem Maler finanziell unterstützt, und<br />

nach dreizehn Monaten im September des nächsten Jahres abgeschlossen. Ein eingeschossiger<br />

Flachbau mit zweihundert laufenden Metern Ausstellungsfläche ist entstanden. Nach<br />

dem Wunsch Heckeis und Schmidt-Rottluffs, den beiden Freunden aus dem Jahre 1901,<br />

die mit ihren großzügigen Schenkungen seinen Grundstock bildeten, wird er auch die<br />

individuellen Entwicklungen der Maler nach Auflösung ihrer Gemeinschaft interpretieren<br />

und ebenfalls jenen Künstlern, die einst mit den Brücke-Malern gemeinsam ausgestellt<br />

haben, Raum gewähren. Großzügig hat Karl Schmidt-Rottluff nicht nur seine eigenen<br />

Werke geschenkt, sondern durch Ankäufe von Bildern anderer wichtiger zeitgenössischer<br />

Maler für dieses Museum dessen Präsentations- und Dokumentationsmöglichkeiten erheblich<br />

erweitert. So hält dieses Institut heute das Schaffen der „Brücke" lebendig und ist<br />

darüber hinaus durch die Einmaligkeit seiner Bestände zum Zentrum der „Brücke"-<br />

Forschung geworden.<br />

Karl Schmidt-Rottluff, der viel geehrte, stille, versonnene Mann, hat bis zum Tode seiner<br />

Kunst gelebt, und diese Kunst hat stets auf die Menschen gewirkt. Seine Schüler haben<br />

sie in der Tradition eines gemäßigten Expressionismus weitergetragen. Möge dem Haus<br />

am Bussardsteig 9 beschieden sein, diese Kunst in Ursprung und Ursprünglichkeit auch<br />

künftigen Generationen gegenüber lebendige Gegenwart werden zu lassen.<br />

In Würdigung der Verdienste um dieses künstlerische Schaffen und Bewahren ehrte die<br />

Stadt Berlin ihren Mitbürger Karl Schmidt-Rottluff mit ihrer höchsten Auszeichnung und<br />

verlieh ihm am 10. April 1970 die Rechte eines Ehrenbürgers.<br />

Anschrift des Verfassers: 1 Berlin 41, Niedstraße 14<br />

213


In memoriam E.T. A. Hoffmann<br />

Von Claus P. Mader<br />

Am 24. Januar 1976 jährte sich zum 200. Male der Geburtstag des Mannes, den die<br />

deutsche Literaturgeschichte nicht zu Unrecht als das universalste Genie unter den Spätromantikern<br />

bezeichnet. Schon aus Anlaß seines 150. Todestages, am 25. Juni 1972, erschien<br />

in den „Mitteilungen" des Vereins für die Geschichte Berlins, Hefte 7 und 8 von<br />

1972, ein Beitrag, der dem Leben und Werk dieses Berliner Bürgers gewidmet war. Es<br />

bleibt deshalb heute nur die Pflicht des Chronisten, eine Zusammenfassung der Veranstaltungen<br />

des gegenwärtigen Gedenkjahres zu erstellen.<br />

Es begann mit einer Fernsehsendung der ARD am 19. Januar. Unter dem Titel „Nach<br />

Träumen jagen . . ." trugen die Autoren Margot Berthold und Franz Baumer „Fragmente<br />

zu einer romantischen Existenz" (so der Untertitel) zusammen. Anhand von Bild- und<br />

Tonmaterialien versuchten sie der genialen Vielseitigkeit dieses Mannes gerecht zu werden.<br />

Leider gelang dies nicht so wie erhofft. Schon im Verlauf der 45minütigen Sendung<br />

konnte der „unwissende" Zuschauer zu dem trügerischen Schluß gelangen, es hier mit<br />

einem recht weinseligen und realitätsfremden Künstler zu tun zu haben, welcher nebenbei<br />

auch noch etwas Juristerei betrieb.<br />

Daß dem nicht so war, machte am Vorabend des 200. Geburtstages Hoffmanns eine<br />

Gedenkveranstaltung offenkundig, die im Berlin-Museum stattfand. Hier an seiner Wirkungsstätte,<br />

dem ehemaligen Kammergericht, gelang eine „Symbiose zwischen Kunst und<br />

Justiz". Nach der Begrüßung der 300 geladenen Gäste, zumeist Juristen, durch den<br />

Senator für Wissenschaft und Kunst Gerd Löffler ergriff der damalige Senator für Justiz<br />

und Bürgermeister Hermann Oxfort das Wort. Er war gleichzeitig mit dem Erstgenannten<br />

auch Schirmherr der Veranstaltung und der Ausstellung im Berlin-Museum. Im Verlauf<br />

seiner Rede kam der Senator nach einer Würdigung des Geburtstagskindes auf die<br />

große Anzahl von Dichter-Juristen zu sprechen und nannte die wichtigsten innerhalb der<br />

deutschsprachigen Literatur: Martin Opitz, Andreas Gryphius, Goethe, Heinrich von<br />

Kleist, Novalis, Achim von Arnim, Joseph Freiherr von Eichendorff, Ludwig Uhland,<br />

Franz Grillparzer, Karl Immermann, Adalbert Stifter, Fritz Reuter, Theodor Storm,<br />

Gottfried Keller, Josef Viktor von Scheffel, Felix Dahn, Frank Wedekind und Franz<br />

Kafka. Auch „das Kammergericht war Gott sei Dank, immer literarisch. Das Literarische<br />

macht frei". Dieser Satz aus dem Roman „Frau Jenny Treibel" von Theodor Fontane<br />

sei ebenfalls eine Anspielung auf seine Zeitgenossen, die Kammergerichträte und Dichter<br />

Ernst Wiehert und Wilhelm von Merckel sowie die Referendare dieses Hauses Heinrich<br />

Wilhelm Wackenroder, Willibald Alexis und Karl Simrock. Nach einem Wort des Dankes<br />

an alle Beteiligten schloß diese Rede mit einem Satz aus dem 10. Buch von „Dichtung<br />

und Wahrheit". Den anschließenden Festvortrag „E. T. A. Hoff mann als Jurist. Eine<br />

Würdigung zu seinem 200. Geburtstag" hielt Prof. Dr. Arwed Blomeyer, dem es ebenfalls<br />

gelang, das Motto dieser Veranstaltungen „Kunst und Justiz" zu erfassen und die<br />

vielen Komponenten dieser Verbindung aufzuzeigen. Mit einem Empfang fand die Feier<br />

ihren würdigen Abschluß.<br />

214


Natürlich nahm sich auch die hiesige Presse des Themas „E. T. A. Hoffmann" an, doch<br />

waren die Beiträge zum Teil sehr kurz und enthielten kaum die wichtigsten Daten. Aber<br />

es gab auch eine Reihe annehmbarer Aufsätze. Unter der Überschrift „Ausgezeichnet im<br />

Amte" brachte der „Tagesspiegel" am 24. Januar einen Beitrag, der sich hauptsächlich<br />

mit Hoffmanns Zeit als Kammergerichtsrat befaßte, ohne jedoch die anderen wichtigen<br />

Lebensdaten zu vergessen. Die „Berliner Liberale Zeitung" veröffentlichte in ihrer Nummer<br />

3 die Begrüßungsansprache des zuvor beschriebenen Festaktes im Berlin-Museum.<br />

„Ein Vermächtnis des romantischen Berlin" war die Titelzeile, unter der der „Tagesspiegel"<br />

am 15. Februar auf die konzertante Aufführung von Hoffmanns „Undine"<br />

durch den Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale am 14. und 15. Februar in der Philharmonie<br />

einging.<br />

Die Uraufführung der „Undine" - Hoffmanns achtes und auch zugleich letztes Opernwerk<br />

- lief am 3. August 1816 unter der Leitung Bernhard Rombergs im Schauspielhaus<br />

am Gendarmenmarkt über die Bühne. Sie fand damals eine gute Resonanz und<br />

wurde bis zum Brand des Schauspielhauses am 30. Juli 1817 dreiundzwanzigmal vor<br />

„fortwährend gedrängt vollem Hause" gespielt. Das Textbuch der Oper stammt von<br />

Friedrich de la Motte-Fouque, der die Handlung in drei recht lange inhaltsreiche Akte<br />

zusammenfaßte. Der Inhalt, eher episch-anschaulich und lyrisch als dramatisch, ist mit<br />

dem der späteren „Undine" Lortzings bis auf Geringfügigkeiten identisch, da auch dieser<br />

sich an den Text von la Motte-Fouque hielt. Die Aufführung der ersten Fassung dieser<br />

„Zauberoper", 150 Jahre nach der Premiere, war eine gelungene Ehrung. Die Musik, von<br />

Hoffmann durch mannigfache Wechsel von Rhythmus und Tempo stark akzentuiert, soll<br />

die Doppelnatur des Geisterreiches andeuten. Diese Erstfassung ist vom Musikalischen<br />

her die weitaus diffizilste und verlangt vom Publikum ein hohes Maß an Konzentration.<br />

Ein vollbesetztes Haus dankte den Solisten, dem Chor und dem Radio-Symphonie-<br />

Orchester Berlin unter der Gesamtleitung des Dirigenten Roland Bader mit lebhaftem<br />

Beifall. Zu erwähnen ist noch, daß dieses 4. Abonnementskonzert vom Hörfunk mitgeschnitten<br />

wurde.<br />

Unmittelbar danach, am 16. Februar, ging die Premiere „Im Kabinett des E. T. A. Hoffmann"<br />

über die Bühne des Kleinen Theaters am Südwestkorso. Bis zum 27. Juli wurde<br />

dem recht zahlreich erschienenen Publikum ein „Punsch" - von Hoffmann ein immer<br />

geschätztes Getränk - angeboten, dessen Zutaten aus der Märchen- und Geisterwelt<br />

stammten und der durch hintergründigen Humor verfeinert wurde. Da tauchen<br />

jene skurrilen Gestalten auf, die wir z. B. aus dem „Goldenen Topf" und aus „Klein<br />

Zaches" kennen; der höhnende Rat Krespel, der Archivarius Lindhorst mit seinen drei<br />

Töchtern, der kleine Obergerichtsrat Drosselmeyer und viele andere, umgarnt von bösen<br />

Hexen und lieblichen Feen, um uns in eine Zauberwelt zu entführen. Es war weder eine<br />

große literarische Veranstaltung, noch gar ein anspruchsvoller Theaterabend; nein, es war<br />

ein amüsanter und befreiender Theaterspaß. Dank hierfür sei den Schauspielern Michael<br />

Chevalier, Christian Sorge, Wolf gang Wiehe und vor allem Ursula Heyer, aber auch all<br />

jenen hinter der Bühne. Die aufgeschlossenen Zuschauer waren für diese oft recht zeitkritischen,<br />

romantischen Visionen in einer unromantischen Zeit entzückt und verließen<br />

nach langanhaltendem Beifall zufrieden das Theater.<br />

Am 9. April wurde dann die Ausstellung „E. T. A. Hoffmann und seine Zeit" im Berlin-<br />

Museum von Frau Prof. Dr. Irmgard Wirth eröffnet. Nach einer Einführung in den thematischen<br />

Aufbau dieser Ausstellung und dem Dank an die zahlreichen Leihgeber, allen<br />

215


voran die verschiedenen Museen der Stadt Bamberg, die dort ansässige E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft<br />

und die Berliner Museen, las Dr. Walter Tappe „Hoffmann in Warschau"<br />

aus Hoffmanns Leben und Nachlaß, herausgegeben von Julius Eduard Hitzig in<br />

Berlin 1823. Die Ausstellung mit ihren über 270 Exponaten - Gemälde, Graphik, Dokumente,<br />

Bücher, Photographien - enthält auch Teile einer Ausstellung der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft<br />

und des Kunstvereins Bamberg, welche unter dem Motto „Die Wandlungen<br />

des E. T. A.-Hoffmann-Bildes" im Januar und Februar in Bamberg gezeigt<br />

wurde. Aufgegliedert in elf Unterthemen bot sich den zahlreichen Besuchern ein recht<br />

vollständiger Überblick über das Leben des Dichters, seine Zeit und seine Zeitgenossen.<br />

Interessant war auch zu sehen, in wie vielfältiger Art und Weise sowohl von der künstlerischen<br />

Auffassung als auch von der technischen Ausführung die Werke Hoffmanns<br />

illustriert wurden - und noch werden. Neben Hoffmann selbst seien hier nur Theodor<br />

Hosemann, Alfred Kubin, Hugo Steiner-Prag, Josef Hegenbarth, Eberhardt Brucks,<br />

Gerhard Ulrich, Andreas Brylka und Erich Jasorka für viele andere genannt.<br />

Im Rahmen der eigentlichen Ausstellung lief bis zum 7. Juli eine Veranstaltungsreihe,<br />

die besondere Aspekte und Themen der Hoffmann-Forschung brachte. So hielt Prof.<br />

Hans-Dieter Holzhausen am 30. April einen informativen Lichtbildervortrag unter dem<br />

Titel „E. T. A. Hoffmann - Der Maler und Zeichner". Anhand eines ausgezeichneten<br />

Bildmaterials brachte der Vortragende die Bilder, Karikaturen und Illustrationen dieses<br />

großen Künstlers einem sehr zahlreich erschienenen Publikum näher. Die Mitglieder und<br />

Freunde des Vereins für die Geschichte Berlins hatten dann Gelegenheit, den Vortrag am<br />

1. Juni im Rathaus Charlottenburg zu hören. Hier entspann sich nach dem Vortrag noch<br />

eine lebhafte Aussprache darüber, ob die Malerei Hoffmanns den Wert seiner schriftstellerischen<br />

Arbeiten erreicht. Lobenswert soll noch kurz der Ausstellungskatalog erwähnt<br />

werden. Er bringt neben Übersichten und einem großen Abbildungsteil hervorragende<br />

Beiträge. Prof. Dr. Hans Meyer, Dr. Friedrich Schnapp, Dr. Günther, Prof. Dr.<br />

Irmgard Wirth und Dr. Elke Riemer zeichnen dafür verantwortlich.<br />

Literarisches von und über Hoffmann gab es in dieser Zeit selten. Schon 1972, zum<br />

150. Todestag, waren wohlfeile Ausgaben seiner Märchen und Geschichten herausgekommen,<br />

welche durch Sachliteratur ergänzt wurden, und hatten den Markt bereits gesättigt.<br />

Trotzdem sah man hin und wieder Buchhandlungen, die noch einmal auf Hoffmann aufmerksam<br />

machten und vor allen Taschenbuchausgaben seiner Werke anzeigten. Ein Bändchen<br />

soll dabei noch erwähnt werden. Es ist das diesjährige Heft 3 des „Berliner Forums",<br />

jener seit Jahren vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin herausgegebenen<br />

Schriftenreihe. Hans Günther, 1961 vom Abgeordnetenhaus von Berlin zum Generalstaatsanwalt<br />

beim Kammergericht gewählt, bis 1975 in diesem Amt und jetzt im Ruhestand,<br />

schreibt über „E. T. A. Hoffmanns Berliner Zeit als Kammergerichtsrat". Der<br />

Autor behandelt speziell den Fall „Turnvater Jahn" und erläutert die damalige juristische<br />

Situation der sogenannten Demagogenverfolgungen. Aber auch die „Knarrpanti-<br />

Episode", der „Kamptz-Knarrpanti-Skandal" und das Verbot des „Meister Floh" werden<br />

neben Privatem und Literarischem ausführlich behandelt. Der Jurist und Kammergerichtsrat<br />

Hoffmann ist jedoch stets präsent. Günther belegt durch Beispiele die „strengste<br />

Sachlichkeit", mit der jener seine Voten aufsetzte und die so gar nicht zum Bild des<br />

„Gespenster-Hoffmanns" paßten. Am 2. Januar 1820 hatte der Vorsitzende der „Königlichen<br />

Immediatkommission", der Vizepräsident von Trützschler, in seinem Jahresbericht<br />

über ihn u.a. geschrieben: „Hier steht zu meiner Freude der Kammergerichtsrat Hoff-<br />

216


mann, seit 22 Jahren im königlichen Dienst immer noch oben an. Das Vorurteil, daß ein<br />

genialer Schriftsteller für ernste Geschäfte nichts tauge, hat wohl nicht leicht jemand vollständiger<br />

widerlegt als er." Trotz dieser guten Arbeit muß auf einen Fehler hingewiesen<br />

werden. In der Bildlegende zum Grabstein auf Seite 117 heißt es: „Der originale Grabstein<br />

zerfiel Anfang dieses Jahrhunderts und wurde durch einen Graphitstein mit unveränderter<br />

Inschrift ersetzt . . ." Richtig ist vielmehr, daß sich dieses aus Sandstein gefertigte<br />

Original noch 1902 in gutem Zustand befand. Es wurde jedoch im selben Jahr vom<br />

Kirchenvorstand der Jerusalems-Gemeinde abgerissen und durch das jetzige, bar „unnützen<br />

Beiwerks", ersetzt.<br />

Neben all den vorgenannten gab es noch eine Reihe von kleineren Veranstaltungen, wie<br />

z. B. Sendungen im Hörfunk, Dichterlesungen oder die jährliche Zusammenkunft der<br />

hiesigen Mitglieder der E. T. A.-Hoffmann-Gesellschaft, zu der in diesem Jahr auch Dr.<br />

Friedrich Schnapp begrüßt werden konnte. Vermerkt sei noch an dieser Stelle die Herausgabe<br />

einer von Siegmund Schütz entworfenen Plakette der Staatlichen Porzellan-<br />

Manufaktur Berlin. Schon im Dezember 1975 war bei den Geldinstituten eine silberne<br />

E. T. A.-Hoffmann-Medaille erhältlich, für deren Erscheinen die E. T. A.-Hoffmann-<br />

Gesellschaft verantwortlich zeichnet.<br />

*<br />

Selbstverständlich ehrte auch die Stadt Bamberg E. T. A. Hoffmann, dessen musikalische<br />

Schaffensperiode hauptsächlich in die dortige Zeit (1808 bis 1813) fällt. Neben der bereits<br />

erwähnten Ausstellung „Die Wandlungen des Hoffmann-Bildes" waren es vor allem<br />

die Festtage der E. T. A.-Hoffmann-Gesellschaft vom 18. bis 20. Juni 1976. Es begann<br />

mit der Eröffnung einer weiteren Ausstellung am 18. Juni in der Eingangshalle der<br />

Staatsbibliothek: „E. T. A. Hoffmann - Leben und Werk in zeitgenössischen Dokumenten".<br />

Festvorträge, Filme, die diesjährige Mitgliederversammlung der Gesellschaft, eine<br />

„Feuchte Gedenksitzung zum 200. Geburtstag" im Keller des ehem. Katharinenspitals -<br />

„Hoffmanns Katakomben" - sowie Chor- und Orchester-Musik des Meisters, vervollständigten<br />

die Feierlichkeiten und gaben diesen einen gebührenden Rahmen. Es bleibt<br />

den jährlichen „Mitteilungen der E. T. A.-Hoffmann-Gesellschaft" vorbehalten, eine wertende<br />

Bilanz dieser Tage vorzunehmen.<br />

*<br />

Zum Abschluß dieses kurzen, sicher nicht vollständigen Rückblicks, möge noch einmal die<br />

Grabinschrift stehen: „E. T. W. Hoffmann - Kammergerichtsrat - ausgezeichnet im Amte,<br />

als Dichter, als Tonkünstler, als Maler."<br />

Dies sei hiermit von seinen Freunden bestätigt.<br />

Nachrichten<br />

Studienfahrt nach Duderstadt vom 3. bis 5. September 1976<br />

Beinahe wäre die diesjährige Exkursion nach Duderstadt und ins Untereichsfeld nodi in letzter<br />

Minute an organisatorischen Problemen gescheitert, hatte doch „Der Tempelhofer" den bei 60<br />

Teilnehmern erforderlichen doppelstöckigen Omnibus ohne vorherige Verständigung kurzfristig<br />

anderweitig vermietet und lediglich einen normalen Reisebus bereitgestellt, der auch sdion bessere<br />

Tage gesehen hatte. Mit Hilfe von privaten Personenwagen konnte dieses Debakel indes umgan-<br />

217


gen werden. Erste Etappe war fast schon traditionsgemäß der Besuch einer Brauerei, diesmal der<br />

Städtischen Brauerei Northeim, deren Prokurist und technischer Leiter Dipl.-Br.-Ing. Klaus Thinius<br />

die Gäste durch die bemerkenswert moderne Einrichtung führte, die sich auch in den alten<br />

Gemäuern eines Torturmes und in den ehemaligen Wallanlagen der Stadtbefestigung eingenistet<br />

hat. Dr. Hans Günter Schultze-Berndt berichtete „Zur Geschichte des Brauwesens in Northeim",<br />

was den munteren Zuspruch zum vorzüglichen Northeimer Bier im Rahmen des gastfrei gebotenen<br />

Imbisses nicht bremsen konnte. Sozusagen als Kontrast zu einem Gewerbe mit ehrwürdiger<br />

Tradition erwies sich der anschließende Besuch des Max-Planck-Instituts für Aeronomie in Katlenburg-Lindau,<br />

dessen Bedeutung und Aufgaben sowie bisherige Erfolge von Herrn Braun in<br />

sehr anschaulicher Weise geschildert wurden. Das Erstaunen betraf die hochmoderne Forschungsrichtung<br />

nicht minder als den Standort dieses Instituts von Weltruf.<br />

Am folgenden Sonnabend erwartete Verkehrsdirektor Gerlach seine Gäste vor dem Rathaus, aus<br />

dessen Turmluke pünktlich um 9.00 Uhr der „Anreischken" die interessierte Menge mit Kopfnicken<br />

begrüßte. Den Schaudern beim Besuch der Folterkammer dieses ältesten Rathauses im<br />

deutschen Sprachgebiet folgten die Freuden beim Kennenlernen der Schätze des Archivs Duderstadts,<br />

eines Gemeinwesens im Herzen Deutschlands, das auf eine ebenso reiche wie bewegte<br />

Geschichte zurückblicken kann. Zwischen die beiden Besichtigungen der St. Cyriakuskirche und<br />

der St. Servatiuskirche war der Besuch des Heimatmuseums eingeschoben worden, dessen Sammlungen<br />

noch längeres Verweilen gelohnt hätten. An einigen ausgewählten Straßenzügen schilderte<br />

Verkehrsdirektor Gerlach dann die Entwicklung des Fachwerkbaus von der Gotik bis zum Barock.<br />

Er tat dies ebenso kenntnisreich wie einfühlsam, und mancher Berliner schlug sich an die<br />

Brust, weil er nicht schon früher die Bekanntschaft mit Duderstadt gemacht hat, einer Stadt, die<br />

einst als ,urbs opulentissima' galt und der man heute ohne Zögern zugesteht, eine ,urbs pulcherrima'<br />

zu sein.<br />

Am Nachmittag bestaunten die Reisegefährten die Rhumequelle, eine der ergiebigsten Quellen<br />

Europas, aus der jeder Einwohner Deutschlands täglich einen Eimer Wasser erhalten könnte.<br />

Offensichtlich fühlten sich der Nöck und seine Nixen in ihrer Ruhe gestört, denn bei der Besichtigung<br />

der frühhistorischen Burganlage „König Heinrichs Vogelherd" bei Pöhlde öffnete der<br />

Himmel seine Schleusen, und die Besucher bezogen den Namen „Fluchtburg" darauf, daß sie diesen<br />

Platz fluchtartig verließen. Hier wie später auf dem Pfalzgelände und in der Kirche von<br />

Pöhlde erwies sich Pastor Klaus Gierth, in der vierhundertfünfzigjährigen Geschichte dieser Pfarrei<br />

21. Inhaber der Pfründe, als ein kenntnisreicher Liebhaber-Archäologe und als liebenswürdiger<br />

Übermittler historischer Abläufe.<br />

Die Sonne schien wieder, als am Sonntagmorgen der Konvoi in Richtung Germershausen aufbrach,<br />

um dort die Wallfahrtskirche Maria in der Wiese zu besuchen. Pfarrer Friedbert Bauer<br />

OSA schilderte die Geschichte der Marienwallfahrt des Eichsfeldes und des Gnadenbildes von<br />

Germershausen, wußte aber auch den Fragen nach der Historie des Augustiner-Ordens in Deutschland<br />

und nach ihrer heutigen Arbeit die rechte Antwort zu geben. Mit einem Dank an Pater<br />

Friedbert und mit der Erinnerung an dieses kleine Gotteshaus mit seinem wunderschönen Herbstblumenschmuck<br />

fuhren die Teilnehmer entlang des Seeburger Sees nach Ebergötzen weiter, wo<br />

Bürgermeister Edel und Geschäftsführer Klaus Dollmaier vom Förderkreis-Wilhelm-Busch-Stätten<br />

Ebergötzen ihrer bereits vor der Mühle harrten. Sie wurden in den Erdenwandel Wilhelm Buschs<br />

in Ebergötzen eingeführt und betrachteten mit Interesse die Mühle und die Erinnerungsstücke an<br />

den weisen Humoristen und Maler. Abschließend wäre noch festzustellen, daß offensichtlich allen<br />

das gemeinsame Sonntagsessen im Hotel-Restaurant Rodetal bei Nörten-Hardenberg gemundet<br />

hat und daß sie mit der Kaffeetafel im Harzhotel Kreuzeck in Hahnenklee zufrieden waren.<br />

Wirtschaft und Wissenschaft, Historie und Baukunst, Kirchengeschichte und Literaturkunde bildeten<br />

den bunten Strauß der diesjährigen Exkursion. Ihr soll im nächsten Jahr eine Studienfahrt<br />

in das Wendland und den Naturpark Elbufer-Drawehn folgen. H. G. Schultze-Berndt<br />

Der 21. Stadtbezirk Berlins<br />

Auf den westlichen Teil Berlins sind bei der Trennung zwölf, auf die östliche Stadthälfte acht<br />

Bezirke entfallen. Jetzt werden in Ost-Berlin Überlegungen angestellt, einen neunten Stadtbezirk<br />

zu gründen, der im Westen von der S-Bahnlinie in Richtung Ahrensfelde, im Süden vom Biesdorfer<br />

Kreuz und im Osten von der Hellersdorfer Kippe begrenzt wird. Im Norden reicht das<br />

Gebiet des neuen Bezirks bis etwa 2 km südöstlich von Falkenberg. Im Ortsteil Marzahn, der<br />

zu diesem neuen Bezirk gehört, soll der dörfliche Charakter beibehalten und der Dorfanger<br />

rekonstruiert werden. Von den 560 ha Fläche des neunten Stadtbezirks entfallen 200 ha auf das<br />

Naherholungsgebiet Wühle östlich des eigentlichen Wohngebietes. Man beabsichtigt, die Wühle zu<br />

stauen und die Hellersdorfer Kippe von 30 m auf 50 m aufzustocken, um hier einen Park ent-<br />

218


stehen zu lassen. Die jetzt als Tümpel zu bezeichnenden Gewässer in diesem Gebiet werden als<br />

kleine Seen zwischen den Wohnstraßen erhalten bleiben. In diesem Stadtbezirk, der in Nord-<br />

Süd-Richtung 5,5 km Ausdehnung hat und 1 bis 1,8 km breit ist, werden 35 000 neue Wohnungen<br />

errichtet, von denen 20 000 bis 1980 fertiggestellt sein sollen. Den in der Endplanung 100 000<br />

Einwohnern stehen in den Wohngebieten neun „Nebenzentren" mit je einer Kaufhalle, einer<br />

„Klubgaststätte" und einem „Dienstleistungshaus" zur Verfügung. Den Anschluß an die Innenstadt<br />

besorgt die S-Bahn, die mit fünf Bahnhöfen, von denen drei noch gebaut werden, entlang<br />

des Stadtbezirks vertreten ist. Neben Omnibussen fährt auch die ,Tatra'-Straßenbahn über Leninallee/Berliner<br />

Chaussee sowie über Herzbergstraße/Springpfuhlstraße in das neue Stadtgebiet.<br />

Durchgangsstraßen in West-Ost-Richtung sind im Gebiet dieses Bezirks nicht anzutreffen. Lediglich<br />

die Berliner Chaussee geht ihrer Funktion als Autobahnzubringer wegen quer durch den<br />

neunten (einundzwanzigsten) Bezirk Berlins. Diese Angaben sind der „Berliner Zeitung" (Ost)<br />

Nr. 106 vom 4. Mai 1976 entnommen. H. G. Schult2e-Berndt<br />

*<br />

Wie schon in unseren vorigen „Mitteilungen" angekündigt, werden diesjährig - hundertundfünfzig<br />

Jahre nach dem Umbaubeginn durch Schinkel - erstmalig die „Musischen Wochen im Schloß<br />

Glienicke" durchgeführt, deren Veranstaltungen von Oktober bis Januar an jedem zweiten<br />

Sonnabend des jeweiligen Monats um 16.00 Uhr beginnen. Wir veröffentlichen nachstehend das<br />

Programm:<br />

9. Oktober: „Schloß und Park von Glienicke - Idee und Schöpfung". Lichtbildervortrag von<br />

Günter Wollschlaeger.<br />

13. November: „Wanderungen und Fahrten in der Mark Brandenburg". Lesung von Hans Scholz.<br />

17. Dezember: „Gedanken und Betrachtungen in Reimen". Frau Margot Apostol eröffnet die<br />

Kunstausstellung mit Bildern von Ruth Rieger, Jutta Wolters, Walter Bewersdor)<br />

und August Endruschat.<br />

".Januar: „Märkische Notizen". Am Flügel: Arthur Baldszuhn, Rezitationen: Brigitta<br />

Spiegel.<br />

Personalien<br />

Walter Jarchow verstorben<br />

Wie erst jetzt bekannt wird, ist unser langjähriges Mitglied Walter Jarchow vor einiger Zeit verstorben.<br />

In den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zu den tatkräftigen<br />

und bewährten Mitarbeitern des Vereins für die Geschichte Berlins, in dessen Vorstand<br />

er bis zu seinem Ausscheiden aus Altersgründen beständig, doch unauffällig mitwirkte. Auf seinen<br />

eigenen Wunsch ist nie bekannt geworden, in welch starkem Maße er unsere Arbeiten auf finanziellem<br />

Gebiet förderte. In seinem Heimatbezirk Wilmersdorf betätigte er sich eine Zeit lang<br />

auch mit Erfolg als Kommunalpolitiker. Seine umfangreiche Arbeit über die städtebauliche Entwicklung<br />

Berlins ist ein wertvoller Beitrag für das Jubiläumsjahrbuch aus Anlaß des hundertjährigen<br />

Bestehens des Vereins gewesen, an dem er auch sonst mit Tatkraft mitgearbeitet hat. Nicht<br />

minder verdienstvoll war sein Mitwirken im Verein Berliner Architekten und in deren Schinkel-<br />

Kommission. Seit er in der Nähe Riedenburgs im Altmühltal eine Wahlheimat gefunden hatte,<br />

war es ruhiger um ihn geworden. Wir werden unserem Weggefährten und verdienstvollen Mitglied<br />

Walter Jarchow ein ehrendes Andenken bewahren. H. G. Schultze-Berndt<br />

Der Fachbereich Neuere deutsche Literatur und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität<br />

Marburg hat unser Mitglied Professor Julius Posener zum Doktor der Philosophie ehrenhalber<br />

ernannt. Dem ebenso kundigen Historiker wie streitbaren Kritiker der Architektur, von Kahlschlagsanierern<br />

besonders von Landhäusern gefürchtet, gilt ein herzlicher Glückwunsch.<br />

219


Im Beisein von Ministerpräsident Alfons Goppel und von Alt-Bundeskanzler Professor Dr. Ludwig<br />

Erhard ist unserem Mitglied, dem Verleger Axel Springer, am 18. Juni 1976 in München die<br />

„Jakob-Fugger-Medaille für hervorragende Verdienste um das Zeitungswesen" verliehen worden.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Frau Hertha Cleinow, Frau Margarete Gauger, Herrn Prof. Dr. Wilhelm<br />

Heim, Herrn Dr. Heim Hugo, Herrn Wilhelm Kielhorn, Herrn Walter Kopp, Herrn Erwin<br />

Schulze; zum 75. Geburtstag Frau Marga Altmann, Frau Elisabeth Kühne, Herrn Prof. Dr. Karl<br />

Göpp, Herrn Dr. Kurt Haußmann, Herrn Prof. Dr. Wilhelm Richter, Herrn Günter Wichmann;<br />

zum 80. Geburtstag Herrn Wilhelm Mann.<br />

Buchbesprechungen<br />

Walther G. Oschilewski: Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte. Berlin: Haude &<br />

Spener 1975. 326 S. m. 66 Abb., geb., 30 DM.<br />

„Zeitungen sind", wie Jean Paul einmal sagte, „Sprechwerkzeuge der Stunde, Mikroskope und<br />

folglich Brenngläser der neuen Zeit, die stärker ergreifen als die Fernrohre der Geschichtsschreiber."<br />

Dieses Zitat aus dem Vorwort des Verfassers bestimmte auch - nach eigener Aussage -<br />

den Tenor der Arbeit, die darüber hinaus auch noch ein Beitrag zur politischen und kulturellen<br />

Geschichte Berlins sein soll. Und sie ist ein guter Beitrag!<br />

Als Autor und Herausgeber vieler Artikel und Bücher ist Oschilewski weit über die Grenzen<br />

unserer Stadt bekannt und geschätzt. Bei der Ausarbeitung dieses Themas konnte er auf eine<br />

Anzahl zeitungswissenschaftlicher Veröffentlichungen seines umfangreichen Archivs zurückgreifen.<br />

Die eigentliche Würze erhält der Text jedoch durch die lebendige Schilderung eigener langjähriger<br />

journalistischer Tätigkeit, Studium, Erfahrungen und persönlichen Erinnerungen an Begegnungen<br />

mit Politikern und Staatsmännern. Überlegungen und Einsichten finden im Text ihren Ausdruck.<br />

Weit spannt sich der inhaltliche Bogen vom Entstehen der ersten Zeitungen in Deutschland bis<br />

zum Neuaufbau der Berliner Presse nach 1945. Dazwischen liegen das „tolle Jahr" 1848 und das<br />

Aufkommen der ersten Arbeiterzeitungen, liegt die Zeit Lessings als Redakteur und Heinrich von<br />

Kleists als Zeitungsherausgeber. Namen wie Mosse, Ullstein und Scher! prägen das Gesicht der<br />

Presse in der neueren Zeit. Das Entstehen der Parteipresse, der Niedergang der freien Presse und<br />

deren Gleichschaltung runden das Bild ab und dokumentieren zugleich das Schicksal dieses Mediums<br />

im politischen Kräftespiel.<br />

Ein besonderes Kapitel widmet der Autor im Anhang der „Heimatpresse", deren ältestes Exemplar<br />

mit dem „Charlottenburger Wochenblatt" (gegründet 1846) belegt ist. Noch heute belebt<br />

eine kleine Anzahl dieser Blättchen, die meist nur ein- oder zweimal wöchentlich erscheinen, die<br />

Szenerie der Berliner Kioske. Die Blätter verstehen sich als Mittler zwischen der Bevölkerung<br />

und den örtlichen Behörden und der Geschäftswelt. Die sich dem Text einpassenden Abbildungen<br />

sind in der Überzahl Reproduktionen alter Zeitungsköpfe und Urkunden.<br />

Ein kurzes Nachwort, ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein umfangreiches Namensregister<br />

komplettieren diesen Band, mit dessen Erscheinen eine Publikation vorliegt, die sich vor<br />

allem durch ihre verständliche Ausdrucksweise und das Bemühen um sachliche Objektivität auszeichnet.<br />

Leider ist die technische Ausführung des Drucks und des Einbandes ohne Qualitätsmerkmale.<br />

Die Schrift ist recht unleserlich, da zu grau gedruckt, und statt des weißen Einbandes hätte<br />

ein weniger empfindlicher farbiger dem - sicher sehr oft benutzten - Buch gut getan.<br />

Claus P. Mader<br />

Berlin-Literatur. Eine Modell-Liste für den Grundbestand der Buchabteilung „Heimat- und<br />

Landeskunde Berlin" öffentlicher und anderer Bibliotheken. Veröffentlichung des Instituts für<br />

Bibliothekarausbildung der Freien Universität Berlin. Red.: Hans-Dieter Holzhausen, Paul S.<br />

Ulrich. Berlin 1976. 144 S., brosch., 3 DM.<br />

Dieses Bändchen mit seiner Aufzählung von rund 750 Titeln versteht sich in erster Linie als<br />

„Ratgeber" für öffentliche Bibliotheken, in deren heimatkundliche Abteilungen Berlin-Bücher aufgenommen<br />

werden. Es ist also keine neue Berlin-Bibliographie, allenfalls die Kurzfassung eines<br />

- gelegentlich beschreibenden - Bücherverzeichnisses unter dem besonderen heimat- oder landeskundlichen<br />

Aspekt. Wie es im Vorwort zu Recht heißt, sind Umfang und Wertigkeit der Berlin-<br />

220


Literatur inzwischen so unübersichtlich geworden, daß es geraten schien, den nichtwissenschaftlichen<br />

Bibliotheken Hinweise für einen „Grundbestand" an Berlinbüchern zu geben. Das wichtigste<br />

Problem stellte dabei naturgemäß die Auswahl dar, deren Kriterien einleuchtend dargelegt<br />

sind und die hier keineswegs Gegenstand einer Diskussion sein können. Lediglich der Ausdruck<br />

„Bleibewert der Bücher" (S. 7) ist rätselhaft und damit unbrauchbar. Ebenso liegt bei der inhaltlichen<br />

Abgrenzung der Buchtitel zu den „Archivbeständen" (S. 9) ein Begriffsirrtum vor, denn<br />

mit den letzteren werden ausschließlich Archivalien bezeichnet, d. h. einmalig vorhandenes Schriftgut<br />

mit vollkommen anderer Struktur und Aussage, während im hier vorliegenden Text offenbar<br />

nur die „älteren" Bücher mit qualitativ größerem Gebrauchswert gemeint sind.<br />

Die Systematik zerfällt in 14 Abschnitte mit einem logischen Gefälle, beginnend mit den allgemeinen,<br />

topographisch-statistischen Betreffen und endend mit den Stadt- und Ortsteilbeschreibungen<br />

(nur Berlin-West), entspricht also dem üblichen bibliographischen Schema. Über die Berechtigung<br />

einzelner aufgeführter (und nicht aufgeführter) Titel ist immer zu streiten, erst recht bei<br />

Auswahlsammlungen, doch wird diese Diskussion auf einer anderen Ebene sinnvoller geführt<br />

werden können. Einzelne Titel mit zu geringer oder mißverständlicher Aussagekraft haben kurze<br />

Inhaltsangaben erhalten, ebenso wie Preis- und Antiquariatshinweise für die Bibliothekare hilfreiche<br />

Orientierungsmarken sind. Ein Register der Autoren, Herausgeber und anonymen Sachtitel<br />

schließt den Band ab. Vermerkt sei noch, daß bereits im Jahre 1937 unter der Überschrift<br />

„700 Jahre Berlin" von den damaligen Städtischen Volksbüchereien ein besprechendes Bücherverzeichnis<br />

vergleichbaren Umfangs herausgegeben wurde, das in Aufmachung und Zielsetzung allerdings<br />

auch für das lesende Publikum gedacht war und über den Ansatz der jetzt vorgelegten<br />

Modell-Liste hinausgeht. Peter Letkemann<br />

Frank Werner: Stadtplanung Berlin. Theorie und Realität. Teil I: 1900-1960. Berlin: Kiepert<br />

1976. 296 S. mit 34 Abb., brosch., 26 DM.<br />

In diesem, als dritter Band zum Thema erschienenen Werk zieht Werner die Summe aus seinen<br />

vorangegangenen Einzelstudien. Mit Recht läßt er die moderne Stadtplanung, trotz einiger Vorläufer,<br />

nach der Jahrhundertwende beginnen. Ein erster Höhepunkt Berliner Städtebaus war die<br />

Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die „Ära Wagner". Diese wohl fruchtbarste Zeit ist hier nur in<br />

geringem Umfang berücksichtigt worden. Ausführlicher geht dagegen der Verfasser auf die nationalsozialistische<br />

Planung ein. Wenn in diesem Zusammenhang die ideologischen Modellvorstellungen<br />

tatsächlich eine weit geringere Bedeutung hatten als Werner ihnen beimißt, wird doch der<br />

politische Charakter des Sädtebaus stark sichtbar. Hitler - selbst sehr gut vertraut mit den Zusammenhängen<br />

zwischen Architektur und Macht - setzte 1937 Albert Speer als einen nur ihm<br />

persönlich verantwortlichen „Generalbauinspektor" für Berlin ein. Im Mittelpunkt der Speer-<br />

Planung stand die monumentale Umgestaltung des Stadtzentrums mit der gigantomanen „Nord-<br />

Süd-Achse und ihren gewaltigen Bauten. Daneben wurde vor allem den Verkehrslinien besondere<br />

Aufmerksamkeit gewidmet. Monumentalisierung durch neue architektonische Anlagen, nicht<br />

Veränderung der gewachsenen Stadtstrukturen waren - ganz im Sinne des Auftraggebers - die<br />

^iele der neuen Behörde, der städtische und staatliche Dienststellen nachgeordnet waren.<br />

Der Schwerpunkt der Arbeit aber liegt eindeutig in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die<br />

Neuplanung der furchtbar zerstörten Stadt wurde trotz äußerlicher Hemmnisse sehr bald in Angriff<br />

genommen. Ausgangspunkt und Zielvorstellungen der bald nach Kriegsende entstandenen<br />

Strukturpläne werden eingehend, z. T. mit Schaubildern, vorgestellt. Einige Aspekte der frühen<br />

Nachkriegsplanung, etwa die Idee des Citybandes aus dem Kollektivplan (1945) und das Tangentenstraßensystem<br />

des Bonatz-Plans (1948), haben bis in die jüngste Zeit hinein ihre Bedeutung<br />

behalten.<br />

Mit der Teilung der Stadt 1948 setzte nun auch die getrennte Planung in beiden Stadthälften<br />

ein. Während aus politischen Gründen in beiden Planungen noch längere Zeit von einem einheitlichen<br />

Stadtganzen ausgegangen wurde, zeigen die Einzelplanungen schon bald Divergenzen, auch<br />

im Verkehrsnetz. Planungen, die den anderen Teil der Stadt zum Inhalt hatten, etwa der im<br />

Westen initiierte Wettbewerb „Hauptstadt Berlin" (1957), besaßen keinen Einfluß auf die Stadtstruktur.<br />

Die Errichtung der Mauer beendete weitgehend die Planung für die gesamte Stadt.<br />

Auch innerhalb des Ostteiles blieben die Planungen immer wieder Änderungen unterworfen, die<br />

auch zu personellen Konsequenzen führten. Trotz gewisser Unterschiede kann der Verfasser im<br />

Aufgabenbereich der für die Planung Verantwortlichen und in ihrer Stellung zur politischen<br />

Führung Ähnlichkeiten zur Position des ehemaligen „Generalbauinspektors" feststellen. Auch<br />

das persönliche Eingreifen der Führungsspitze (Walter Ulbricht) fehlte nicht. Die Architektur<br />

jener Jahre beweist ebenfalls, daß Speer doch nicht der „letzte Klassizist" in Berlin war, als den<br />

er sich im Nachhinein gern bezeichnet. Die hohe politische Bedeutung der Ost-Berliner Planum;<br />

unterstreicht die Mitteilung, daß zeitweise die beiden verantwortlichen Planer Kandidaten bzw.<br />

Mitglieder des Politbüros im Zentralkomitee der SED waren.<br />

221


Während - wie der Verfasser zeigt - in Ost-Berlin zeitweilig die repräsentative architektonische<br />

Gestaltung im Mittelpunkt stand, die mehr und mehr durch industrielle Bauformen bestimmt<br />

wurde, so waren es im Westen vor allem funktionale Überlegungen, in denen der Tiefbau eine<br />

große Rolle spielte. Im Hochbau wurde dagegen den Architekten weitgehende Freiheiten gelassen;<br />

ein Beispiel hierfür ist die Neubebauung des Hansaviertels (1957). - In einer abschließenden<br />

Überlegung versucht der Autor das Verhältnis zwischen Stadtplanung und realer Stadtentwicklung<br />

zu klären. Für den Arbeitsbereich Berlin zeigt sich, daß die Stadtentwicklung weitgehend<br />

unabhängig von der Planung verläuft und diese nur auf Teilbereiche Einfluß hat.<br />

Zahlreiche Skizzen und Schemata zu Behördenaufbau und auch zu Plan-Zielvorstellungen erleichtern<br />

den Zugang des Lesers zu dieser recht komplizierten Materie. Leider wird der äußere Eindruck<br />

durch zahlreiche Druckfehler getrübt. Felix Escher<br />

Zimelien. Abendländische Handschriften des Mittelalters aus den Sammlungen der Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz Berlin. (Ausstellungskatalog.) Red.: Tilo Brandis. Wiesbaden: Dr. Ludwig<br />

Reichert Verlag 1975. XVI, 306 S. mit 110 Tafeln, brosch., 36 DM.<br />

Ausstellungskataloge gehören in der Regel nicht zum Repertoire unseres Besprechungsteils, es sei<br />

denn, sie gehen in Umfang und Gestaltung über den Status eines bloßen Textbegleiters hinaus.<br />

Das ist hier eindeutig der Fall. Zwar kann der Katalog, unabhängig von seiner Aufmachung, die<br />

Ausstellung und das unmittelbare Vis-a-vis der dargebotenen Schätze nicht ersetzen, aber er bietet<br />

doch eine solche Fülle weitergehender Informationen und auch des Bildmaterials, daß er<br />

bereits jetzt als unentbehrliches Handbuch der abendländischen Codices auf Berliner Boden gelten<br />

kann.<br />

Das Wort Zimelie bedeutet Kostbarkeit, Kleinod, Schatz, ursprünglich im kirchlich-liturgischen<br />

Bereich, und wird heute allgemein als Synonym für das schön geschriebene und schön gebundene<br />

Buch überwiegend des Mittelalters verwendet, zumeist noch in Verbindung mit alter oder seltener<br />

Überlieferung. So waren auf der Ausstellung im Museumsbau an der Dahlemer Lansstraße um<br />

die Jahreswende 1975/76 insgesamt 188 Schaustücke aus dem Besitz der Staatsbibliothek, des<br />

Kupferstichkabinetts und anderer Museen der Stiftung Preuß. Kulturbesitz zu sehen, deren Entstehungszeit<br />

sich von der Spätantike über 12 Jahrhunderte erstreckte: Liturgische Texte in griechisch,<br />

lateinisch und deutsch, Prunkbibeln, Heiligenleben, Stundenbücher, weltliche Chroniken,<br />

höfisch-heroische Epiken, Liederhandschriften und Romane, Rechtsbücher, schließlich humanistische<br />

Handschriften Frankreichs und Italiens mit teilweise üppigen Illustrationen, um deretwillen<br />

sie vielfach angelegt und gesammelt wurden. Neben den anonymen oder Sammelschriften fehlten<br />

auch nicht Texte von Autoren wie Aristoteles, Vergil, Ovid, Beda, Gregor d. Gr., Augustin,<br />

Bernhard von Clairvaux, Wolfram von Eschenbach und Eike von Repgow. Der Reichtum des<br />

Geschauten läßt sich nur unvollkommen wiedergeben. Um so mehr ist zu begrüßen, daß der<br />

Katalog immerhin auf 110 ganzseitigen Abbildungen, davon 40 in Farbe, einen ungefähren äußeren<br />

Eindruck vermittelt. Das gesamte Material ist chronologisch und nach Sachzusammenhängen<br />

gegliedert, wobei jeder Sachgruppe eine kunst- und geistesgeschichtliche Charakterisierung vorangestellt<br />

ist. Die einzelnen Exponate werden dann exakt beschrieben und gewürdigt. Bibliographie<br />

und Register erleichtern ein weiteres Eindringen in die Materie, wogegen das Verzeichnis der<br />

Fachausdrücke nicht in allen Punkten befriedigen kann.<br />

Da in anderen Institutionen oder Sammlungen in West-Berlin keine vergleichbaren Stücke nachgewiesen<br />

sind, dürfte hiermit der Fundus an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Miniaturen<br />

voll ausgeschöpft sein. Neben der Ausstellung - der ersten dieser Art seit 1931 - ist mit dem<br />

systematischen Katalog ein einzigartiger historischer Überblick über das gesamte mittelalterliche<br />

Buchwesen vorgelegt worden, dem auf lange Sicht nichts Vergleichbares wird an die Seite gestellt<br />

werden können. Peter Letkemann<br />

Helmut Börsch-Supan: Marmorsaal und Blaues Zimmer. So wohnten Fürsten. Berlin: Gebrüder<br />

Mann 1976. 176 S. m. 62 Abb. u. 8 Farbtafeln, brosch., 28 DM. (4. Bd. d. Gebr. Mann „studio-<br />

Reihe".)<br />

Vor 50 Jahren übernahm die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten das kulturelle<br />

Erbe der Hohenzoliern, soweit es noch als historisches Zeugnis der Schlösser und Gartenanlagen<br />

erhalten war. Diesem Umstand verdankt die vorliegende Schrift ihr Erscheinen. Sie ist gleichzeitig<br />

das Handbuch zur Ausstellung im Neringbau des Schlosses Charlottenburg, die vom 3. 9.<br />

bis 24. 10. 1976 dort stattfindet und Innenräume preußischer Schlösser und Palais in Aquarellen<br />

des 19. Jahrhunderts zeigt.<br />

In seinem umfangreichen Vorwort geht Börsch-Supan, seit 1961 in der Berliner Verwaltung der<br />

Staatlichen Schlösser und Gärten tätig, seit 1973 deren stellvertretender Direktor und wie kaum<br />

222


ein zweiter mit den hiesigen Gegebenheiten vertraut, auf Anlaß und Motivation dieser „Zimmermalerei"<br />

ein. Wie das Porträtieren ist auch das Abbilden von Wohnräumen ein Angehen gegen die<br />

Vergänglichkeit. Während die Außenarchitektur für die Dauer gedacht ist, bleibt das Innere durch<br />

Lebensgewohnheiten, Mode und politischen Einfluß einem ständigen Wandel unterworfen. Als<br />

Dokumente erscheinen darum diese Blätter so zuverlässig, wie es auch persönliche Notizen sind.<br />

Hier kann nachvollzogen werden, wie sich das tägliche Dasein mit der Fülle seiner Erlebnisse<br />

abgespielt hat. Anders als im Ausstellungskatalog (1970) von Irmgard Wirth: „Wohnen in Berlin<br />

- Berliner Innenräume der Vergangenheit", der auch den Komplex der bürgerlichen Wohnräume<br />

behandelt, stammen die hier gezeigten und sehr ausführlich beschriebenen Exponate überwiegend<br />

aus fürstlichen Sammlungen. Diese preußischen Beispiele von Intereurmalerei zeigen hauptsächlich<br />

die zu den Wohnfluchten gehörenden Wohnräume und Festsäle. Hinzu kommen noch sakrale<br />

Räume wie z. B. die Kapelle im Charlottenburger Schloß, repräsentative Säle z. B. im Berliner<br />

Stadtschloß, oder Stätten des patriotischen Gedenkens. Die Namen der Künstler sind oftmals nur<br />

wenig bekannt. Karl Beckmann, Eduard Gaertner, Carl und Paul Graeb, Johann Heinrich Hintze,<br />

Johann Erdmann Hummel, Friedrich Wilhelm Klose, Carl Rauch und Carl Friedrich Schinkel<br />

bilden die Ausnahme.<br />

Durch den sehr interessanten und aufschlußreichen Text, durch frühere textliche Überlieferungen<br />

sinnvoll ergänzt, und das umfangreiche Bildmaterial dürfte diese Publikation sowohl bei den<br />

Kunsthistorikern wie auch bei den an der Berliner Historie Interessierten auf ein positives Echo<br />

stoßen. Die technische Ausführung ist zufriedenstellend und der geforderte Preis entspricht dem<br />

Gebotenen. Claus P. Mader<br />

Lothar Baar: Die Berliner Industrie in der industriellen Revolution. Berlin: Verlag ,das europäische<br />

buch' o. J. [1974]. Unveränd. Neudruck der Ausg. Berlin (Ost): Akademie-Verlag 1966<br />

(Veröff. d. Instituts f. Wirtschaftsgesch. an d. Hochschule f. Ökonomie Berlin-Karlshorst, Bd. 4).<br />

267 S., brosch., 14,80 DM.<br />

Der Verfasser, Schüler des in Ost-Berlin lehrenden Wirtschaftshistorikers Hans Mottek, behandelt<br />

in dieser grundlegenden Studie eines der interessantesten Themen der deutschen Wirtschaftsgeschichte:<br />

die Entstehung der größten Industriestadt Deutschlands. Die im Rahmen der gesamten<br />

Industrialisierung typischen und atypischen Züge der speziellen Berliner Entwicklung, die bereits<br />

früh eine eigene Dynamik zeigt, werden für einzelne Industriebereiche, etwa der Textilindustrie,<br />

des Maschinenbaus sowie der chemischen und Elektroindustrie herausgearbeitet und von den Ursachen<br />

her erklärt. Für Baar als marxistischen Autor ist es selbstverständlich, die Entstehung der<br />

Klassenstruktur und -gegensätze breit zu erörtern. Problematisch bleibt hier die Zuordnung der<br />

handwerklich ausgebildeten Gewerbegehilfen, die wirtschaftlich und sozial in den ersten Phasen<br />

der Industrialisierung kaum Gemeinsamkeiten mit den auf wesentlich niedrigerem Lohnniveau<br />

stehenden Tagelöhnern und Dienstboten hatten. Erst durch die fortschreitende Mechanisierung<br />

verwischen sich - wie Baar richtig bemerkt - die Gegensätze. Ausführungen zur Lohnentwicklung<br />

und zu frühen Arbeitskämpfen sowie ein umfangreicher Tabellenanhang schließen den Band.<br />

Leider konnte in dem Neudruck die seit 1966 zu dem Thema erschienene Literatur nicht mehr<br />

berücksichtigt werden. Gerade zu diesem Komplex sind in der Zwischenzeit im Forschungsschwerpunkt<br />

„Frühindustrialisierung" der Historischen Kommission zu Berlin (West) und anderswo<br />

zahlreiche Publikationen herausgekommen. Der Neudruck hätte Anlaß für einen Diskussionsbeitrag<br />

Baars bieten können. Felix Escher<br />

Hans-Jochen Kehrl: Berliner Kind. Eine Jugend in der alten Reichshauptstadt. Heilbronn:<br />

Eugen-Salzer-Verlag 1972. 101 S., lamin. Pappband, 5,80 DM. (Salzers Volksbücher Nr. 155/56.)<br />

Der Verfasser dieses literarisch nicht sehr anspruchsvollen Bändchens schildert hier gefällig seine<br />

Kindheit sowie sein Jugendleben und -lieben vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg.<br />

So steht dann auch die persönliche Biographie im Mittelpunkt. Trotz allzu „berlinischer" Anekdoten<br />

und der besonders im letzten Kapitel „Herrliches Berlin" beschworenen Erinnerungen von<br />

den Pankgrafen bis zu den ehemaligen Fernbahnhöfen bleibt der Eindruck erhalten, daß die<br />

lokalen Schauplätze einer derartigen Lebensbeschreibung austauschbar sind. Auch die Lebensumstände<br />

des in gutbürgerlichem Milieu aufgewachsenen Autors zeigen keine Besonderheiten. Der<br />

engste Lebensbereich der Kindheits- und Jugendjahre, das östliche Friedenau und das Steglitzer<br />

Bismarckviertel, hätten zudem eine kompetentere Beschreibung verdient. Liebhaber von Erinnerungsliteratur<br />

mögen an diesem Bändchen ihre Freude haben, auch wenn das speziell Berlinische,<br />

das doch schon im Titel beschworen wird, weitgehend fehlt. Felix Esdier<br />

223


Erhard Frommhold: Otto Nagel. (Ost-)Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1974.<br />

416 S. mit 331 Abb., Leinen, 70 M.<br />

Otto Nagel: Die Gemälde und Pastelle. Bearb. von Sibylle Schallenberg-Nagel und Götz Schallenberg.<br />

Hrsg. von der Akademie der Künste der DDR und dem Märkischen Museum. (Ost-)<br />

Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1974. 212 S., 536 Abb., Leinen, 140 M.<br />

Kenntnisreich und einfühlsam stellt Erhard Frommhold Leben und Werk Otto Nagels, des<br />

„Klassikers vom Wedding", in einen weit gespannten Bogen. Das Schaffen und das Wollen des<br />

Malers und späteren Präsidenten des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands sowie der<br />

Deutschen Akademie der Künste zu Berlin wird anhand seiner eigenen Schriften und mit vielen<br />

Zitaten von Zeitgenossen beschrieben. Vor allem über die frühen Jahre wird man gut ins Bild<br />

gesetzt, etwa mit einer Geschichte des Weddings, wobei auch vermeintlichen Detailfragen viel<br />

Raum gelassen wird, so dem Problem des Mülls eine ganze Seite. Politisch mag eine gewisse<br />

Kopflastigkeit und gewollte Darstellungsart nicht zu übersehen sein, weil anstelle tatsächlicher<br />

Äußerungen dann „wahrscheinlich" oder „es ist anzunehmen, daß" steht. Hier schreibt Frommhold<br />

selbst: „Wenn auch die geistige Entwicklung Otto Nagels mit den von uns vorgestellten<br />

Beziehungen nicht immer ganz kongruent ist, so sind es doch ,die revolutionierenden Kräfte, die<br />

aus dem Buch in das Herz des proletarischen Lesers fluten' (Josef Luitpold Stern)".<br />

Niemand vermochte vielleicht Otto Nagel, den man einem „realistischen Expressionismus" zuordnen<br />

könnte, besser zu skizzieren als sein Weggefährte (und im übertragenen Sinne Lehrer)<br />

Heinrich Zille, der zu einer Ausstellung 1925/26 schrieb: „Die düstere Welt der Geknechteten<br />

und Versklavten - die elenden Quartiere der sonnenlosen Mietskasernen - die staubige Straße<br />

zur Erholung - die Rummelplätze, die Freude der heranwachsenden Jugend - wüste Schnapsschenken<br />

- üble Tanzsäle - Nachtasyle - arme Menschen mit verstörten, vergrämten Gesichtern -<br />

ausgemergelte, ausgesaugte Arbeitsinvaliden, hohläugig, erblindet - teilnahmslos vor sich hinstarrend<br />

- lallende Betrunkene - frierende Bettler hinter Schutthaufen der Fabriken und Zäune -<br />

die geschminkte Dirne mit flackerndem Auge im Licht der Bogenlampen, Hunger und Sinnlichkeit<br />

- all das hat uns Otto Nagel in seinen Bildern gezeigt Erschütternd - grau in grau - düster.<br />

Berlin N. Dort lebt O. Nagel und erlebte es von klein an Fabrikarbeiter, kränklich, nicht in<br />

Zeichenschulen nach Gipsköpfen und staatlich ausgesuchten Modellen gebildet - das Elend was er<br />

sah und sieht hat ihn zum Maler gemacht - er klagt an. Alles düster, trüb, grau - auch die<br />

Holzrahmen der Bilder grau - arm.<br />

Und doch - ich sah etwas freudige Farbe - die mit roter Pomade gefärbten Lippen der kleinen,<br />

verkümmerten, 16jährigen Straßendirne! Rote Farbe? - Nun so weiter. H. Zille."<br />

In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft zog sich Otto Nagel zurück, und gerade<br />

dieser Zeit verdanken wir sein wunderbares Werk der „Berliner Bilder". Vielfach im Wettlauf<br />

mit den Bomben hat er vor allem im historischen Herzen der Stadt mit seinen malerischen<br />

Mitteln festgehalten, was dann später ohnehin der Spitzhacke zum Opfer gefallen ist. „Ich habe<br />

sie schon immer geliebt, die alte Stadt; geliebt in achtungsvoller Verehrung", bekennt Otto<br />

Nagel. Die viellen Verpflichtungen kulturpolitischer Art (Nagel war nach dem Kriege auch<br />

Landtagsabgeordneter) ließen ihn weniger an sein künstlerisches Schaffen denken, als Persönlichkeiten<br />

wie er beim Aufbau und bei der Gestaltung des neuen Staatswesens benötigt wurden.<br />

Frommhold beschreibt für diese letzte Periode Nagel als „eine ausgesprochen reife Künstlerpersönlichkeit,<br />

deren Rolle sich nun im ungefähren Gleichklang mit der objektiven Entwicklung<br />

der Gesellschaft befindet, mit einer Umwelt, die seine Hoffnungen und die auf ihre Erfüllung<br />

hinzielenden Taten, praktisch-staatlich zu verwirklichen trachtet. Nagels Persönlichkeit ist in den<br />

kulturellen Überbau der neuen Gesellschaft faktisch eingeschlossen". Sein Wächteramt nahm<br />

Nagel übrigens durchaus ernst, wenn er sich etwa 1951 über seinen Kollegen Horst Strempel<br />

äußert: „. . . es wäre an der Zeit, daß er nun endlich mal sein Friedrichstraßenbild abwäscht<br />

und den Beweis antritt, daß er jetzt zu anderen Leistungen fähig ist". In der Tat wurde dieses<br />

berühmte Wandbild im Bahnhof Friedrichstraße dann kurz darauf übertüncht.<br />

Seiner Frau Walli Nagel (Otto Nagel schrieb übrigens Wally) wird ein warmherziges Vorwort<br />

eingeräumt, bei dem allenfalls anzumerken wäre, daß man vom Haus Turiner Straße 10 nicht<br />

auf den Invalidenfriedhof blicken kann, sondern auf den heute noch bestehenden Garnisonfriedhof.<br />

Bei aller Zurückhaltung gegenüber dem privaten Lebensbereich auch eines großen<br />

Menschen muß in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, warum zwar Lotte als<br />

Tochter aus erster Ehe erwähnt wird (1930 schied sie vierzehnjährig freiwillig aus dem Leben),<br />

warum bei sonst minuziösem Lebenslauf aber weder von der Eheschließung gesprochen, noch der<br />

Name dieser Frau erwähnt wird.<br />

Wer Otto Nagel als Berliner Maler schätzt und sich von der Atmosphäre seiner Berliner Bilder<br />

verzaubern läßt, wird an diesem umfassenden Werk nicht vorübergehen können.<br />

Dem Werkverzeichnis, dem zweiten hier anzuzeigenden Titel, ist eine Betrachtung der beiden<br />

Bearbeiter über das malerische Werk Otto Nagels vorangestellt worden. Das Katalogwerk<br />

bedient sich der chronologischen Reihenfolge und führt sämtliche Werke in kleinformatigen Abbil-<br />

224


düngen auf, soweit sie entsprechend belegt werden konnten. Alle auch sonst durch Ausstellungsverzeichnisse,<br />

Erwähnung in Literatur und Presse oder andere Dokumente nachweisbaren Werke<br />

sind aufgeführt worden, auch die verschollenen und die inzwischen wieder aufgetauchten Arbeiten.<br />

Diese Dokumentation wird abgerundet durch ein Verzeichnis der Ausstellungen und Angabe<br />

der dort gezeigten Bilder, durch eine Liste der Museen mit Werken Otto Nagels und einige<br />

Angaben zur Bibliographie. Vorangestellt wurden 75 zum Teil farbige Tafeln, die die wichtigsten<br />

Arbeiten Nagels im Großformat zeigen. H. G. Schultze-Berndt<br />

Ursula Herking: Das Beste aus meiner berlinerischen Witze- und Anekdotensammlung. 2. Aufl.<br />

München: Heyne 1975. 108 S., brosch., 2,80 DM. (Heyne-Buch Nr. 5181.)<br />

Ihr Vorwort leitet Ursula Herking mit den Sätzen ein: „Ich bin keine Berlinerin - ich bin eine<br />

geworden. Wenn man unter Berliner sein das versteht, was ich meine: herzerfrischende Direktheit,<br />

augenzwinkernden Mutterwitz - und die Fähigkeit, auch die seltsamsten und die bedrückendsten<br />

Lebenssituationen mit jener ganz bestimmten Mischung aus patenter Klugheit und bewußter<br />

Arroganz zu meistern." Ihr Mann Ulrich Glass teilt in einem Postskriptum mit, daß seine Frau<br />

für dieses Buch nicht mehr Korrektur lesen konnte. Sie starb am 17. November 1974.<br />

Es ist verdienstvoll, wenn Prominente, wie die hier als große Komödiantin bezeichnete Ursula<br />

Herking berlinerische (oder berlinische?) Anekdoten und Witze sammeln. Ob deren Veröffentlichung<br />

etwas über den Charakter des Herausgebers aussagt, muß in Frage gestellt werden. Die<br />

hier vorgelegte Sammlung ist ein guter Querschnitt durch alles, woran man schon einmal seine<br />

Freude gehabt hat. Lachen wir mit Ursula Herking und all ihren Verehrern über die folgende<br />

Begebenheit: „Karajan dirigierte seine Berliner Philharmoniker. Als der rauschende Begrüßungsapplaus<br />

verklungen war, hob der Gefeierte den Taktstock. Doch gerade in diesem Augenblick<br />

knallte eine Logentür zu. Mit unwilliger Gebärde ließ er den Stab sinken, konzentrierte sich<br />

einige Zeit und hob ihn erneut. Die Geiger setzten schon die Bogen an, da erlitt eine Dame im<br />

Parkett einen heftigen Hustenanfall. Der Dirigent klopfte ab und schüttelte böse den Kopf. Als<br />

er dann den Taktstock zum drittenmal aufnahm, ertönte vom obersten Rang eine markige Männerstimme:<br />

,Na, jetzt aba Mut, Meista!'" H. G. Schultze-Berndt<br />

Per Daniel Amadeus Atterbom: Reisebilder aus dem romantischen Deutschland. Jugenderinnerungen<br />

eines romantischen Dichters und Kunstgelehrten aus den Jahren 1817 bis 1819. Neu hrsg. r*J,l^<br />

von Elmar Jansen nach dem Erstdruck „Aufzeichnungen des schwedischen Dichters P. D. A.<br />

Atterbom über berühmte deutsche Männer und Frauen nebst Reiseerinnerungen aus Deutschland<br />

und Italien aus den Jahren 1817-1819", Berlin 1867. Stuttgart: Steingrüben Verlag 1970. Leinen,<br />

439 S., 24 DM.<br />

Per Daniel Amadeus Atterbom, 1790 im schwedischen Asbo geboren, hat auf seiner Bildungsreise<br />

von 1817 bis 1819 nach Süddeutschland, Rom und Wien zweimal längere Zeit in Berlin Station<br />

gemacht. Seit 1828 war er Professor für Ästhetik, 1855 ist er vor Veröffentlichung seiner Reiseerinnerungen<br />

verstorben. Betulich und weitschweifig schildert er in Briefform seine Erlebnisse und<br />

- der Zeit entsprechend - seine Empfehlungen, mit denen er Hans Christian Andersen einerseits<br />

und Philipp Otto Runge andererseits zur Seite gestellt wird. Es ist erstaunlich, bei welchen Geistesheroen<br />

er als junger Schwede Zugang findet und wie treffsicher er sie beurteilt, so E. T. A.<br />

Hoffmann und Ludwig Devrient, Friedrich Schlegel, Grillparzer, Beethoven, Schleiermacher und<br />

Hegel, vor allem aber Jean Paul, Tieck, Rücken, Gneisenau, Schelling und Baader. Seine Beobachtungen<br />

verbindet er mit Schilderungen von der Reise, von Theater und Literatur, Architektur<br />

und Landschaft. Ist er zunächst von der geistigen Atmosphäre Berlins ganz gefangen genommen<br />

und voll des Lobes, so wird er ihr mit romantischer Heftigkeit bald überdrüssig. Es wirkt heute<br />

erheiternd, wenn man liest: „Tieck und ich sprachen auch viel über die literarischen und politischen<br />

Zustände Deutschlands, wobei er mich mit belegten Butterbroten und edlem Rheinwein<br />

erfreute." Nicht eben schmeichelhaft ist sein Eindruck vom Deutschen Dom, der „vermutlich ein<br />

Meisterstück des architektonischen Geschmacks Friedrichs des Zweiten ist, aber trotzdem aussieht<br />

als ob (er) vom Zuckerbäcker gebaut worden wäre". Auch mit den Gewässern Berlins hat er<br />

nicht viel im Sinn: „Das Trockene der Berliner Lage und das Dürre seiner Natur wird nur unbedeutend<br />

von dem kleinen Flusse Spree erfrischt, der quer durch die Stadt fließt. Man könnte<br />

ihn eher einen Bach nennen . . ." Einer Hymne auf die Herrlichkeit der Landschaft und der<br />

Schönheit der Menschen Dresdens folgt der Ausruf: „Was erlebte ich dahingegen in Berlin? Staub,<br />

Hundstagshitze, schwerfällige Eindrücke und Magenleiden." Mit diesen mag es auch zusammenhängen,<br />

daß er Charlottenburg und Stralau als die einzigen schönen Landorte in der Nachbarschaft<br />

von Berlin bezeichnete. Die „merkwürdige Passion der Berliner für Dünnbier", die ihm<br />

aufgefallen ist, scheint ein Novum in der Literatur zu sein.<br />

225


Dem Herausgeber ist dennoch beizupflichten, daß diese fast unbekannten Reiseerinnerungen in<br />

ihrer jugendlich-frischen Erzählweise 100 Jahre nach ihrem deutschen Erstdruck eine neue Ausgabe<br />

rechtfertigen. H. G. Schultze-Berndt<br />

Theodor Fontane. Briefe aus den Jahren 1856-1898. Hrsg. von Christian Andree. Berlin: Berliner<br />

Handpresse 1975. 58 S., 1 Faksimile, Großformat, biblioph. Pappbd., 38 DM. (Berliner<br />

Handpresse, Reihe Werkdruck Nr. 4.)<br />

Die hier vorliegende Sammlung umfaßt 76 Briefe, die bisher nicht oder nur sehr unvollständig<br />

veröffentlicht wurden. Sie befinden sich im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Universitätsbibliothek<br />

Bonn und in privater Hand. Es handelt sich hierbei um Briefe des Dichters an<br />

seine Frau Emilie, seine Kinder Mete und Friedrich und an fremde Persönlichkeiten wie den<br />

Literaturhistoriker und Theaterleiter Otto Brahm, den Kritiker Sigfried Samosch, Ernst Wiehert<br />

sowie Max Liebermann. Zuschriften an Verlage und Redaktionen ergänzen diese Sammlung. Der<br />

Text der einzelnen Briefe folgt den Originalen buchstabengetreu. Ein Nachwort, Anmerkungen<br />

und ein kommentierendes Register komplettieren diese Edition. Das Ganze entpuppt sich als ein<br />

buntes Allerlei aus Fontanes Lebens- und Arbeitswelt.<br />

Es bleibt jedoch zu fragen, ob die aufwendige Edition dieser Texte unbedingt zum Programm<br />

der „Handpresse" gehören mußte, deren Intentionen eigentlich auf einer anderen, mehr den<br />

bibliophilen Raritäten zugewandten Ebene liegen sollten. Wenn schon diese Briefe veröffentlicht<br />

werden mußten, so hätten bei diesem Großformat hier unbedingt Faksimiles mehrerer Briefe abgedruckt<br />

werden können. Als „Lesebuch" ist es zu unhandlich und für den Preis inhaltlich leider<br />

auch etwas zu wenig. Claus P. Mader<br />

Eingegangene Bücher<br />

(Besprechung vorbehalten)<br />

Albertz, Heinrich: Dagegen gelebt - Von den Schwierigkeiten, ein politischer Christ zu sein.<br />

Gespräche mit Gerhard Rein. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1976. 124 S. (rororo aktuell,<br />

\ Nr. 380.)<br />

Berend, Alice: Spreemann & Co. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1976. 287 S. "< "<br />

Carle, Wolf gang: Das hat Berlin schon mal gesehn. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes, nach<br />

einer Dokumentation von Heinrich Martens. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1975. 220 S. mit<br />

Abb.<br />

Curjel, Hans: Experiment Krolloper 1927-1931. Aus dem Nachlaß hrsg. von Eigel Kruttge.<br />

München: Prestel 1975. 504 S. mit Abb. (Studien zur Kunst des 19. Jh.s, Bd. 7.)<br />

1/ Drewitz, Ingeborg: Das Hochhaus. Roman. Stuttgart: Gebühr 1975. 247 S. TM,"<br />

Eggebrecht, Axel: Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt<br />

1975. 326 S.<br />

Fcrnau, Rudolf: Als Lied begann's. Lebenstagebuch eines Schauspielers. München: Deutscher<br />

O Taschenbuch-Verlag<br />

1975. 349 S. (dtv-Taschenbuch Nr. 1092.)<br />

Gnewuch, Gerd, und Kurt Roth: Aus der Berliner Postgeschichte. Von der OPD zur LPD Berlin -<br />

1850-1975. Hrsg. von der Gesellschaft f. deutsche Postgeschichte e. V., Bezirksgruppe Berlin<br />

1975. 256 S. mit Abb. u. Plänen.<br />

Goeser, Johannes P.: Die Geschwister Michelsohn aus der Flamingostraße. Ein Berliner Familienroman.<br />

Bremen: Jacobi 1975. 484 S.<br />

Harraeus, Karl: Beiträge zur Geschichte der Familie Spener. München: Verlag UNI-Druck 1973.<br />

135 S. mit Abb., 18 Klapptaf. 2* § J<br />

Hochhuth, Rolf: Die Berliner Antigone. Prosa und Verse. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1975.<br />

126 S. (rororo-Taschenbuch Nr. 1842.) 3,6"<br />

Johnson, Uwe: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975. 115 S. (Suhrkamp-<br />

Taschenbuch Nr. 249.)<br />

fugend fragt - Prominente antworten. Hrsg. von Rudolf Ossowski. Berlin: Colloquium 1975.<br />

316 S.<br />

Kocka, Jürgen: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914.<br />

Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung. Stuttgart:<br />

Klett 1969. 639 S.<br />

König, Rolf: Det is knorke. Berliner Witze, Tvpen und Originale. Berlin: Rembrandt 1975.<br />

127 S. mit 111.<br />

Laqueur, Walter: Weimar - Die Kultur der Republik. Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein<br />

1976. 391 S. mit 121 Abb.<br />

226


Lavater-Sloman, Mary: Der vergessene Prinz. August Wilhelm, Prinz von Preußen, Bruder Friedrichs<br />

des Großen. Zürich/München: Artemis 1973. 455 S., 1 Abb.<br />

Lemmer, Konrad (Hrsg.): Berliner Anekdoten und Geschichten. Berlin: Rembrandt 1974. 136 S.<br />

mit Abb. u. 111.<br />

Mehring,Walter: Die Linden lang, Galopp, Galopp! Songs, Balladen und Chansons. (Ost-)Berlin:<br />

Henschelverlag 1976. 188 S. mit Abb.<br />

Mete Fontane - Briefe an die Eltern 1880-1882. Hrsg. und erläutert von Edgar R. Rosen. Frankfurt<br />

a. M./Berlin/Wien: Ullstein 1975. 335 S. (Ullstein-Buch Nr. 4602.)<br />

Möller, Horst: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich<br />

Nicolai. Berlin: Colloquium 1974. VIII, 629 S. (Einzelveröff. d. Hist. Kommission zu Berlin,<br />

Bd. 15.)<br />

Pomplun, Kurt: Berliner Allerlei. Kreuz und quer durchs Häusermeer. Berlin: Hessling 1975.<br />

94 S. mit 111. (Schriften zur Berliner Kunst- u. Kulturgeschichte, Nr. 16.)<br />

Schlesinger, Klaus: Alte Filme. Eine Berliner Geschichte. Frankfurt a. M.: S.Fischer 1976. 124 S.<br />

Schramm, Adalhert Georg: Heiteres vom dritten Hof. Ein Blick in das Herz des Berliners. Zeichnungen<br />

von Hans Kossatz. Berlin: Rembrandt 1974. 79 S. mit 111.<br />

Schumacher, Ernst: Berliner Kritiken. Ein Theater-Dezennium 1964-1974. 2 Bände. (Ost-)Berlin:<br />

Henschelverlag 1975. Zus. 850 S. mit Abb.<br />

Seidel, Heinrich: Leberecht Hühnchen. Roman. Bremen: Jacobi 1975. 357 S.<br />

Soschka, Cyrill: Wer dann die Sonne noch sieht. Jahre einer Jugend - Fast ein Roman. München:<br />

Thiemig 1974. 301 S.<br />

Tschechne, Wolfgang: Heinrich Zille - Hofkonzert im Hinterhaus. Geschichten aus (manchmal)<br />

gemütlichen Jahren. Hannover: Fackelträger 1976. 192 S. mit Abb. u. Zeichn.<br />

Wedding - Stadt in der Stadt. Ein Berliner Bezirk stellt sich vor. Berlin/Wien: Haupt & Koska<br />

1973. 128 S. mit Abb.<br />

Widerra, Rosemarie: Hans Baluschek - Leben und Werk. Sonderausstellung anläßlich des lOOjährigen<br />

Bestehens des Märkischen Museums. Katalog. (Ost-)Berlin: Märkisches Museum 1974.<br />

84 S. mit 26 Abb.<br />

Wyssozki, V.: Westberlin. Berlin: Das europäische Buch 1974 (Lizenz: Verlag „Progress", Moskau).<br />

399 S. mit Abb. u. Zeichn.<br />

Zivier, Georg; Hellmut Kotschenreuther und Volker Ludwig: Kabarett mit K. Fünfzig Jahre<br />

große Kleinkunst. Mit Zeichn. von Rainer Hachfeld. Berlin: Berlin-Verlag 1974. 156 S. mit<br />

Abb.<br />

Im III. Vierteljahr 1976<br />

haben sich folgende Damen und Herren<br />

Helmut Camphausen, Student<br />

5 Köln 60, Mathias-Schleiden-Straße 21<br />

(Brauer)<br />

Heinz Jürgen Eichelberg, Apotheker<br />

1 Berlin 33, Miquelstraße 69<br />

Tel. 8 32 81 69 / 21 79 89 (Brauer)<br />

Dr. Heinrich Jonas, Landwirtschafts-Schuldir.<br />

238 Schleswig, Spielkoppel 7<br />

Tel. (0 46 21) 2 37 31 (Rose-Marie Cramer)<br />

Christine Linke, Bibl.-Insp.-Anwärterin<br />

1 Berlin 21, Altonaer Straße 21<br />

Tel. 3 91 32 00 (Günther Linke)<br />

zur Aufnahme gemeldet:<br />

Rudolf Maron, Techn. Angestellter<br />

1 Berlin 41, Grabertstraße 8 b<br />

Tel. 7 96 13 50 (Brauer)<br />

Gerhard Reso, Studienrat<br />

46 Dortmund 50, Stortsweg 12 a<br />

Tel. (02 31) 75 01 66 (Schriftführer)<br />

Dr. Ursula Jentzsch, Wiss. Mitarbeiterin<br />

1 Berlin 33, Lassenstraße 41<br />

Tel. 8 26 12 61 (Dr. I. Stolzenberg)<br />

227


Veranstaltungen im IV. Quartal 1976<br />

1. Sonnabend, 16. Oktober 1976, 11 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Park und<br />

Landschaft in Berlin und in der Mark" im Berlin-Museum, 1 Berlin 61, Lindenstraße<br />

14. Leitung: Herr Christian Arndt. Treffpunkt im Foyer.<br />

2. Sonnabend, 23 Oktober 1976, 9 Uhr: Wanderung durch den Grunewald. „Erholung<br />

im naturgemäßen Wirtschaftswald". Leitung: Forstamtsleiter Martin Michaelis.<br />

Treffpunkt: S-Bahnhof Eichkamp.<br />

3. Dienstag, 26. Oktober 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Bernd<br />

Peschken: „Das Berliner Stadtschloß und die italienische Palastarchitektur". Filmsaal<br />

des Rathauses Charlottenburg.<br />

4. Dienstag, 9. November 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Michael<br />

Engel: „Berliner Synagogen, zur Topographie und Baugeschichte". Filmsaal des<br />

Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Dienstag, 23. November 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans-<br />

Werner Klünner: „Die letzten 100 Jahre des Berliner Stadtschlosses". Filmsaal des<br />

Rathauses Charlottenburg.<br />

6. Dienstag, 14. Dezember 1976, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter<br />

Wollschlaeger: „Beispiele Berliner Jugendstilarchitektur". Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

7. Sonnabend, 18. Dezember 1976, 14.30 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein.<br />

Der „Instrumentalkreis für alte Musik auf historischen Instrumenten" (Drehleier,<br />

Dulciane, Psalter, Zink, Krummhörner u. a.) spielt Musik des 14.-17. Jahrhunderts.<br />

Leitung und Einführung in die Instrumente: Otto Ruthenberg. Restaurant der<br />

Hochschul-Brauerei, 1 Berlin 65, Amrumer Straße 31, Ecke Seestraße. (U-Bahnhof<br />

Amrumer Straße, Busse 16, 64, 65, 89.)<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek<br />

ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 29. Oktober, 26. November, 17. Dezember, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für die Jahre 1975 und 1976. Auf Wunsch kann<br />

eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1 Berlin 31,<br />

Blisscstraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt, Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

228


~- Ratsfeib!i©fef$©k A 2Q 377 F<br />

Fachabt d«rBsri!n«rStadlä<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

73.Jahrgang Heft 1 Januar 1977.<br />

^Ec"—^Z-**B~-'<br />

Lokomotivfabrik, Waggonfabrik,<br />

Weichen- und SignaTbauanstalt<br />

Abi. Lokomotivbau<br />

Jährliche Produktion unserer Lokomotivfabrik 600 Lokomotiven.<br />

BAU VON LOKOMOTIVEN JEDER ART<br />

FÜR HAUPT-, NEBEN- U. KLEINBAHNEN<br />

Lokomotiven mit kurvenbeweglichen Hohladisen<br />

Heissdampf-Lokomotiven • Trambahn-Lokomotiven<br />

Tunnel - Lokomotiven • Zahnrad - Lokomotiven<br />

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3/4 gekuppelte 1 ender-Lokumom •• 500?. S. f-äm SfHtrwwte — 6Ü000 k# t »ienst^ewicht<br />

Geltefari tw St KSnig i and Heisiscnen Staatse^-.<br />

Lieferantin der König!. Preussischen und Hessischen Staatseisenbahnen<br />

D D D sowie der Deutschen Reichs-Kolonial-Eisenbahnen-- o a a<br />

h<br />

•<br />

•<br />

•<br />

229


(<br />

Hundert Jahre Orenstein & Koppel 1876-1976<br />

Von Kurt Pierson<br />

Geht man der Geschichte alteingesessener Berliner Maschinenbau-Betriebe nach, so<br />

verliert sie sich für die heutige Generation nicht selten in bereits verschwommene Sphären.<br />

Es ist daher für den Historiker eine reizvolle Aufgabe, soweit wie möglich diesen Vorhang<br />

zu lüften, um den Blick freizugeben in eine Vergangenheit, in der sich so mancher Betrieb<br />

in unserer Stadt zu einer Weltfirma entwickelte.<br />

Eines dieser Großunternehmen, die den Namen Berlin um den Erdball trugen und deren<br />

Hauptsitz sich heute in Dortmund befindet, ist die Firma Orenstein & Koppel, die am<br />

15. Mai 1976 auf ihr hundertjähriges Bestehen zurückblicken konnte. Ihre Gründungsakte<br />

war ein Gesellschaftervertrag, der zwischen den Herren Arthur Koppel, wohnhaft Krausnickstraße<br />

7, und Benno Orenstein, wohnhaft Grenadierstraße 7, abgeschlossen wurde. In<br />

seinem Paragraph 1 heißt es: „Die Herren Koppel und Orenstein errichten unter der<br />

gemeinschaftlichen Firma Orenstein & Koppel am hiesigen Platz eine offene Handelsgesellschaft<br />

zum Zwecke des Betriebes eines Hütten- & Bergwerksprodukten-Geschäftes."<br />

Diese Formulierung ist an sich ein dehnbarer Begriff; in Wirklichkeit schwebte den beiden<br />

Geschäftspartnern ein Industriezweig vor, durch den ihre Firma eines Tages groß und<br />

berühmt werden sollte: Der Bau von Feldbahnmaterial sowie, in ferner Zukunft, die<br />

Anlage ganzer Klein- und Nebenbahnen. Dabei kam ,ihnfen der zu dieser Zeit ungeahnte<br />

Aufschwung der Zuckerrübenindustrie in Deutschland zugute. Die dabei benutzten Pferdefuhrwerke<br />

versanken angesichts der saisonbedingten feuchten Jahreszeit während der<br />

Rübenkampagne auf den schlechten Landwegen oft bis zu den Achsen. Zum ersten Mal<br />

bewährte sich hier das System der Feldbahnen, wenn auch gegen anfänglichen Protest der<br />

Fuhrwerksbesitzer, die sich geschädigt fühlten. Andere Wirtschaftszweige wurden ebenfalls<br />

aufmerksam und bedienten sich der leichten Transportgleise und Wagen in den verschiedenartigsten<br />

Formen. Selbst der deutsche Generalstab baute diese Möglichkeit des<br />

militärischen Nachschubs in seine strategischen Pläne ein. Die Aufträge häuften sich und<br />

es sah ganz so- aus, als ob das junge Unternehmen auf dem eingeschlagenen Wege ein<br />

führender Faktor im deutschen Wirtschaftsgeschehen werden würde.<br />

Der wachsende Erfolg veranlaßte jedoch Arthur Koppel im Jahre 1885, aus dem bisherigen<br />

Partnerschaftsverhältnis auszuscheiden und sich selbständig zu machen. Es entstanden die<br />

beiden Firmen „Orenstein & Koppel" und „Arthur Koppel". In einem Vertrag von fünfjähriger<br />

Gültigkeit grenzten beide Unternehmen ihren Arbeitsbereich ab: Arthur Koppel<br />

übernahm auf dem Gebiet des Feldbahnwesens das Auslandsgeschäft, Benno Orenstein<br />

das Inlandsgeschäft.<br />

Waren beide Firmen bisher vorwiegend Handelsunternehmen, so machte der rapide<br />

ansteigende Umsatz eine Eigenproduktion erforderlich. Im Jahre 1886 entstanden die<br />

ersten Werkstätten der Firma Orenstein & Koppel am Tempelhofer Ufer in Berlin,<br />

1893/94 folgten die ersten Fabrikanlagen auf einem militärfiskalischen Gelände am Bahnhof<br />

Tempelhof bei Berlin und in Dorstfeld bei Dortmund, während Arthur Koppel neben<br />

einem gepachteten Werksgelände am Tempelhofer Ufer weitere Fabriken in Bochum<br />

und Wolgast (Pommern) schuf. Das Fertigungsprogramm beider Firmen bestand in der<br />

Herstellung von Weichen, Drehscheiben, Gleisen sowie Wagen unterschiedlichster Art<br />

230


für Feld- und Kleinbahnen mit den Spurweiten von 500 bis 900 mm, wobei das Schwergewicht<br />

nicht zuletzt auf Normung und Vorratsbau lag.<br />

Die Beförderung der Wagen auf Feldbahngleisen mit Pferden erreichte schließlich eine<br />

Grenze, die die Verwendung leichter Feldbahnlokomotiven zwingend notwendig machte.<br />

Die Erschließung billigen Waldterrains entlang der Havelseen südwestlich von Berlin<br />

durch die sog. „Wannseebahn" veranlaßte den Ingenieur Max Orenstein, ein Bruder des<br />

Firmengründers, zur Errichtung einer eigenen Lokomotivfabrik im späteren Villenvorort<br />

Schlachtensee. Hier wurden einfache, robuste Feldbahnlokomotiven von 10 bis 80 PS<br />

hergestellt; doch auch hin und wieder normalspurige Lokomotiven, wie z. B. für eine<br />

dänische Nebenbahn, verließen in der kurzen Zeit der Fertigung dieser Fabrik von 1892<br />

bis 1898 das Werk, das etwa siebzig Menschen beschäftigte und im Schnitt wöchentlich<br />

eine Lokomotive zum Versand brachte. Das „Verwaltungsgebäude" der Fabrik, ein einfaches,<br />

zweistöckiges Wohnhaus am Rande des ehemaligen Werksgeländes, heute Breisgauer<br />

Straße 5, erinnert noch an die damalige Zeit.<br />

1897 wurde die bisherige offene Handelsgesellschaft Orenstein & Koppel in die „Aktiengesellschaft<br />

für Feld- und Kleinbahnbedarf, vorm. Orenstein & Koppel" umgewandelt.<br />

Gemäß Eintragung in das Handelsregister befaßte sich die Gesellschaft mit „Fabrikation<br />

und Ankauf von Materialien, Werkzeugen, Wagen und Maschinen zum Bau und zur Ausrüstung<br />

von Eisenbahnen, insbesondere von Feld-, Industrie- und Kleinbahnen sowie zu<br />

Brücken- und Wasserbauten aller Art, ferner Verkauf und sonstige Verwertung, namentlich<br />

231


MÄRKISCHE<br />

)KOMOTIV-FABRIK<br />

3CHLACHTENSEE UND BERLIN.<br />

Telegramm - Adresse:<br />

Lokoirrttiv-FaBrik Schlachtensee.<br />

ernspreeb - Anscmuss:<br />

Amt Wannsee 25.<br />

Telegramm - .Adresse:<br />

Märkische Lokc-motiv-Fabrik<br />

Berlin 8.<br />

Fernsprech-Ansertriiss: Amt 1. 397.<br />

NämmtHche OMTWyowhaawi sind zu riehteil<br />

Stadt-Geschäft:<br />

/VI Ä RKISCHE |_OKOMOTW - j 7 ABRIK<br />

BERLIN VV.<br />

WF~ Friedrich-Strasse No. 59 60<br />

EQUITABLE -GEBÄUDE.<br />

Titelseite des Firmenkatalogs<br />

der „Märkischen Lokomotivfabrik", 1892<br />

Vermietung der zu vorgedachten Zwecken erforderlichen und geeigneten Artikeln, endlich<br />

Übernahme des Baues von Feld-, Industrie- und Kleinbahnen sowie von normalspurigen<br />

Anschlußgleisen".<br />

Zu jener Zeit waren die Fabriken in Tempelhof und Schlachtensee an ihrer Kapazitätsgrenze<br />

angelangt. Auch konnte die Firma Orenstein & Koppel nach Ablauf des fünfjährigen<br />

Abgrenzungsvertrages mit Arthur Koppel jetzt selbst exportieren und gründete<br />

ein eigenes, über die ganze Welt verzweigtes Verkaufsnetz. Aus zolltechnischen Gründen<br />

entstanden zusätzlich neue Fabriken in Lieben bei Prag, St. Lörincz bei Budapest, Kolo<br />

bei Warschau sowie in St. Petersburg (Rußland) und Val St. Lambert (Belgien).<br />

Am 31. Dezember 1898 wurde die „Märkische Lokomotivfabrik" in Schlachtensee stillgelegt<br />

und am 2. Januar 1899 ein neu errichtetes Werk in Drewitz bei Potsdam in Betrieb<br />

genommen, das sich zu einer bedeutenden Lokomotivfabrik im Berliner Raum entwickeln<br />

sollte. Gleichzeitig wurde anstelle der Werksanlagen in Tempelhof eine Waggon- und<br />

Weichenbau-Anstalt in Spandau errichtet.<br />

In Drewitz konnte Max Orenstein seine Vorstellungen von rationeller Arbeitsweise und<br />

entsprechender Lagerhaltung voll und ganz entfalten. Mittelpunkt der Lokomotivfabrik<br />

war der für Generationen von Werksangehörigen unvergessene „Cirkus", ein kreisrunder<br />

232


Teilansicht der Fabrik von Orenstein & Koppel in Drewitz mit kreisrunder Montage (Zirkus)<br />

Kuppelbau, in dessen Mitte ein um seine Mittelachse sich drehender Portalkran arbeitete.<br />

Hier lief ein ununterbrochenes Fertigungsprogramm von Feldbahnlokomotiven ab, die, wie<br />

aus einer Zentrifuge geschleudert, bis in die äußersten Winkel der Welt gelangten, wo sie<br />

vereinzelt noch heute, nach siebzig Jahren, anzutreffen sind. Als zu Beginn dieses Jahrhunderts<br />

die Fabrik auch die ersten Aufträge seitens der damaligen Kgl. Preußischen<br />

Staatsbahnen erhielt, trat sie in die Fertigung von Vollbahnlokomotiven ein und wurde<br />

neben ihrem bisherigen Fertigungsprogramm zu einer Lieferantin namhafter europäischer<br />

und außereuropäischer Eisenbahnverwaltungen.<br />

Zu den wichtigsten Arbeitsgebieten der „Aktiengesellschaft für Feld- und Kleinbahnbedarf,<br />

vorm. Orenstein & Koppel" gehörte die Bahnabteilung. Ursprünglich für die<br />

Anlage von Anschlußgleisen an die Staatsbahnen innerhalb Deutschlands gedacht, ging<br />

man bereits im Jahre 1895 zum Bau der ersten kompletten Eisenbahn über, die sowohl<br />

dem Personen- wie auch dem Güterverkehr dienen sollte: Die 22 km lange Rosenberger<br />

Kreisbahn in Oberschlesien. Es folgten als weiterer größerer Bau im Jahre 1899 eine<br />

rd. 85 km lange Bahn im Kreis Wirsitz (Prov. Posen) sowie, als Großprojekt, in der Zeit<br />

von 1903 bis 1906 im damaligen Deutsch-Südwestafrika die 600 km lange Otavi-Bahn<br />

mit allem rollenden Material, und im Jahre 1912 die 5 km lange Bahnlinie von Wannsee<br />

zu den Berliner Friedhöfen bei Stahnsdorf, um nur einige wenige Objekte zu nennen.<br />

Als Arthur Koppel im Jahre 1908 unerwartet in Baden-Baden starb, gingen seine Unternehmen,<br />

zu denen auch eine Maschinenfabrik in Koppel bei Pittsburg (USA) gehörte,<br />

an Orenstein & Koppel über. Zu dieser Zeit stand die Firma im Zenit ihres Bestehens und<br />

ihre weltumfassende Bedeutung wurde durch das Sinnbild der Weltkugel am First der<br />

Vorderfront ihres Gebäudekomplexes am Tempelhofer Ufer zum Ausdruck gebracht,<br />

der Sitz der Zentralverwaltung des Konzerns war und von dem aus die Verbindungen zu<br />

den Niederlassungen rund um den Erdball gingen. Die beiden wichtigsten Betriebe be-<br />

233


fanden sich ebenfalls im Berliner Raum, wie aus dem Titelbild eines damaligen Verkaufsprospektes<br />

hervorging: Die Lokomotivfabrik in Drewitz und die Waggonfabrik mit Weichen-<br />

und Signalbauanstalt in Spandau. Letztere hatte kurz nach der Jahrhundertwende<br />

auch mit der Herstellung von Eimerkettenbaggern begonnen. Diese zunächst noch aus<br />

Eisen und Holz konstruierten Geräte, die durch Dampflokomobile oder Spiritusmotoren<br />

angetrieben wurden, waren die Vorstufe zu den ersten, ebenfalls in Spandau entwickelten<br />

Löffelbaggern.<br />

Im Jahre 1911 kauften O & K den überwiegenden Anteil an der Lübecker Maschinenbau-<br />

Gesellschaft, deren Spezialität Eimerketten-Trockenbagger bildeten, doch auch Elevatoren,<br />

Schiffe und dergl. befanden sich im dortigen Fertigungsprogramm. Ein weiteres, für<br />

O & K wichtiges Unternehmen, die „Montania AG" in Nordhausen, die Rohölmotore,<br />

Explosionsmotor-Lokomotiven für Schmalspur sowie Gesteinsbohrmaschinen herstellte,<br />

wurde dem Konzern eingegliedert, der im Jahre 1914 über insgesamt zwölf Werke verfügte.<br />

Nach Überwindung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges<br />

kamen die Dessauer und Gothaer Waggonfabriken hinzu. Elektro- und Diesellokomotiven<br />

für Rangierzwecke sowie Ackerschlepper und Lastwagenanhänger, ja sogar Flugzeuge<br />

wurden in das Lieferprogramm aufgenommen. Aus Lübeck kamen die neuen Schaufelradbagger;<br />

die Schiffswerft an der Trave war vollauf beschäftigt.<br />

Die Zeit von 1933 bis 1945 brachte auch für die Firma Orenstein & Koppel tiefgreifende<br />

Veränderungen. Ihr Name wurde im Jahre 1941 in die Bezeichnung „Maschinenbau und<br />

Bahnbedarf (MBA)" geändert. Waren bis Kriegsausbruch im gesamten Konzern fast<br />

20 000 Mitarbeiter tätig, so sind es heute nur etwa die Hälfte, denn 80 % der inländischen<br />

Produktionsstätten und der gesamte Auslandsbesitz waren 1945 verlorengegangen.<br />

Seit im Jahre 1950 zwischen der MBA und der Lübecker Maschinenbau-Gesellschaft die<br />

endgültige Fusion stattgefunden hatte, firmiert das heutige Unternehmen, das sich seitdem<br />

auch anderweitig wieder vergrößerte, unter dem Namen „Orenstein-Koppel und<br />

Lübecker Maschinenbau AG". Im Jahre 1965 wurde die Hauptverwaltung dorthin verlagert,<br />

wo einst Benno Orenstein eine seiner ersten Fabrikationsstätten einrichtete: nach<br />

Dortmund. Am früheren Fertigungsprogramm des einstigen Konzerns hat sich nicht viel<br />

geändert, wenn sich auch beispielsweise der Lokomotivbau heute in Dorstfeld nur noch auf<br />

Diesellokomotiven für Werks- und Anschlußgleise beschränkt. Die breite Palette an Baggern<br />

wurde ausgebaut, der Schiffsbau neuzeitlichen Verhältnissen angepaßt, der Bahnbau<br />

wieder aufgenommen. Das am Brunsbütteler Damm in Spandau gelegene Berliner Werk<br />

liefert heute wieder Waggons für Reisezüge, Gesellschafts-, Speise-, Schlaf- und Liegewagen<br />

sowie Salon-, Gepäck-, und Bahnpostwagen. U- und S-Bahn-Wagen sowie Omnibusse<br />

kamen hinzu. Die Verbundenheit dieser Fabrik mit dem Verkehrswesen ist letztes<br />

Überbleibsel aus einer Zeit, da die Gründungsfirma Orenstein & Koppel mit ihren Feldbahnen<br />

ein Wegbereiter auf Schienen bis in die entferntesten Winkel der Erde gewesen<br />

war. Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 15. Meierottostraße 4<br />

Schrifttum:<br />

Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften. Jg. 1898 — 1906<br />

Denkschrift der Firma Orenstein & Koppel zur Fertigstellung der 5000. Lokomotive. Berlin 1913<br />

Kurt Pierson: Die Märkische Lokomotivfabrik. Dortmund 1971 (Böttchers Kleine Eisenbahnschriften. Heft 74)<br />

Industrial Railway Record, Nr. 40, Leicester 1971<br />

Orenstein & Koppel. Jahrhundertschrift 1976<br />

Bildnachweis: Die Abbildungen stammen aus dem Archiv des Verfassers<br />

234


Kunstführer - Baubeschreibung - Inventarisation<br />

Zur Entwicklung der kunst- und architekturgeschichtlichen Bestandsaufnahme im Berliner<br />

Raum<br />

Von Dr. Peter Letkemann<br />

Fast gleichzeitig gingen der Redaktion der „Mitteilungen" im vergangenen Herbst die<br />

Manuskripte der beiden nachfolgenden Beiträge dieses Heftes ein, die sich mit der Inventarisation<br />

der Berliner Bauten und Denkmäler befassen: Einmal die Erinnerungen eines<br />

unmittelbar Beteiligten an den Maßnahmen vor rund 4()Jahren,die — durch die Kriegsereignisse<br />

überdeckt und in den Resultaten weitgehend ausgelöscht — heute praktisch unbekannt<br />

sind; zum anderen die sachliche Reportage über die Berliner Denkmalkartei von 1975<br />

als ein Abschlußbericht, wie er in diesem Bereich leider nicht allzu häufig anzutreffen ist.<br />

Beide Texte ergänzen sich auf ideale Weise und legen jeweils beredtes Zeugnis ab für<br />

verschiedene Stationen denkmalpflegerischen Bemühens in unserer Stadt. Auch die Zielvorstellung<br />

und der organisatorische Ansatz stimmen weitgehend überein, und verfolgt<br />

man die weiteren, auch die weiter zurückliegenden Berichte zum gleichen Anliegen, so<br />

ist auch dabei die einheitliche, „konservatorische" Richtung unverkennbar.<br />

Leider fehlt ein zusammenhängender historischer Überblick über die jeweiligen organisatorischen<br />

Maßnahmen auf dem Sektor der Baubeschreibung und der Inventarisation,<br />

obschon die publizistische Kommentierung dieser Maßnahmen - mit Ausnahme bei<br />

neuen und manchmal überraschenden kunstgeschichtlichen Ergebnissen - meist nur spärlich<br />

ausfiel. Vieles blieb auch im Programmatischen stecken und gelangte nie über das<br />

Anlegen einer ersten Karteikarte hinaus. Inventare sind ein langwieriges, arbeitsintensives<br />

und teures Unternehmen, wovon das gegenwärtige auf West-Berliner Boden ein<br />

überzeugendes Beispiel liefert. Die übrigen flankierenden Beiträge zu diesem Thema sind<br />

verstreut, stehen häufig an versteckter Stelle, für den Uneingeweihten kaum auffindbar<br />

und selbst in den ortsgeschichtlichen Bibliographien nicht immer eindeutig zugeordnet.<br />

Nur gelegentlich bieten sie auch das, was man gemeinhin „Hintergrund" nennt, weshalb<br />

sich die fehlende Gesamtdarstellung um so nachhaltiger bemerkbar macht. Von den insgesamt<br />

10 Teilen des seit 1964 in lockerer Folge erscheinenden Sammelwerks „Berlin und<br />

seine Bauten" trägt einer den Titel „Zusammenfassung der baugeschichtlichen Vorgänge.<br />

Verwaltungsgeschichte, Denkmalpflege". Hier dürfte ein historischer Rechenschaftsbericht<br />

größeren Ausmaßes zu erwarten sein, doch wird dieser Band zeitlich nach allen anderen<br />

herauskommen - als letzter.<br />

Aus der Notwendigkeit, den beiden anschließend gedruckten Beiträgen etwas von dem<br />

„Hintergrund" zu geben, sind diese Zeilen entstanden. Sie waren ursprünglich als Marginalien<br />

zu den Erinnerungen von Heinrich Richartz (die in vielen Punkten noch zu ergänzen<br />

und zu erläutern wären) gedacht und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />

*<br />

Das Wissen um die Bedeutung der Kunstdenkmäler (im weitesten Sinne) und das Streben<br />

nach ihrer Erhaltung sind stets auch von dem Bemühen gekennzeichnet gewesen, sie<br />

beschreibend zu besitzen, sie zu katalogisieren, und zwar nicht nur zu akademisch-kunst-<br />

235


sinniger Betrachtung oder zu touristischen Werbezwecken, sondern auch mit dem Ziel<br />

einer offiziellen Bestandsaufnahme, um den Besitz, den Wert und gegebenenfalls auch die<br />

Schutzwürdigkeit zu dokumentieren. Alle drei Zielrichtungen liegen oft sehr nahe beieinander<br />

und können sich sogar wechselseitig bedingen.<br />

Friedrich Mielke hat kürzlich in seinem aufschlußreichen Überblick „Zur Genesis der<br />

Kunstdenkmäler-Inventarisation" 1 die Stationen dieser Entwicklung kurz aufgezeigt. Von<br />

den Verzeichnissen antiker Tempelschätze und den touristischen Reisebeschreibungen<br />

eines Herodot, Pausanias oder Marco Polo spannt sich der Bogen über die mittelalterlichen<br />

Bestandsaufnahmen in den Territorien zur Manifestation der Besitzrechte, etwa<br />

im Landbuch Kaiser Karls IV. von 1375 oder den kirchlichen Visitationsbüchern, bis zu<br />

den modernen Kunstführern eines Karl Baedeker (seit 1829), Jacob Burckhardts „Cicerone"<br />

oder dem Standardwerk unserer Tage, dem 1905 von Georg Dehio begründeten<br />

„Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler". Hier setzen bereits (sieht man vom „Baedeker"<br />

ab) die großen spezialisierten Reihenwerke ein, die sich dann gleichsam zu einer<br />

Institution entwickeln und wiederkehrend neu aufgelegt werden. Als optische Ergänzung<br />

zum „Dehio" ist schließlich seit einigen Jahren das von Reinhardt Hootz besorgte, vielbändige<br />

Bildhandbuch der „Deutschen Kunstdenkmäler" zu nennen, das für Ost und<br />

West in gleicher Ausstattung erschienen und in dessen Brandenburg-Band (1971) die<br />

Stadt Berlin in zeitgemäßem Umfang vertreten ist.<br />

Beschränken wir uns auf Berlin, so beginnt die Bestandsaufnahme der Stadt (im modernen<br />

Sinn) mit Georg Gottfried Küsters voluminösem Werk „Altes und Neues Berlin", dessen<br />

4 Teile (1737—1769) ein mit „schulmeisterlicher Emsigkeit zusammengetragenes Material"<br />

2 ausbreiten, in vielem unzulänglich und nicht durchweg auf eigener Anschauung<br />

basierend, doch wegen der Detailschilderungen auch wiederum wertvoll. Unmittelbar<br />

anschließend setzte der Buchhändler und Schriftsteller Friedrich Nicolai mit seiner „Beschreibung<br />

der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" einen bedeutsamen<br />

Markstein: seine in drei Auflagen (1769—1786) erschienene Enzyklopädie über alles<br />

lebende und steinerne „Inventar" von Preußens Hauptstadt gilt als eine der bemerkenswertesten<br />

Bestandsaufnahmen auch der Bau- und Kunstdenkmäler, zugleich eine der<br />

ersten, die sich so umfassend einer einzelnen Stadt widmeten. Freilich — bei der Vielfalt des<br />

Gebotenen konnte Nicolai oft nur an der Oberfläche bleiben, selbst dort, wo er die<br />

„inneren Merkwürdigkeiten" beschreibt. Aber er hat fleißig die Quellen benutzt und ist<br />

somit, über die bloße Anschauung hinaus, tiefer in die Geschichte einzelner Objekte eingedrungen<br />

3 .<br />

Rund ein Jahrhundert später erst kommen die Fachleute zu publizistischen Ehren, denn<br />

das vom Berliner Architekten-Verein 1877 herausgebrachte Werk „Berlin und seine<br />

Bauten" (2. Aufl. 1896) war in erster Linie für Techniker bestimmt, verdient aber gleichwohl<br />

historische und denkmalpflegerische Beachtung. Erst nach dem 2. Weltkrieg fand<br />

es eine Neubearbeitung bzw. Fortsetzung durch das vom heutigen Berliner Architektenund<br />

Ingenieur-Verein betreute Reihenwerk gleichen Titels. Da es nur „typische Beispiele"<br />

herausgreift, ist es nicht eigentlich als Inventar anzusehen und strebt auch keine Konkurrenz,<br />

lediglich eine Ergänzung zu dem vom Amt für Denkmalpflege herausgegebenen<br />

Sammelwerk der „Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin" an 4 .<br />

Dieses Nebeneinander von technisch-exemplarischer und kunstgeschichtlich-analytischer<br />

Bestandsaufnahme gab es bereits Ende des vorigen Jahrhunderts, als der Berliner Magistrat<br />

den Auftrag zu einer historischen Dokumentation der städtischen Kunstbauten<br />

236


erteilte, eben als Ergänzung zum Werk des Architekten-Vereins. Vor dem Hintergrund<br />

des durch die Gründung des Deutschen Reiches „lebhaft gesteigerten Nationalgefühls"<br />

und eines „erhöhten Interesses für vaterländische Geschichte und die Denkmäler der<br />

Vergangenheit" — so Oberbürgermeister Zelle im Geleitwort — erschien im Jahre 1893 der<br />

von Regierungs-Baumeister Richard Borrmann bearbeitete Großband über „Die Bau- und<br />

Kunstdenkmäler von Berlin", ein Standardwerk auf solider Quellenbasis, das über den<br />

aktuellen Gegenwartsbestand auch die historische Entwicklung einschließlich der untergegangenen<br />

Gebäude (z. B. des Münzturms) gebührend berücksichtigte. Nicht enthalten<br />

sind darin die Objekte in Museen und Kunstsammlungen, da hierzu vielfach schon<br />

SpezialVerzeichnisse vorlagen.<br />

Borrmanns Arbeit war gleichsam notwendig geworden, weil die Stadt Berlin in dem 1886<br />

veröffentlichten Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg keinen<br />

Platz gefunden hatte. Damit ist bereits auf ein anderes Unternehmen verwiesen, das neben<br />

den reinen kunsttopographischen Handbüchern sich seit Jahrzehnten um die Erfassung<br />

des historisch als wertvoll eingestuften Baubestandes bemühte: die Inventarisation der<br />

Bau- und Kunstdenkmäler unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Denkmalpflege. Da<br />

diese parallel zum publizistischen Bauten- und Kunstführer läuft, ihn sogar durchweg im<br />

Gefolge hat, sollen hier einige Momente aus jener Entwicklung aufgezeigt werden, ohne<br />

den vielschichtigen Begriff etwa näher zu erläutern oder an Hand praktischer Beispiele<br />

sichtbar machen zu wollen. Die Denkmalpflege ist als kunst- und kulturpolitischer Auftrag<br />

für jede Epoche sicherlich unumstritten, in ihrer konkreten Handhabung und Durchführung<br />

jedoch an ein wechselndes Geschichtsverständnis gebunden und zusätzlich in den<br />

Streit der Interessengruppen verwickelt. Ungeteilten Erfolg erringt sie stets im dokumentarischen<br />

Bereich, eben in den Verzeichnissen und Inventaren.<br />

Bleiben wir beim historischen Ablauf: Die Denkmalpflege als Organisationsform ist ein<br />

Kind des frühen 19. Jahrhunderts, namentlich der restaurativen Ära nach den Befreiungskriegen<br />

und - zumindest in Preußen - mit dem Namen Karl Friedrich Schinkels untrennbar<br />

verknüpft. Seine Anweisungen auf theoretischem Feld blieben ebenso bedeutsam wie seine<br />

praktischen Arbeiten, etwa an den Kirchenbauten in Köln, Frankfurt/O.. Wittenberg, der<br />

Klosterkirche zu Berlin oder der Marienburg (Westpreußen) 5 . In anderen deutschen<br />

Ländern gab es ähnliche Ansätze, so in Bayern (vor 1800), Hessen-Darmstadt (1818) und<br />

Württemberg (1836); konkrete Ergebnisse kamen in den preußischen Provinzen jedoch<br />

erst Ende der 30er Jahre zustande, als die Unterbehörden zur listenmäßigen Zusammenstellung<br />

der vorhandenen Baudenkmale aufgefordert wurden. Im Jahre 1843 errichtete<br />

man im Berliner Kultusministerium ein Kunstreferat mit dem Kunsthistoriker Franz Kugler<br />

und dem Architekten Ferdinand v. Quast an der Spitze, letzterer zugleich als erster Konservator<br />

der Kunstdenkmäler in den Preußischen Ländern. Mit der am 24. 1. 1844 erlassenen<br />

„Instruktion für den Konservator" wurde die staatliche Denkmalpflege in Preußen<br />

aus der Taufe gehoben: „Der Staat selbst übernahm den Schutz der Kulturdenkmale und<br />

baute ihn in einer bis zum heutigen Tage laufenden und keineswegs abgeschlossenen Entwicklungsgeschichte<br />

aus" 6 . Seit 1870 waren die Denkmalpflege und die Inventarisation<br />

den Provinzen übertragen, die in der Folgezeit eine große Zahl z. T. aufwendiger Inventarbände<br />

vorlegen konnten. 1891 folgte die Anstellung von ehrenamtlichen Provinzialkonservatoren<br />

und - im Rahmen einer inzwischen vielgestaltigen Gesetzgebung auf diesem<br />

Sektor - im Jahre 1907 das Gesetz gegen die „Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich<br />

hervorragenden Gegenden" als wichtiges Instrument der praktischen Arbeit 7 .<br />

237


Die Reichshauptstadt nahm unterdessen eine Sonderstellung in doppelter Hinsicht ein.<br />

Zunächst einmal war die Provinzialkommission für die brandenburgische Denkmalpflege<br />

nicht für die Stadt Berlin zuständig - ein verhängnisvolles, später häufig beklagtes Manko.<br />

Hierbei verdient es besondere Erwähnung, daß der Verein für die Geschichte Berlins<br />

schon frühzeitig seine Stimme erhob. Am 20. Mai 1898 richtete er an den Magistrat die<br />

Eingabe, „so bald als möglich eine Kommission für die Denkmalpflege in Berlin nach dem<br />

Vorbild der Provinzialkommission ... ins Leben zu rufen und derselben die ehrenamtliche<br />

Überwachung der Geschichts- und Kunstdenkmäler zu übertragen" 8 . In der Begründung<br />

dazu hieß es, eine an geschichtlichen Baulichkeiten so reiche Stadt könne nicht außerhalb<br />

der amtlichen Organisation der Denkmalpflege stehen, zumal die Gefährdung des Bestandes<br />

durch das weltstädtische Verkehrsaufkommen weitaus größer als anderswo sei.<br />

Als Beispiele werden die abgerissenen alten Stadttore und die in letzter Minute geretteten<br />

Königskolonnaden genannt. Der Verein verkenne zwar nicht die bisherigen Bemühungen<br />

der Stadt um den „thunlichsten Schutz der Denkmäler" und die Aktivitäten des Märkischen<br />

Museums, doch richteten Nachlässigkeit und Unverstand weiterhin viel Schaden an. „Es<br />

fehlt eben an einer geordneten Überwachung derartiger Vorgänge, die zu einer wirksamen<br />

Thätigkeit eine bestimmte Organisation zahlreicher, über die ganze Stadt verbreiteter<br />

ehrenamtlicher, mit Legitimation versehener Pfleger erfordert. Da nun die Bauspekulation<br />

mit jedem Tage weiter um sich greift und im Innern der Stadt namentlich historische<br />

Gebäude in rücksichtsloser Weise beseitigt, so macht die darin liegende Gefahr den<br />

Betheiligten zur Pflicht, die organisirte Denkmalpflege in Brandenburg durch eine gleiche<br />

Organisation in Berlin zu ergänzen und auch einen besonderen Konservator für Berlin zu<br />

bestellen."<br />

Drei Monate später gab der Magistrat eine eindeutig negative Antwort. Für eine eigene<br />

städtische Denkmalpflegekommission, so meinte er, gebe es keine zwingende Veranlassung,<br />

da diese gegenüber den verschiedenen Eignern von Monumentalbauten in Berlin —<br />

Fiskus, Königliches Haus, Reich — „keinerlei Autorität" würde beanspruchen können.<br />

Die Bauten unter städtischem Kirchen- und Schulpatronat würden gewissenhaft beobachtet,<br />

und mit dem Polizeipräsidium sowie der Königlichen Baukommission verständige man<br />

sich dahingehend, „wonach diese Behörden auf interessante alte Gebäude, sobald deren<br />

Abbruch beschlossen ist, uns aufmerksam machen". In diesen Fällen fertige man Lichtbilder<br />

und weise die beweglichen Gegenstände den Museen zu. Mit dem Bemerken, es<br />

gebe schließlich in der Person des Geh. Oberregierungsrats Persius einen „Königlichen<br />

Konservator zur amtlichen Wahrnehmung der archäologischen und kunstgeschichtlichen<br />

Interessen für Berlin" und dieser sei in verschiedenen Fällen — Hl. Geist-Kirche, Klosterkirche,<br />

Gymnasium zum grauen Kloster - tätig geworden, glaubte der Magistrat dem<br />

Geschichtsverein den Wind vollends aus den Segeln nehmen zu können. Doch jener war<br />

im Irrtum, denn neben anderen Institutionen hielt sogar die Denkmalpflegekommission<br />

der Provinz Brandenburg die Einrichtung eines besonderen Berliner Denkmalpflegegremiums<br />

mit einem Konservator an der Spitze für erforderlich 9 .<br />

Diese verworrene Situation war eigentlich der beste Garant für eine wenig Erfolg versprechende<br />

Arbeit. Und hier macht sich der zweite Aspekt der besonderen Stellung Berlins<br />

bemerkbar, vielleicht sogar als direkte Folge des ersten: Die eklatanten Bausünden vor<br />

allem der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts infolge der wirtschaftlichen, industriellen<br />

und verkehrsmäßigen Expansion, verbunden mit einem ungeheuren Bauvolumen, das in<br />

seiner Gestaltung allerdings vieles dem Zufall überließ und in seinem Stilempfinden völlig<br />

238


aus den Fugen geriet - Max Osborn hat nicht ohne Grund hierbei regelmäßig von einer<br />

„Verwilderung" gesprochen. Diese herbe Kritik in einem beinahe noch zeitgenössischen,<br />

wenn auch privaten Kunstführer 10 zeigt die damals herrschende Kluft auf - und an ein<br />

offizielles Berliner Inventar war noch viel weniger zu denken.<br />

Die folgenden Kriegs- und Nachkriegsereignisse brachten auf diesem Gebiet ohnehin<br />

alles zum Erliegen. Kommunalpolitisch schuf die Bildung von Groß-Berlin 1920 eine<br />

zusätzlich erschwerte Situation. Sie hinderte indes nicht, über die Versäumnisse der Vergangenheit<br />

weiterhin ein hartes Urteil zu fällen, wie es beispielsweise Stadtsyndikus und<br />

Bürgermeister Friedrich Lange tat, als er unter dem 10. 1. 1923 in seinem Tagebuch<br />

notierte: „Die Denkmalpflege von Alt-Berlin ist ein trauriges Kapitel. In einer Zeit, als<br />

der Stadt reichlich Mittel zur Verfügung standen, besonders in den letzten zwanzig<br />

Jahren vor dem Kriege, wo der Berliner Haushalt im Drucksatz stehen bleiben konnte und<br />

der Kämmerer Mühe hatte, die Überschüsse zu verschleiern, ist vom Magistrat wenig<br />

genug getan worden, um historisch und künstlerisch Wertvolles vor der Spitzhacke zu<br />

retten. Man glaubte offenbar sein Gewissen damit beruhigen zu können, daß man kleine<br />

Erinnerungsstücke aus Abrissen für ein später zu errichtendes Museum in Verwahrung<br />

nahm. Wieviel hätte an den Ufern des alten Schleusengrabens, in der Friedrichsgracht, der<br />

Spree- und Petristraße, am Molkenmarkt, im Krögel und anderswo unter Schutz genommen<br />

werden müssen. Aber der Berliner Freisinn perhorreszierte nun einmal den Eingriff in<br />

das Privateigentum." 11<br />

Erst im Jahre 1934 trat mit der Errichtung des Amtes für Denkmalpflege in Berlin eine<br />

Konsolidierung ein; erster Provinzialkonservator für die Reichshauptstadt wurde Mag.-<br />

Oberbaurat Walter Peschke 12 . Unmittelbar darauf begannen die Aufnahmen zu einer Vorinventarisation<br />

der Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin, die 1935 in das Hauptunternehmen<br />

einer umfassenden Inventarisation einmündeten. Deren Bearbeiter waren der Architekt<br />

Dipl.-Ing. Heinrich Richartz und der Kunsthistoriker und Pinder-Schüler Dr. Wilhelm<br />

Boeck; Einzelheiten aus dem Wirken jener Jahre bringt der hier folgende Artikel.<br />

Der 2. Weltkrieg vernichtete nicht nur die Früchte dieser Arbeit, sondern auch das in<br />

Jahrhunderten gewachsene Tätigkeitsfeld der Denkmalpfleger. Unter völlig veränderten<br />

Voraussetzungen begannen die Konservatoren von neuem; Namen wie Hinnerk Scheper<br />

und Paul Ortwin Rave stehen dabei als Verpflichtung und Vermächtnis. Die seit 1955 in<br />

Abständen erscheinenden Inventarbände „Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin",<br />

ergänzt durch handliche Kurzführer wie etwa die „Kleine Baugeschichte Zehlendorfs"<br />

(1970), vermögen nun auch auf publizistischem Gebiet eine lange Zeit als schmerzlich<br />

empfundene Lücke zu schließen.<br />

Anmerkungen: I<br />

1 In: Zeitschrift f. Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege, Jg. 2 (1975), S. 134—143.<br />

2 Richard Borrmann: Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin, Berlin 1893, S. 103.<br />

3 Zur Methode und zur Beurteilung Nicolais siehe Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger,<br />

Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai. Berlin 1974, S. 324 ff. (Einzelveröff. d. Hist. Kommission<br />

zu Berlin, Bd. 15).<br />

4 So im Vorwort zu Teil II von „Berlin und seine Bauten". Berlin/München 1964.<br />

5 Über die „Denkmalpflegerischen Grundsätze Schinkels" siehe: Karl Friedrich Schinkel - Lebenswerk. Hrsg. v.<br />

Paul Ortwin Rave. Bd. 10: Mark Brandenburg, bearb. v. Hans Kania u. Hans-Herbert Möller. Berlin/München<br />

1960, S. 224. Der Text der grundlegenden, von Schinkel geprägten Denkschrift der Berliner Ober-Baudeputation<br />

von 1815 ist wiedergegeben in: Die Denkmalpflege, Jg. 3 (1901). S. 6-7. Zum Folgenden siehe Mielke (wie<br />

Anm. 1), S. 138ff., mit weiterführender Literatur.<br />

6 Walter Peschke: Aufgaben der Denkmalpflege in Berlin, in: Zeitschr. d. Vereins f. d. Geschichte Berlins.<br />

Jg. 55 (1938). S. 81.<br />

239


7 Zur rechtlichen Entwicklung des Denkmalschutzes bis in die jüngste Zeit siehe neuerdings Hans-Georg<br />

Watzke: Denkmalschutz und Stadtplanungsrecht, Berlin 1976 (Selbstverl. des Dt. Instituts für Urbanistik).<br />

8 Denkmalpflege in Berlin, in: Mitt. d. Vereins f. d. Geschichte Berlins. Jg. 15 (1898), S. 92.<br />

' Zur Organisation der Denkmalpflege in Berlin, in: ebenda Jg. 16(1899),S. llf.<br />

0 Berlin (= Berühmte Kunststätten. Bd. 43), Leipzig 1909, S. 3, 242. 262 u. a.<br />

11 Friedrich C. A. Lange: Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933, Berlin 1951, S. 38.<br />

2 Erwähnenswert ist sein ..Grundsatzreferat'' im Verein für die Geschichte Berlins, wiedergegeben siehe Anm. 6,<br />

zugleich mit zahlreichen Bildbeispielen; die Fortsetzung dann unter dem Titel: Denkmalpflegerische Streifzüge<br />

durch Berlin, in: Zeitschr. d. Vereins f. d. Geschichte Berlins. Jg. 58 (1941), S. 76-82.<br />

Die Geschichte der Vorinventarisation in Berlin und der<br />

„Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler der Reichshauptstadt"<br />

in den dreißiger Jahren<br />

Von Heinrich Richartz<br />

Vorbemerkung: Herr Dipl.-Ing. Heinrich Richartz, geb. 1903 in Düren, heute dort<br />

wohnhaft und zugleich als freischaffender Architekt und Denkmalpfleger tätig, hat<br />

im folgenden Beitrag seine Erinnerungen an seine Arbeit in Berlin (1932 — 1941)<br />

festgehalten. Sowohl durch die Ferne von Zeit und Raum als auch wegen des völligen<br />

Fehlens schriftlicher Unterlagen muß dieser Beitrag fragmentarisch bleiben;<br />

seine Aussagen ruhen in sich und wären gegebenenfalls durch entsprechende Hinweise<br />

früherer Kollegen und sonstiger Kenner der Szene zu ergänzen. Wo es uns<br />

geboten erschien, haben wir aufgrund des besseren Zugangs zu den historischen<br />

Hilfsmitteln (und im Einvernehmen mit Heinrich Richartz) die Ausführungen durch<br />

sachliche Zusätze erweitert und den Anmerkungsteil überarbeitet.<br />

*<br />

Die Schriftleitung<br />

Bald nach meinem Diplom-Examen in Aachen (1931) ging ich in den mageren Jahren um<br />

1932 wieder nach Berlin und setzte an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg<br />

das Studium, insbesondere der Baugeschichte, fort und nahm auf Anregung von<br />

Professor Dr. Arthur Mäkelt eine Promotionsarbeit in Angriff 1 . Durch einen befreundeten<br />

Ministerialrat im Kultusministerium ergab sich eine Kontaktvermittlung mit dem Staatskonservator<br />

Dr. Robert Hiecke 2 im gleichen Hause und durch diesen die Eingliederung in<br />

das erste preußische Schulungslager für Kunsthistoriker und Architekten zur Einführung<br />

in die Aufgaben der Inventarisation von Bau- und Kunstdenkmälern in Halle an der Saale<br />

unter der Leitung des Provinzialkonservators der Provinz Sachsen, Professor Dr. Hermann<br />

Giesau (1934).<br />

Nach Abschluß dieses „Schulungslagers'*, an dem zwanzig Kunsthistoriker und drei<br />

Architekten teilnahmen, ging ich als einziger Architekt neben neun Kunsthistorikern zu<br />

der Gruppe, die im Rahmen der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaft" zur Vorinventarisation<br />

in Berlin in Einsatz kam (1934/35). In Zweiergruppen wurden wir auf die<br />

einzelnen Stadtbezirke von Berlin angesetzt. Der eine machte Schwarzweißaufnahmen mit<br />

240


einer Kleinbildkamera, der andere die notwendigen Notizen. Mir wurde mit einer Kunsthistorikerin<br />

ein Gebiet im nördlichen Berlin zugeteilt. Schon damals sind auch Bauwerke<br />

des 19. Jahrhunderts, ganze ältere Baugruppen, sowie Parks und Friedhöfe mit ihren<br />

besonderen Monumenten erfaßt worden. Das erarbeitete Material wurde dem Denkmalarchiv<br />

der Stadtverwaltung einverleibt, ging aber am Ende des Krieges, wie der gesamte<br />

übrige Archivbestand, zugrunde.<br />

Nachdem diese erste Aktion einer Vorinventarisation von Bau- und Kunstdenkmälern in<br />

Berlin ausgelaufen war, wurde ich 1935 im Rahmen der Dienststelle des Provinzialkonservators<br />

der Reichshauptstadt mit dem Kunsthistoriker Dr. Wilhelm Boeck (geb. 1908 in Gießen)<br />

mit der Bearbeitung der Beschreibung der „Bau- und Kunstdenkmäler der Reichshauptstadt"<br />

beauftragt. Die kleine Dienststelle im Stadthaus an der Klosterstraße leitete<br />

als Provinzialkonservator der Architekt und Oberbaurat Walter Peschke. Neben einer<br />

Sekretärin gab es in zwei weiteren Räumen die Abteilung Denkmalpflege mit dem Kunsthistoriker<br />

Dr. Friedrich F. A. Kunze (lebt heute in München) und dem Architekten Dipl.-<br />

Ing. Lothar Dannenberg (fl974), sowie schließlich die Abteilung Inventarisation mit<br />

Wilhelm Boeck und mir.<br />

Wir beide mußten nun zunächst das große Arbeitsfeld mit vier alten Städten, Berlin, Kölln,<br />

Spandau und Köpenick, mit 56 ehemaligen Dörfern, aufgeteilt in 20 Verwaltungsbezirke,<br />

übersehen lernen. Die meiste Zeit verbrachten wir nicht in unserem Dienstraum, sondern<br />

am Ort und bei Forschungsarbeiten in zahlreichen Archiven und Plankammern. Das waren<br />

in erster Linie das Geheime Staatsarchiv in Berlin-Dahlem, wo wir die meiste Zeit arbeiteten<br />

und ganze Aktenberge nach Material durchforschten, dann auch das Brandenburg-<br />

Preußische Hausarchiv unweit vom Charlottenburger Schloß, das Stadtarchiv im Roten<br />

Rathaus, die Plan- und Aktenkammer der Preußischen Bau- und Finanzdirektion in der<br />

Nähe des Lehrter Bahnhofes, das Archivmaterial im Schlüterschen Schloß und im Märkischen<br />

Museum, die Staats- und Museumsbibliothek sowie die zahlreichen Orts- und<br />

Pfarrarchive.<br />

Uns wurde bald klar, daß die Notizen der sachwichtigen bau- und kunstgeschichtlichen<br />

Funde eine unübersehbare Zettelwirtschaft ergeben hätten; deshalb entwarf ich einen<br />

mehrseitigen Erfassungsbogen mit Beilageblättern, in denen für jedes Objekt alle anfallenden<br />

Feststellungen und Daten leicht einzutragen waren. Für öffentliche Bauten waren diese<br />

Erfassungsbogen rot, für kirchliche Bauten blau, für Wohnbauten gelb, für Parks und<br />

Friedhöfe grün, für technische Denkmale grau. In diesen paßartigen Bogen waren alle<br />

Bild- und Schriftquellen und alle neu anfallenden Ergebnisse einzutragen, Lichtbilder beizufügen<br />

und in einem nach Verwaltungsbezirken geordneten Kastenregal jederzeit greifbar<br />

abzulegen. So trug sich ein vielgefächertes Forschungsmaterial brauchbar zusammen.<br />

Uns schwebte das hervorragende Geisbergsche Inventar von Münster in Westfalen 3 als<br />

Ideal vor. Dort waren nicht nur die erhaltenen Bau- und Kunstdenkmäler erfaßt, beschrieben<br />

und abgebildet, sondern auch untergegangene Objekte, sofern sie zu rekonstruieren<br />

und darzustellen waren. Gerade für letztere fanden wir in unserem Forschungsbereich<br />

zahlreiche Quellen. Da gab es zum Beispiel das umfangreiche Aktenarchiv der Preußischen<br />

Bau- und Finanzdirektion, in dem wir viel altes Material an Zeichnungen und<br />

Schriften fanden, wonach umgebaute oder gar abgebrochene Kirchen, Pfarrhäuser und<br />

Schulen sich einwandfrei in ihrer ursprünglichen Gestalt bild- und schriftmäßig rekonstruieren<br />

ließen. Dabei ergaben sich hin und wieder auch kleine Sensationen. So begegnete<br />

mir im Stadtarchiv im Roten Rathaus eine Akte, in der sich ein Umbauplan mit Emporen<br />

241


für die Stadtkirche in Köpenick von dem barocken Architekten („Premier Architecte<br />

du Roi") Philipp Gerlach (1679—1748) fand, dem eine Baubestandsaufnahme zugrunde<br />

lag. Während die Köpenicker Stadtkirche sich am Ort als ein Bauwerk aus der Mitte des<br />

19. Jahrhunderts, offenbar auf alten Fundamenten, zeigte, war auf Grund dieses Fundes<br />

die romanische (!) Kirche von Köpenick einwandfrei zu rekonstruieren und darzustellen 4 .<br />

Eine weitere Entdeckung betraf das völlig in Vergessenheit geratene, um 1707—1710 von<br />

König Friedrich I. erbaute Schlößchen auf dem Gelände der nachmaligen Trabrennbahn<br />

Ruhleben 5 . Ähnliches ergab sich, wenn auch nicht so gravierend, an anderen Stellen und<br />

Objekten.<br />

Nach einer gewonnen Übersicht über den ganzen Groß-Berliner Raum beschlossen wir,<br />

den Verwaltungsbezirk Köpenick besonders intensiv zu erfassen und zu bearbeiten, um ihn<br />

als ersten Band der „Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler der Reichshauptstadt"<br />

herauszubringen. Dieser Verwaltungsbezirk mit alter Stadt, bedeutendem Schloß, mit<br />

mittelalterlichen Dörfern und friderizianischen Siedlungen, vor- und frühgeschichtlichem<br />

Boden in schöner Landschaft schien uns für den Anfang ganz besonders vielseitig und<br />

ergebnisreich. Auf unsere Anregung unternahm das Institut für Vor- und Frühgeschichte<br />

der Friedrich-Wilhelms-Universität (Prof. Dorothea Waetzoldt) eine umfangreiche Ausgrabung<br />

im Hof des barocken Köpenicker Schlosses, wobei die Grundmauern der mittelalterlichen<br />

Burganlage freigelegt wurden 6 . Auch die mittelalterlichen Dorfanlagen (z. B.<br />

Schmöckwitz) und friderizianischen Siedlungen (Friedrichshagen und Müggelheim) konnten<br />

überzeugend dargestellt und beschrieben werden. Wir gingen sogar so weit, im neugotischen<br />

Rathaus zu Köpenick den Akten und Zeitungsausschnitten der bekannten<br />

Affäre des „Hauptmanns von Köpenick" ein wenig nachzugehen.<br />

Im allgemeinen hatten wir uns so abgestimmt, daß Boeck die Baugeschichte und ich die<br />

Baubeschreibung zu Papier brachte. Sämtliche erforderlichen Lichtbilder besorgte die<br />

Staatliche Bildstelle im Marstallgebäude am Schloßplatz in vorzüglicher Qualität. So<br />

wurde dieser erste Band der „Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler der Reichshauptstadt"<br />

kurz vor Ausbruch des Krieges abgeschlossen und Druckerei-Verhandlungen<br />

in die Wege geleitet.<br />

Natürlich war es bei unseren Archiv- und Plankammer-Durchforschungen nicht möglich,<br />

nur Material für den als ersten ins Auge gefaßten Band des Verwaltungsbezirks Köpenick<br />

zusammenzutragen. Ganz zwangsläufig fiel dabei auch anderes aufgabenträchtige Material<br />

in großem Umfange an. Während wir in den Außenbezirken jeweils im Rahmen der Verwaltungsbezirke<br />

bleiben wollten, fanden wir es für den älteren Kern von Berlin besser,<br />

nach gegebenen historischen Entwicklungen die einzelnen geplanten Bände anzulegen,<br />

also jeweils abgeschlossen: Friedrichstadt, Friedrich-Wilhelmstadt. Dorotheenstadt, Luisenstadt.<br />

Zur 700-Jahrfeier von Berlin beauftragte uns die Berliner Stadtsynode, deren Kunstberater<br />

damals der Architekt Werner March, Erbauer des Berliner Olympia-Stadions, war, mit<br />

der Erstellung eines Buches: „Alte Berliner Kirchen", das dann auch 1937 im Atlantis-<br />

Verlag erschien. Neben knappen Texten, die wir uns aufteilten, wurden nur historische<br />

Darstellungen zur Illustration benutzt, wobei sich die Schwierigkeit ergab, daß aus Billigkeitsgründen<br />

für das Bändchen immer schwarz-weiße und farbige Darstellungen im Wechsel<br />

folgen mußten. Gleichzeitig brachte Friedrich F. A. Kunze den Band „Das alte Berlin"<br />

heraus, eine mit vorzüglichem Bildmaterial ausgestattete Stilgeschichte der Berliner<br />

Bauten vom Mittelalter bis zur Gegenwart.<br />

242


Nebenher gab es auch noch andere Arbeiten und Publikationen. So fand ich mit Boeck im<br />

Schloßpark von Friedrichsfelde im Gebüsch Fragmente von sandsteinernen Dachfiguren<br />

des dortigen Schlosses, die er Balthasar Permoser (1651 — 1732; 1704 — 1710 in Berlin<br />

tätig) zuschreiben konnte. Der Turm der Parochialkirche in der Klosterstraße war<br />

gelegentlich einer Einrüstung von Studenten der Technischen Hochschule aufgemessen<br />

und zur Darstellung gebracht worden. Nur der Helm mit dem Glockenspiel fehlte. Nach<br />

dem Meidenbauer'schen Meßbildverfahren habe ich dann in der Staatlichen Bildstelle<br />

dieses Aufmaß passend und genau ergänzt. Boeck schrieb eine kleine Publikation über die<br />

Kirche in Berlin-Buch 7 , ich zum Thema „Der Quastsche Nachlaß als Quelle zur Baugeschichte"<br />

8 . (Ferdinand v. Quast wurde nach dem Tode von Karl Friedrich Schinkel<br />

1843 zum ersten preußischen Staatskonservator berufen.)<br />

Auch gab es nette und fruchtbare Begegnungen mit manchen an der Geschichte Berlins<br />

interessierten Männern. So mit dem Pfarrer Paul Jorge, der ein wertvolles, originales Bändchen<br />

mit naiven, farbigen Darstellungen einer Reihe Berliner Dorfkirchen besaß 9 . Wie er,<br />

waren auch andere bei unseren Aufgaben hilfsbereit, wie jener Pfarrer in Berlin-<br />

Blankenfelde, der uns obendrein noch aus seiner schönen Bibliothek ein Bändchen zur<br />

Wahl schenkte, wobei Boeck eine ganz frühe Goethe-Ausgabe, ich Andersens Märchen,<br />

illustriert von Theodor Hosemann, aus jener Zeit an Land zog.<br />

Boeck wurde immer mehr ein großer Kenner der preußischen Bau- und Kunstgeschichte 10 ,<br />

während ich mich ganz von selbst zum besten Kenner der alten Berliner Dorfkirchen<br />

entwickelte. Im Laufe der Arbeiten fielen auch einige nette Nebenfunde an, die für die<br />

eigentliche Aufgabe allerdings kaum direkt zu verwenden waren 11 .<br />

Während dieser Inventarisations-Arbeiten unterlief der Abteilung Denkmalpflege unserer<br />

Dienststelle eine gravierende Panne. Das spätgotische, einschiffige Dorfkirchlein von<br />

Schmargendorf sollte eine Umluftheizung erhalten. Wir wußten, daß quer zum Schiff in<br />

einem kellerartigen Gewölbe die Gruft der Familie v. Wilmersdorf war, die sich längsseits<br />

durch ein liegendes, ovales, vergittertes Lüftungsfenster abzeichnete. Anstatt nun dem alten<br />

Beisetzungsweg im Inneren in der Mittelachse der Kirche umsichtig nachzugehen, schlug<br />

man den Scheitel des Gewölbes ein, der Schutt fiel auf die wohl sechs oder sieben beigesetzten<br />

Särge und zerstörte alles 12 . Ich sehe heute noch einen Bauarbeiter tagelang beim<br />

Sieben des Schutts beschäftigt. Nur ein Teil vom Schmuck der mumifizierten Leichen fand<br />

sich dabei, so zum Beispiel nur ein goldener Ohrring. Die schlimmste denkmalpflegerische<br />

Fehlhandlung, die mir je vor Augen gekommen ist. Der noch gerettete Schmuck ging an<br />

das Märkische Museum.<br />

Als dann der Krieg ausbrach, schloß der Provinzialkonservator 1939 etwas kopflos seine<br />

Dienststelle. Boeck wurde zu einer Kartenausgabestelle abgeordnet, ich ins Haupttiefbauamt<br />

zu der architektonischen „Gestaltung" eines vollautomatischen Getreidespeichers,<br />

der im Gleitbau an der Spree entstand. Aber bald bekam Boeck als Kunstgeschichtler eine<br />

Berufung an die Universität in Tübingen und ich als Konservator und Abteilungsleiter an<br />

die Abteilung Denkmalpflege und Naturschutz des Landesdenkmalamtes in Metz/Lothringen,<br />

einschließlich der Betreuung der dortigen Kathedrale.<br />

Dem Vernehmen nach soll indessen am Ende des Krieges das gesamte erarbeitete Inventarisationsmaterial<br />

und das Denkmalarchiv im Turm des Stadthauses an der Klosterstraße<br />

restlos verbrannt sein. Da wir für unsere Arbeit keine Schreibkraft zur Verfügung hatten<br />

und lediglich auf unsere privaten Schreibmaschinen angewiesen waren, machten wir in<br />

den seltensten Fällen Durchschläge von unseren Konzepten. Nur der Durchschlag vom<br />

243


Text der Beschreibung der Baugeschichte des Köpenicker Schlosses hat sich bei Boeck<br />

erhalten und befindet sich heute im Besitz der Staatlichen Verwaltung der Schlösser und<br />

Gärten in Berlin.<br />

Anmerkungen:<br />

' Monographie der altmärkischen Stadt Werben an der Elbe (nicht zum Abschluß gebracht). Siehe auch das<br />

Inventar des Kreises Osterburg, Halle 1936.<br />

2 Siehe Neue Deutsche Biographie Bd. 9, Berlin 1972, S. 106f.<br />

3 Max Geisberg (1875 — 1943), Kunsthistoriker und Museumsdirektor in Münster, legte 1932— 1941 ein öbändiges<br />

Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt vor. eine „gewaltige wissenschaftliche Arbeitsleistung" (Neue<br />

Dt. Biographie Bd. 6, Berlin 1964, S. 153f.).<br />

4 Mit Abbildungen wiedergegeben bei Walter Peschke: Aufgaben der Denkmalpflege in Berlin, in: Zeitschr. d.<br />

Vereins f. d. Geschichte Berlin. Jg. 55 (1938), S. 87.<br />

5<br />

Siehe Wilhelm Boeck und Heinrich Richartz: Ein Lustschloß König Friedrichs I. in Ruhleben, in: ebenda<br />

Jg. 54(1937). S.35-40.<br />

6<br />

Dorothea Waetzoldt: Ausgrabungen auf dem Gelände des Schlosses von Berlin-Köpenick, in: Prähist. Zeitschr.<br />

Bd. 28/29 (1937/1938), S. 356-365; Günter Schade: Schloß Köpenick. Ein Streifzug durch die Geschichte der<br />

Köpenicker Schloßinsel, Berlin (Ost) 1964, S. 8f.<br />

7<br />

Die Kirche in Buch 1736- 1936. (Selbstverl. der Gemeinde, 1936.)<br />

8<br />

In: Zentralblatt der Bauverwaltung, Jg. 1938, S. 367-369.<br />

9<br />

Zum Teil wiedergegeben in dem Band von Paul Torge: Rings um die alten Mauern Berlins. Berlin 1939.<br />

10<br />

Siehe Wilhelm Boeck: Inkunabeln der Bildniskarikatur, Stuttgart 1968. Dort im Anhang eine Bibliographie aller<br />

Veröffentlichungen von W. B., darunter auch diejenigen über den Berliner Raum.<br />

11<br />

Siehe Heinrich Richartz: Aus Berliner Archiven, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 40 v. 5. 10. 1972, S. 2588.<br />

12<br />

Blumige und offensichtlich auch verharmlosende Schilderung in: 750 Jahre Schmargendorf. Festschrift aus<br />

Anlaß des Stadtjubiläums, hrsg. vom Bezirksamt Wilmersdorf von Berlin 1955, S. 17.<br />

Anschrift des Verfassers: 5160 Düren, Cannstatter-Eifel-Straße 24<br />

Künstlerische Objekte in den öffentlichen Grünanlagen Berlins<br />

Die „Denkmalkartei Berlin (West)"<br />

Von Hartmut Solmsdorf<br />

1. Einleitung<br />

Im Sommer 1975 wurde der Verfasser vom Senator für Bau- und Wohnungswesen,<br />

Abt. III, beauftragt, im Rahmen des Denkmalschutzjahres eine „gutachterliche Erfassung<br />

der in den öffentlichen Grünanlagen Berlins vorhandenen Denkmäler" durchzuführen.<br />

Anlaß hierfür war in erster Linie die Tatsache, daß es zwar von (bisher) drei Bezirken<br />

(Tiergarten, Charlottenburg und Spandau) brauchbare, wenn auch fehlerhafte Inventare<br />

der „Bauwerke und Kunstdenkmäler" gibt, von den übrigen aber nur Listen mit teilweise<br />

unvollständigen Daten vorliegen, so daß eine Gesamtübersicht fehlt.<br />

Die Gründe dafür sind teils in den unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen oder Zuständigkeiten,<br />

teils im mangelnden Informationsaustausch der einzelnen Ämter untereinander<br />

zu suchen. Begrüßenswert wäre die Einrichtung einer zentralen Meldestelle, die bei jeder<br />

Veränderung (auch Beschädigung) des Denkmalbestandes zu benachrichtigen wäre.<br />

Ziel der Untersuchung ist die Aufstellung einer Kartei, aus der nicht nur Bestand und<br />

Zustand hervorgehen, sondern durch die man auch Hinweise auf falsch gewählte Stand-<br />

244


Büste des Julius Cäsar<br />

am Schloß Charlottenburg<br />

von Kaspar Günther, 1663<br />

(Foto: Solmsdorf)<br />

orte sowie Grünanlagen ohne oder ohne eine ausreichende Zahl Denkmäler und Skulpturen<br />

erhalten soll.<br />

Der Verfasser ist in erster Linie Herrn Dr. Klaus K. Weber zu besonderem Dank verpflichtet,<br />

da dieser durch seine Anregungen, Hinweise und Korrekturen die Untersuchung<br />

nachhaltig förderte. Neben den Gartenbau- und Kunstämtern, den Heimatvereinen und<br />

-museen sowie verschiedenen Berliner Künstlern sei allen Personen und Institutionen<br />

gedankt, die den Verfasser mit Auskünften und Hinweisen unterstützten.<br />

2. Untersuchungsverlauf<br />

Nach der Beschaffung von Unterlagen (Listen. Literatur) und der Kontaktaufnahme zu<br />

Dienststellen und Privatpersonen wurden in den Sommer- und Herbstmonaten die Objekte<br />

bezirksweise aufgesucht und - oft mehrmals, je nach Witterung - fotografiert (Schwarz-<br />

Weiß-Aufnahmen im Kleinbild-Format). Gleichzeitig wurden Angaben über Künstler,<br />

Inschrift, Größe und Zustand aufgenommen, soweit sie vor Ort ermittelt werden konnten.<br />

Fehlende Daten wurden teils aus der einschlägigen Fachliteratur, teils aus Listen der<br />

Gartenbau- und Kunstämter sowie Heimatvereine oder -museen übernommen.<br />

Von einigen Objekten, wie Laternen, „Rotunden", Geländern auf Brücken oder Ufer-<br />

245


mauern, waren keine oder nur geringe Angaben zu bekommen, da entweder wenig Aufzeichnungen<br />

existieren oder aber die Akten in Ost-Berlin liegen.<br />

Bei den einzelnen Objekten handelt es sich nicht nur um „Denkmäler" im engeren Sinne,<br />

d. h. „zur Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis errichtete Gedächtnismale". Von<br />

vornherein bestand die Absicht, neben den eigentlichen Denkmälern auch den gesamten<br />

Skulpturen- und Brunnenbestand sowie das künstlerisch wertvolle „Parkmobiliar" (Pergolen,<br />

Laternen, Gitter, Bänke u. a. m.) mitzuerfassen.<br />

Teilweise wurden auch Objekte aufgenommen, die zwar „öffentlich", d. h. im Freiraum,<br />

aber nicht in öffentlichen Grünanlagen stehen.<br />

Aus verschiedenen Gründen (noch) nicht erfaßt wurden die Objekte im<br />

- Zoologischen Garten<br />

- Reichssportfeld<br />

- Skulpturengarten sowie<br />

Vorplatz der Neuen Nationalgalerie<br />

- Schloßpark Tegel und<br />

- in den kirchlichen Friedhöfen.<br />

Darüber hinaus läuft gegenwärtig eine Umfrageaktion bei den Wohnungsbaugesellschaften,<br />

um auch auf dem privaten Sektor das Inventar zu vervollständigen.<br />

Anschließend wurden die Angaben mit den einzelnen Bezirken sowie dem Landeskonservator<br />

abgestimmt und auf Karteiblätter (DIN A4) übertragen. Von den Kleinbild-Aufnahmen<br />

wurden Abzüge (9x13 cm) hergestellt und auf die Karteikarten geklebt. Zusätzlich<br />

wurden sämtliche Objekte mit ihrer lfd. Nummer sowohl auf den Bezirkskarten (Maßstab<br />

1 : 10 000 oder 1 : 20 000) als auch auf der Übersichtskarte von Berlin (West) (Maßstab<br />

1 : 50 000) lagerichtig eingetragen.<br />

3. Untersuchungsergebnis<br />

Im Frühjahr 1976 lag das Ergebnis in Form einer Kartei mit 1122 Blättern vor. Damit<br />

ist zwar der Bestand in den öffentlichen Grünanlagen nahezu vollständig, im gesamten<br />

West-Berliner Stadtgebiet jedoch nur zu etwa 85 % erfaßt. Die Zahl der Denkmäler,<br />

Skulpturen und Brunnen, die vor dem 2. Weltkrieg entstanden sind, überwiegt geringfügig<br />

jene der nach 1945 geschaffenen Objekte (vgl. Tab. 1 und 2). Im einzelnen trifft das aber<br />

nur für die Denkmäler und Brunnen zu, während die nach dem Krieg entstandenen Skulpturen<br />

- bedingt durch eine große Anzahl von abstrakten Bildwerken (77 Objekte) - in<br />

der Mehrzahl sind.<br />

175 Objekte, also etwa 15 %, sind im „denkmalfreudigen" 19. Jahrhundert geschaffen<br />

worden (davon sind 56 Denkmale und Baudenkmale sowie 41 Skulpturen). Viele sind<br />

durch Kriegseinwirkungen zerstört worden, einige (66 Objekte) haben im Laufe ihrer<br />

Geschichte ihren Standort mindestens einmal, manche öfter, gewechselt.<br />

Charlottenburg, Zehlendorf und Tiergarten ragen mit je ca. 150 Objekten aus der Masse<br />

der übrigen Verwaltungsbezirke hervor und erbringen mit zusammen 465 Objekten rund<br />

41 % des Gesamtbestandes. Das ist auf den ersten Blick dem hohen Grünflächenanteil<br />

in diesen Bezirken zuzuschreiben (zusammen 1412 ha = 33 % aller Parkanlagen, Friedhöfe<br />

und Sportplätze). Bei näherer Betrachtung stellt sich aber heraus, daß die Objekte<br />

auf die - gerade in diesen drei Bezirken liegenden - vier historischen Parks<br />

- Großer Tiergarten mit Schloßpark Bellevue,<br />

- Schloßgarten Charlottenburg,<br />

246


„Wolkentor",<br />

kinetische Großplastik<br />

mit Lichteffekten<br />

am Flughafen Tegel<br />

von Heinrich Brummack. 1975<br />

(Foto: Solmsdorf)<br />

— Schloß- (und Volks-)park Klein-Glienicke und<br />

— Pfaueninsel<br />

konzentriert sind, die von alters her einen überdurchschnittlich hohen Bestand an Denkmälern,<br />

Skulpturen und Parkmobiliar besaßen.<br />

Mit zusammen 430 ha, das sind 17 % der 192 Grünanlagen (58 Parke und 134 Stadtplätze),<br />

besitzen nur diese 4 Anlagen 230 Objekte (20 %, vgl. Tab. 3), davon allein<br />

134 Denkmäler und Skulpturen (22 % des Gesamtbestandes).<br />

Am besten mit Denkmälern „versorgt" ist der Große Tiergarten: Mit 73 Objekten (12 %<br />

der Gesamtzahl), davon 38 aus der Zeit zwischen 1740 und 1945, nimmt er eine Sonderstellung<br />

unter den Berliner Grünanlagen ein. Hier läßt sich eine „Denkmalsdichte" von<br />

1 Denkmal auf 2,5 ha errechnen, während die Relation im Durchschnitt 1:4,5 beträgt.<br />

Die ältesten Denkmäler (West-)Berlins stehen vor und hinter dem Charlottenburger<br />

Schloß: Vor der Nordfront die 1663 von Kaspar Günther geschaffenen 24 Büsten der<br />

römischen Kaiser nebst deren Gattinnen sowie das Reiterstandbild des „Großen Kurfürsten"<br />

von Andreas Schlüter 1703 (im Ehrenhof aufgestellt seit 1952).<br />

Danach folgen das „Schildhorn-Denkmal" (von August Stüler 1845), das Denkmal für<br />

König Friedrich Wilhelm III. (von Friedrich Drake 1849) im Großen Tiergarten sowie das<br />

247


1869 von Reinhold Begas geschaffene Schiller-Denkmal, das seit 1951 im Lietzenseepark<br />

steht (Bronzeabguß seit 1941 im Weddinger Schillerpark).<br />

Die ältesten Gedenksteine sind im Großen Tiergarten bzw. im Schloßpark Bellevue zu<br />

finden: Der Gedenkstein für den Hofmarschall von Bredow (von Antoine Tassaeri zwischen<br />

1774 und 1785) und der „Hochzeitsdenkstein" aus dem Jahre 1805 (von Gottfried Schadow).<br />

Die ältesten Skulpturen, „Flora" und „Pomona" (von Jeremias Süßner, um 1700), wären<br />

ebenfalls am Charlottenburger Schloß zu finden, wenn sie nicht nach dem Kriege durch<br />

Kopien ersetzt worden wären. So gesehen steht die älteste (Original-)Skulptur im<br />

Großen Tiergarten: „Herkules" (entgegen der amtl. Behauptung ohne Lyra, seine Gegenfigur<br />

„Apoll" besaß wohl eine solche) von Ebenhecht um 1750 geschaffen, an dieser Stelle<br />

allerdings erst seit 1893.<br />

Eines der jüngsten Objekte und — neben dem Luftbrücken-Denkmal (20 m hoch) — mit<br />

15 m Höhe eines der größten ist das „Wolkentor" von Heinrich Brummack (1975) vor<br />

dem Abfertigungsgebäude des Tegeler Flughafens.<br />

Das älteste Kriegerdenkmal, das „Denkmal für die Gefallenen von 1813—1815" von<br />

C. F. Schinkel (1816) steht auf dem Reformationsplatz in der Spandauer Altstadt. In<br />

Spandau (Seegefelder Straße 36) wurde auch 1957 eines der ersten abstrakten Bildwerke<br />

(von Joachim-Fritz Schultze) aufgestellt.<br />

Der „Wrangel-Brunnen" oder „Vier-Ströme-Brunnen" von Hugo Hagen (1876/77) im<br />

Grimmpark an der Urbanstraße ist der älteste Springbrunnen, der zudem noch in Betrieb<br />

ist; eine Feststellung, die man nur noch bei 86 Brunnen (68 %) treffen kann - die übrigen<br />

sind teils beschädigt, teils bepflanzt.<br />

Berlin (West) ist mit seinen 126 Brunnen nicht sonderlich gut ausgestattet, selbst dann<br />

nicht, wenn man die 73 Wasserspiele in Berlin (Ost) noch hinzurechnet. Zum Vergleich:<br />

München besitzt ca. 550 Lauf- oder Springbrunnen, die fast alle funktionieren. Und noch<br />

etwas: Die Münchener haben schon vor einigen Jahren ihren Bestand an Brunnen sowie<br />

an Denkmälern und Gedenktafeln aufgenommen und auch bereits in Wort und Bild<br />

veröffentlicht.<br />

Für folgende Denkmäler wäre aus verschiedenen Gründen eine Standortveränderung<br />

oder aber eine Neugestaltung ihrer Umgebung von Vorteil:<br />

Bez. Tiergarten:<br />

- Goethe-Denkmal<br />

- Lessing-Denkmal<br />

- Wagner-Denkmal<br />

- „Musikerofen"<br />

Gr. Tiergarten<br />

Gr. Tiergarten<br />

Gr. Tiergarten<br />

Gr. Tiergarten<br />

(Sperrbezirk)<br />

(Sperrbezirk)<br />

(schlechter Zugang)<br />

(Hauptverkehrsstraße)<br />

Bez. Wedding<br />

- Orpheus Eckernförder Platz (schlechter Zugang)<br />

Bez. Spandau<br />

- Friedrich Wilhelm IJ1. Zitadelle<br />

- Ares Zitadelle<br />

- Apoll Heerstraße<br />

248<br />

(versteckt)<br />

(beziehungslos)<br />

(beziehungslos)


Bez. Wilmersdorf<br />

— Winzerin Bundesplatz (Hauptverkehrsstraße)<br />

Zahlreiche Denkmäler und Skulpturen sind nicht mehr in ihrem Originalzustand erhalten.<br />

Sie sind mit Farbe verunziert, durch rohe Gewalt beschädigt, wenn nicht gar ganz oder<br />

teilweise entfernt, oder durch Bewitterung und zunehmende Umweltverschmutzung in<br />

ihrem Aussehen und ihrer Lebensdauer beeinträchtigt. Eine rasche Restaurierung wäre<br />

in solchen Fällen wünschenswert, doch würde sie bei einigen Bildwerken den Verfall<br />

wohl nur verzögern, aber nicht aufhalten.<br />

Tabelle 1<br />

Anzahl der aufgenommenen Objekte nach Objektgruppen und Entstehungszeit<br />

(des Originals oder der Vorlage)<br />

Objekt gruppe<br />

1. Baudenkmale<br />

(nach dem Verzeichnis in der Bauordnung)<br />

2. Denkmäler (i. e. S.)<br />

- Standbilder, Büsten<br />

- Reiterdenkmäler<br />

- Säulen<br />

— Siegesdenkmäler<br />

— Nationaldenkmäler<br />

- Kriegerdenkmäler<br />

- Kriegsopferzeichen<br />

- Grabdenkmäler<br />

- Gedenksteine (-tafeln)<br />

— „Berolinensia":<br />

- Trümmerdenkmal<br />

— Luftbrückendenkmal<br />

- „17. Juni"-Denkmäler<br />

— „Mauer"-Denkmäler<br />

— Flüchtlingsdenkmäler<br />

- Wiedervereinigungsdenkmäler<br />

3. Skulpturen<br />

- menschliche Gestalt<br />

- Tier<br />

- Pflanze<br />

- gem. Gruppen aus o. g.<br />

- abstrakt<br />

4. Brunnen<br />

(Lauf- und Springbrunnen)<br />

5. Park- (und angrenzendes Straßen-)mobiliar<br />

(mit künstlerischem Wert)<br />

vor<br />

1945<br />

20<br />

188<br />

65<br />

1<br />

8<br />

2<br />

-<br />

61<br />

-<br />

14<br />

37<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

111<br />

76<br />

16<br />

-<br />

19<br />

-<br />

66<br />

233<br />

Anzahl<br />

nach<br />

1945<br />

-<br />

113<br />

6<br />

-<br />

-<br />

1<br />

-<br />

9<br />

21<br />

1<br />

62<br />

13<br />

1<br />

1<br />

5<br />

2<br />

1<br />

3<br />

174<br />

26<br />

68<br />

2<br />

1<br />

77<br />

60<br />

157<br />

insgesamt<br />

20<br />

301<br />

71<br />

1<br />

8<br />

3<br />

-<br />

70<br />

21<br />

15<br />

99<br />

13<br />

285<br />

102<br />

84<br />

2<br />

20<br />

77<br />

126<br />

390<br />

Anm.<br />

(1)<br />

(2)<br />

(3)<br />

249


(Forts. Tab. 1)<br />

Objektgruppe<br />

- Meilen-, Kilometersteine<br />

— Laternen, Lichtständer<br />

- öffentl. Bedürfnisanstalten<br />

(„Rotunden")<br />

- Feuermelder („Schinkel-Melder")<br />

- öffentl. Straßenbrunnen<br />

(Lauchhammer- und Krauseständer)<br />

— Trinkbrunnen<br />

- Wasserfälle, Kaskaden<br />

— Pergolen<br />

- Bänke<br />

- Gitter, Geländer<br />

- Bauten und Bauteile<br />

(Pavillon, Mauer, Torpfeiler, Säule,<br />

Sockel, Kapitell)<br />

- Vogeltränken<br />

- Sonnenuhren<br />

- Pflanzschalen, -becken, Vasen<br />

— Hinweissteine, -tafeln, Richtungsweiser<br />

- Spielplastiken<br />

Summe<br />

vor<br />

1945<br />

8<br />

55<br />

16<br />

4<br />

10<br />

-<br />

5<br />

8<br />

33<br />

44<br />

24<br />

2<br />

2<br />

12<br />

8<br />

-<br />

618<br />

Anzahl<br />

nach<br />

1945<br />

1<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

32<br />

1<br />

6<br />

-<br />

1<br />

7<br />

27<br />

5<br />

5<br />

47<br />

8<br />

504<br />

insgesamt<br />

9.<br />

55<br />

16<br />

4<br />

10<br />

-<br />

6<br />

14<br />

33<br />

45<br />

29<br />

7<br />

17<br />

55<br />

8<br />

1122<br />

Anmerkungen:<br />

(1) Nationaldenkmal auf dem Kreuzberg bereits in der Zahl der Baudenkmale enthalten.<br />

(2) Nur Gedenktafeln innerhalb der Anlagen berücksichtigt.<br />

(3) Holzkreuze entlang der „Mauer" nicht berücksichtigt.<br />

(4,6, 7, 8) Anzahl der Objekte im gesamten Stadtgebiet.<br />

(5, 9,10,11) Tatsächliche Gesamtzahl der aufgenommenen Objekte.<br />

250<br />

Anm.<br />

10(4)<br />

347 (5)<br />

38(6)<br />

16(7)<br />

107(8)<br />

187(9)<br />

62(10)<br />

77(11)


Tabelle 2<br />

Verteilung der Objekte auf die einzelnen Bezirke<br />

Hinweise: Obere Zahlen-Zeile jeweils: Entstehungszeit vor 1945; untere Zeile: nach 1945<br />

Letzte Spalte: Fläche der Parkanlagen (Grünanlagen, Tierparke, Kleingärten, Spielplätze)<br />

nach Statist. Jahrbuch Berlin 1975<br />

z<br />

BC7<br />

02<br />

03<br />

06<br />

07<br />

08<br />

09<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

20<br />

\ Objekt<br />

Bezirk \<br />

Tiergarten<br />

Wedding<br />

Kreuzberg<br />

Charlottenburg<br />

Spandau<br />

Wilmersdorf<br />

Zehlendorf<br />

Schöneberg<br />

Steglitz<br />

Tempelhof<br />

Neukölln<br />

Reinickendorf<br />

Tetlsumme<br />

Gesamtsumme<br />

&<br />

E<br />

c<br />

B<br />

-o<br />

ca<br />

2<br />

-<br />

1<br />

-<br />

1<br />

—<br />

-<br />

15<br />

1<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

20<br />

-<br />

20<br />

jg<br />

E<br />

M<br />

0J<br />

Q<br />

22<br />

17<br />

8<br />

16<br />

10<br />

5<br />

42<br />

12<br />

17<br />

5<br />

7<br />

8<br />

16<br />

12<br />

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30<br />

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13<br />

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20<br />

319<br />

287<br />

606<br />

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14<br />

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11<br />

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5<br />

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8<br />

9<br />

5<br />

10<br />

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7<br />

66<br />

60<br />

126<br />

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4<br />

4<br />

1<br />

2<br />

4<br />

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8<br />

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5<br />

4<br />

3<br />

1<br />

1<br />

5<br />

3<br />

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48<br />

86<br />

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6<br />

3<br />

16<br />

10<br />

38<br />

21<br />

17<br />

5<br />

13<br />

31<br />

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13<br />

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17<br />

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233<br />

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390<br />

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66<br />

23<br />

61<br />

40<br />

11<br />

110<br />

48<br />

31<br />

26<br />

34<br />

33<br />

96<br />

58<br />

49<br />

22<br />

37<br />

57<br />

19<br />

35<br />

44<br />

52<br />

48<br />

35<br />

618<br />

504<br />

1122<br />

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71<br />

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54<br />

96<br />

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1122<br />

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278<br />

248<br />

36<br />

276<br />

164<br />

184<br />

451<br />

145<br />

314<br />

96<br />

193<br />

367<br />

2752<br />

251


Tabelle 3<br />

Grünanlagen mit der größten Anzahl an Objekten<br />

Hinweis: Obere Zahlen-Zeile jeweils: Entstehungszeit vor 1945; untere Zeile: nach 1945<br />

Bez. Nr.<br />

02<br />

07<br />

10<br />

10<br />

12<br />

14<br />

06<br />

07<br />

11<br />

12<br />

252<br />

Anlage<br />

Gr. Tiergarten<br />

mit Engl. Garten<br />

und Schloßpark<br />

Bellevue<br />

Schloßgarten Charlottenburg<br />

mit Ehrenhof<br />

Schloß- und Volkspark<br />

Klein-Glienicke<br />

Pfaueninsel<br />

Stadtpark<br />

Steglitz<br />

Volkspark<br />

Hasenheide<br />

Viktoriapark<br />

Lietzenseepark<br />

H.-v.-Kleist-Park<br />

Botan. Garten<br />

Teilsumme<br />

Gesamtsumme<br />

Baudenkmäler<br />

2<br />

-<br />

10<br />

5<br />

-<br />

-<br />

1<br />

-<br />

-<br />

1<br />

19<br />

19<br />

Denkmäler<br />

16<br />

10<br />

29<br />

2<br />

1<br />

1<br />

4<br />

1<br />

4<br />

1<br />

2<br />

6<br />

64<br />

13<br />

77<br />

Skulpturen<br />

20<br />

25<br />

8<br />

1<br />

5<br />

-<br />

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1<br />

3<br />

1<br />

2<br />

3<br />

7<br />

4<br />

49<br />

33<br />

82<br />

Zwischensumme<br />

38<br />

35<br />

37<br />

1<br />

17<br />

6<br />

2<br />

2<br />

4<br />

4<br />

6<br />

1<br />

4<br />

3<br />

8<br />

10<br />

132<br />

46<br />

178<br />

Brunnen<br />

3<br />

1<br />

7<br />

1<br />

3<br />

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1<br />

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1<br />

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18<br />

Brunnen in Betrieb<br />

3<br />

1<br />

3<br />

1<br />

2<br />

1<br />

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1<br />

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1<br />

8<br />

5<br />

13<br />

Parkmobiliai<br />

32<br />

3<br />

18<br />

9<br />

3<br />

16<br />

2<br />

13<br />

1<br />

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5<br />

4<br />

6<br />

2<br />

6<br />

2<br />

97<br />

33<br />

130<br />

Gesamtsumme<br />

111<br />

57<br />

37<br />

25<br />

20<br />

17<br />

16<br />

16<br />

14<br />

13<br />

326<br />

Fläche in ha<br />

187<br />

53<br />

90<br />

100<br />

12<br />

56<br />

13<br />

10<br />

6<br />

42<br />

569


4. Quellenverzeichnis<br />

Alckens, A.: München in Erz und Stein. Gedenktafeln, Denkmäler, Gedenkbrunnen. Mainburg 1973.<br />

Badstübner-Gröger. S.: Bibliographie zur Kunstgeschichte von Berlin und Potsdam. Berlin 1968.<br />

(Schriften zur Kunstgeschichte H. 13.)<br />

Baedeker, K.: Berlin-Schöneberg (Stadtführer). Freiburg 1974.<br />

Ders.: Berlin-Wedding. Freiburg<br />

Ders.: Berlin-Wilmersdorf. Freiburg 1975.<br />

Barth. J.: Stadtplätze. In: Berlin und seine Bauten, Teil XI: Gartenwesen. Berlin 1972, S. 153-175.<br />

Bauordnung für Berlin. Hrsg. v. Senator f. Justiz. Berlin 1971. In: GVB1. f. Berlin, 27, Nr. 24.<br />

S. 481 —483 (Verzeichnis der Baudenkmale).<br />

Berliner Grün - Ein Wegweiser. Hrsg. vom Senator f. Bau- und Wohnungswesen. Berlin 1972.<br />

Berlin und seine Bauten. Bearb. u. hrsg. vom Architekten-Verein zu Berlin u. der Vereinigung Berliner<br />

Architekten, 1. Aufl. Berlin 1877, 2. erweit. Aufl. (3 Teile in 2 Bänden) Berlin 1896.<br />

Bistritzki, O. J.: Brunnen in München. Lebendiges Wasser in einer großen Stadt. München 1974.<br />

Bloch, P.: Anmerkungen zu Berliner Skulpturen des 19. Jahrhunderts. In: Jahrbuch d. Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1970, S. 162- 190.<br />

Borrmann, R.: Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Berlin 1893.<br />

Breuer, K.: Die Pfaueninsel bei Potsdam. Berlin 1922. -Diss.<br />

Die Siegesallee, eine Berliner Episode. Hrsg. vom Haus am Lützowplatz/Förderkreis Kulturzentrum<br />

Berlin e.V. Berlin 1973.<br />

Gestern noch auf hohen Sockeln .... Berliner Skulpturen des 19. Jahrhunderts. Hrsg. vom Haus<br />

am Lützowplatz/Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V. Berlin 1974.<br />

Hildebrandt, W.: Denkmäler und Schmuckplastiken in Berlin. Berlin 1962.<br />

Hoffmann, L.: Das Rudolf-Virchow-Krankenhaus. - Neubauten der Stadt Berlin. Berlin 1907.<br />

Hundert Jahre Berliner Grün. Hrsg. vom Senator f. Bau- u. Wohnungswesen Berlin 1970.<br />

Ingwersen, E.: Standbilder in Berlin. Berlin 1967. (Berlinische Reminiszenzen, 16.)<br />

Jahn, G.: Stadt und Bezirk Spandau. Berlin 1971. (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin.)<br />

Kleine Baugeschichte Zehlendorfs - Architektur und Gartenkunst im grünen Bezirk. Hrsg. vom<br />

Bezirksamt Zehlendorf von Berlin. 2. Aufl. Berlin 1972.<br />

Kühn. M.: Schloß Charlottenburg. Berlin 1970. (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin.)<br />

Müller-Bohn, H.: Die Denkmäler Berlins in Wort und Bild, nebst den Gedenktafeln und Wohnstätten<br />

berühmter Männer. 2. Aufl. Berlin 1905.<br />

Sasse, W.: Wege und Meilensteine weisen nach Berlin. S.-A. aus: Festschrift f. Edwin Redslob zum<br />

70. Geburtstag. Berlin 1955.<br />

Schirmer, W.: Eine Gruppe von Pavillons, Berliner Entwürfe des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift<br />

Klaus Lankheit.<br />

Sievers. J.: Bauten für den Prinzen Karl von Preußen. Berlin 1942.<br />

Weber, K. K.: Historische Parke. In: Berlin und seine Bauten, Teil XI: Gartenwesen. Berlin 1972.<br />

S.51-69.<br />

Ders.: Berlins Parke seit 1900. In: Berlin und seine Bauten, Teil XI: Gartenwesen. Berlin 1972,<br />

S. 70-106.<br />

Wege durch Berliner Grünanlagen. Hrsg. vom Senator f. Bau- u. Wohnungswesen Berlin 1975.<br />

Wenke, K.: Die Steinmetzlehrwerkstatt. Berlin 1970.<br />

Wirth, I.: Bezirk Tiergarten. Berlin 1955. (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin.)<br />

Dies.: Stadt und Bezirk Charlottenburg. Berlin 1961. (Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von<br />

Berlin.)<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 19. Kaiserdamm 10<br />

253


Nachrichten<br />

Ehrenmitglied Johannes Schultze t<br />

Am 2. Oktober 1976 verstarb in Berlin unser Ehrenmitglied und Nestor der Berlin-Brandenburgischen<br />

Landesgeschichtsforschung, Prof. Dr. Johannes Schultze, im Alter von 95 Jahren. Er wurde<br />

am 13. Mai 1881 in Groß-Krausnigk. Kreis Luckau, geboren, besuchte später die Landesschule Schulpforta<br />

und schloß sein 1901 begonnenes Studium 1905 mit einer Promotionsarbeit über die Urkunden<br />

Kaiser Lothars III. ab. Ab 1905 stand er im Dienst der preußischen Archivverwaltung, die längste<br />

Zeit davon im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin. Nicht nur als langjähriger Herausgeber<br />

der „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte", sondern auch als Mitbegründer<br />

der Historischen Kommission der Provinz Brandenburg und der Reichshauptstadt Berlin<br />

war er stets mit Problemen der Landesgeschichtsschreibung intensiv beschäftigt. Bis zu seiner aus<br />

politischen Gründen erfolgten vorzeitigen Pensionierung im Jahre 1944 war er auch am Aufbau und<br />

an der Lehre in dem mit dem Dahlemer Archiv eng verbundenen Institut für Archivwissenschaft (If A)<br />

beteiligt. In dieser Zeit erschienen auch seine Editionen zum Briefwechsel Kaiser Wilhelms I. sowie<br />

des Landesregisters der Herrschaft Sorau und des Landbuchs von 1375.<br />

Nach dem Krieg erwarb sich Johannes Schultze große Verdienste nicht nur um den Wiederaufbau<br />

des Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem, sondern auch um die Wiederbelebung der Berliner<br />

historischen Vereine. Nicht zuletzt ihm ist der Neuanfang auch unseres Vereins in den Jahren 1949/<br />

1950 auf seinen Einsatz zurückzuführen. Der Verein für die Geschichte Berlins dankte dies Schultze<br />

im Jubiläumsjahr 1965 mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft.<br />

Über die wohl schöpferischste Epoche im Leben Johannes Schultzes, die Zeit nach 1945, handeln die<br />

Worte, die Prof. Dr. Wolfgang H. Fritze in der Trauerfeier für Johannes Schultze am 12. 10. 1976 als<br />

Vertreter des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin sprach. Sie sind<br />

uns vom Verfasser in dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt worden:<br />

Der Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, für den ich hier sprechen darf,<br />

verliert in Johannes Schultze ein Mitglied der ersten Stunde. Als der 68jährige im Jahre 1949 seine<br />

Tätigkeit in dem mit allen Schwierigkeiten des Anfangs ringenden Friedrich-Meinecke-lnstitut, dem<br />

Kern unseres Fachbereichs, aufnahm, lag - wir haben davon gehört - ein langes, arbeits- und erfolgreiches<br />

Berufsleben bereits abgeschlossen hinler ihm. Er durfte auf Jahre der ruhigen Arbeit am Schreibtisch<br />

hoffen, die die Ernte von Jahrzehnten in die Scheuer bringen sollten. Doch als der Ruf an ihn erging,<br />

hat er nicht gezögert, die neue schwere Bürde auf sich zu nehmen. Über 20 Jahre lang, von 1949 bis 1970,<br />

hat Johannes Schultze am Friedrich-Meinecke-lnstitut die Fächer Historische Hilfswissenschaften und<br />

Geschichte der Mark Brandenburg in Vorlesungen und Seminarübungen vertreten. Sein gütiges Verständnis<br />

für die Schwierigkeiten von Anfängern gewann ihm die Herzen seiner Hörer, sein lebendiger<br />

Geist, sein Humor, sein ausgeprägtes kritisches Bewußtsein, seine innerste Anteilnahme am Gegenstand<br />

weckten in ihnen das Interesse für seine Themen und machten sie aufnahmebereit für die reichen Kenntnisse,<br />

die er in langen Jahren seines Archivdienstes hatte sammeln können, vor allem als Herausgeber<br />

umfangreicher Quellen zur mittleren und neueren Geschichte und als Lehrer am Institut für Archivwissenschaft.<br />

Welch reicher Erfolg seiner Lehrtätigkeit beschieden war, haben seine Schüler dankbar<br />

bezeugt. Daß das gewöhnlich als trocken geltende Gebiet der sogen. Historischen Hilfswissenschaften,<br />

die ja eigentlich Grundwissenschaften unseres Faches sind, unseren Studenten lebendig nahegebracht<br />

wurde, das danken wir Johannes Schultze. Und wenn heute die wissenschaftliche Beschäftigung mit<br />

brandenburgischer Landesgeschichte in West-Berlin nicht völlig aufgehört hat, so ist das wiederum vor<br />

allem dem Wirken Johannes Schultzes an unserem Institut zu verdanken. Er hat uns die Augen für das<br />

spezifische Interesse und die Eigenart der märkischen Geschichte, für die Vielzahl und die Besonderheit<br />

ihrer Probleme geöffnet und hat uns verlockt, uns auch selber auf diesem nur scheinbar dürren Felde<br />

zu versuchen. Aber das Interesse des Historikers Johannes Schultze ging weil über seine Lehrfächer<br />

hinaus. So ist er es gewesen, der 1950 zusammen mit Fritz Härtung die Historische Gesellschaft zu<br />

Berlin wieder zum Leben erweckte, deren Vorträge damals wie heute das weite Feld der allgemeinen<br />

Geschichte umgreifen und so das Lehrprogramm unseres Fachbereichs auf vielfältige Weise bereichern.<br />

Angesichts dieser seiner Verdienste und Leistungen verstand es sich nur von selbst, daß Johannes<br />

Schultze zu seinem 75. Geburtstage 1956 auf Betreiben der damaligen Direktoren des Friedrich-<br />

Meinecke-Instituts die Würde eines Honorarprofessors an der Freien Universität Berlin erhielt.<br />

254


Foto: Geheimes Staatsarchiv<br />

Piaton hat bekanntlich im Theaitetos als Grundvoraussetzung, als apcn des wissenschaftlichen Denkens<br />

die Begabung zum Verwundern bezeichnet, die Fähigkeil, ein Gegebenes nicht als gegeben hinzunehmen,<br />

sondern nach seinem Warum zu fragen. Diese Gabe war Johannes Schultze in hohem Maße eigen. Es<br />

überrascht deshalb nicht, daß seine Lehrtätigkeit an unserem Institut von einer großen Zahl gelehrter<br />

Abhandlungen begleitet wurde, die - mit den Mitteln formaler wie inhaltlicher Quellenkritik — dem<br />

Warum von Gegebenheiten der märkischen Geschichte nachgingen, Gegebenheiten, die zu nicht geringem<br />

Teil bisher unbefragt geblieben waren. Politische Geschichte, Territorialgeschichte, Verfassungsgeschichte,<br />

Ständegeschichte, Städtegeschichte, alle diese Bereiche des geschichtlichen Lebens beschäftigten<br />

ihn in gleicher Weise, „ von der Mark Brandenburg zum Großstaat Preußen" - so der Titel eines<br />

seiner Aufsätze - schlug er den Bogen, die Stellung des Jaxa von Köpenick im Jahre 1150 fesselte ihn<br />

ebenso wie die Haltung Hannovers 1866. Grundfragen der älteren märkischen Geschichte sind durch<br />

Johannes Schultze erst eigentlich als Fragen erkannt worden, wie etwa die des Rechtsverhältnisses der<br />

Mark zum Reich, der verfassungsrechtlichen Stellung der Stadt Brandenburg in der Mark, der Unterscheidung<br />

von ritterlichem Eigen und Lehen in den Ländern östlich der Elbe, der Stadtviertel als städtegeschichtlichen<br />

Problems. Bis in seine letzte Lebenszeit hinein hat er in solcher Weise am wissenschaftlichen<br />

Leben teilgenommen. An Widerspruch hat es seinen Arbeiten keineswegs gefehlt. Aber gerade darin,<br />

daß sie Mitstrebende zur Auseinandersetzung zwangen, zeigte sich der wissenschaftliche Wert seiner<br />

Untersuchungen. An einer von Johannes Schultze aufgestellten These konnte und kann keiner vorüber,<br />

der sich mit diesen Fragen beschäftigt.<br />

Seine gelehrten Abhandlungen würden vollauf ausreichen, um Schultze seinen Ruf als bester Kenner<br />

der märkischen Geschichte zu sichern. Aber damit war es ihm nicht genug. Vielleicht war auch der Geschichtsschreiber<br />

der Mark eine „Natur, der das Greisenalter das Gemäße ist", wie Thomas Mann einmal<br />

von dem großen märkischen Wanderer gesagt hat. Doch müssen wir hier dankbar auch der hingegangenen<br />

Gattin und der Tochter gedenken, deren aufopfernde Fürsorge es Johannes Schultze ermöglichte,<br />

im biblischen Alter noch die Früchte lebenslanger Bemühung zu ernten. Denn als 75jähriger ließ er<br />

1956 sein erstes größeres Werk zur märkischen Geschichte erscheinen, sein Buch über die Prignitz, eine<br />

vortrefflich gearbeitete, nach allen Richtungen ausgreifende, moderne Fragestellung aufnehmende Landesgeschichte.<br />

1960 folgte ein Buch von nur scheinbar geringerem Rang, seine Geschichte von Rixdorf-<br />

Neukölln, das Modell geradezu einer Ortsgeschichte, in dem er exemplarisch eine Vielzahl von Phänomenen<br />

des strukturellen und kulturellen Werdens in der Mark behandelte und das ihm nicht ohne Grund<br />

besonders wert war. Von der Arbeit an diesen Bänden hat sein Hauptwerk profitiert, von dem er 1961,<br />

255


nun HOjährig, den 1. Band vorlegte, die Geschichte der Mark Brandenburg; bis 1969 folgten vier weitere<br />

Bände, die bis zur Auflösung der Mark Brandenburg im Jahre 1815 führten. Johannes Schultze<br />

hat uns damit die erste große Darstellung der märkischen Geschichte überhaupt gegeben und darüber<br />

hinaus die erste Geschichte der Mark, die durchgehend auf einer kritischen Aufarbeitung der Quellen<br />

aufgebaut ist. Auch in diesem opus maximum war sein Blick ebenso wie in seinen Abhandlungen und in<br />

seinem Prignitz-Buch stets auf das geschichtliche Leben in seiner Ganzheit und in seiner inneren Verflochtenheil<br />

gerichtet; was Strukturgeschichte und was sozialer Konflikt ist, das hat Johannes Schultze<br />

sehr gut gewußt, wenn er auch die Termini nicht gebraucht hat. Johannes Schultze hat für die märkische<br />

Geschichtsforschung einen neuen Grund gelegt. Wer immer jetzt und in Zukunft märkische Geschichte<br />

treibt, er wird von seinem Werk auszugehen haben.<br />

So groß die Bedeutung gewesen ist, die Schultze als Lehrer und als Forscher für unseren Fachbereich<br />

gehabt hat, so sind wir ihm doch noch auf eine andere Weise Dank schuldig. Eine nicht geringe Wirkung<br />

ist auch von der besonderen Art ausgegangen, auf die er Mensch war. Johannes Schultze konnte nach<br />

außen gelegentlich ein rauhes Wesen zeigen. Aber jeder, der ihn näher kennenlernen durfte, weiß, daß<br />

dahinter ein fast kindhaft reines Herz voll Liebe und Güte schlug, das gänzlich außerstande war, einem<br />

anderen Menschen Böses zuzufügen. Diesem seinem Daimonion gesellte sich das Teil, das Tyche ihm<br />

verliehen hatte. Johannes Schultze war seinem Wesen nach ein Preuße, aber freilich ein Preuße von<br />

besonderer Art. In diesem alten Gelehrten lebte unter uns ein Stück des alten Preußen, das Preußen der<br />

Schlichtheit und Anspruchslosigkeit, des treuen und hingebenden Dienstes an der Sache, der gehorsamen<br />

Pflichterfüllung, der unbedingten Rechtlichkeit und Redlichkeit, der Nüchternheit auch und der<br />

Skepsis gegenüber den großen Worten. In dem Sohne eines protestantischen märkischen Pfarrhauses<br />

und dem Zögling der altehrwürdigen hohen Schule zur Pforte verband sich das altpreußische Ethos des<br />

„Mehr sein als scheinen" mit der Tradition des protestantischen Humanismus Wittenberger Prägung.<br />

Dies treu bewahrte Erbe hat ihn gefeit gegenüber den Versuchungen seiner Zeit, dem Borussismus, dem<br />

Wilhelminismus und schließlich dem Hitlerismus. Auch für ihn, der das Preußentum des alten Fontane<br />

gelebt hat, gilt das Wort aus dem „Stechlin": „Aber die wirklich Vornehmen, die gehorchen; nicht einem<br />

Machthaber, sondern dem Gefühl der Pflicht."<br />

Der Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin ist stolz darauf, daß er diesen<br />

hervorragenden Gelehrten und reinen Menschen zu den Seinen zählen darf. In Dankbarkeit und Ehrfurcht<br />

nimmt er Abschied von seinem Mitglied Johannes Schultze.<br />

Zur Denkmalpflege und Stadtplanung in Ost-Berlin<br />

Nach Angaben der Zeitung „Neues Deutschland" vom 12. Oktober 1976 soll die Gegend um den Hackeschen<br />

Markt/Sophienstraße und Große Hamburger Straße rekonstruiert werden, worunter Modernisierung und Ausbau,<br />

auf jeden Fall aber Erhaltung zu verstehen ist. Man möchte dort Altberliner Handels- und Dienstleistungseinrichtungen<br />

sowie Kunsthandwerker mit kleinen Werkstätten ansiedeln. Weiter sind Boulevard-Cafes. Bierstuben und Eisdielen,<br />

Kaufhallen, sechs Gaststätten, ein Warenhaus. Bibliotheken. Filmtheater, ein Feierabendheim sowie Sportund<br />

Grünanlagen vorgesehen. Nach Abschluß dieser Maßnahmen wird das gesamte Viertel 27 000 Einwohner<br />

haben.<br />

Derartige Arbeiten zur Erhaltung von Altbausubstanz aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind am<br />

Arnimplatz im Bezirk Prenzlauer Berg abgeschlossen worden. Bis 1990 soll auch das Gebiet um die Wilhelm-<br />

Pieck-Straße. die frühere Lothringer Straße, umgestaltet werden; die Architekten wurden bereits zu einem Ideenwettbewerb<br />

aufgerufen. Am Deutschen Schauspielhaus wurde das Giebelrelief inzwischen weitgehend fertiggestellt,<br />

die Figurengruppe „Apollo mit den Greifen" wird in Kürze auf ihrem alten Standort über dem Dachfirst aufgestellt.<br />

Im Friedrichsfelder Barockschloß gehen die komplizierten Innenarbeiten weiter. Die Neugestaltung der Eingangshalle<br />

zum Pergamonmuseum. Ausbauarbeiten im Bode-Museum und Vorbereitungen zum Wiederaufbau des<br />

Neuen Museums sind gleichfalls in die Wege geleitet. Auf den Listen der zu schützenden Bau- und Kunstdenkmäler<br />

der DDR stehen gegenwärtig 30000 Objekte. Nicht zuletzt aus diesem Grunde nimmt am 1. Januar 1977 ein<br />

„VEB Denkmalpflege" die Arbeit in Ost-Berlin auf, der aus der Abteilung Bau des Instituts für Denkmalpflege<br />

hervorgegangen ist.<br />

im künftigen neuen (21.| Stadtbezirk im Gebiet Biesdorf-Marzahn will der Magistrat von Ost-Berlin den Grundsatz<br />

verwirklichen, daß zwischen vorhandener historischer Bausubstanz (beispielsweise wird der Dorfanger von Marzahn<br />

erhalten und erneuen) und den Neubauten eine harmonische Einheit hergestellt wird. Gegenwärtig arbeiten die<br />

Arbeitsgruppe 9. Stadtbezirk, die Aufbauleitung für die Neubauten und die Kunsthochschule Weißensee an einer<br />

Studie, die dieses Ziel aufgreift. Der neue Stadtbezirk wird nach seiner Fertigstellung insgesamt rund 170000 Einwohner<br />

zählen. H. G. Schultze-Berndt<br />

256


Das „Königin-Luise-Jahr" 1976 im Rückblick<br />

Verschiedentlich ist in der Berliner Bevölkerung (und nicht nur im Kreise unserer Mitglieder) Verwunderung<br />

darüber geäußert worden, daß im vergangenen Jahr dem 200. Geburtstag der Königin Luise von Preußen nicht die<br />

gebührende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zuteil geworden sei. Tatsächlich haben Gedenkveranstaltungen<br />

zum 10. März mehr im „engeren Familienkreis" stattgefunden, und das „offizielle" Gedenken beschränkte sich auf<br />

wenige Worte in den Massenmedien und auf die bescheidene Präsentation von Erinnerungsstücken an Preußens<br />

einzige populäre Königin. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß der Jubiläumsimpuls als solcher allein<br />

nicht genügt, daß vielmehr sehr zeitig beginnende Aufwendungen an Arbeit und Kosten nötig sind, um eine Ausstellung,<br />

eine Festschrift oder eine sonstige Dokumentation vorzuzeigen. Als Träger dieser Aufwendungen bliebe<br />

oft nur die öffentliche Hand übrig, die — auch das sei nicht verschwiegen — dem Andenken früherer preußischdeutscher<br />

Herrschergestalten zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts abzugewinnen vermag.<br />

So blieben am Geburtstag der Königin die Aktivitäten rund um das Charlottenburger Schloß in engbegrenztem<br />

Rahmen und überschaubar. Am Vormittag des 10. März 1976 übergab der Chef des Hauses Hohenzollern. Prinz<br />

Louis Ferdinand von Preußen, im Knobelsdorff-Flügel des Schlosses ein Toilettenservice, das in Potsdam für die<br />

Königin Luise hergestellt worden war, als Dauerleihgabe an die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten<br />

in Berlin. Das vielteilige Service, das alle preußischen Prinzessinnen an ihrem Hochzeitstag benutzten, stand bisher<br />

in der Schatzkammer der Burg Hohenzollern und fand jetzt seinen Platz im vor kurzem hergestellten Schlafzimmer<br />

der Königin im Charlottenburger Schloß. Anschließend fand am Sarkophag der Königin im Mausoleum eine gottesdienstliche<br />

Feier statt, zu der eine größere Zuschauermenge im Schloßgarten den äußeren Rahmen abgab. Unter<br />

ähnlich starker Teilnahme fand sich dann am Nachmittag der Zollernkreis mit der Gemeinde der Luisenkirche in<br />

Charlottenburg zu einem Gottesdienst in dem von Schinkel erbauten, unter der Schirmherrschaft des Prinzen Louis<br />

Ferdinand stehenden Gotteshaus zusammen. Neben Pfarrer Klaus Eckelt sprach Horst Behrend Worte der Begrüßung<br />

und überreichte der Gemeinde im Auftrag des Zollernkreises einen Abguß der Totenmaske von Königin<br />

Luise. Die Ansprache hielt Prof. Dr. Wolfgang Stribrny (Flensburg); ihr Text ebenso wie die weitere genaue Berichterstattung<br />

ist in Heft 2/1976 der Zeitschrift „Erbe und Auftrag" wiedergegeben.<br />

Vom selben Tage an. bis zum 20. Juni 1976, zeigte das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-<br />

Dahlem anläßlich des 200. Geburtstages der Königin Luise in einer kleinen Vitrinen-Ausstellung besondere archivalische<br />

Kostbarkeiten aus dem Besitz des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs. Neben Bildern von ihrem Geburtshaus,<br />

dem „Alten Palais an der Leinestraße" in Hannover und dem Darmstädter „Palais am Markt", in dem<br />

Luise im Hause ihrer Großmutter, der Prinzessin Georg, ihre Jugend verbrachte, wurden Blätter aus ihrer „Description<br />

de mon voyage en Hollande" (1791) vorgelegt, in denen sie ihren Geschwistern u. a. von niederländischen<br />

„Seelenverkopern" berichtet, Schiffen, „auf denen Matrosen wie Sklaven arbeiten mußten". Unterwegs hatte sie<br />

auch Schloß Broich in Mülheim (Ruhr) besucht, die Stätte der diesjährigen Jubiläumsausstellung (s. u.). Außer<br />

ihrem Brautbild enthielten die Vitrinen Briefe, darunter auch einen ihrer Brautbriefe mit dem fast unbeschädigten<br />

Lacksiegel der Prinzessin und eine Erwiderung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm (III.) von Preußen vom 7. November<br />

1793, den er unterzeichnete: „In allen diesen Sprachen bin ich der Ihrige: Friedrich Wilhelm. Fridericus<br />

Wilhelmus, Frederic Guilaume, Frederick William".<br />

Aus der Berliner Zeit wurden neben einem Stahlstich des Charlottenburger Schlosses von G. J. F. Poppel, in dem<br />

sich die Königin besonders gern aufhielt, eine Reproduktion des bekannten Stiches von J. F. Krethlow - König<br />

Friedrich Wilhelm III. führt den am 10. Geburtstag zum Offizier ernannten Kronprinzen der Mutter und den<br />

Schwestern zu (15. Oktober 1805) - gezeigt, während die ostpreußischen Schreckenstage der Königin nach der<br />

Niederlage Preußens gegen Napoleon durch einen Brief Luises an ihren Gemahl vom 27. Juni 1807 aus Memel<br />

lebendig wurden, in dem sie über die drei gekrönten Häupter in Tilsit berichtet und den König bittet, Hardenberg<br />

„nicht zu opfern". Ein zeitgenössisches Bild illustrierte den Empfang der Königin durch Kaiser Napoleon vor dessen<br />

Quartier in Tilsit am 6. Juli 1807. Die Tagebuchnotizen der Königin über ihre Reise nach St. Petersburg gaben<br />

Einblick in eines der wichtigsten Ereignisse ihrer letzten Lebensjahre; die Reproduktion eines Porträts im Reitkleid,<br />

das unlängst im Berlin-Museum im Original, gemalt von Ternite, zu sehen war. zeigte die Königin bereits in ihrem<br />

Todesjahr (1810). Geschlossen wurde der zeitliche Bogen durch die vom König selbst eigenhändig gegebene Beschreibung<br />

der letzten Stunden der Königin Luise am 19. Juli 1810. den er als „den unglücklichsten Tag seines<br />

Lebens" bezeichnete- Abgerundet wurde diese kleine Präsentation durch eine Luise-Gedenkplakette von Posch<br />

(1810) und eine Luise-Tasse der KPM mit dem umlaufenden Text „Sie lebt auf immer im Herzen treuer Patrioten",<br />

als Zeichen der Nachwirkung und Popularität der Königin. Ihrem wissenschaftlichen Andenken diente die ausgestellte<br />

Biographie von Paul Bailleu und die Briefausgabe von Karl Griewank. - Der „Tagesspiegel" wies auf diese kleine<br />

Ausstellung am 17. März und 18. April 1976, die „Berliner Morgenpost" in ihrer Ausgabe am 19. März 1976<br />

(m. Abb.) hin.<br />

Erst spät im Jahr, vom 9. Oktober bis zum 14. November 1976, war im Stadtarchiv Mülheim a. d. Ruhr die eigentliche<br />

Gedächtnisausstellung unter dem Titel „Königin Luise von Preußen (1776—1810) und ihre Zeit" zu sehen,<br />

über 450 Exponate von rund zwei Dutzend Leihgebern des In- und Auslands vermittelten ein breitgefächertes Bild<br />

einer sowohl politisch-militärisch wie auch geistig-künstlerisch überaus bewegten Epoche der deutschen Geschichte.<br />

Das Motiv für die Wahl des Ausstellungsortes, der zum preußischen Königshaus sonst in keiner erkennbaren Beziehung<br />

steht, ist in dem Tatbestand zu suchen, daß Luise als Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz in den Jahren 1787<br />

und 1791 in Begleitung ihrer Großmutter, der Landgräfin Marie Louise Albertine von Hessen-Darmstadt, jeweils<br />

257


für einige Wochen auf Schloß Broich b. Mülheim geweilt hatte. Die noch heute spürbare „Verwurzelung der<br />

Königin Luise im Bewußtsein der Mülheimer Bevölkerung ist ein schönes Beispiel für die Volkstümlichkeit, die sie<br />

als einzige unter den preußischen Königinnen zu erringen vermochte'' - so der Leiter des Mülheimer Stadtarchivs<br />

Dr. Kurt Ortmanns im Vorwort des Katalogs. Dieser bringt, neben dem Ausstellungsverzeichnis, einen vollständigen<br />

Abdruck des in unseren „Mitteilungen" Nr. 2/1976 erschienenen Luise-Beitrages von Eckart Henning, eine<br />

Zusammenstellung von „Äußerungen der Mit- und Nachwelt über Königin Luise von Preußen" vom selben Autor<br />

sowie eine Literaturübersicht. — Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" brachte am 8. November 1976 eine kritische<br />

Reportage über die Müiheimer Ausstellung und verhehlte dabei auch nicht ihre Enttäuschung über die mangelnde<br />

Berliner Initiative.<br />

Es mag an anderen Orten weitere Gedenkveranstaitungen gegeben haben, ohne daß ihnen überregionale Bedeutung<br />

zugemessen werden dürfte; Vergleichbares gilt für die entsprechenden Äußerungen in der Publizistik. Erwähnt<br />

werden soll noch der numismatische Beitrag: eine über die Geldinstitute vertriebene Gedenkmedaille in Sterlingsilber<br />

(23 g, 40 mm), auf der Vorderseite der Kopf der Königin im Profil und die Namensinschrift, auf der Rückseite<br />

der preußische Adler.<br />

Diese Notizen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, beschränken sich auf die mit Berlin verbundenen<br />

Aktivitäten. Für hierfür geleistete Informationen sei an dieser Stelle Herrn Archivrat Eckart Henning M. A. und<br />

Herrn Pfarrer Klaus Eckelt herzlich gedankt. Peter Letkemann<br />

Autographen berühmter Berliner Autoren<br />

Vom 5. bis 17. November 1976 fand in der Halle 2 des Messegeländes unter dem Funkturm die 25. Internationale<br />

Buchausstellung Berlin statt. Mit ihren ca. 30000 Titeln aus den Verlagsproduktionen der Bundesrepublik einschließlich<br />

West-Berlins, der DDR, des westlichen Auslandes sowie einiger Länder des Ostblocks bot diese<br />

Buchauswahl dem willigen Besucher eine Menge von Informationen und Anregungen zu einem umfangreichen<br />

Rahmenprogramm. Neben Diskussionsgesprächen und Dichterlesungen gehörten auch zwei Sonderschauen dazu:<br />

„Zeitschriften" und „Handschriften berühmter Berliner Autoren", von denen die letztere hier kurz angesprochen<br />

werden soll.<br />

Aus den umfangreichen Beständen der Handschriften-Abteilungen der Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz und<br />

der Amerika-Gedenkbibliothek konnten in mehreren Vitrinen Autographen von berühmten Dichtern. Schriftstellern<br />

und Philosophen gezeigt werden, die einmal in unserer Stadt gelebt und zu ihrer kulturellen Größe beigetragen<br />

haben. So sah dann ein interessiertes Publikum z. B. die recht unausgeglichen und zerfahren wirkenden<br />

Handschriften eines Heinrich von Kleist und Peter Hille, deren innere Unruhe und Zerrissenheit auch in ihren<br />

Schriftbildern offenbar wird. Dagegen zeigen die Schriftzüge Theodor Fontanes, Willibald Alexis'. Adolf Glassbrenners<br />

und Arno Holz" ein sehr gut lesbares — oftmals unpersönliches - Schriftbild. Diese Manuskripte waren obendrein<br />

nicht selten die Vorlage für den Setzer. Neben den bereits erwähnten konnte der Besucher noch die Handschriften<br />

von den Brüdern Grimm, Adelbert von Chamisso, Gotthold Ephraim Lessing und den Philosophen<br />

Georg Wilhem Friedrich Hegel sowie Arthur Schopenhauer betrachten. Die hier gezeigten Exponate, zumeist<br />

Fotos und Faksimiles, sind nur ein verschwindend kleiner Teil des in Archiven noch Vorhandenen. Allein die<br />

Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek besitzt mit rund 300000 Autographen eine Sammlung von großem<br />

internationalen Rang. Hinzu kommen noch die Bestände der Amerika-Gedenkbibliothek, in der sich auch eine<br />

Kleist-Spezialsammlung und das Arno-Holz-Archiv befinden. Die Sonderschau wurde von unserem Mitglied<br />

Georg Holmsten zusammengestellt, dem auch an dieser Stelle für seine Arbeit Dank gesagt werden soll.<br />

Der „Bär von Berlin". Band 25<br />

. . . wurde im vergangenen Jahr erst verhältnismäßig spät (November), dafür in erheblich erweitertem Umfang ausgeliefert:<br />

es handelte sich, wie aus der „runden" Zahl ersichtlich, um einen Jubiläumsband. Mit insgesamt zehn Beiträgen<br />

aus den verschiedensten Bereichen der berlinisch-preußischen Geschichte besitzt er das zweitstärkste Volumen<br />

aller bisherigen Ausgaben. Ferner enthält er im Anhang ein fortlaufendes Inhaltsverzeichnis der Bände 1 —25<br />

und informiert somit auch über die bisher abgehandelten Themen des Jahrbuchs.<br />

Es ist zugleich aber auch ein Abschiedsband: Nach fast einem Vierteijahrhundert ununterbrochener Mitarbeit<br />

legt Walther G. Oschilewski die Redaktion des „Bär von Berlin" aus Altersgründen aus der Hand. Sein unermüdliches<br />

Wirken für die editorischen und verlegerischen Belange unseres Jahrbuchs hat dessen erfolgreichen Weg in<br />

der Vergangenheit bestimmt und für die Zukunft Maßstäbe gesetzt. Wir wollen diesen Abschied nicht hinnehmen,<br />

ohne Walther Oschilewski für seine mit großem persönlichen Einsatz geleistete Arbeit zum Wohle des Vereins<br />

und seiner Publikationen aufrichtig Dank zu sagen. Der „Bär von Berlin" wird weiter erscheinen und eine Tradition<br />

weiterführen, die noch lange Zeit mit dem Namen Walther Oschilewskis verbunden sein wird.<br />

258


Landesarchiv Berlin in neuem Domizil<br />

Am 3. Dezember 1976 übergab Schulsenator Walter Rasch (in Vertretung des Senators für Wissenschaft und Kunst)<br />

den Neubau des Landesarchivs Berlin an der Kleiststraße in Schöneberg der Öffentlichkeit. Innerhalb des von der<br />

Firma Mosch erstellten „Berlin-Centers" gegenüber der Urania besitzt das Archiv in drei Etagen des bis zur<br />

Kalckreuthstraße reichenden Flachbaus jetzt moderne und wohlausgestattete, vor allem aber ausreichende Räume<br />

für seine vielfältigen Aufgaben. In seiner Eröffnungsansprache wies Archivdirektor Dr. Gerhard Kutzsch auf die<br />

zum Teil völlig unzureichenden Unterbringungsverhältnisse früherer Jahrzehnte hin und dankte dem Senat von<br />

Berlin für die Bereitstellung der zu diesem Bauvorhaben erforderlich gewesenen Mittel, die es zugleich der Stadt<br />

Berlin ermöglichten, ihr Archiv im Herbst 1977 den Teilnehmern des in Berlin stattfindenden 51. Deutschen Archivtages<br />

in angemessener Form und Ausstattung zu präsentieren. Wir werden in Verbindung mit der Berichterstattung<br />

über den Archivtag darauf an dieser Stelle noch näher eingehen.<br />

Der Bau- und Vergabeausschuß der Stadt München hat einstimmig beschlossen, einen Weg im Stadtteil Neuperlach<br />

..Kiaulehnweg" zu nennen. Damit wird der bekannte Schriftsteller und Journalist Walter Kiaulehn geehrt, der<br />

gebürtiger Berliner war und als Journalist beim „Berliner Tageblatt" und bei der „BZ am Mittag" gearbeitet hat.<br />

Von 1950 bis zu seinem Tode im Jahre 1968 lebte er in München. Sein Buch „Berlin:Schicksal einer Weltstadt"<br />

gehört zu den markantesten Erscheinungen der Berliner Nachkriegsliteratur.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum 70. Geburtstag<br />

Herrn Rudolf Beyer, Frau Eva Maria Lüdecke, Frau Luise Leichter; zum 75. Geburtstag Herrn Dr. Georg<br />

Krüger-Wittmack, Herrn Willy Strach; zum 80. Geburtstag Frau Erna Ballhausen, Herrn Georg Müller, Frau<br />

Edith Tielebier; zum 85. Geburtstag Herrn Dr. Joachim Kühn; zum 90. Geburtstag Herrn Walter Michaelis und<br />

Herrn Emil Poredda.<br />

Buchbesprechungen<br />

Burkhard Hofmeister: Berlin. Eine geographische Strukturanalyse der zwölf westlichen Bezirke. Darmstadt: Wiss.<br />

Buchgesellschaft 1975. XX, 468 S. mit 44 Fig.. 59 Tabellen und 16 Bildtafeln, brosch.. 98 DM (für Mitglieder:<br />

56 DM). (Wissenschaftl. Länderkunden Bd. 8/1.)<br />

Als erster Band einer modernen, großangelegten geographischen Länderkunde erschien 1975 das hier anzuzeigende<br />

Werk. Es ist dies auch die erste umfassende geographische „Bestandsaufnahme" der Stadtstrukturen im Westteil<br />

Berlins. Die Beschränkung auf den Westteil ergab sich aus der Schwierigkeit, vergleichbares Material für die acht<br />

Ostbezirke zu beschaffen.<br />

Das in drei Teile gegliederte Buch beginnt mit einer Analyse des „Lagewertes" der Stadt in einem Längsschnitt von<br />

den frühesten Anfängen der Doppelstadt Berlin-Cölln bis heute. Es zeigt sich hier, daß dieser Lagewert schon<br />

immer, spätestens aber durch die Einrichtung einer festen Residenz durch die hohenzollernschen Kurfürsten in der<br />

Mitte des 15. Jhs. untrennbar mit den Geschicken des brandenburgisch-preußischen Staates und seiner Herrscher<br />

verknüpft war. Dieser Einfluß ging bis in die Siedlungsentwicklung hinein. Probleme der administrativen Gliederung<br />

im 19. und 20. Jh. sowie eine Erörterung der Probleme und Möglichkeiten des durch die Kriegsfolgen von<br />

seinem natürlichen Hinterland abgeschnittenen Westteils der Stadt schließen diesen Teil ab.<br />

Der zweite Teil ist Problemen der Bevölkerung, der Wirtschaft und des Verkehrswesens der heutigen Stadt gewidmet.<br />

Im dritten Abschnitt beschreibt der Verfasser das Siedlungsgefüge West-Berlins. Obwohl hier die bereits in der<br />

Vorkriegszeit von Leyden und Behrmann benutzten Gliederungsbegriffe wie Citybereich. Wilhelminischer Ring<br />

und Außenzone noch immer grundlegend sind, so haben sich doch innerhalb der einzelnen Bereiche starke Veränderungen<br />

ergeben. Aus der ursprünglich vor allem im Bezirk Mitte und dessen südlich und westlich anschließenden<br />

Randgebieten gelegenen „City" ist im Westen das „Cityband" mit anderen Strukturen von Charlottenburg bis<br />

Kreuzberg geworden. Durch flächenhafte Zerstörungen, Wiederauf- und Neubau haben auch die beiden anderen<br />

Siedlungsteile ihre Gestalt gewandelt. - Eine Schlußbetrachtung zu Problemen und Möglichkeiten der heutigen<br />

Stadt und ihrer zukünftigen Entwicklung rundet den Band ab. Felix Escher<br />

259


Ludwig Lewin und die Lessing-Hochschule. Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Lessing-Hochschule nach<br />

der Neugründung im Jahre 1965. Hrsg. von der Lessing-Hochschule e.V., Berlin 1975. VIII, 48 S. mit Abb., brosch.,<br />

2 DM (Schutzgebühr).<br />

Dieses aus dem seit 1891 bestehenden Verein, der „Lessinggesellschaft für Kunst und Wissenschaft", hervorgegangene<br />

Berliner Institut zur Förderung anspruchsvoller Erwachsenen Weiterbildung ist, genau genommen, zweimal<br />

gegründet worden: einmal 1900 und ein weiteres Mal 1965, nach der Rückkehr ihres 1933 in die Emigration gezwungenen<br />

Leiters, Dr. Ludwig Lewin (Berlin 1887—1967), als „Lessing-Hochschule an der Urania". Die Gesamtgeschichte<br />

dieser Hochschule ist ein Stück Berliner Bildungsgeschichte; sie ist, um Professor Dr. Waither Huder, den<br />

Archivar der Akademie der Künste, zu zitieren, „ohne den Namen Ludwig Lewin nicht denkbar".<br />

Das Kernstück der vorliegenden Festschrift bildet die Wiedergabe eines von Lewin noch in Amerika verfaßten und<br />

i960 in den „Berliner Arbeitsblättern für die Deutsche Volkshochschule" (Heft XI, S. 1 — 48) veröffentlichten<br />

Berichts „Zur Geschichte der Lessing-Hochschule 1914—1933". Er ist geordnet im wesentlichen nach den Veranstaltungen<br />

und ihren Themen während jener zwei Jahrzehnte. Dabei treten die Mannigfaltigkeit, das Niveau<br />

und, bei Vorlesungen politischer Natur, die Aktualität des Gebotenen deutlich in Erscheinung. Die Namen der<br />

Dozenten zeigen, daß hier durchweg prominente Vertreter deutschen Geisteslebens mitwirkten. Den gesellschaftlichen,<br />

zuweilen internationalen Ambitionen dieser Bildungsstätte wurde ein ihr gemäßer Rahmen gegeben. Das<br />

alles ging mit der sogenannten Gleichschaltung nach und nach in die Brüche ...<br />

Der Vorspann der Schrift ist dem Andenken an den Werdegang, das Schicksal und das Werk Lewins gewidmet. Noch<br />

kurz vor seinem Tode konnte er äußere Anerkennungen seiner Verdienste erleben, nämlich die Auszeichnung mit<br />

dem philosophischen Ehrendoktor der Freien Universität Berlin und die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes<br />

durch den Bundespräsidenten. Es sei daran erinnert, daß im Frühjahr 1965 in der Akademie der Künste eine<br />

Ausstellung „Lessing-Hochschule 1899—1933" stattfand, deren (von Lewin nach Amerika gerettete) Exponate<br />

der Berliner Bevölkerung und zahlreichen auswärtigen Besuchern einen starken und bleibenden Eindruck von der<br />

Existenz dieser ausgezeichneten kulturellen Einrichtung zu vermitteln vermochten. Ernst G. Lowenthal<br />

Adolf Glaßbrenner: ne scheene .feiend is det hier! Humoresken, Satiren und komische Szenen. Hrsg. von Kurt<br />

und Gerda Böttcher. Berlin: Arani Verlag 1977. 342 S., m. 120 Abb. u. 16 Farhtafeln, Leinen, 36 DM.<br />

Nur wenige Wochen nach dem 100. Todestag Glaßbrenners legt der Arani Verlag in einer Co-Produktion mit dem<br />

Eulenspiegel Verlag (Ost-Berlin) eine Edition vor, die einen Querschnitt der schriftstellerischen und auch verlegerischen<br />

Arbeit dieses Mannes aufzeigen und damit den „Schöpfer des heiteren und spottenden Berliner Schrifttums<br />

des 19. Jahrhunderts" vor dem totalen Vergessenwerden bewahren soll. Wie schon frühere Ausgaben dieser<br />

Art findet auch diese ihren überwiegenden Schwerpunkt in der Wiedergabe der humoristischen Prosastücke,<br />

der Dialogszenen und Satiren mit lokalpolitischem Hintergrund. Das wird recht ansprechend geboten, wenngleich<br />

die damalige Situation schwer in unsere heutige Zeit zu transponieren ist. Dadurch bleiben auch einige Dialoge<br />

und Zeichnungen unklar. Festzustellen ist an dieser Stelle, daß Glaßbrenner „sein" preußisches Berlin mit den<br />

Nöten und Sorgen des „kleinen Mannes" sehr gut gekannt haben muß.<br />

Die inhaltliche Gliederung des Bandes umfaßt 7 Hauptabteilungen, die nur von der Thematik der einzelnen Beiträge<br />

bestimmt werden. Eine zeitliche Ordnung ist nicht erkennbar. Mit den Kapiteln „Der Ärger mit der Obrigkeit"<br />

und „Revolution — Rrrreaktion" seien hier zwei aufgeführt.<br />

Glaßbrenner konnte das große Plus für sich verbuchen, stets die besten Illustratoren des damaligen Berlins für seine<br />

Arbeiten gewonnen zu haben. So stammt auch der überwiegende Teil der Zeichnungen dieser Ausgabe von dem<br />

kongenialen Theodor Hosemann. Aber auch Franz Burchard Dörbeck. Gustav Heil, Julius Peters, Karl Reinhardt,<br />

Wilhelm Scholz und Adolf Schroedter sind jeder mit mehreren Abbildungen vertreten. Hier soll auch gleich das<br />

größte Manko dieser Veröffentlichung aufgezeigt werden: das Fehlen einer Quellenangabe unter den einzelnen<br />

Texten und Illustrationen. Damit fällt das Niveau dieses Buches auf das einer anspruchslosen Volkstümlichkeit<br />

und ist für eventuelle weitere Forschungen nur in sehr geringem Umfang zu gebrauchen.<br />

Der Anhang umfaßt ein kurzes Nachwort des DDR-Literaturhistorikers Kurt Böttcher, der stichpunktartig einen<br />

Abriß der Vita und der Arbeiten Glaßbrenners gibt. Hierbei ist allerdings zu beachten, daß Glaßbrenner ein<br />

hauptsächlich an der lokalen Tagespolitik interessierter Volksschriftsteller war. Ohne den Weitblick für das Überregionale<br />

in der Politik und die nach 1849 einsetzenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungen, die er<br />

nicht mehr verstand, war er nie als Politiker einzustufen. Eine Liste mit Worterklärungen ist gleichfalls im Anhang<br />

enthalten. Die typografische Gestaltung ist auf den Inhalt abgestimmt. Die technische Ausführung ist als befriedigend<br />

zu akzeptieren. Claus P. Mader<br />

Hans-Werner Klünner: Potsdam - so wie es war. Düsseldorf: Droste 1975. 103 S. mit 160 Abb., Leinen, 32 DM.<br />

Wohl kaum eine deutsche Stadt hat in den letzten 50 Jahren nicht nur im äußeren Stadtbild, sondern auch in der<br />

Struktur der Bewohner stärkere Wandlungen erfahren als Potsdam, und so ist es eine besonders schwierige Aufgabe,<br />

ein Bild dieser Stadt, die für die Berliner immer einen besonderen Stellenwert hatte, in der Vorkriegszeit zu zeichnen,<br />

ohne in ein so beliebtes „nostalgisches" Schwärmen zu geraten.<br />

H. W. Klünner hat diese Aufgabe gelöst. In der Form eines Stadtrundganges führt er an die Gebäude und deren<br />

Bewohner heran; dieser Teil ist zugleich eine kleine zuverlässige Geschichte zur Stadt Potsdam. Die auf Seite 31<br />

wiederholte Geschichte, daß die Potsdamer Giebelbauten, ein beliebter Schmuck des 18. Jhs., nur auf die<br />

Bedürfnisse der Garnison zurückzuführen seien, ist offenbar unausrottbar. Nicht nur die bekannten Sehenswürdig-<br />

260


keiten der Stadt, die der frühere Besucher Potsdams vom Bahnhof kommend auf dem Wege zu den Parkanlagen von<br />

Sanssouci ebenfalls aufsuchte, werden dargestellt, vielmehr wird das gesamte Stadtgebiet von der friderizianischen<br />

Textilarbeitersiedlung Nowawes und den wissenschaftlichen Instituten im Osten bis zur evangelischen Hofbauer-<br />

Stiftung mit ihren ausgedehnten Anlagen im Südwesten und den peripheren Siedlungen der Zwischenkriegszeit<br />

gleichermaßen gründlich vor Augen geführt. Das reiche Bildmaterial zeigt nicht nur die Bauwerke dieser Stadt,<br />

sondern auch ihre Bewohner in typischen Umgebungen, ob sie nun Hohenzollernabkömmlinge oder die Familie<br />

eines Ratsmaurermeisters, Gardesoldaten der Zeit vor 1914 oder Mitglieder des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold<br />

sind. Auch kulturelle Wirksamkeiten dieser durch zahlreiche wissenschaftliche Institutionen geprägten Stadt -<br />

etwa das Theaterwesen der städtischen wie der privaten Liebhabertheater der städtischen Oberschicht - zeigt<br />

der Band auf und gibt so eine Empfindung dafür, daß der oft beschworene „Geist von Potsdam" mehr mit<br />

Kultur als mit Militarismus verbunden gesehen werden muß.<br />

Besonders anzumerken ist. daß der Autor es nicht versäumt hat. bei zahlreichen — leider nicht allen — Objekten den<br />

heutigen Zustand zu erwähnen. So ragt der Band durch die fundierte Darstellung und die vorzügliche Bebüderung<br />

auch aus der Reihe, in der er erschienen ist. heraus. Felix Escher<br />

E. T. A. Hoffmann. Hrsg. von Friedrich Schnapp. München; Heimeran Verlag 1974. 436 S., Leinen, 35 DM.<br />

(Dichter über ihre Dichtungen. Verantwortl. Hrsg. Rudolf Hirsch und Werner Vordfriede. Bd. 13.)<br />

Die hier vorliegende Ausgabe kann für sich beanspruchen, für die E. T. A. Hoffmann-Forschung als sehr gutes<br />

Handbuch, wenn nicht sogar als ein Standardwerk eingestuft zu werden. Sicher sind viele Äußerungen des Dichters<br />

über seine literarischen Werke, über Dichter und Dichtungen, über Schriften zur Musik sowie über seine nicht zur<br />

Ausführung gelangten literarischen Werke in dickleibigen Editionen schon einmal abgedruckt. Was diesen Band<br />

dennoch aus der großen Anzahl ähnlicher Publikationen positiv heraushebt, ist die im Hauptteil gebotene sachliche<br />

und gleichzeitig chronologische Ordnung. Als Quellen dienten bereits veröffentlichte, zu einem großen Teil aber<br />

auch unveröffentlichte Briefe, Tagebuchnotizen sowie Gespräche und Erinnerungen des Dichters, soweit diese<br />

uns von seinen Zeitgenossen überliefert wurden.<br />

Ein Drittel des Gesamtumfanges ist dem wissenschaftlichen Anhang vorbehalten, für den Friedrich Schnapp -<br />

sicherlich der bedeutendste Kenner dieser Materie — verantwortlich zeichnet. Eine ausführliche Zeittafel, ein<br />

Quellen- und gleichzeitig Abkürzungsverzeichnis, ein Register der literarischen W ; erke und Einzelstücke sowie<br />

ein Namensregister für den Hauptteil komplettieren dieses ausgezeichnete Buch. Claus P. Mader<br />

Kurt Mühlenhaupt: Haus Blücherstraße 13. Aufgeschrieben und illustriert mit 6 Original-Holzschnitten und<br />

4 Farbreproduktionen nach Originalölbildern vom Meister sowie vielen Alugrafien und Nachbildungen von<br />

Holzschnitten, Radierungen und Lithografien. Berlin: Selbstverlag 1976. 96 S., Linson.<br />

Das vorliegende Buch, mit dem sich Kurt Mühlenhaupt von seinen Mitbewohnern in der Blücherstraße 13 verabschiedete<br />

(er zog im März 1976 nach Kladow), enthält neue Texte von Kurt Mühlenhaupt sowie Nachdrucke bereits<br />

vergriffener Texte von ihm und außerdem eine Fülle von Abbildungen seiner Werke. Neu sind 6 Originalholzschnitte<br />

sowie die Abbildungen (Zeichnungen) auf S. 30, S. 65. S. 69 und S. 76. Neu sind auch die im Berliner<br />

Dialekt gehaltenen Texte „Der Granatapfel" (S. 54) und „Tante Grete" (S. 64f.). Im wesentlichen enthält das<br />

Buch die vollständigen Texte der seit langem vergriffenen Graphikmappe „Blücherstraße 13" und der ebenfalls<br />

vergriffenen Erzählungen „Eine Bartgeschichte aus Berlin", beide von Kurt Mühlenhaupt im Berliner Dialekt<br />

geschrieben. An Abbildungen enthält das Buch vier Farbreproduktionen von Ölbildern sowie die Nachbildungen<br />

vieler Alugraphien, Holzschnitte, Radierungen und Lithographien von Kurt Mühlenhaupt, z. T. durch hinzugefügte<br />

Zeichnungen verändert. Diese Abbildungen wurden seinen oben genannten Werken, der losen Folge seiner<br />

Berliner Blätter und seiner Graphikmappe „Rund um den Chamissoplatz" entnommen, aus der sowie aus seinem<br />

Buch „Ringelblumen" auch einzelne Textstellen stammen (ebenfalls im Berliner Dialekt verfaßt).<br />

Allen diesen Texten liegen persönliche Erlebnisse von Kurt Mühienhaupt zugrunde. Wir nehmen Anteil an dem<br />

Leben in dem großen Kreuzberger Mietshaus Blücherstraße 13, das nicht ohne Komik ist. Den Hausbewohnern<br />

bleibt nichts verborgen, im Guten wie im Bösen, schon gar nicht in erotischer Beziehung. „Eine Bartgeschichte aus<br />

Berlin" zeigt die Schwierigkeiten beim Grenzübergang in der geteilten Stadt von einer ungewohnt heiteren Seite,<br />

nicht ohne nachdenklichen Schluß.<br />

Mit der vorliegenden Veröffentlichung zeigt der Schriftsteller, Maler und Graphiker Kurt Mühlenhaupt erneut<br />

seine innige Verbundenheit mit den Menschen seiner Heimatstadt, die er meisterlich zu porträtieren versteht.<br />

Bild und Wort — gerade auch das berlinerische Wort - gehören zusammen und zeigen liebevoll allzu Menschliches<br />

im Gewände des „Milljöhs". Das Layout wurde vom Künstler mitgestaltet, so daß das Buch eine bibliophile Kostbarkeit<br />

ist. (Vgl. auch die Besprechungen zu „Inmitten von Berlin". Zeichnungen von Kurt Mühlenhaupt zu<br />

Gedichten und Texten von Herta Zerna; „Ringelblumen" von Curt Mühlenhaupt; in: Mitt. d. Vereins f. d. Gesch.<br />

Berlins, H. 4/1975, S. 107f.) Erika Schachinger<br />

— Polyglott-Reiseführer: Deutsche Demokratische Republik. Bearb.: Hans Lajta. L Aufl. München: Polyglott-<br />

Verlag 1976. 64 S. mit 15 111. und 17 Karten und Plänen, brosch.. 4.80 DM.<br />

Die Polyglott-Reiseführer haben sich in ihrer knappen Form und in ihrer handlichen Art einen guten Namen gemacht.<br />

Hier wird nun die Deutsche Demokratische Republik (DDR) „als Reiseland" (sie) vorgestellt. An dieser Stelle<br />

interessiert „Berlin (etwa 1,09 Mill. Einw.), die Hauptstadt der DDR". Ihre Sehenswürdigkeiten werden mit<br />

261


historischen Angaben beschrieben, wenn auch selektiv. Daß das Berliner Schloß im Zweiten Weltkrieg zerstört<br />

wurde und nun an seiner Stelle der „Palast der Republik" steht, wird mitgeteilt, nicht aber die Tatsache der sinnlosen<br />

Sprengung der durchaus wieder aufzubauenden Gebäude 1950/1951. Man erfährt, daß an der gleichen<br />

Platzanlage das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten 1967 fertiggestellt wurde, nicht aber, daß diesem<br />

gesichtslosen Neubau die Schinkelsche Bauakademie weichen mußte. In südlicher Richtung sind im ehemaligen<br />

„Alt-Berlin" die „meisten Häuser im Krieg leider zerstört worden" (und der Rest fiel der Spitzhacke zum Opfer).<br />

Das Köpenicker Rathaus wurde durch den Schuhmacher Wilhelm Voigt weltbekannt, „der hier als Hauptmann<br />

von Köpenick den Militarismus mit dessen Forderung nach blindem Gehorsam lächerlich machte" (und auch<br />

heute noch einiges zu tun hätte). Wenn man schließlich noch liest, daß die offizielle Sprache Deutsch ist. blättert<br />

man noch einmal zum Impressum, wo dem Reisebüro der DDR und dem VEB Brockhaus Verlag Leipzig für Unterstützung<br />

gedankt wird. H. G. Schultze-Berndt<br />

Berlin-Fibel. Berichte zur Lage der Stadt, hrsg. von Dieter Baumeister. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 1975.<br />

384 S. mit 17 Tafel-Abb.. brosch.. 18,80 DM. (Politische Dokumente. Bd. 6.)<br />

An „Berlin-Fibeln" jeglicher Art herrscht momentan auf dem Büchermarkt kein Mangel. In ihrem Bemühen um<br />

Unterhaltung, Belehrung oder schlichte Information sind sie wesentliche Kommunikationshilfen für das Verständnis<br />

der besonderen Situation dieser Stadt. Ihr Aktualitätsgrad ist allerdings schwankend und reicht oft nur<br />

bis zum Erscheinen der nächsten einschlägigen Publikation. So würde auch die vorliegende Berlin-Fibel nicht sonderlich<br />

aus dem Rahmen fallen, wenn sie nicht eine von kompetenten Autoren verfaßte Bestandsaufnahme der Entwicklung<br />

Berlins seit 1945 böte, deren solides Fundament nicht nur dem Tagesbedarf genügt, deren Themenstellung<br />

die entscheidenden Punkte der Berlin-Problematik - im positiven wie im negativen Sinne - markiert und deren<br />

vielfältige Aussagen zum Nachdenken zwingen. Hier ist auf knappem Raum, aber übersichtlich und ohne viel<br />

schmückendes Beiwerk eine kleine Berliner Nachkriegsgeschichte entstanden, die die Leistungen auf politischem,<br />

wirtschaftlichem und geistig-künstlerischem Gebiet darlegt. Das geschieht nicht ausschließlich in kompilatorischer<br />

Manier, in einer Anhäufung von Fakten, sondern durchaus kritisch und auch mit Ausleuchtung der Schattenseiten,<br />

des Fehlerhaften, Untypischen. Gewagten. Und von dieser realistischen Einschätzung des Vergangenen und Gegenwärtigen<br />

ist es nur ein kleiner Schritt zu den Perspektiven der Zukunft, die für Berlin ungleich mehr Gewicht haben<br />

als für jedes andere Gemeinwesen. Dabei werden in diesem Buch keine Patentrezepte oder Analysen aus dem<br />

Bereich der Zukunftsforschung gegeben, vielmehr aus der Gegenwartsposition „Anregungen vom Elementaren<br />

her" geboten zu der Frage, „was eigentlich mit diesem Berlin werden soll" (S. 9). Das geht nicht ohne Spekulationen<br />

ab, denen zusätzlich oftmals ein irrationaler Zug anhaftet, sobald man des grellen Ost-West-Kontrastes im Antlitz<br />

dieser Stadt gewärtig wird. Das hindert andererseits jedoch nicht, konkrete Aufgaben zu formulieren und nach<br />

neuen Impulsen zu suchen, denn — so klingt es gelegentlich an - die Konfrontation zum östlichen Regime ist das<br />

eine Problem, die Bewältigung der eigenen Zukunft West-Berlins das andere. Für die letztere ist die Standortbestimmung<br />

(und -besinnung) unerläßlich, die in dem vorliegenden Werk in umfassender und zudem leicht lesbarer<br />

Form vorgenommen wird.<br />

Seit es ein „Berlin-Problem" in der Geschichte gibt, ist dieses mit der Auseinandersetzung um den politischen<br />

Status der Stadt untrennbar verknüpft. Die Darlegungen zu diesem Thema bilden auch die Klammer der Berlin-<br />

Fibel: Gottfried Zieger zeichnet einleitend den Weg von „Berlin 1945 bis zum Viermächte-Abkommen 1971". Die<br />

Differenzen, vor allem über das Recht der Zufahrtswege, begannen bereits im Sommer 1945 zwischen den alliierten<br />

Mächten und ziehen sich fortan wie ein roter Faden durch die Berlin-Politik. Von Anfang an fehlten klare schriftliche<br />

Vereinbarungen; sie wurden bei gebotenen Anlässen, z. B. bei Aufhebung der Blockade 1949. nicht nachgeholt<br />

(was Zieger nicht erwähnt). So bestand ein latentes Spannungsverhältnis zwischen der Verfassungsnorm und<br />

der Verwaltungswirklichkeit in Berlin, das durch den östlichen Machtanspruch noch weiter strapaziert wurde.<br />

Das Viermächte-Abkommen von 1971 führte endlich zu praktischen Regelungen auf der Basis des Status quo. d. h.<br />

mit der Fixierung unterschiedlicher Rechtsauffassungen zu ein und demselben Thema. Jens Hacker beschreibt<br />

abschließend die Entwicklungsstufen des „Viermächte-Status von Berlin", seine Handhabung und seine Bedeutung<br />

für alle Seiten, nicht zuletzt im Hinblick auf die jüngsten Berlin-Abkommen, die zumindest Rudimente der alten<br />

Viermächte-Verantwortung für die ganze Stadt erkennen ließen. Daß die divergierenden Auffassungen auch<br />

erheblich abweichende Interpretationen des Vertragswerks im Gefolge hatten, ist eine der weniger erfreulichen<br />

Aussichten für Berlins Zukunft und wird vom Autorauch nicht beschönigt.<br />

Neben der politischen Existenzfrage besitzt das Wirtschaftsgefüge in der Stadt die nächstwichtige Bedeutung.<br />

Joachim Sawrocki gibt einen differenzierten Überblick über die einzelnen Phasen der Berliner Wirtschaft nach<br />

dem Kriege, die mit materiellen und politischen Schwierigkeiten ganz anderen Ausmaßes zu kämpfen hatte als im<br />

Bundesgebiet. Durch Investitions- und Absatzförderung machte das „Wachstum auf begrenztem Raum" bemerkenswerte<br />

Fortschritte und konnte mit dem Bundesdurchschnitt weitgehend mithalten. Die enge wirtschaftliche Verflechtung<br />

West-Berlins mit der Bundesrepublik ist mehr als nur eine optische Geste: Einmal ist Berlin nach wie vor<br />

die größte deutsche Industriestadt mit wichtigen Produktionszweigen, zum anderen bleibt dadurch die Lebensfähigkeit<br />

entscheidend gewährleistet. Kritische Ausblicke auf die Haushalts-, Verkehrs- und Forschungssituation<br />

sowie auf die Planungskonzepte geben dem Artikel Nawrockis ein besonderes Gewicht.<br />

Unter dem Titel „Wissenschaft in Berlin" beschreibt Hermann Hildebrandt nicht nur die zahlreichen Institutionen.<br />

die sich in Berlin mit Forschung. Lehre und Studium befassen, sondern auch das Gefüge, in dem sie zueinander<br />

stehen. Die tiefgreifenden Veränderungen auf hochschuipoiitischem Sektor im letzten Jahrzehnt haben auch Rück-<br />

262


Wirkungen auf das Verhältnis der Universitäten zu Staat und Gesellschaft gehabt, wobei Berlin in vorderster Linie<br />

stand. Motive und Ergebnisse der Reformen, die Struktur der Forschungseinrichtungen und ihr weiterer Ausbau sind<br />

die zentralen Themen des Berichts.<br />

Zwei sich ergänzende Beiträge sind den bildenden Künsten und den Museen in Berlin gewidmet. Helmut BÖrsch-<br />

Supan, stellv. Direktor in der Verwaltung der Staatl. Schlösser und Gärten, gibt „Zur Lage der bildenden Künste<br />

in Berlin" zunächst einen künsthistorischen Abriß ihrer Entwicklung, um dann die Frage aufzuwerfen: Berlin -<br />

eine Kunststadt oder eine Künstlerstadt? Er führt den Leser zu der bedauerlichen Feststellung, daß der größere<br />

Kreis der Intelligenz von der modernen Kunst unserer Tage leider nur geringe Notiz nimmt. Die führende Rolle<br />

früherer Jahrzehnte auf diesem Gebiet konnte Berlin nach 1945 nicht mehr zurückerhalten. Politik und kommerzielle<br />

Denkart beeinflussen heute vielleicht mehr denn je die künstlerischen Strömungen auch in unserer Stadt.<br />

Gedanken über die Kunstschaffenden und die Kunstvereine sowie über Ausstellungsgestaltung und Publikum<br />

machen diesen Artikel lesenswert und bieten eine große Fülle an Information. - Daß trotz Kriegseinwirkungen<br />

und Teilung vieler Sammlungen „Die Landschaft der Berliner Museen" eine der reichhaltigsten in Deutschland<br />

geblieben ist, beweist Andreas Grote. Der Leiter des Außenamtes der Staatlichen Museen Preuß. Kulturbesitz<br />

durchwandert die vielen Abteilungen des West-Berliner Museumskomplexes in sachkundiger Manier. Leider fehlen<br />

in dieser sehr guten Übersicht die ca. 120 meist privaten Sammlungen, die doch in einem nicht geringen Umfang den<br />

Spiegel unseres bildenden Kunstschaffens facettieren.<br />

Die „Berliner Literatur seit 1945" hat trotz vieler Mühen und guter Ansätze nie wieder jenen Glanz erreicht, der<br />

dem literarischen Berlin der zwanziger Jahre zeitweilig einen exorbitanten Rang innerhalb der Weltliteratur einräumte<br />

(was vor allem für den literarischen Expressionismus galt). Gustav Sichelschmidt kommt zu diesem Ergebnis<br />

und nennt auch gleich die hinreichend bekannten Gründe: die nach 1945 einsetzendeDezentralisierung der literarischen<br />

Szene sowie des belletristischen Verlagswesens. Hinzu kam die Emigration, das weitere Verbleiben in der<br />

neuen Heimat und der Tod vieler Literaten, die einst vom geistigen Fluidum unserer Stadt angezogen und zu großen<br />

Leistungen inspiriert wurden. Was Berlin nach dem Krieg blieb, war der Versuch, sich im Reigen der anderen<br />

deutschen Städte und Dichterstätten einen Platz zu sichern. Er gelang trotz (oder gerade wegen) der politischen<br />

und wirtschaftlichen Situation recht gut, ja. Berlin konnte sogar als Mittler und geistiger Umschlagplatz zwischen<br />

Ost und West Erfolge verbuchen. Sichelschmidt, exzellenter Kenner dieser Materie, gibt hier eine sehr gute, zu<br />

weiteren Studien anregende Übersicht.<br />

Friedrich Luft geht in seinem Beitrag „Die Theaterstadt Berlin" auf den Wiederaufbau der hiesigen Theaterszene<br />

ein, wobei er sein Hauptaugenmerk auf die ersten Wochen und Monate nach dem Kriegsende richtet. Er tut dies<br />

in der ihm eigenen, oft auch persönlich angehauchten Weise. Nach der Gründung einer „Kammer der Kunstschaffenden"<br />

unter Paul Wegener formierten sich überall in der Stadt Kleinkunstbühnen, um in Gemeindesälen, Schulaulen<br />

oder anderen leerstehenden Räumen, mit oder ohne Kulissen, oftmals gegen Entgelt von Naturalien, wieder<br />

ITieater zu spielen. Curt Goetz, Tucholsky, Goethe, aber auch Shakespeare und Cocteau standen auf dem Programm.<br />

Junge Schauspieler und aus der Emigration heimkehrende Mimen fanden in einer Spielwut zusammen, die bis zum<br />

Sommer 1946 eine fast unvorstellbar vieigesichtige Theaterlandschaft schufen. Die Anzahl der kleinen Bühnen ist<br />

bis heute nicht belegbar und viele von ihnen lebten nur kurze Zeit. Doch die damalige Begeisterung am Theaterspiel<br />

war zugleich auch jene neue Wurzel unserer Stellung im heutigen deutschen und internationalen Theaterleben.<br />

Vergleichbare Maßstäbe liefern auch Günther Kühne und Hans-Jörg v. Jena in ihren Beiträgen über die Architektur<br />

und das Musikleben in Berlin, die hier nur erwähnt werden können. Ein vielgestaltiger Anhang mit Dokumenten,<br />

Tabellen und Registern vervollständigt dieses vorzügliche Buch. Peter Letkemann/Claus P. Mader<br />

Im IV. Vierteljahr 1976<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Dr. Gerhard Baader, Akad. Oberrat, FU Berlin<br />

1000 Berlin 42, Wenckebachstraße 21<br />

Tel. 7 52 59 47 (Vorsitzender)<br />

Dr. Ernst Henri Balan, Wissensch. Assistent<br />

1000 Berlin 31, Wilhelmsaue 133<br />

Tel. 87 88 50 (Vorsitzender)<br />

Helmut Dudel, Arzt<br />

1000 Berlin 22, Alt-Gatow 57<br />

Tel. 3701491.3623804 (Frau Lemme)<br />

Gerhard Meyer, Ingenieur<br />

1000 Berlin 47, Schneeballenweg 23<br />

Tel. 661 2728 (Schriftführer)<br />

Hans-Jochen Pasenow M. A., Wissensch. Mitarbeiter<br />

1000 Berlin 33, Rüdesheimer Straße 13<br />

Tel. 821 41 03 (Schriftführer)<br />

Holger Schulz, Kaufmann<br />

1000 Berlin 62. Kufsteiner Straße 10<br />

Tel. 854 53 53 (Brauer)<br />

Werner Sperling, Pastor<br />

1000 Berlin 28, Friedrichsthaler Weg 31<br />

Tel. 404 2560 (Brauer)<br />

Prof. Dr. Dr. Rolf Winau. Hochschullehrer<br />

1000 Berlin 45, Augustastraße 37<br />

Tel. 7 98 34 66 (Prof. Dr. Hoffmann-Axthelm)<br />

Charlotte Wodrich<br />

1000 Berlin 19. Friedbergstraße 14<br />

Tel. 3073545 (Schriftführer)<br />

263


Veranstaltungen im I. Quartal 1977<br />

1. Sonnabend, 15. Januar 1977, 10 Uhr: Wanderung durch den Spandauer Forst. Führung<br />

durch Revierförster, Forstoberinspektor Klaus Hamer. Treffpunkt: Eingang des Ev.<br />

Johannesstifts. Schönwalder Allee. Fahrverbindung: Autobus 54.<br />

2. Mittwoch. 19. Januar 1977, 16 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Weddinger Persönlichkeiten"<br />

im Heimatarchiv Wedding. Ruheplatzstraße 4. Führung durch Herrn Wolfgang<br />

Eckert. Fahrverbindung: U-Bahnhof Leopoldplatz; Autobusse 12, 64, 79.<br />

3. Sonnabend, 12. Februar 1977, 10 Uhr: Besichtigung des Museums für Deutsche Volkskunde,<br />

Berlin-Dahlem. Im Winkel (hinter dem Gebäude des Geh. Staatsarchivs). Fahrverbindung:<br />

U-Bahnhof Dahlem-Dorf; Autobusse 1, 10, 68.<br />

4. Dienstag, 22. Februar 1977, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Martin<br />

Sperlich: ,.Schinkel*als Gärtner" in der Kapelle des Schlosses Charlottenburg.<br />

5. Sonnabend, 12. März 1977, 11 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Porzellane des<br />

Jugendstils und Malerei und Graphik von Hans Baluschek" in der Villa Bröhan, Berlin-<br />

Dahlem, Max-Eyth-Straße 27. Führung durch Herrn Prof. Karl H. Bröhan. Fahrverbindungen:<br />

Autobus 60 Clayallee, Autobus 10 Pacelliallee. Eintritt: 2.50 DM.<br />

6. Dienstag. 22. März 1977, 19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Friedrich Weichert: „Die<br />

Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Spannungsfeld ihrer Entstehungszeit". Filmsaal<br />

des Rathauses Charlottenburg.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek ist<br />

zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 28. Januar, 25. Februar und 25. März 1977. zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

im Rathaus Charlottenburg.<br />

Wir weisen darauf hin, daß der Mindest-Jahresbeitrag 36 DM beträgt und bitten um umgehende<br />

Überweisung noch ausstehender Beiträge für das Jahr 1976. Auf Wunsch kann eine Spendenbescheinigung<br />

ausgestellt werden.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer. 1000 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt. 1000 Berlin 65, Seestraße<br />

13. Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke. 1000 Berlin 61. Mehringdamm 89. Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin-Wesr'433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1000 Berlin 19. Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich.. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins.<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemami, 1000 Berlin 33. Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn. 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

264


M. A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

73. Jahrgang Heft 2 April 1977<br />

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Aufn. oben vor 1914. unten 1960 (Archiv: Neufert/Brast)<br />

265


Zur Entwicklung Friedenaus<br />

Von Günter Wollschlaeger<br />

„Beamten. Pensionierten, Lehrern. Künstlern, Literaten und all denen, deren Einkommen<br />

nicht so rasch und in gleichem Maße als die Wohnungsmiete steigt, kann ich das Unternehmen<br />

auf das angelegentlichste empfehlen." Dieser Schlußsatz gehört zu einem Artikel in<br />

der Vossischen Zeitung vom Mai 1871. mit dem der Volkswirtschaftler und Schriftsteller<br />

David Born um Beitritt zu einer Baugesellschaft warb, die die Gemeinde Friedenau begründen<br />

sollte. An ihn erinnert die Bornstraße am Forum Steglitz, die bis 1889 Steglitzer<br />

Straße geheißen hat.<br />

Der ständige Zustrom aus den Provinzen hatte eine sich in gleichem Maße ausbreitende<br />

Wohnungsnot ausgelöst, die besonders den Mittelstand traf. Der am 9. Juli 1871 gegründete<br />

„Landerwerb- und Bauverein auf Aktien" wollte daher seinen Mitgliedern geeignete<br />

billige Wohnstätten schaffen, indem er ihnen durch Ankauf von Land, Anlage von Straßen<br />

und Bau von Landhäusern schuldenfreie eigene Anwesen zu den damals üblichen Berliner<br />

Durchschnittsmietpreisen vermittelte. Aber streifen wir kurz die Vorgeschichte: Sechs<br />

Jahre früher. 1865. kaufte Johann Anton Wilhelm Carstenn die Güter Giesensdorf. Lichterfelde<br />

und Wilmersdorf, um auf diesen Landhauskolonien anzulegen. Er hatte bereits mit<br />

der Aufteilung der Güter Wandsbek und Marienthal bei Hamburg entsprechende Erfahrungen<br />

gesammelt und konnte nun mit seinen erheblichen, aus verschiedenen Bergwerksund<br />

Industrieunternehmungen und den eben erwähnten Terraingeschäften stammenden<br />

Mitteln an die Erschließung der bei Berlin erworbenen Ländereien gehen. Mit der Kaiserstraße,<br />

der späteren Kaiser- und jetzigen Bundesallee, verband er in den Jahren 1872 bis<br />

1874 seine Güter. Die Carstennsche Kolonisationsmethode am Rande wogender Getreidefelder,<br />

die sich vom Friedrich-Wilhelm-Platz nach Schmargendorf zogen, kennzeichnet am<br />

besten der zeitgenössische Berliner Mutterwitz. Auf die Frage eines Berliners, warum die<br />

Kirche auf diesem Platz „Zum Guten Hirten" heiße, antwortet der andere: „Weil die<br />

Gegend so belämmert ist."<br />

Der Gutsherr steckte gleichzeitig weitere Straßen nach einem einheitlichen Bebauungsplan<br />

ab, der - da sich das Friedenauer Straßennetz fast unverändert erhalten hat — zugleich das<br />

damalige Siedlungsideal dokumentiert: Eine durchgehende „Prachtstraße" besitzt zwei<br />

längsovale Platzerweiterungen in dem schon mehrfach erwähnten Friedrich-Wilhelm-Platz<br />

und dem ehemaligen Kaiserplatz, dem jetzigen Bundesplatz. Beide hatten ihren Charakter<br />

bis in die Mitte der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts bewahrt, ehe dieser bei der Anpassung<br />

an die modernen Verkehrserfordernisse verlorenging.<br />

Vom Friedrich-Wilhelm-Platz führten unterschiedlich geschwungene und gerade Straßen<br />

zu einem U-förmig um die damalige Kaiserstraße gelegten und diese kreuzenden Promenadenzug,<br />

der jetzigen Handjery- und Stubenrauchstraße, mit Rundplätzen. Hierbei handelt<br />

es sich um den damaligen Schmargendorfer -. den späteren Schillerplatz an der heutigen<br />

Wiesbadener Straße, und um den ehemaligen Wilmersdorfer Platz an der Schmargendorfer<br />

Straße. Diese Anlage einer Landhauskolonie entsprach englischen Vorbildern, die<br />

Carstenn am Beispiel Londons, zu seiner Zeit einer Stadt mit bereits zweieinhalb Millionen<br />

Einwohnern und einer Ausdehnung von fast sechs Quadratmeilen, sozusagen „vor Ort"<br />

studiert hatte, um die Entwicklung einer in ihren neuen Teilen rationell angelegten Weltstadt<br />

kennenzulernen und auf dem Kontinent zu verwerten. Doch hier bei Berlin widmete<br />

266


Schillerplatz in Berlin-Friedenau (um 1910) Archiv: Neufert<br />

er sich überwiegend der Villen! olonie Lichterfelde. Er und David Born, der eigentliche<br />

Gründer Friedenaus, pro! lamierten übrigens das Schlagwort: „Die Vororte müßten die<br />

Grüne Lunge der Großstadt werden", auf dem später der Architekt Hermann Muthesius,<br />

ausgehend von der englischen „Domestic Revival"-Bewegung. bei der Verbreitung seiner<br />

Garten- und Landhausideale fußen konnte.<br />

Erst nach dem deutsch-französischen Krieg, nach dessen Frankfurter Friedensschluß 1871<br />

unsere Landhauskolonie von der Gattin des Baumeisters Hermann Hähnel, eines Aufsichtsratsmitgliedes<br />

des Landerwerb- und Bauvereins, den Namen „Friedenau'* erhalten<br />

hatte, vollzog sich deren Entwicklung auf dem Oberfeld der Wilmersdorfer Gutsgemarkung.<br />

Carstenn hatte mit der Auflage, keine Fabriken, keine mehrstöckigen Wohnhäuser und<br />

auch keine Proletarierwohnungen auf dem von ihm verkauften Areal zu errichten, dem<br />

Landerwerb- und Bauverein auf Aktien rund 11 Hektar zum Preis von 28 000 Talern zur<br />

Verfügung gestellt. Dieser verkaufte bei einem Selbstkostenpreis von etwa 11 Mark, der<br />

sich durch die notwendigen Aufschließungsarbeiten auf 19,50 Mark erhöht hatte, seinen<br />

Mitgliedern die Quadratrute (etwa 14,9 m 2 ) für 25 bis 30 Mark. Südöstlich von der Berlin-<br />

Potsdamer Landstraße, der jetzigen Rheinstraße, entstanden 95 Parzellen von je 60 bis zu<br />

150 Quadratruten. 1240 Quadratruten behielt man den Straßenzügen vor. Schon Ende<br />

Oktober 1871 kaufte man weitere 86 Morgen hinzu, so daß dem Bauverein nun insgesamt<br />

129 Morgen und 19 Quadratruten gehörten. Aber der Westteil des heutigen Friedenau<br />

blieb Eigentum des „Berlin-Charlottenburger-Bauvereins", einer Gründung Carstenns,<br />

der sich auch Grundbesitz an der jetzigen Bundesallee und dem Friedrich-Wilhelm-Platz<br />

mit dem Banl ier Kämpf teilte.<br />

267


Am 1. April 1872 konnten die ersten drei Wohnhäuser von ihren Besitzern bezogen werden.<br />

Friedenau lag damals eine Stunde entfernt von der Stadtmitte im Westen Berlins<br />

zwischen Eisenbahn und Chaussee in einer nach Süden mäßig ansteigenden Feldmark,<br />

und eine projektierte Pferdebahn sollte seinen Kern durchziehen.<br />

Anderthalb Jahre später, im Oktober 1873, gab es hier bereits 44 Häuser mit 120 Haushaltungen<br />

und 540 Personen.<br />

Dem Gartenstadtcharakter entsprechend, der allen Carstennschen Gründungen zu eigen<br />

ist. achtete man auch in der neuen Kolonie Friedenau auf die Baumbepflanzung. Die heutige<br />

Bundesallee durchzog damals eine vierfache Rüsternreihe, und noch jetzt kümmern<br />

sich viele Friedenauer Hausbesitzer persönlich um Pflege und Erhaltung der Bäume, die<br />

sich hier in fast allen Straßen finden. Der Charakter der Villenkolonie wurde durch Grundbucheintragungen<br />

gewahrt, denn baupolizeiliche Auflagen kannte man in dieser Zeit noch<br />

nicht. Inzwischen hatte der Fuhrunternehmer und Gastwirt Rockel die erwähnte Pferdeomnibuslinie<br />

eröffnet, die täglich siebenmal zwischen Berlin und Friedenau verkehrte. Der<br />

Landerwerb- und Bauverein hatte das Unternehmen mit monatlich 120 Talern subventioniert.<br />

Ab 1. November 1874 hielten auch die Berlin-Steglitzer Lokalzüge der Potsdamer<br />

Bahn vierzehnmal täglich in Friedenau. Der „Gemeinnützige Verein", der ein Jahr zuvor<br />

als Selbsthilfe-Organisation gegründet worden war. weil noch fast alle Versorgungs- und<br />

Verwaltungseinrichtungen fehlten, hatte das erreicht. Die Stationsbaukosten übernahmen<br />

neben dem Landerwerb - und Bauverein auch Schöneberger Terrainunternehmen, die Berliner<br />

Bauvereinsbank und der Grundbesitzer Johann Christian August Sponholz. Nach ihm<br />

heißt die vom Bahnhof auf die jetzige Hauptstraße, die damalige Friedenauer Straße,<br />

führende Sponholzstraße, deren Anrainergebiet er ab 1873 parzellierte. Die Station lag<br />

damals auf Schöneberger Gemarkung, und das alte Fachwerkstationsgebäude steht noch<br />

heute in dieser Straße neben dem jetzigen S-Bahn-Zugang aus dem Jahre 1891. Der Ringbahnhof<br />

dagegen hatte die Stationsbezeichnung „Wilmersdorf" erhalten.<br />

Es gab auch einen „Geselligen Verein", der sich schon 1872 konstituiert hatte, und beide<br />

Organisationen waren in der jungen Kolonie vielseitig tätig. Die Probleme reichten vom<br />

Schul- über Wege- und Straßenbau, der Feuerbekämpfung und der Einrichtung von Geschäften<br />

bis zur Aufstellung von Briefkästen. Der erste kam dann im Dezember 1872 neben<br />

einem Kandelaber auf das Rondell, der heutigen Kaisereiche.<br />

Kommunalpolitisch unterstand Friedenau noch immer Carstenn, dem Besitzer des Gutes<br />

Deutsch-Wilmersdorf. Es war wieder der Gemeinnützige Verein, der beim Teltower Landrat<br />

Prinz Handjery die Bildung einer selbständigen Landgemeinde beantragte. Carstenn<br />

trat daraufhin weitere Ländereien des nunmehr aufgelösten Gutsbezirkes Deutsch-Wilmersdorf<br />

ab und zahlte 7500 Taler an die neue Gemeinde zur Ablösung seiner Verpflichtungen.<br />

Durch Allerhöchsten Erlaß wurde dann am 9. November 1874 die bisherige Kolonie<br />

zur selbständigen Landgemeinde Friedenau erhoben. Ihr Areal umfaßte - noch heute<br />

unverändert- 141,35 Hektar.<br />

Der Schöneberger Amtsvorsteher Adolf Feurig leitete am 11. Januar 1875 die Wahl der<br />

ersten Gemeindeverordneten, die nun ihrerseits den Gemeindevorstand wählen konnten.<br />

Erster ehrenamtlicher Gemeindevorsteher wurde der Geheime Rechnungsrat Georg<br />

Roenneberg, Schöffen der Geheime Rechnungsrat Johann Carl Hacker, der in der Ringstraße<br />

5. der jetzigen Dickhardtstraße. in den Jahren 1871 und 1872 das erste Haus erbaut<br />

hatte, und der Handschuhfabrikant Koppe. Die Gemeindeverfassung hatte einige Abweichungen<br />

vom üblichen Gemeinderecht hinzunehmen: Landerwerb- und Bauverein und<br />

268


Berlin-Charlottenburger Bauverein besaßen volles Stimmrecht, das sie durch einen Vertreter<br />

wahrnehmen konnten, ebenso wie jedes Gemeindeglied mit Grundbesitz ebenfalls eine<br />

Stimme bei der Wahl der Gemeindeverordneten ausübte. Die neue Gemeinde gehörte<br />

zu Deutsch-Wilmersdorf und sollte erst am 1. März 1894. fast zwanzig Jahre später, eigener<br />

Amtsbezirk werden. In diesem Jahr 1875 zählte Friedenau 1104 Einwohner und 258<br />

Haushaltungen in 83 Häusern. Dann machte sich der große „Gründerkrach'" auch hier<br />

bemerkbar. Der Landerwerb- und Bauverein war in Liquidation geraten, Hypotheken wurden<br />

gekündigt, die Bodenpreise sanken. Man handelte die Quadratrute zwischen 15 und<br />

20 Mark aus. Erst nach zehn Jahren, um 1885 etwa, stabilisierten sich die Verhältnisse, so<br />

daß von einer Weiterentwicklung gesprochen werden kann. Natürlich waren auch die Versorgungseinrichtungen<br />

zurückgeblieben. Bereits 1873 hatte es 54 Petroleumflammen als<br />

Straßenbeleuchtung gegeben. Ein Jahr später verhandelte der Gemeinnützige Verein ohne<br />

Erfolg mit der Imperial Continental Gas-Association über die Einrichtung einer Gasbeleuchtung,<br />

die erst siebzehn Jahre später. 1891. eingeführt werden konnte. 1905 wurde<br />

dann ein gemeindeeigenes Elektrizitätswerk errichtet und am 1. Oktober dieses Jahres<br />

brannte zum erstenmal die moderne Straßenbeleuchtung.<br />

Die Attraktion der Schulkinder Friedenaus auf ihrem langen Weg nach Deutsch-Wilmersdorf<br />

am Westrand der Friedenauer Gemarkung im Zuge der heutigen Laubacherstraße,<br />

dem damaligen Steglitz-Wilmersdorfer Weg, bildete die einzige Wasserstelle auf der<br />

weiten Flur. Pielerts Pfuhl, der sogenannte „Püdderingspuhl", an der jetzigen Ecke von<br />

Wilhelmshöher- und Rheingaustraße, der kurz vor der Jahrhundertwende zugeschüttet<br />

worden ist. Schließlich gründeten die Geschwister Roenneberg in ihrem Haus Moselstraße<br />

Nr. 5 eine private höhere Mädchenschule. Nach dem Ausscheiden der selbständigen<br />

Gemeinde Friedenau aus dem Schulverband Deutsch-Wilmersdorf wurde am 1. Dezember<br />

1875 eine einklassige Volksschule mit 80 Schülern in einem gemieteten Raum des Hauses<br />

Ringstraße 49 eröffnet. Sie wurde ein Jahr später in die Albestraße verlegt, nachdem<br />

die Gemeinde das dortige Landhaus Nr. 32 für 30 000 Mark erworben hatte. Zehn Jahre,<br />

bis 1886, gab es auch hier nur eine Klasse unter einem Lehrer. Erst in der zweiten Hälfte<br />

der achtziger Jahre, nachdem die Entwicklungsstagnation überwunden worden war, konnte<br />

sie vergrößert und erneuert werden. Vor wenigen Jahren sind die Bauten abgerissen worden.<br />

Friedenau gehörte zur Parochie Wilmersdorf. In den ersten Jahren hielt man Gottesdienst<br />

in einem Zimmer der Karigschen Villa in der Schöneberger Straße, der heutigen Rheinstraße,<br />

danach im Saal des Gollhardtschen Kaiser-Wilhelm-Gartens, später in einem Klassenraum<br />

der Gemeindeschule und zuletzt in ihrer 1890 errichteten Turnhalle. Schon bald,<br />

im Anfang der achtziger Jahre, war der Kirchenbau ins Gespräch gekommen.<br />

Als 1877 Wilmersdorf den dortigen Friedhof für Friedenauer Bürger aus Platzmangel sperren<br />

mußte, beschloß die Gemeindevertretung, den Gemeindefriedhof gegen das Veto der<br />

Bauvereine. Carstenns und des Hamburger Kaufmanns Hünicken, die eine Wertminderung<br />

der angrenzenden Parzellen befürchteten, auf dem von Carstenn westlich der Kaiserstraße<br />

symmetrisch zum jetzigen Perelsplatz projektierten Hamburger Platz anzulegen. Am<br />

20. Mai 1881 weihte man diesen ein und konnte acht Jahre später Leichenhalle und gotisierende<br />

Kapelle vollenden.<br />

Die Häuser der Villenkolonie lagen hinter sechs Meter tiefen Vorgärten an den teilweise<br />

gepflasterten Straßen, die nur 7,50 m Dammbreite maßen und für den damaligen Verkehr<br />

völlig ausreichten.<br />

269


Besonders erfolgreich warb im Herbst 1881 der „Verein für die Beschaffung billiger Wohnhäuser"<br />

in Beamtenkreisen. Aber schon unterschieden sich die „Alteingesessenen", die<br />

in der Ring-, Mosel- und Saarstraße ihre Häuser verputzt hatten, von den Neuzugängen,<br />

die ihre Villen in unverputztem Backstein errichteten. Der Berliner Mutterwitz teilte<br />

sie daher sofort in „Putz- und Rohbauern".<br />

Im Herbst dieses Jahres 1881 wurde übrigens auf dem ehemaligen Schulplatz, dem nunmehrigen<br />

Lauterplatz, mittwochs und sonnabends der den Familien und Hausfrauen große<br />

Erleichterung bringende Wochenmarkt eröffnet, der auf dem jetzigen Breslauer Platz<br />

bald seine Hundertjahrfeier begehen kann. Ein knappes Jahr später, an einem Augustsonntag,<br />

brach dann der erste Brand auf einem Neubau der Fregestraße aus, vor dem die<br />

Pflichtfeuerwehr der Gemeinde völlig versagte. Die Bevölkerung forderte danach energisch<br />

deren Umwandlung in eine straff organisierte Freiwillige Feuerwehr, die sich schon nach<br />

wenigen Wochen der Öffentlichkeit vorstellte und ihr Spritzenhaus auf dem Schulhof in<br />

der Albestraße erhielt.<br />

Der damaligen allgemeinen Zuzugswerbung von Baugesellschaften und Gemeinde etwa<br />

unter dem Motto:<br />

„Feldallee'n und Blütenduft vor der Weltstadt Tor<br />

Schöne Häuser, Frische Luft, alles find'st Du vor.<br />

Drum: willst Du behaglich leben, billig, gut; sei schlau,<br />

laß den weisen Rat Dir geben: Zieh nach Friedenau!"<br />

erwiderte die kesse Berliner Schnauze:<br />

„Komm mit nach Friedenau, da ist der Himmel blau,<br />

da tanzt der Ziegenbock mit seiner Frau Galopp!"<br />

In diesen Jahren kümmerten sich die „Freie Vereinigung" und der „Verschönerungsverein"<br />

um das äußere Bild der Gemeinde. Bürgersteige und gärtnerisch gestaltete Teile<br />

wurden angelegt, Straßen kopfsteingepflastert und die ersten Ruhebänke aufgestellt. Das<br />

Gemeindewappen aus dem Jahre 1884 zeigt dann auch einen goldenen Friedensengel mit<br />

dem Palmenzweig in der Rechten auf einer blumigen Aue vor himmelblauem Hintergrund.<br />

Der Schild trägt eine Mauerkrone.<br />

Um 1900 noch reichte der bebaute Teil der Rheinstraße, die ja innerhalb der späteren<br />

Reichsstraße 1 von Königsberg nach Aachen tatsächlich die Verbindung zum Rhein schuf,<br />

nur bis zur damaligen Kirchstraße, beziehungsweise zur am 22. März 1879 gepflanzten<br />

Kaisereiche, ebenso wie die Bebauung in Richtung Schmargendorf und Wilmersdorf am<br />

Friedrich-Wilhelm-Platz und nach Schöneberg zu am Lauterplatz endete. Die Lauterstraße,<br />

nach dem Nebenfluß des Rheins benannt, hieß ja auch bis 1875 Grenzstraße.<br />

Damals hatten andere bevorzugt bebaute Straßen ebenfalls Namen erhalten, die sich an den<br />

zur Erinnerung an den Frankfurter Frieden gegebenen Namen Friedenau teilweise auf<br />

Flüsse in Elsaß-Lothringen bezogen. Neben den eben erwähnten waren es die Mosel-,<br />

Saar- und lllstraße. während die Querstraßen III und II zu Nied- und Albestraße wurden.<br />

Mit Hilfe des am 21. Juni 1887 gegründeten örtlichen Kirchenbauvereins konnte am<br />

Geburtstag der Kaiserin Auguste Viktoria, am 22. Oktober 1891, der Grundstein der unter<br />

ihrem Protektorat stehenden Kirche „Zum guten Hirten" auf dem von der Gemeindevertretung<br />

schon achteinhalb Jahre früher geschenkten Gelände des Friedrich-Wilhelm-<br />

270


Platzes gelegt werden. Das am 10. November 1893, dem Geburtstag Luthers, in Gegenwart<br />

der Kaiserin eingeweihte Gotteshaus, von Carl Doflein entworfen, stellt eine vereinfachte<br />

Variation seiner Wettbewerbsbeteiligung für die Gnadenkirche im Berliner Invalidenpark<br />

dar, die dann von Baurat Spina errichtet worden ist. Der Bau steht in der neugotischen<br />

Schule des Berliner Architekten Johannes Otzen, dem Mitbegründer des „Wiesbadener<br />

Programms" von 1891, das „der Einheit der Gemeinde und dem Grundsatz des allgemeinen<br />

Priestertums durch die Einheitlichkeit des (Innen)raumes Ausdruck geben", im Äußeren<br />

aber durch reiche Gliederung größtmögliche Bewegtheit des Baukörpers erzielen<br />

wollte. Doflein erreicht das mit wenigen Mitteln, und inmitten der Vielzahl der verflachten<br />

und ungekonnten Lösungen in der Neugotik des ausgehenden 19. Jahrhunderts besticht<br />

sein Sakralbau auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz durch monumentale Schlichtheit.<br />

Im Amtszimmer eines Pfarrers der Gemeinde hängt wieder die lange Zeit auf dem Dachboden<br />

gelegene eigenhändige Entwurfszeichnung des Architekten mit der handschriftlichen<br />

Genehmigung der Kaiserin. Dem Tympanon des Hauptportals vorgesetzt ist unter<br />

einem Baldachin die Sandsteinfigur Christi als guter Hirte nach dem Modell Pfannschmidts<br />

in der Ausführung von Koch. Deren Konsole durchschneidet ein Schriftband über den in<br />

Stichbögen schließenden Laibungen der Doppeltüren. Auf diesem steht „in alter Technik<br />

jeder einzelne Buchstabe auf einem besonderen Tonplättchen der von der hohen Protek-<br />

271


torin angegebene Spruch, unter dessen Zeichen die Kirche erbaut ist: Der Herr ist mein<br />

Hirte, mir wird nicht mangeln". (Hoßfeld im Zentralblatt der Bauverwaltung. 1893.) Die<br />

Turm und Vorhalle flankierenden polygonalen Türme über den Seitenschiffsportalen<br />

zieren Kochs Sandsteinfiguren von Petrus und Paulus.<br />

Leider ist die Kirche 1968 im Inneren unsachgemäß modernisiert und die unzerstört über<br />

den letzten Krieg gekommene neugotische Innenausstattung - Kanzel, Altar und Taufstein<br />

— des Dresdener Bildhauers Schurig beseitigt und als Bauschutt abgefahren worden.<br />

1893 waren auch Pfarr- und Gemeindehaus auf der vom Kaufmann Hünicken unentgeltlich<br />

zur Verfügung gestellten Eckparzelle Goßlerstraße/Bundesallee, um den derzeitigen<br />

Namen zu gebrauchen, errichtet worden. Sie mußten jedoch schon 1911 dem jetzigen Gemeindehaus<br />

mit Amtsräumen und Pfarrwohnungen weichen. Dieser im Oktober des nächsten<br />

Jahres eingeweihte Bau mit seiner sich an Stilfassungen der Vergangenheit anlehnenden<br />

monumentalen Fassadengestaltung von Hans Altmann war übrigens einer der ersten<br />

in Berlin, der den Ansprüchen einer Großstadtgemeinde entsprach.<br />

Als 1904 der alte Schmargendorfer Platz zum gärtnerisch durchgestalteten Schillerplatz<br />

wurde, verschwand die von der Gemeinde vorsorglich erbaute Krankenbaracke von 1892.<br />

dem Hamburger Cholerajahr, die hier als Armenunterkunft gedient hatte. Auch dieser<br />

Platz ist um 1960 geopfert worden, um die Kreuzung Stubenrauch-/Wiesbadener Straße<br />

verkehrsgerechter werden zu lassen.<br />

Aber bleiben wir noch bei den neunziger Jahren. Kurz vor der Jahrhundertwende siedelte<br />

der dreißigjährige Bildgießer Hermann Noack nach Friedenau über und eröffnete seine<br />

Werkstatt Ende 1899 in der späteren Fehlerstraße 8. Er hatte sich bereits mit der Aufrichtung<br />

des nach Reinhold Begas' Entwürfen bei der Gladenbeck AG, Friedrichshagen,<br />

gegossenen ,,Nationaldenkmals" auf der Schloßfreiheit einen Namen gemacht und unter<br />

anderen auch Hugo Lederers bekanntes Bismarck-Denkmal für die Stadt Bremen in<br />

einem ganz gewöhnlichen Stall-Remisenkeller auf einem Hinterhof der Gasteiner Straße<br />

in Wilmersdorf gegossen. Begas, Dammann, Gaul, Geiger, Kolbe, Kraus, Lehmbruck und<br />

Touaillon ließen neben heute vergessenen Bildhauern bei ihm arbeiten. Schon 1903 mußte<br />

er vergrößern. Noch heute liegt der Familienbetrieb, in der dritten Generation geleitet,<br />

am selben Platz. Hermann Noack II. führte den mit fünfundzwanzig Jahren 1921 übernommenen<br />

Betrieb hauptsächlich mit gegossenem Kunstgewerbe, dem kommerziellen<br />

Rückgrat jeder Gießerei, durch die Inflation und erhielt in diesen Jahren auch den Staatsauftrag<br />

zur Ausführung der von Kaufmann entworfenen Lichtquellen für die Krolloper.<br />

1929 goß Noack Gaul, Kolbe, Klimsch, die Kollwitz und die Sintenis. Scheibe, Scharjj,<br />

Marcks. Barlach, der in der Varziner Straße wohnte, Karsch und Belling kamen hinzu.<br />

Bellings kubistische Deckengestaltung im Tanzcasino der Berliner Scala hatte 1920 allgemein<br />

Furore gemacht.<br />

Als vierzehn Jahre später die alliierten Luftangriffe einen hundertfachen Tod auf Berlin<br />

hinabschleuderten, zerstörte im Jahre 1943 ein Bombentreffer auch die Werkstatt. Im<br />

Mai 1945 wieder voll arbeitsfähig, wurde der Betrieb durch die Sowjets demontiert. Aber<br />

Noack sollte die russischen Siegesmale gießen, die Einrichtung wurde also teilweise zurückgegeben.<br />

Neben unzähligen Sowjetsoldaten wurden unter primitivsten Verhältnissen — wie<br />

damals im Remisenkeller auf dem Hinterhof in der Gasteiner Straße - der Bronzekrieger<br />

auf dem Ehrenmal der Roten Armee im Tiergarten, die Gedenktafeln, Bronzekränze und<br />

knieenden Soldaten im Treptower Park gearbeitet. Es folgte der amerikanische Auftrag<br />

für Tregors Eisenhower-Statue in Westpoint. Reparaturen wurden ausgeführt, so an Schlü-<br />

272


Tiele-Wincf ler-Haus in Berlin-Friedenau, Albestraße 8 (Ecke Handjerystraße) Foto: E. Brast, 1977<br />

ters Großem Kurfürsten, an Drakes Viktoria auf der Siegessäule und an vielen anderen.<br />

Werke von Härtung, dem erst vor wenigen Wochen verstorbenen Gonda, Reuter, Grzimek<br />

und Heiliger wurden jetzt gegossen, und 1957 erhielt Noack den großen und schwierigen<br />

Auftrag, Schadows Quadriga für das Brandenburger Tor wie das zerstörte Original in<br />

Kupfer zu treiben. Aber Hermann Noack II. erlebte deren Vollendung nicht mehr. Zwei<br />

Monate nach der Ablegung seiner Meisterprüfung übernahm mit siebenundzwanzig Jahren<br />

Hermann Noack III. den Betrieb, den er von 1962 bis 1965 nach eigenen Ideen ausbaute,<br />

erweiterte und modernisierte. Er „dürfte heute die technisch vollkommenste Gießerei<br />

besitzen, die es zur Zeit gibt. Sie hält jedem Vergleich mit französischen, italienischen,<br />

englischen, auch ameril anischen Unternehmen dieser Art stand", schreibt Heinz Ohff in<br />

der Festschrift zum 70jährigen Bestehen der Firma. Henry Moore, Kenneth Armitage und<br />

der Amerikaner Larry Rivers haben Noack entdeckt. Das Ansehen der Gießerei ist international<br />

geworden.<br />

Auf dem Gelände des in den neunziger Jahren entstandenen „Sportparks" mit seiner<br />

500-m-Radrennbahn, auf der Thaddäus Robl, der erfolgreichste Radrennfahrer seiner Zeit,<br />

das „Goldene Rad von Friedenau" und seine beiden Weltmeisterschaften über 100 Kilometer<br />

gewonnen hatte, und auf der der „Große Preis von Deutschland" ausgefahren wurde,<br />

entstand ab 1904 allmählich das „Wagnerviertel". Hier hatte die Stadt Berlin zu Beginn<br />

der achtziger Jahre eine Gasanstalt bauen wollen, aber mit Hilfe Bismarcks konnte die Gemeindevertretung<br />

das verhindern. Im September 1904 war das Areal für 2 875 000 Mark an<br />

die Berlinische Boden-Gesellschaft verl auft worden. Ihr Direktor, der spätere Kommerzienrat<br />

Haberland, stiftete im Juli 1909 den „Sintfluf-Brunnen von Paul Aichele, der jetzt<br />

273


auf dem Perelsplatz, dem ehemaligen Maybachplatz, gegenüber der Hähnelstraße aufgestellt<br />

ist.<br />

Ab 1891 kam es mehrfach zu Eingemeindungs- und Vereinigungsverhandlungen, zuerst<br />

mit der Stadt Berlin, ab 1897 dann mit Schöneberg. Zuerst hatte Berlin abgelehnt, dann<br />

verhinderte der Kreis Teltow den Anschluß. Auch Einverleibungsbestrebungen der Gemeinde<br />

Steglitz im Jahre 1910 scheiterten, nachdem schon 1903 zeitweise eigene Stadtrechte<br />

der Gemeinde „Berlin-Friedenau" — seit September 1909 hieß sie so - im Gespräch<br />

gewesen waren.<br />

Diese Aufwärtsentwicklung Friedenaus ist nicht zuletzt dem am 23. November 1888<br />

gegründeten Haus- und Grundbesitzer-Verein zu danken, der in der Gemeindevertretung<br />

eine wesentliche Rolle spielte und daher weitgehend das äußere Bild prägte. Erhaltung<br />

der Vorgärten. Baumbepflanzung in den Straßen. Wasserversorgung, Straßenpflasterung<br />

und Unterhaltung der Bürgersteige gehörten mit zu seinem Aufgabenkreis, aber auf der<br />

anderen Seite verfocht er hart die Aufhebung der offenen Bauweise und besiegelte damit<br />

letztlich das Schicksal des Villenvorortes.<br />

Die wachsende Gemeinde zwang auch zur Erweiterung des Schulwesens. 1895 war die alte<br />

Schulvilla in der Albestraße abgerissen und ein Jahr später ein Neubau mit 15 Klassen<br />

errichtet worden; 1902 gab es 1157 Schüler in 27 Klassen. Mit der am 1. Oktober 1906<br />

eröffneten zweiten Volksschule in der Rheingaustraße 7 wurde der Unterricht für Knaben<br />

und Mädchen getrennt. Die 1911 gegründete dritte Volksschule sollte in dem zwei Jahre<br />

später begonnenen Neubau an der Offenbacher Ecke Laubacher Straße eine Heimstatt<br />

finden, doch wurde dieser zunächst Reservelazarett: Inzwischen war der erste Weltkrieg<br />

ausgebrochen. Einen ausgezeichneten Ruf genoß der schon 1896 zwischen Stubenrauchund<br />

Fehlerstraße eingerichtete Schulgarten, der zum Musterbeispiel vieler Anlagen in anderen<br />

Ortschaften werden sollte, bevor er der Friedhofserweiterung zum Opfer fiel.<br />

Neben der schon erwähnten Roennebergschen privaten Töchterschule in der Moselstraße<br />

Nr. 5, die 1873 eröffnet worden war, führte Dr. Lorenz in der Schmargendorfer Straße<br />

Nr. 24/25 (heute befindet sich dort der Installations-Großhandel von Sandvoss & Fischer)<br />

in den achtziger Jahren eine höhere Privatschule, die schloß, als im Hoffmannschen Bau in<br />

der Albestraße am 22. April 1897 die erste öffentliche höhere Lehranstalt der Gemeinde<br />

mit 3 Vorschulklassen und der Sexta den Unterricht aufnehmen konnte. Am 20. März 1901<br />

legte man den Grundstein zum Gymnasialgebäude am Maybachplatz. das nach den Entwürfen<br />

von Landbauinspektor Engelmann und Regierungsbaumeister Blunck errichtet<br />

und am 18. April 1903 seiner Bestimmung übergeben wurde. Dieser Neo-Renaissancebau<br />

zeigt in seiner Fassadengestaltung deutlich ein Hauptanliegen des Jugendstils, das dieser<br />

auch in seinen historisierenden Variationen beibehält: die impressionistische Differenzierung<br />

durch die reine Form zu überwinden. Deren Geschlossenheit \ ommt besonders im<br />

Uhrenturm zum Ausdruck. Die Baukosten einschließlich Inneneinrichtung und Turnhalle<br />

hatten übrigens 597 000 Mark betragen.<br />

Drei Jahre später. 1906, gründete man das spätere Real-Gymnasium, die Rheingauschule,<br />

die nach weiteren vier Jahren 1910 in ihr eigenes Gebäude ziehen konnte.<br />

Im Jahre 1911 eröffnete die Königin-Luise-Schule in der Goßlerstraße ihre Pforten, die<br />

1907 als öffentliche höhere Töchterschule gegründet worden war und 1912 Lyzeum werden<br />

sollte. Es ist die heutige Paul-Natorp-Schule. die der Gemeindebaurat Hans Altmann<br />

errichtet hatte.<br />

274


Schon vor der Jahrhundertwende hatte die Verkehrsentwicklung noch heute aktuelle und<br />

für uns Großstadtbewohner unbequeme Probleme gebracht, die manchmal ebenso hart für<br />

die Betroffenen auch jetzt gelöst werden müssen. Als der Kreis Teltow die Verbreiterung<br />

der Rheinstraße als Teil der alten Provinzialchaussee Berlin-Potsdam und die Verlegung<br />

der Strßenbahnschienen an die Fahrbahnseiten forderte, wehrten sich verständlicherweise<br />

Gemeinde, Haus- und Grundbesitzer-Verein und die Anlieger gegen die notwendig werdende<br />

Auflassung und Abtretung der Vorgärten. Doch der Landrat von Stubenrauch<br />

setzte mit der Androhung der Verweigerung des Kreiszuschusses von 400 000 Mark seine<br />

Wünsche durch.<br />

In den achtziger Jahren hatte eine einzige Pferdebahn zwischen der Rhein-/Kaiserstraße<br />

und Zoologischem Garten verkehrt; im Jahre 1907 durchfuhren neun Straßenbahnlinien<br />

Friedenau nach Weißensee. Treptow. Rixdorf. Lichtenberg, Schönhauser Allee, dem Potsdamer<br />

Bahnhof und dem Zoo.<br />

Inzwischen war der Charakter des Villenvorortes verlorengegangen. Hatten um 1875 bereits<br />

80 Villen oder Landhäuser gestanden, setzte sich ab 1887 immer mehr der Miethausbau<br />

in der geschlossenen Bauweise durch. Ab 1902 hörte der Villenbau gänzlich auf. Von<br />

1890 bis 1895 wurden nur 102 meist dreistöcl ige Wohnhäuser errichtet. Bereits 1895,<br />

zwanzig Jahre nach der Gründung der selbständigen Landgemeinde, hatte der erste Villenabriß<br />

begonnen, dem nun jedes Jahr weitere folgen sollten. Im Jahre 1913 gab es etwa noch<br />

100 Landhäuser und 54 Baustellen. Schon damals also dieselben Probleme, denen wir uns<br />

heute gegen übersehen!<br />

In dieser Zeit, in der die Bebauung der Rheinstraße sich etwa bis zur Roennebergstraße<br />

ausdehnte und der Kaiser-Wilhelm-Garten an der Ringstraße zum Ausgangspunkt alljährlich<br />

stattfindender Umzüge, etwa zum Schützen- und Erntedankfest, geworden war,<br />

in der Krieger-, Turn- und Schützenverein ihre Feste feierten, diskutierte man hitzig und<br />

streitend den zukünftigen Standort des Rathausbaus. Man konnte sich nur schwer zwischen<br />

Wilmersdorfer Platz oder Marktplatz entscheiden. Inzwischen nannten die Friedenauer<br />

daher scherzhafterweise die auf dem Lauterplatz errichtete Bedürfnisanstalt das „Kleine<br />

Rathaus"!<br />

Am 20. April 1913 wurde auf dem Bauplatz, den die Berlinische Bodengesellschaft Süd-<br />

West unter Kommerzienrat Haberland nach Änderung schon bestehender Baupläne dem<br />

damaligen Pfarrer von Steglitz, Dr. Joseph Deitmer unentgeltlich übereignet hatte und der<br />

teils auf Friedenauer, teils auf Wilmersdorfer Gebiet liegt, durch den Fürstbischöflichen<br />

Delegaten Prälat Dr. Carl Kleineidam der Grundstein zur katholischen Marienkirche im<br />

Schnittpunkt von Laubacher und Schwalbacher Straße gelegt. Anderthalb Jahre später,<br />

wenige Wochen nach Kriegsausbruch, nahm am 11. Oktober 1914 Erzpriester Dr. Deitmer<br />

die Benediktion des nach einem abgewandelten Entwurf Christoph Hehls durch Carl<br />

Kühn aufgeführten, der Spätromanik angelehnten, aber eigenständig umgeformten Sakralbaus,<br />

einer Verschmelzung von Basilika und Zentralanlage mit Umgang, vor. Der Architekt<br />

hat hier noch ganz im Sinne des Gesamtkunstwerkes des Jugendstils auch Ornamente,<br />

Kapitelle, figürlichen Schmuck, Kreuzigung. Marienbild, Inneneinrichtung, Glasfenster,<br />

Hochaltar, Kanzel, Beichtstühle und alle Kultgegenstände selbst entworfen und gezeichnet.<br />

Die Kirche ist erst viele Jahre nach dem Krieg und der Inflation am 15. November 1925<br />

durch den nunmehrigen Weihbischof Dr. Deitmer konsekriert worden. Sie steht übrigens<br />

1,10 m im Zuge der Laubacher Straße auf Friedenauer Gebiet, dessen Grenze zu Wilmers-<br />

275


dorf auf der Fahrbahnmitte verläuft. Alle Eingänge liegen deshalb in diesem schmalen<br />

Streifen. Hervorgehoben sei hierbei, daß die unter dem Turm-Massiv hindurchlaufende,<br />

nicht verlegbare Kanalisation dessen Fundamentierung erheblich erschweren sollte. Eine<br />

kleine Kuriosität am Rande: Bis zur Neuausstattung mit den modernen Peitschenmasten<br />

wurden die unterschiedlichen Gaslaternen beider Bezirke auf den Bürgersteigen der Laubacher<br />

Straße auch mit einer geringen Zeitdifferenz gezündet.<br />

Das auf Wilmersdorfer Gelände an der Bergheimer Straße liegende, ebenfalls durch den<br />

Diözesanbaurat Carl Kühn errichtete Gemeindehaus steht ganz unter dem Einfluß des<br />

Expressionsimus und ist 1930 vollendet worden. Auch hierfür hatte die Terrain-Gesellschaft<br />

Berlin-Südwesten die Planung eines fünfgeschossigen Wohnhausbaus, der das<br />

Ensemble von Kirche und Kirchplatz vollständig zerschlagen hätte, rückgängig gemacht.<br />

Ein halbes Jahr nach der Grundsteinlegung für die Marienkirche, am 13. Oktober 1913.<br />

dem hundertsten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, folgte die Fundamentierung<br />

des letzten Rathausbaus der Kaiserzeit am Lauterplatz. Die Unregelmäßigkeit des Grundstücks<br />

gleicht der Architekt Hans Altmann durch Vor- und Rücksprünge aus und erreicht<br />

in der beruhigten Manier des Jugendstils die Steigerung des Ausdrucks durch Massenwirkungen.<br />

Er läßt sich hierbei vom Historismus leiten, ohne ihm zu verfallen. Der Rathausturm<br />

wird zum Blickpunkt mehrerer Straßenfluchten und verdeutlicht so den Verwaltungssitz<br />

als Zentrum der Gemeinde.<br />

Schon am 1. Oktober 1915 nahmen einige Büros der Gemeinde ihre Arbeit in dem Neubau<br />

auf, der 1916 vollendet werden konnte. Im zweiten Weltkrieg erlitt das Rathaus<br />

schwere Schäden und wurde danach vom Hochbauamt Schöneberg in den Jahren 1950<br />

bis 1956 unter starker Vereinfachung des Traktes am heutigen Breslauer Platz wiederhergestellt.<br />

Aber blättern wir ein wenig im „Adreßbuch für Berlin-Friedenau 1914". gedruckt und<br />

verlegt „von Leo Schultz in Friedenau. Friedenauer Lokal-Anzeiger. Rheinstraße 15".<br />

Den 44 385 Einwohnern empfahl sich das Biophon-Theater in der Rheinstraße 14 als<br />

„ältestes, bedeutend vergrößertes und aufs beste ventiliertes Kinematographen-Theater<br />

am hiesigen Platze". Es zeigte „stets wechselndes Programm. Täglich zwei große Schlager.<br />

Große Revue der neuesten Ereignisse aus aller Welt." Es begann „Sonntag Nachmittags<br />

4 Uhr. Wochentags 6 Uhr" bei „billigen Eintrittspreisen". Aber Friedrich Schröders<br />

„Hohenzollern-Lichtspiele" in der Handjerystraße 64 mit „Hohenzollern-Festsälen und<br />

Restaurant", auf deren Grundstück heute ein den alten Glanz nicht mehr ahnen lassender<br />

Neubau der letzten Jahre steht, waren „größtes Kinomatographen-Theater im Orte". Sie<br />

boten ebenfalls „wöchentlich zweimal wechselndes Programm" und führten „stets das<br />

neueste der Lichtspielkunst" vor. Die Gaststätte erschien als „vornehmstes Tagesrestaurant<br />

und Familienlokal" mit „tadelloser Kegelbahn" und Zentralheizung in allen Räumen. In<br />

der Handjerystraße 80 — auch hier erhebt sich heute ein nüchterner Nachkriegsbau - lag<br />

in der Nähe des Lauterplatzes das „Sanatorium Handjery in vornehmer ruhiger Lage von<br />

Gärten umgeben", die klinisch geleitete Heilanstalt von J. H. Tarrasch mit „Dachterrasse"<br />

für „Sonnenbäder", die von jedem Arzt belegt werden konnte und „alle modernen Heilverfahren"<br />

anwandte. Ihr angeschlossen war eine „orthopädisch-chirurgische Anstalt<br />

unter ärztlicher Leitung", die „orthopädische Turnkurse für Kinder und Erwachsene" in<br />

276


Kanzel in der Kirche<br />

„Zum Guten Hirten"<br />

in<br />

Berlin-Friedenau.<br />

Friedrich-Wiiheim-Platz<br />

Bildhauerarbeit von<br />

J. Schurig. Dresden<br />

(um 1892)<br />

Foto: Werner Lehmann, 1960<br />

„großem Turnsaal" durchführte und auch „elektrische-, Massage-, Heißluft- und Röntgen-<br />

Behandlung". „Inhalationen jeder Art. System Ems und Reichenhall" sowie „elektrische.<br />

Licht-. Dampfkasten-, Sand-, Sonnen-, sowie alle anderen medizinischen Bäder" anbot.<br />

Die „gesunde Lage" Friedenaus wird den Kurbetrieb schon haben florieren lassen. Die<br />

Gemeinde besaß ja auch von Anfang an eine „günstige Sterblichkeitsziffer", weil ein eigenes<br />

Kran! enhaus fehlte und ernste Fälle nach Steglitz oder Schöneberg eingewiesen werden<br />

mußten. Eventuelle Sterbefälle wurden also diesen Orten zugerechnet.<br />

Aber genießen wir weiter die heitere Gelassenheit damaligen Lebens. Das „Grenzschlößchen"<br />

mit großem Garten und zwei Sommerkegelbahnen gehörte zum ersten der drei mit<br />

„vorzüglichen Restaurants" versehenen Sportplätze Wilhelm Grubes in Friedenau und<br />

Steglitz, und der schon erwähnte „Kaiser-Wilhelm-Garten" an der Rheinstraße 65 Ecke<br />

Ringstraße, der heutigen Dickardtstraße, führte als „vornehmes Tagesrestaurant" mit<br />

277


„großem Mittags- und Abendtisch" einen eigenen Theatersaal. Paul Dillner, dem auch das<br />

vom Kronprinzen bevorzugte Schwabes Hotel in Zinnowitz gehörte, war Eigentümer des<br />

Gartenrestaurants zum „Prinzen Handjery", Handjerystraße 42. Ecke Kirchstraße 21, in<br />

dem sich heute eine Pizzeria. der schlichte Berliner Speisungsschlager des letzten Jahrzehnts,<br />

befindet, mit „Mittagstisch von 12 — 4 Uhr" und „stets reichhaltiger Abendkarte".<br />

Biere — Münchner Franziskaner Leistbräu, Pilsener Urquell, Kulmbacher Reichel und<br />

Pilsator Hell - wurden in Ein-Liter-Krügen oder Fünf-Liter-Siphons auch außer Haus<br />

verkauft. Als letztes aus dieser Zeit mag noch Otto Wendts Milchl uranstalt Friedenau in<br />

der Handjerystraße 69 erwähnt werden, die als „Spezialität frische Milch für Kinder und<br />

Kranke" lieferte, wobei die „Kindermilch nach polizeilicher Vorschrift von geimpften<br />

Kühen" stammte und sich daher „hier die einzige Möglichkeit" bot, „dem Preis entsprechend<br />

eine saubere, unverfälschte Milch zu erhalten".<br />

Höhere und mittlere Beamte, Militärs, Mediziner und Juristen. Künstler, Rentiers. Kaufleute<br />

und Handwerker. Witwen, Lehrerinnen und eine hohe Zahl weiblicher Dienstboten<br />

hatten in diesen Jahren nach der Jahrhundertwende bis zum ersten Weltkrieg den Charakter<br />

Friedenaus geprägt. Am Maybachplatz gegenüber dem Birkenwäldchen wohnte man<br />

mit Kammerdiener und Butler und am Wagnerplatz gab sich die Demimonde ihr Stelldichein.<br />

Ältere Einwohner erinnern sich noch der mehrfachen Kaiserbesuche bei den Bildhauern<br />

Casal und Götz in der Wilhelm-, der jetzigen Görresstraße, und bei dem Marinemaler<br />

Bohrdt in der Niedstraße 13, die stets in völliger privater Ungezwungenheit ohne<br />

Sicherheitsvorkehrungen verliefen. Bohrdt war begeisterter Sportsegler und genoß internationale<br />

Anerkennung. Auch Prinz Heinrich weilte oft in seinem Atelier. Noch vor dem<br />

ersten Weltkrieg war Bohrdt nach Dahlem verzogen, wo er hochbetagt im Alter von<br />

89 Jahren 1945 sterben sollte.<br />

Als im Herbst 1911 die Maler der Dresdener „Brücke" nach Berlin übersiedelten, mietete<br />

sich Karl Schmidt-Rottluff in der Niedstraße 14 ein, in einem viergeschossigen Miethausbau,<br />

den die geometrische Versachlichung des Jugendstils kennzeichnet. Von seiner<br />

Atelierwohnung unter dem Dach genoß er einen herrlichen Rundblick auf die umliegenden<br />

Häuser und die Felder der Umgebung. Damals lebten siebzehn Architekten, siebenundzwanzig<br />

Bildhauer, siebenundvierzig Kunstmaler, zehn Gesangs-, dreißig Musik-, vier<br />

Tanzpädagoginnen und zehn Musikdirektoren in Friedenau. Kurz nach der Jahrhundertwende<br />

hatte der Schriftsteller Georg Hermann in der damaligen Kaiserallee 108 „Jettchen<br />

Gebert", seinen Roman aus dem jüdisch-bürgerlichen Leben der Biedermeierzeit, geschrieben.<br />

Aufregende Abwechslung bedeutete für die Jugend jedesmal der Einsatz der Freiwilligen<br />

Feuerwehr, die jetzt ihr Spritzenhaus am Rande eines Freiplatzes in der Schmargendorfer<br />

Ecke Handjerystraße besaß, auf dem Gelände, das für den Rathausbau vorgesehen<br />

war und das später die Post bebaute. Oft genug halfen bei der Brandbekämpfung die<br />

Berufswehren aus Steglitz, Wilmersdorf oder Schöneberg, die mit ihren pferdebespannten<br />

Leiterwagen und Dampfspritzen über die Straßen galoppierten. Das Spritzenhaus bezog<br />

später die Schmiede, aber der Name „Zur Dampfspritze" hatte sich noch lange in einem<br />

kleinen Bierlokal erhalten.<br />

Dann brach der Weltkrieg aus, und die Gemeindevertretung hielt ihre erste Kriegssitzung<br />

am 6. August 1914 ab. Am nächsten Tag wurde die „Zentralstelle für vaterländische Hilfe"<br />

eingerichtet. Wenige Wochen vor Kriegsende, am 1. Oktober 1918, konnte das neue Postamt<br />

am Wilmersdorfer Platz, dem jetzigen ReneerSintenis-Platz, eröffnet werden, dem<br />

acht Jahre später, 1926, der Erweiterungsbau in der Schmargendorfer Straße angegliedert<br />

278


wurde. Bereits am 1. Juli 1874 war die Postagentur „Stadtpostexpedition Nr. 57 W - Friedenau"<br />

eingerichtet worden.<br />

Mitten im Krieg hatte sich Friedenau ab 1917 gegen höheren Ortes wieder auflebende Vereinigungspläne<br />

mit Steglitz zu wehren und niemand achtete daher so recht auf eine Begegnung<br />

zweier Menschen, die sich in der Cranachstraße vollziehen sollte. Der Russe Wladimir<br />

lljitsch Uljanow, genannt Lenin, hatte Rosa Luxemburg, die polnisch-deutsche Revolutionärin<br />

aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, besucht.<br />

Zwei Jahre nach dem Krieg entstand das neue Berlin. Ab 1. Oktober 1920 bildete Friedenau<br />

mit Schöneberg den Verwaltungsbezirk 11 der Großstadt. Die Baltikumtruppen,<br />

die das Rathaus, die Post und auch das Schuhgeschäft Leiser geschützt hatten, waren abgezogen<br />

worden, und das Leben schien sich zu normalisieren. Das Cafe Wörz in der 111-<br />

Ecke Saarstraße bot das beste Kabarett Berlins und im eleganten „Hähnel-Eck" traf sich<br />

wenig später die Lebewelt der Inflation. Dann flog der Währungsspuk vorüber, am Rathaus<br />

wuchs der Neubau des Roxy-Palastes empor und man flanierte wieder auf der Rheinstraße<br />

zwischen Kirch- und Schmargendorfer Straße wie eh und je am späten Nachmittag.<br />

Längst waren die Toten des Kapp-Putsches an der Rheinstraße Ecke Kaiserallee vom März<br />

1920 vergessen, und in der Fregestraße war inzwischen ein Mädchen herangewachsen, das<br />

wenig später, in den dreißiger Jahren, unter dem Mädchennamen der Mutter zum Leinwand-Liebling<br />

des Publikums werden sollte: Lilian Harvey. Der Friedenauer, der etwas<br />

auf sich hielt, genoß seinen Tropfen in Waldemar Reuters „Trarbach's Weinstuben" in der<br />

Moselstraße 1—2 oder speiste in dem von wildem Wein bewachsenen Gartenlokal in der<br />

Wieland- Ecke Bahnhofstraße, das der ehemalige Leibkoch des Kaisers eröffnet hatte.<br />

Diese Zwanziger Jahre sollten wieder einschneidend das Ortsbild verändern. Auf angrenzendem<br />

Schöneberger Gebiet hatte Heinrich Lassen 1925 für die Gemeinnützige Heimstätten-Gesellschaft<br />

der Berliner Straßenbahn mit der Errichtung des ersten drei- und viergeschossigen<br />

Komplexes der expressionistischen Siedlung Cäciliengärten begonnen und<br />

die Einfahrt zur Wohnanlage an der Semperstraße sechsgeschossig turmartig überhöht. Die<br />

durch alternierende Erker- und Loggienzonen plastisch gegliederten Fassaden durchlaufen<br />

horizontale Fensterbegrenzungsprofile. Das war gekonnt und besaß Niveau, der Friedenauer<br />

bemerkte, daß er in einer sich dynamisch entwickelnden Großstadt lebte. Die Rheinstraße<br />

wurde modernisiert, die Straßenbahnschienen in die Fahrbahnmitte verlegt, und der<br />

mit Linden und Rosenovalen bepflanzte Rasenstreifen, die Bürgersteigbegrenzung, verschwand.<br />

Der Roxy-Palast machte den Rheinschloß- und Kronen-Lichtspielen Konkurrenz.<br />

In einer Leihbücherei am Friedrich-Wilhelm-Platz setzte Andreas Wolff Anfang der dreißiger<br />

Jahre die Tradition seines Großvaters, des Petersburger Verlegers und Buchhändlers<br />

M. O. Wolff, zu dessen literarischem Zirkel Turgenjew, Gontscharow und Tolstoi gehört<br />

hatten, fort. Am 16. September 1932 las man zum erstenmal „Junge deutsche Literatur".<br />

Peter de Mendelssohns „Fertig mit Berlin" und Hans Natoneks „Kinder einer Stadt" fanden<br />

ihr begeistertes Publikum. Aber in den Jahren, als der Werbespruch des Kaufhauses in der<br />

Lauterstraße: „Für Friedenau ein wahrer Schatz ist Leo Bry am Lauterplatz" mit dem<br />

Zweizeiler: „Es freut den Jud' das Weihnachtsfest, wenn sich's der Goy was kosten läßt"<br />

beantwortet wurde, schwieg auch Andreas Wolff, der inzwischen in seinen Eckladen<br />

Kundrystraße/Kaiserallee umgezogen war. Er trat erst wieder nach dem Krieg mit der<br />

„Friedenauer Presse" an die Öffentlichkeit, die er für die Freunde seiner Buchhandlung<br />

in Heftform oft mit Erstdrucken herausgab. Sein Gästebuch bewahrt die Erinnerungen<br />

279


an die seit 1946 regelmäßig stattfindenden Gemäldeausstellungen und Lesungen. Nach<br />

seinem Tode hatte Tochter Katarina, Katja genannt, die Buchhandlung übernommen,<br />

die seit 1. Juli 1976 von Barbara Stieß und Helga Steinhilber in seinem Sinne weitergeführt<br />

wird. Friedenau hat sein literarisches Image mit dem am 5. August 1943 hingerichteten<br />

Widerstandskämpfer Adam Kuckhoff, mit Gottfried Benn, Günter Grass, Hans Magnus<br />

Enzensberger, Uwe Johnson, Max Frisch, Christoph Meckel und dem nach Charlottenburg<br />

verzogenen Günter Bruno Fuchs bis heute wahren können.<br />

Der Schöneberger Ortsteil besitzt auch heute noch sein eigenes Bild und seinen eigenen<br />

Stil. Ein Bummel durch seine Straßen wird zum Bummel durch seine Geschichte. Klar<br />

zeichnen sich die drei Bebauungsphasen seiner Entwicklung ab. die offene und halboffene<br />

Bebauung der Gründerzeit, der viergeschossige Miethausbau der Vororte Berlins aufgrund<br />

der Bauordnung von 1891. und die wiederum halboffene Miethausbebauung seit 1910.<br />

Leider stark verändert und heute kaum erkennbar steht das zur Zeit älteste Haus. 1873<br />

erbaut, in der jetzigen Dickhardtstraße 31. (Helmut Winz: Es war in Schöneberg, Berlin<br />

1964, S. 91.) Villen der achtziger Jahre sieht man noch heute in der Lauter-, Albe-. Handjery-,<br />

Nied-, Schmargendorfer und Goßlerstraße. Zu ihnen gehört das Haus Albestraße 8.<br />

das 1897 vom „Frauenbund zum treuen Hirten" als „Zufluchtstätte" für hilfsbedürftige<br />

Frauen der Großstadt angekauft und vom Hofprediger Stoecker eingeweiht worden war.<br />

Damals lag die anheimelnde Villa noch zwischen Wiesen und Kornfeldern.<br />

Begonnen hatte dieser schwere Dienst als Einrichtung der Berliner Stadtmission dreizehn<br />

Jahre früher, am 1. April 1884, in einer kleinen Wohnung des Berliner Nordens durch zwei<br />

Schwestern des Magdalenenstiftes Plötzensee, abgelöst von Schwestern aus dem Paul-<br />

Gerhardt-Stift, aus dem Diakonissenmutterhaus Bethanien und einer Mitarbeiterin aus<br />

der Brüdergemeinde Niesky. Am 19. Mai 1911 wurden die ersten vier Friedenshortschwestern<br />

feierlich eingeführt und nach Jahren aufopfernder Arbeit ging das nunmehrige<br />

Mädchen-Erziehungsheim 1927 endgültig in die Hände des Friedenshortes über. In schweren<br />

Jahren hatten die Pfleglinge hier ihre Heimat gefunden, die „als geistig schwache, verhaltensgestörte<br />

Mädchen mit Verwahrlosungserscheinungen" in den dreißiger Jahren durch<br />

Landesjugendamt und Bezirksämter eingewiesen worden waren. Im jetzigen Heim für<br />

geistig behinderte Volljährige, das seit sieben Jahren „Tiele-Winckler-Haus" heißt, versehen<br />

die Schwestern abseits vom Großstadtlärm auch heute ihren gesegneten, schweren,<br />

aber schönen Dienst in der stillen Oase der Nächstenliebe, um diesen Mädchen von damals<br />

ein Zuhause zu bieten. Wenige Schritte weiter steht in der Handjerystraße das Haus der<br />

Gossner-Mission, das Erbe des 1773 geborenen, von der römischen Kirche befehdeten,<br />

verfolgten, eingekerkerten, evangelisch gesinnten katholischen Priesters Johannes Evangelista<br />

Gossner, der 1819 vom Zaren Alexander I. an die Malteserkirche in Petersburg<br />

berufen, aber auch hier schon nach fünf Jahren verdammt und ausgewiesen wurde. In<br />

seinen „Vagabundenjahren" kirchlich und politisch heimatlos geworden, trat er endlich<br />

am 23. Juli 1826 in der Patronatskirche des Kammerherrn von Heynitz in Königshain in<br />

Schlesien zur evangelischen Kirche über. Doch nur das persönliche Eintreten des Barons<br />

von Kottwitz und der Machtspruch des preußischen Königs verhalfen ihm drei Jahre<br />

später zu der Pfarrstelle an der böhmisch-lutherischen Bethlehemsgemeinde in der Wilhelmstraße.<br />

Schnell bildete sich auch hier eine Gossner-Gemeinde. Die Schleiermachers,<br />

Bismarck, dessen Sohn Herbert er taufte, und die Schlieffens, um nur die Bekanntesten zu<br />

nennen, gehörten dazu. Aber sein eigentliches Lebenswerk bildete die Mission. Zwei<br />

Schriften hatten ihn weltbekannt gemacht, das „Schatzkästlein", das Andachtsbuch der<br />

280


Gossnerschen Missionare in allen Kontinenten, und das „Herzbüchlein". Am 10. Oktober<br />

1837 wurde das Elisabethkrankenhaus, das erste Krankenhaus Berlins, eingeweiht und die<br />

angeschlossene „Ausbildungsschule für Pflegerinnen" eröffnet. Gossners Beitrag zur<br />

Inneren Mission. Zehn Monate vorher, am 12. Dezember 1836, hatte die Gossnersche<br />

Heidenmission begonnen, die im Verlauf von hundert Jahren nach seinem Tode am<br />

30. März 1858 insgesamt 292 Missionare und 15 Missionsschwestern in die Welt hinausgesandt<br />

hat. Gossners eigentliche Liebe galt der Kinderarbeit. Die beiden Gossner-Häuser<br />

in Friedenau und Mainz-Kastell setzen seine missionarische Arbeit nach innen und außen<br />

fort und wachen über die Entwicklung der selbständigen Gossner-Kirche in Indien.<br />

In stillen Straßen Friedenaus wechseln Miethausbauten mit den damals modernen, in den<br />

siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kreierten Fassaden der „nordischen<br />

Renaissance" mit repräsentativen Häusern des Jugendstils, hinter deren großen Baikonen<br />

und Loggien dunkle Räume die Sphäre privater Tabus betonen.<br />

Die „Wohltatsche Buchhandlung" in der Rheinstraße, die der Gossner-Mission in der<br />

Handjerystraße, Uhren-Lorenz und die Adler-Apotheke in der Rheinstraße gehören zu<br />

den Geschäften, die schon um 1900 am gleichen Platz existierten, wenn sie auch heute<br />

teilweise anderen Besitzern gehören.<br />

Und wenn ich vorhin vom „eigenen Stil" gesprochen habe, so gehört dazu die Aufgeschlossenheit,<br />

die Freundlichkeit und die Bereitwilligkeit, mit der mir alte Friedenauer mit Auskünften<br />

und Chroniken zur Verfügung gestanden haben. Ich habe herzlich zu danken Frau<br />

Ruth Mönnich und Frau Barbara Stieß, unseren Mitgliedern Herrn und Frau Neufert, Herrn<br />

Noack, Herrn Pfarrer Dr. Buske der Gemeinde „Zum Guten Hirten", Herrn Pfarrer<br />

Piotrowski von St. Marien, Herrn Posner vom Verein der Ehemaligen des Friedenauer<br />

Gymnasiums, Herrn Dr. Dr. Wendorff, den Schwestern des „Friedenshortes" und der<br />

Gossner-Mission.<br />

Anschrift des Verfassers: Niedstraße 14, 1000 Berlin 41<br />

Aus der Geschichte der Charlottenburger Luisenkirche<br />

und ihrer Gemeinde<br />

Von Klaus Eckelt<br />

Eine der ersten Aufgaben, denen sich Philipp Gerlach (1679—1748) 1 , der spätere Hofbaumeister<br />

König Friedrich Wilhelms /., gegenübersah, war im Jahre 1708 der Auftrag zum<br />

Bau der Charlottenburger Stadtkirche. Der Platz hierfür war bereits von Eosander im<br />

Stadtplan für Charlottenburg festgelegt worden. Auf einem alten Plan steht die Bezeichnung<br />

„Neue Kirche aufm Berg". Ein Teil des Berges wurde abgetragen; mit der Erde wurden<br />

die naheliegenden Karpfenteiche aufgefüllt. Nach vielem Geldsammeln, an dem sich<br />

auch der König beteiligte, legte man 1712 den Grundstein 2 ; der Grundriß und die Fundamente<br />

der Kirche stammen noch von Gerlach. Als Friedrich Wilhelm I. an die Regierung<br />

kam, wurden die Baugelder für die Kirche gekürzt. Martin Heinrich Böhme, ein Freund und<br />

281


Schüler Schlüters, bekam den Auftrag, die Kirche in einfacherer Form weiterzubauen. Ihm<br />

wurde empfohlen, sich in der Höhe nach Martin Grünbergs Berliner Garnisonkirche zu<br />

richten.<br />

In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf das sehr gründliche Buch von Günther<br />

Schiedlausky über Martin Grünberg 3 , der um die Wende vom 17./18. Jahrhundert in<br />

Berlin und in der Mark als Baumeister tätig war. Grünberg baute sehr viele Kirchen, zu<br />

denen sich „deutliche Beziehungen der Luisenkirche" finden. Charakteristisch für Grünbergs<br />

Bauten ist ihre Schlichtheit. Große Ähnlichkeit hat die Luisenkirche mit seiner<br />

Johanniskirche in Dessau. Die Fassadengestaltung stimmt fast überein. ebenso die Proportionen.<br />

Bei beiden sind die Kreuzarme dreiachsig, die Mittelachse wird durch ein<br />

Risalit hervorgehoben. Kanten und Ecken werden durch Pilaster bzw. Lisenen betont, der<br />

Verlauf der Dächer ist ähnlich. Weitere Ähnlichkeiten bestehen im Verhältnis der Einzelteile<br />

zueinander. Das weit über die Hauswand vorstehende Dach ist ein weiteres Charakteristikum<br />

Grünbergs. Gerlach hat in seiner Nachfolge mit Vorliebe die übereinanderliegenden<br />

Fenster, das untere kleiner als das obere, verwendet. Gerlach und Böhme hatten<br />

sich Grünbergs Kirchenbauten zum Vorbild genommen, so daß man fast sagen kann, daß<br />

die Luisenkirche ein Werk Grünbergs ist. Da von diesem Baumeister nur noch wenige<br />

Bauten und Umbauten (z. B. das Jagdschloß Grunewald) erhalten sind (das bekannte Berliner<br />

Rathaus wurde abgerissen), sollte man darauf hinweisen. Der Dachstuhl insbesondere<br />

soll als „ein wahres Meisterstück" gegolten haben. Die Kanzel war von Hoftischler und<br />

Kirchenvorsteher Bartsch aufgeführt und soll die schönste der Kurmark gewesen sein 4 .<br />

Auf ausdrücklichen Wunsch des Königs wurde die Kirche als Simultan-Kirche gebaut (für<br />

Lutherische und Reformierte).<br />

Friedrich Nicolai erwähnt die Kirche seltsamerweise nicht. In seiner „Beschreibung der<br />

Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam" schreibt er über Charlottenburg: „Es<br />

sind in der Stadt viele schöne Gartenhäuser und Gärten befindlich, welche meist Privatpersonen<br />

in Berlin gehören, darunter sind das v. Rochowsche, Hönigsche und von Bodensche,<br />

desgleichen in Lietzen das Dietrichsche, Smidsische und Daumische Haus, vorzüglich.<br />

An dem letzteren besonders ist ein schöner Garten, worinn viele rare ausländische Pflanzen<br />

mit großen Kosten und Sorgfalt gezogen werden."' Weiter berichtet er: „Charlottenburg<br />

hatte 1785 309 Bürgerhäuser und 14 in Liezen. Darinn waren 1996 beständige Einwohner<br />

(im Sommer sind wegen der angenehmen Gegend viele Einwohner Berlins daselbst,<br />

theils in gemietheten, theils in eigenen Häusern), ausser der mit ihren Frauen<br />

und Kindern 511 Köpfe betragenden Garnison, welche in einer Schwadron der Garde<br />

du Korps bestehet." Daß Nicolai die Kirche nicht erwähnt, ist schon deshalb bemerkenswert,<br />

weil er mit dem dortigen Pfarrer Eberhard, einem berühmten Aufklärer, eng<br />

befreundet war und in dessen Haus aus- und einging (wovon weiter unten noch die<br />

Rede sein soll). Wie die alte Charlottenburger Kirche aussah, zeigt das 1762 entstandene<br />

Gemälde von Johann Gottlieb Glume 6 : an der Seite, an der heute Schinkels Turm steht,<br />

war ein mehr oder weniger verschnörkelter Giebel, darüber ein hölzerner Dachreiter.<br />

Diese Kirche war gegen Ende des 18. Jahrhunderts so baufällig geworden - zumal der<br />

Dachreiter neigte sich bedenklich -. daß eine Renovierung unbedingt nötig wurde. Hätte<br />

Karl Friedrich Schinkel, als er den Auftrag bekam, die Kirche zu renovieren und einen<br />

Turm zu bauen, genügend Geld zur Verfügung gestanden, so wäre das Ergebnis des<br />

Umbaus beinahe eine neue Schinkel-Kirche gewesen. In Gundlachs Chronik ist sein zweiter<br />

Entwurf abgebildet 7 . Das einzige, was vom alten Bau erhalten geblieben wäre, wären<br />

282


Johann August Eberhard<br />

(1739-1809)<br />

Kupferstich von<br />

Daniel Chodowiecki.<br />

1778<br />

(Ausschnitt)<br />

die beiden Fensterreihen und der Grundriß gewesen. So aber war Schinkel gezwungen,<br />

zu sparen. Das Kirchenschiff blieb - hauptsächlich außen - fast so erhalten, wie es die<br />

beiden ersten Baumeister geplant hatten. Innen hat Schinkel sehr viel mehr umgebaut;<br />

er empfahl dem König eine „Verschönerung" der Kirche; die vorhandene Kanzel bezeichnete<br />

er als plump, die Pfeiler müßten verschönert werden und anderes mehr 8 . Leider sind<br />

keine Bilder vom Inneren der Kirche vor dem Umbau überliefert. Da gespart werden<br />

mußte, blieb immerhin der Nachwelt ein charakteristischer Kirchenbau der ersten Hälfte<br />

des 18. Jahrhunderts erhalten; vielleicht ist dies heute sogar das einzige erhaltene Bauwerk<br />

dieser Art.<br />

283


Schinkel fertigte mehrere Entwürfe an. von denen wohl der dritte dann 1826 zur Ausführung<br />

kam. Der Turm wurde aus Ersparnisgründen niedriger gebaut als ursprünglich vorgesehen,<br />

was man später sehr bedauerte. Zugleich mit dem Kirchbau war ein einstöckiges<br />

Pfarrhaus entstanden, das 1826 aufgestockt wurde. Leider melden die Chroniken nicht,<br />

wer den Entwurf hierfür angefertigt hat. Überhaupt muß man immer wieder feststellen,<br />

daß die Bau- und Kunstgeschichte in den Chroniken zu kurz kommt. Hier wäre noch eine<br />

Unmenge an Stoff zu erarbeiten. So sollte einmal nach eventuellen Entwürfen und Zeichnungen<br />

von Gerlach und Böhme gesucht werden. Bei Schinkel lassen sich sicher nicht nur<br />

Zeichnungen, sondern auch Tagebucheintragungen und Briefe finden, da er mit dem damaligen<br />

Pfarrer Dressel einen Briefwechsel geführt haben soll.<br />

Auf Schinkels Empfehlung hin malte sein Freund Franz Catel ein Altarbild, das Prinz<br />

Heinrich von Preußen der Gemeinde stiftete; dieses Bild ging bei der Zerstörung der Kirche<br />

1943 verloren. Erhalten ist nur eine undeutliche Schwarz-Weiß-Aufnahme. Vielleicht<br />

finden sich in Catels erhaltenen Werken noch Entwürfe und Skizzen darüber.<br />

1904 wurde die Luisenkirche noch einmal verändert: Sie erhielt neben dem Turm zwei<br />

Anbauten, eine Attika und einen Hintereingang in Form eines halbrunden Tempels. Nach<br />

dem Krieg wurde die Kirche wieder sehr einfach aufgebaut, wobei der Turm ein Zeltdach<br />

erhielt, Hintereingang und Attika wurden weggenommen. Der Senat wollte die Ruine<br />

beseitigen; indessen hat die Gemeinde die Kirche unter großen Opfern wiederaufgebaut.<br />

Die Außenseiten sind im alten Stil erhalten bzw. wurden wiederhergestellt. Der Innenraum<br />

wurde von Hinnerk Scheper neu gestaltet. Die Fenster im Altarraum entwarf Peter<br />

Ludwig Kowalski, das Kreuz ist eine Arbeit von Gerhard Schreiter.<br />

Der eilige Wiederaufbau machte eine baldige Renovierung erforderlich. Im Jahre des<br />

200. Geburtstages der Königin Luise, 1976, der mit einem großen Gottesdienst unter<br />

Anwesenheit des Prinzen Louis Ferdinand feierlich begangen wurde, konnte endlich mit<br />

den aufwendigen Bauarbeiten begonnen werden. Eine gründliche Isolierung der Kirche.<br />

Ausbesserung des Putzes und ein Neuanstrich waren notwendig (die Feuchtigkeit war bis zu<br />

einer Höhe von 2 m gestiegen). Der Landeskonservator und die Deutsche Klassenlotterie<br />

haben die Restaurierung ermöglicht. Nun soll auch noch der Platz um die Kirche herum ein<br />

passendes Aussehen bekommen. Die unansehnlichen Blechlaternen sind bereits durch<br />

Schinkel-Leuchten ersetzt worden und ein schmiedeeiserner Zaun soll die Kirche und den<br />

Platz vor Verschmutzung und mutwilliger Zerstörung schützen. Dann wird auch der Platz<br />

selbst noch gärtnerisch ausgestaltet werden.<br />

In unmittelbarer Umgebung der Kirche sind zwei Bauwerke aus der ganz alten Zeit zu<br />

nennen: Das alte Schulhaus aus dem Jahre 1786. das vor ein paar Jahren einen neuen<br />

Anstrich erhielt, und das Haus Schustehrusstraße 13, das in einem mehr als beklagenswerten<br />

Zustand ist und dringend restauriert werden müßte. Es hat übrigens einen sehr<br />

hübschen Innenhof.<br />

In der Kirche sind aus dem 18. Jahrhundert noch eine Taufschale, zwei Kelche, eine Abendmahlskanne<br />

und eine Altarbibel erhalten. Sie sind in einer Vitrine ausgestellt.<br />

In dem Aufsatz „Theodor Fontanes Pfarrergestalten" schreibt Agnes von Zahn-Harnack:<br />

„Man trifft in den fünf die' en Bänden der .Wanderungen' Pfarrer aller Arten und Zeiten,<br />

die wunderlichsten Originale, Einfältige und SchlangenHuge, Grobe und Feine, aber den<br />

wohllebenden Pfarrer trifft man nicht." Und ein weiterer Satz: „Er [Fontane] zeigt auch die<br />

284


esonderen Schwierigkeiten seines Standes: die häufigen Spannungen mit der Gutsherrschaft,<br />

besonders in Zeiten allgemein sinkender Moral, wohl auch die Schwierigkeiten mit<br />

Küstern und Lehrern, vor allem aber die große Armut, ja den fast ständigen Kampf um<br />

das tägliche Brot, in dem man bis ins 19. Jahrhundert in den märkischen Pfarrhäusern<br />

lebte." 9 Letzteres ließe sich am Leben und Wirken des ersten Charlottenburger Pfarrers.<br />

Michael Crusius, illustrieren. In einer kleinen Geschichte Charlottenburgs ist auch noch<br />

der Teil eines Widmungsgedichtes überliefert, das den Pfarrer mit Johannes Chrysostomus,<br />

dem griechischen Kirchenvater und großen Prediger (t407). vergleicht:<br />

„Pedant - und Quäkerei sind bei ihm ausgebannt.<br />

Nichts als der Kern von Witz und wahrer Frömmigkeit<br />

Beherrschet ihn, und. dem sein güldner Mund bekannt.<br />

Der setzt Chrysostomo ihn willig an die Seit."" 1 "<br />

Crusius und seine bald verwaiste Familie lebten, dem Bericht der Chronik zufolge, in einer<br />

uns unvorstellbaren Armut. Auch seinen Nachfolgern wird es nicht anders gegangen sein.<br />

Einer davon hat sich denn auch - vergeblich - in Spekulationen versucht. Von diesem<br />

Pfarrer Erdmann wird berichtet, daß er verordnet hatte, „daß ihm seine sämtlichen Skripturen<br />

mit in den Sarg gegeben würden. Er meinte damit einige wenige Kanzelreden, die<br />

er abwechselnd der Reihe nach jahraus, jahrein gehalten hatte; die Leichenträger, welche<br />

keinen Unterschied zwischen den einzelnen Skripturen zu machen wußten, packten aber<br />

die sämtlichen Pfarrakten zusammen und legten sie ihm statt der Hobelspäne in den<br />

Sarg." 11<br />

Nachfolger dieser zwielichtigen Persönlichkeit war Johann August Eberhard (1739— 1809).<br />

dessen Name und Bedeutung weit über die Grenzen Charlottenburgs hinausgingen. Von<br />

1774 bis 1778 war er hier Pfarrer. In einem Lexikon heißt es von ihm: „In seiner 1772<br />

erschienenen Neuen Apologie des Sokrates erblickten viele eine Ketzerei und erschwerten<br />

ihm durch Kabale die Weiterbeförderung. 1774 (auf Friedrich's des Gr. ausdrücklichen<br />

Befehl), nach vielen ihm in den Weg gelegten Hindernissen, Prediger in Charlottenburg,<br />

verwandte er hier 4 Jahre seine stille Muße zu den Werken, welche Deutschland damals<br />

bewundert hat . . ." 12 Hier sind auch seine Werke aufgeführt: Die Neue Apologie des<br />

Sokrates usw. (zuerst 1772); Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, eine<br />

Preisschrift (1776); Von dem Begriff der Philosophie und ihren Theilen usw., als Ankündigung<br />

der Vorlesungen (1767—1768); Sittenlehre der Vernunft (zuerst 1781); Amyntor<br />

(1782); Theorie der schönen Wissenschaften (zuerst 1783); Geschichte der Philosophie<br />

(1787- 1796); Handbuch der Aesthetik (4 Bde., 1803-1805); Versuch einer allgemeinen<br />

deutschen Synonymik (6 Th.. zuerst 1795 — 1801).<br />

Das Lexikon rühmt Eberhard als „liebenswürdigen Philosophen, klaren Denker und zierlichen<br />

Stylisten'". Von seinen Werken heißt es. daß sie „ihrer Anmuth und klaren Besonnenheit<br />

halber eine erquickliche, anregende Lecture" gewähren „und sind den Jüngern,<br />

die E. ganz vernachlässigen, sehr zu empfehlen".<br />

Als Gelehrter stand Eberhard in seiner Zeit, für uns Heutige doch recht fern. Sein philosophischer<br />

Standpunkt war „nicht originell" 13 , und sein Vortrag wurde als nicht „glücklich"<br />

bezeichnet. Er war eng befreundet mit Friedrich Nicolai, an dessen „Sebaldus Nothanker"<br />

er mitgearbeitet haben soll und der ihm 1810 einen umfassenden, sowohl persönlich wie<br />

materiell tiefschürfenden Nekrolog als „Frucht einer vieljährigen Freundschaft" widmete 14 .<br />

Auch Moses Mendelssohn gehörte zu diesem Aufklärerkreis. In einem Brief an Nicolai<br />

285


Johann Christian Gottfried Dressel<br />

(1751-1824)<br />

Punktierstich von<br />

Friedr. Wilh. Meyer<br />

(um 1820)<br />

ist zu lesen: „Ich möchte ihn [einen Hamburger Kaufmann] sprechenswürdige Menschen<br />

sehen lassen. Wollen Sie wohl. Sie und Engel 15 uns den Sonntag Nachmittags nach Scharlottenburg<br />

zu Eberharden begleiten?" 16<br />

Sicher lassen sich in den Werken Mendelssohns und Nicolais noch mehr Hinweise auf<br />

Eberhard finden. Er ging 1778 als Philosophieprofessor nach Halle, im selben Jahr, als<br />

Chodowiecki sein Porträt stach, das wir hier in einer Abbildung wiedergeben. Eberhard<br />

war ein Gegner Kants, wovon ein lebhafter Briefwechsel Zeugnis ablegt. Matthias Claudius<br />

war wohl von der „Neuen Apologie" nicht so sehr angetan, als er sie mit den folgenden<br />

Worten bedachte: „Es ist freilich eine übertriebne Toleranzgrille, die alten Philosophen<br />

ohne Unterschied zu Christen machen wollen, weil sie eine hohe Moral gepredigt haben<br />

. . ,'' 17 . In Neuausgaben von Aufklärungsliteratur kann man einzelne Schriften Eberhards<br />

wieder lesen 18 .<br />

Gerühmt wird Eberhard als ein „vom Karakter sehr vortrefflicher Mann", „der angenehmste<br />

und unterhaltendste Gesellschafter". Sein Nachfolger schreibt, Charlottenburg<br />

sei „seiner nicht werth, . . . zumahl wie es damahls war, wo unter dem gemeinen Mann,<br />

theils Schwärmerey theils völliger Unverstand zu Hause war" 19 . Da Eberhards „Rechtgläubigkeit"<br />

bezweifelt wurde, machte man ihm in der Gemeinde häufig Schwierigkeiten,<br />

und sein Nachfolger, der ihn sehr geschätzt hat. spricht von dessen „Heterodoxie". „Wie<br />

286


es doch in der Welt geht", bemerkt er, „so mancher studierter Taugenichts, der außer seiner<br />

guten Lunge nichts Empfehlendes in sich hat, bekommt oft die einträglichste Pfründe<br />

ohne alle Widerrede; mit offnen Armen gleichsam empfängt ihn seine Gemeinde bey<br />

seinem Anzüge und so ein gelehrter und achtungswerther Mann, wie Eberhard war. mußte<br />

hier sich aufdringen und alles in Bewegung setzen lassen um diese nur mittelmäßige Pfarre<br />

zu bekommen: denn sie brachte ihm höchstens 500 rth jährlich ein."<br />

Über die Familie Eberhards meldet er: „Da Eberhard keine Kinder mit sr. Franeoise<br />

zeugte und seine Frau der Geitz selber war, dergestalt, daß sie keinen Menschen eine Tasse<br />

Coffee reichte noch weniger Jemanden zu essen gab; so konnte er in der damahligen wohlfeilen<br />

Zeit, da der Scheffel Korn 18 gr galt, nicht nur mit diesem seinen Einkommen reichen,<br />

sondern noch etwas darvon zurück legen."<br />

Für Eberhard dürfte die Pfarrstelle in Charlottenburg lediglich eine Episode gewesen<br />

sein, denn sehr glücklich hat er sich hier nicht gefühlt und umgekehrt hat auch die<br />

Gemeinde nicht allzu sehr an ihm gehangen. Man könnte also seine Jahre hier nicht unbedingt<br />

als exemplarische Pfarrgeschichte beschreiben. Was an der Persönlichkeit Eberhards<br />

fasziniert, ist sein Wirken als hervorragender aufklärerischer Philosoph, in dessen Werk<br />

und Wirken das Pfarramt nur einen Platz am Rande einnimmt.<br />

Das wurde dann bei seinem Nachfolger ganz anders, der offensichtlich mit Leib und Seele<br />

Pfarrer und der Gemeinde verbunden war. Johann Christian Gottfried Dressel war von 1778<br />

bis zu seinem Tode, im Jahre 1824, Pfarrer in Charlottenburg. Hätte Fontane von ihm<br />

gehört, so hätte er diesen in vielem originellen, eigenwilligen Mann sicher irgendwo in<br />

seinen Werken erwähnt. Auch Dressel war ein eifriger und fleißiger Schreiber, jedoch nicht<br />

von hoher Gelehrsamkeit, sondern äußerst praktisch ausgerichtet. Das Schulwesen lag<br />

ihm sehr am Herzen; so ist er auch der Verfasser von pädagogischen Schriften und veranlaßte<br />

den Bau der ersten Charlottenburger Schule. Das Gebäude wurde später vergrößert<br />

(es steht in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche). Dressel ist der Verfasser der<br />

ersten Charlottenburger Chronik 20 - was vorher über Charlottenburg geschrieben wurde,<br />

ist wenig umfangreich und nur eben von einigen Außenstehenden notiert. Mit Dressel<br />

aber hat ein Charlottenburger über Charlottenburg geschrieben — übrigens sehr persönlich!<br />

Wie er denn auch die sorgfältig geführten Kirchenbücher mit privat-kritischen Anmerkungen<br />

versah. Er hatte dafür eine gesonderte Spalte reserviert, und so kann man bei einer<br />

Trau-Eintragung etwa lesen: „Sponsa ist auch weder hübsch noch klug. Sie hat eben des<br />

wegen gar nicht heyrathen wollen und hätte wohl gethan. wenn sie dabey verharrt hätte."<br />

Oder: „Sponsus ein Schafskopf/Sponsa ein häßliches aber arbeitsames Mädchen." „Sponsa<br />

ein äußerst böses Mensch; ließ mich kurz vor der Copul. durch den Küster um eine gute<br />

Traurede bitten, weil sie sich nichts Gutes versah." 21 Allein von dieser Bemerkung her ließe<br />

sich schon eine ganze Abhandlung über Traupredigten, ihre Theorie und Praxis schreiben,<br />

wobei ein Vergleich mit Fontanes Ansichten über Kasualpredigten interessant wäre.<br />

Natürlich meldet Dressel auch positive Eigenschaften seiner Pfarrkinder, aber die negativen<br />

überwiegen und sind natürlich viel amüsanter zu lesen. In der Chronik schildert Dressel<br />

seinen Kummer mit der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit, den Ärger mit Küstern und<br />

Lehrern; aber er kommentiert auch sachkundig die Arbeit des Schloßgärtners oder die<br />

Finanzierungsschwierigkeiten einer Fabrik. Er selbst war äußerst geschäftstüchtig - so<br />

knapp und arm wie bei seinen Vorgängern ging es bei ihm nicht zu. So kaufte er ein Haus,<br />

baute es um und verkaufte es gewinnbringend. Reiche Einnahmen hatte er u. a. durch<br />

seine weitberühmte Nelkenzucht. Gundlach betont seine stark materielle Gesinnung, was<br />

287


Die Luisenkirche nach dem Schinkel-Umbau (Aufnahme um 1900)<br />

auch aus Dresseis Aufzeichnungen hervorgeht. Der Magistrat schrieb: „Auch hat der D.<br />

sich zuweilen Nebenarbeiten zur Verbesserung seiner Einnahme zugelegt, die durchaus<br />

unanständig zu nennen sind." 22 Wilhelm Kraatz berichtet aus den Tagebucheintragungen,<br />

daß Dressel an gutem Essen und Trinken Freude hatte: „Höchst eigentümlich muß es bei<br />

einem Pfarrer berühren, wenn er, wie Dressel es tut, jedesmal dort, wo er von seinem<br />

Geburtstage in seinem Tagebuch spricht, auch genau mitteilt, was es alles an köstlichen<br />

Speisen und Getränken gegeben hat. Man hat das Gefühl, daß er noch beim Niederschreiben<br />

der Schilderung zehrt von dem Genüsse, den ihm das Mahl bereitet." 23 Leider ist der<br />

Verbleib dieser Tagebücher heute unbekannt.<br />

Dressel war ein äußerst unbequemer, reizbarer und streitsüchtiger Mann, der zwar nicht<br />

immer im Unrecht war, aber oft doch peinliche und unerquickliche Szenen hervorrief.<br />

Er hatte sehr viele Schwächen und Fehler; man darf deshalb nicht übersehen, daß er sich<br />

in seiner mehr als vierzigjährigen Amtstätigkeit große Verdienste um die Stadt und<br />

Gemeinde Charlottenburg erworben hat. Aufgrund seiner Aufzeichnungen und Anmerkungen<br />

- von denen vieles verloren gegangen ist - können wir uns von ihm ein besseres<br />

Bild machen als von seinen Vorgängern und Nachfolgern; das bedeutet natürlich zugleich,<br />

daß gerade auch seine Schattenseiten mannigfach zur Sprache kommen. Diese Schattenseiten<br />

schmälern jedoch nicht seine Verdienste vielfältigster Art. Nicht vergessen sein<br />

sollen seine Tagebücher, die. als Gundlach sie gesehen hat. sechs dicke Bände umfaßten -<br />

sie sind „eine unschätzbare Quelle für die Erkenntnis der Kulturzustände nicht nur am<br />

Orte, sondern auch in dem nahen Berlin, ja im Lande überhaupt" 24 .<br />

288


Die zerstörte Luisenkirchc 1946<br />

Nun wäre aus der 260jährigen Geschichte der Luisengemeinde und Luisenkirche (wobei<br />

hier auf die Geschichte der Lietzow-Gemeinde als Vorgeschichte Charlottenburgs verzichtet<br />

wurde) noch manches zu nennen. So sollen der Oberprediger Carl Kollatz (1820 —<br />

1890) und der Pfarrer Lic. Wilhelm Kraatz nicht vergessen sein. Kollatz befaßte sich mit<br />

dem Berliner Wortschatz und legte hierüber umfangreiche Sammlungen an, die u. a. von<br />

Hans Brendicke in den „Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins", Heft 33 (1897).<br />

S. 69—196, veröffentlicht wurden. Sein Grabmal auf dem alten Luisenfriedhof in der<br />

heutigen Guerickestraße war schon damals so bemerkenswert, daß es in Gundlachs<br />

Chronik abgebildet wurde 25 . Wilhelm Kraatz verfaßte zum Jubiläumsjahr der Luisenkirche<br />

1916 eine „Geschichte der Luisengemeinde zu Charlottenburg", zu der er sehr fleißig<br />

Akten und Unterlagen studierte. Diese umfassende Chronik ist äußerst gründlich und<br />

informiert nicht nur über die Pfarrer und ihre Gemeinde, sondern auch über Baukosten.<br />

Einkommen, Friedhöfe u. a. Mit Oberhofprediger Richter-Reichhelm kam noch einmal<br />

ein schreibfreudiger Pfarrer in die Luisengemeinde, dessen Bücher und Gedichte jedoch<br />

für die Geschichte der Gemeinde nicht ergiebig sind. Es gab auch noch andere Pfarrer<br />

und andere Zeiten, die das Auf und Ab der Geschichte überhaupt widerspiegeln. Manches,<br />

was in jüngster Zeit geschah und das in umfangreichem Aktenmaterial festgelegt ist.<br />

sollte besser erst von einem Chronisten späterer Generationen beschrieben werden.<br />

Auch der hier vorgelegte Abriß muß aus Zeit- und Platzgründen fragmentarisch bleiben.<br />

Ich habe mich überwiegend an das gehalten, was mir faszinierend erschien und worüber<br />

289


noch weiteres Material zu sammeln, noch weiter zu forschen und zu arbeiten wäre. Für<br />

die jetzige redaktionelle Überarbeitung und für zahlreiche weiterführende Hinweise bin<br />

ich Herrn Dr. Peter Letkemann zu großem Dank verpflichtet.<br />

Anschrift des Verfassers: Gierkeplatz 4. 1000 Berlin 10<br />

1<br />

Thieme/Becker: Allgem. Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 13 (1920) S. 470 f.<br />

2<br />

Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Charlottenburg - Teil II: Stadt und Bezirk,<br />

bearb. von Irmgard Wirth. Berlin 1961. Textband S. 58 ff.. Tafelband Abb. 31 —35.<br />

' Günther Schiedlausky: Martin Grünberg, ein märkischer Baumeister vom 17./18. Jahrhundert.<br />

Burg b. Magdeburg 1942 (Beiträge zur Kunstgeschichte. VII).<br />

4<br />

Ferdinand Schultz: Chronik der Residenzstadt Charlottenburg. Charlottenburg 1887. S. 111.<br />

5<br />

Friedrich Nicolai: Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. 3. Aufl.<br />

Berlin 1786. Bd. 3. S. 1016 f.<br />

6<br />

Abgebildet bei Paul Torge: Rings um die alten Mauern Berlins. Berlin 1939. Tafel IX. Siehe dazu<br />

auch Thieme/Becker: Allgem. Lexikon der bildenden Künstler. Bd. 14 (1921). S. 271.<br />

7<br />

Wilhelm Gundlach: Geschichte der Stadt Charlottenburg. Berlin 1905. Bd. 1. S. 461.<br />

8<br />

Wilhelm Kraatz: Geschichte der Luisengemeinde zu Charlottenburg. Ein Rückblick auf zwei Jahr­<br />

hunderte. Charlottenburg 1916. S. 47.<br />

9 In: Der Pfarrerspiegel. Hrsg. von Siegbert Stehmann, Berlin 1940, S. 265.<br />

111 Schultz: Chronil der Residenzstadt Charlottenburg, S. 99.<br />

11 Ebenda, S. 4 f.<br />

12 Neuestes Conversationslexii on für alle Stände. Von einer Gesellschaft deutscher Gelehrten<br />

bearbeitet. Bd. 2, Leipzig 1833. S. 432 f.<br />

13 Neue Deutsche Biographie, Bd. 4. Berlin 1959. S. 240 f.<br />

14 Siehe darüber Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber<br />

Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 178 ff. (Einzelveröff. der Hist. Kommission zu Berlin. Bd. 15).<br />

15 Über Johann Jakob Engel siehe ebenda. S. 173 ff.<br />

16 Neuerschlossene Briefe Moses Mendelssohns an Friedrich Nicolai. In Gemeinschaft mit Werner<br />

Vogel hrsg. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973. S. 51.<br />

17 Matthias Claudius - Werke. Stuttgart o. J.. S. 25.<br />

18 Johann August Eberhard's Neue Apologie des Socrates. In: Bibliothek der deutschen Aufklärer<br />

des achtzehnten Jahrhunderts, hrsg. von Martin v. Geismar. Leipzig 1846/47, Bd. 1 Heft IL<br />

(Fotomechanischer Nachdruck. Darmstadt 1963.) - J. A. Eberhard: Über den Ursprung der<br />

Fabel von der weißen Frau. In: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift,<br />

hrsg. von Norbert Hinske, Darmstadt 1973, S. 5 — 22.<br />

" Aus der „Rathauschronik", eine Neubearbeitung bzw. Kürzung der sog. „Pfarrchronik" von Oberpfarrer<br />

Dressel. Sie befindet sich im Rathaus Charlottenburg.<br />

20 Johann Christian Gottfried Dressel: Die Geschichte Charlottenburgs . . . , handschriftl. beg. 1813.<br />

Siehe dazu Mitteilungen des Vereins f. d. Gesch. Berlins. Jg. 1976, H. 2, S. 166 f.<br />

21 Kirchenbuch 1794—1803. im Besitz der Luisengemeinde.<br />

22<br />

Kraatz: Geschichte der Luisengemeinde. S. 90.<br />

23<br />

Ebenda. S. 93.<br />

24<br />

Gundlach: Geschichte der Stadt Charlottenburg. Bd. 1, S. 225.<br />

25 Ebenda. Bd. 2. S. 535.<br />

290


Nachrichten<br />

Die Visitenkarte der Post - 160 Jahre Poststempel in Preußen<br />

Am 23. Dezember 1816 wurden, ausgehend von Berlin, die ersten Poststempel in Preußen eingeführt<br />

für alle Sendungen nach dem „Ausland", also damals auch die übrigen Länder innerhalb Deutschlands,<br />

und bald darauf auch „für alle übrigen eingelieferten Briefe, die ab 1. März 1817 mit Ort und<br />

Datum des Abganges bestempelt werden müssen." So stand es in der Verfügung, gegeben am 7. Februar<br />

1817 durch den Königlich Preußischen General-Post-Meister Johann Friedrich von Seegebarth.<br />

Johann Friedrich<br />

von Seegebarth (1747- 1823)<br />

Königl.-Preuß.<br />

General-Postmeister<br />

Und so schreibt man allgemein 1817 als das Geburtsjahr des Poststempels in Berlin. „Zweizeiler"<br />

waren die ersten Stempel: Ort. Tag und Monat. Aber nur zehn Jahre blieb es so. denn am 1. Dezember<br />

1827 nahm die Berliner Stadtpost den Betrieb mit ihren 60 Briefsammlungen auf. Zugleich können wir<br />

seit dieser Zeit erstmalig Stempel in Kreisform auf den Briefsendungen in Augenschein nehmen.<br />

Ein noch heute wichtiges Jahr in der Berliner Postgeschichtc war 1850. Nicht nur. daß der Postbetrieb<br />

291


* t><br />

Briefaufgabestempel aus den Jahren 1821 (links) und 1865 (rechts)<br />

(Aus der Sammlung der Berliner Post- und Fernmeldemuseums)<br />

in Preußen neu geordnet wurde, auch die erste Briefmarke ist hier in diesem Jahr eingeführt worden.<br />

Zugleich wurden mit dem Tätigkeitsbeginn der Oberpostdirektion Berlin 1850 die Briefsammlungen in<br />

sog. Stadt-Post-Expeditionen umgestaltet. Seit dieser Zeit findet eine neue Form des Stempels, der<br />

sogenannte Kastenstempel, seine Verwendung.<br />

Bald ist die Stenipelinschrift vollständig. Eine Verfügung des Generalpostamts vom 27. August 1862<br />

besagt, daß künftig die Briefaufgabestempel außer der Tages- und Monatsangabe auch noch die Jahreszahl<br />

enthalten sollen. Und nun beginnen für die Sammler einige interessante Jahre. Nicht nur. daß<br />

neben den Kastenstempcin neue „Zweikreiser" mit Jahreszahl und Tageszeit, eingeteilt in Vor- und<br />

Nachmittag, in Betrieb sind, so kommt noch eine gänzlich neue - wohl die schönste - Stempelform,<br />

der sogenannte Hufeisenstempel, hinzu. Sein Stempelbild findet man auf Briefen und Postkarten<br />

zwischen 1863 und 1884.<br />

Langsam setzte sich der kreisrunde Stempel als alleinige Form durch (Verfügung Nr. 51 vom 2. August<br />

1880). Ab 1873 ist das Stadtpostgebiet nach Himmelsrichtungen eingeteilt. Ab 1875 finden wir diese<br />

Angaben vor den Amtsnummern im Stempelbild. Hinzu kam noch der Unterscheidungsbuchstabe bei<br />

mehreren Aufgabestempeln innerhalb eines Amtes. Bis auf den heutigen Tag hat sich an dieser Form<br />

nur noch wenig geändert. So sollte noch der Einführung der Postleitzahl im Stempelbild gedacht<br />

werden (Verfügung vom 6. Juni 1944).<br />

So lang die Geschichte des Poststempels aus Berlin ist. so haben auch heute noch die Hersteller der<br />

Poststempel in unserer Stadt eine entsprechend große Tradition. Sei es die Fabrikation der Handstempel<br />

durch die Firma Gleichmann in Berlin-Kreuzberg (erster Vertrag mit der Post vom 7. August 1888),<br />

später ab 1920 die Maschinenstempel der Firma Klüssendorf in Spandau, und zuletzt das besondere<br />

Gebiet der Absenderfreistempel durch „francotyp" in Berlin-Reinickendorf seit 1925.<br />

So war der Poststempel früher eben nur die „Visitenkarte" des Postaufgabeortes, heute aber ist er<br />

aufgrund seiner vielfältigen Geschichte ein begehrtes Sammelobjekt bei Postgeschichtsforschern und<br />

bei den Philatelisten. - Ein Ausschnitt aus dieser reichhaltigen Geschichte ist noch bis zu den Sommerferien<br />

bei f reiem Eintritt in einer Sonderschau im Berliner Post- und Fernmeldemuseum in der<br />

„Urania" zu sehen. Karlheinz Grave<br />

Umweltprobleme und Heimatschutz<br />

Auf dem „Zweiten Internationalen Kongreß für Heimatschutz" in Stuttgart vom 12. bis 15. Juni<br />

1912 erklärte der Sprecher der damals sogenannten „Heimatschutzbewegung", Professor Fuchs,<br />

das ganz große Problem des Heimatschutzes sei in allen modernen Kulturstaaten ein und dasselbe,<br />

nämlich der Kampf mit dem rücksichtslos das Gewordene und seine Schönheit zerstörenden<br />

technischen Fortschritt.<br />

292


Gewiß, sagte Professor Fuchs damals, bestehe nicht immer ein Gegensatz zwischen Heimatschutz<br />

und Wirtschaft, vor allem nicht zwischen Heimatschutz und Volkswirtschaft. Auch die Volkswirtschaft,<br />

die nicht nur den Gewinn des Tages, sondern auch den Bedarf der Zukunft im Auge habe,<br />

könne einen nur im privatgeschäftlichen Interesse Einzelner liegenden Raubbau nicht dulden.<br />

Allerdings gäbe es auch unbestreitbare große Interessengebiete, wo Heimatschutz und Volkswirtschaft<br />

sich entgegenstehen .. ., aber in diesem Falle habe die Volkswirtschaft, wenn man ihre Aufgaben<br />

richtig verstände, nicht allein mitzusprechen und nicht das letzte Wort!<br />

Und Professor Fuchs schloß seine Ausführungen mit der erstaunlichen Wendung: Wenn durch die<br />

Heimatschutzbewegung unzweifelhaft die nationale Differenzierung der Völker verstärkt werde,<br />

so könne dies ihren Beziehungen zueinander doch nur nützlich sein. Denn, „wer die eigene Heimat<br />

liebt und schützt, nicht in hohem, sich überhebendem Chauvinismus, sondern in verfeinerter<br />

Gesinnung und Erkenntnis ihrer kulturellen Bedeutung, wird auch die Heimat und Eigenart<br />

anderer achten".<br />

Im Umweltprogramm der Bundesrepublik vom 29. September 1971 heißt es: „Umweltpolitik ist<br />

die Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind,<br />

um dem Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges<br />

Dasein braucht,<br />

um Boden, Luft und Wasser, Pflanzen- und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher<br />

Eingriffe zu schützen und<br />

um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen."<br />

In der 4. These dieses Programms wird darauf hingewiesen, daß der Zustand der Umwelt „entscheidend<br />

bestimmt wird durch die Technik" und daß der technische Fortschritt „umweltschonend<br />

verwirklicht werden muß".<br />

Die Bundesregierung hat, unterstützt von allen Parteien, im Jahr 1971 ein konkretes Umweltprogramm<br />

beschlossen und damit eine entscheidende Weiche gestellt: „Seitdem muß sich in der<br />

Bundesrepublik politisches und wirtschaftliches Handeln auch am Schutz einer menschenwürdigen<br />

Umwelt messen lassen." (So der Bundesminister des Innern im Vorwort zum Umweltprogramm<br />

der Bundesregierung).<br />

Die These 1 dieses Umweltprogramms lautet:<br />

„Umweltpolitik ist die Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind,<br />

um dem Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und für ein menschenwürdiges<br />

Dasein braucht,<br />

um Boden, Luft und Wasser, Pflanzen- und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher<br />

Eingriffe zu schützen und<br />

um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen".<br />

Zur Fortsetzung dieser Umweltpolitik ist eine Reihe von Gesetzen verabschiedet worden, zum<br />

Beispiel das<br />

„Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigung, Geräusche,<br />

Erschütterungen und ähnliche Vorgänge",<br />

„Gesetz über die Beseitigung von Abfällen",<br />

„Gesetz zur Verminderung von Luftverunreinigungen durch Bleiverbindungen in Ottokraftstoffen<br />

für Kraftfahrzeugmotore",<br />

„Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm",<br />

„Gesetz über die Umweftverträglichkeit von Wasch- und Reinigungsmitteln".<br />

Zahlreiche Bestimmungen dieser Umweltgesetze richten sich in erster Linie an die Behörden von<br />

Bund, Ländern und Gemeinden; einige richten sich aber auch an jeden von uns. In beiden Fällen<br />

gilt die alte Regel: Mit dem Erlaß eines Gesetzes ist es noch keineswegs getan, es kommt darauf<br />

an, daß die Behörden die Gesetze richtig ausführen, und es kommt darauf an, daß die<br />

Bürger diese Gesetze als sinnvoll akzeptieren und daß sie sich aktiv an der Verwirklichung der<br />

erlassenen Gesetze beteiligen.<br />

These 5 des Umweltprogramms lautet:<br />

„Umweltschutz ist Sache jedes Bürgers. Die Bundesregierung sieht in der Förderung des Umweltbewußtseins<br />

einen wesentlichen Bestandteil ihrer Umweltpolitik."<br />

Der Deutsche Heimatbund unterstützt mit seinen regionalen und örtlichen Gliederungen alle Entwicklungen,<br />

die folgende Aufgabengebiete beeinflussen:<br />

Schutz und Pflege der Natur, auch zur Sicherung einer naturnahen Erholung,<br />

Vermeidung von unnötigem Lärm aus Straßenverkehr, Industrie und Flugverkehr,<br />

Bekämpfung von Luftverunreinigungen aus Industrie, Haushalt und Verkehr,<br />

Kampf um reine Flüsse, Seen, lebenswichtige Trinkwasser,<br />

Verminderung der Abfallmengen, ordnungsgemäße Abfallbeseitigung und größtmögliche Wiederverwertung<br />

von Abfällen,<br />

Vermeidung von Gefahren einer umweltpolitisch nicht sorgfältig vorbereiteten Kernenergienutzung.<br />

293


Er hat drei Projekte zu realisieren begonnen:<br />

1. Einen Modellversuch einer „Junge Aktion Umweltschutz",<br />

2. ein Umwelt-Seminar,<br />

3. einen Modellversuch, Arbeitsmaterialien über Umweltprobleme für den Gebrauch in der Schule<br />

herzustellen.<br />

Die Hauptarbeit liegt künftig, wie der Bundesminister des Innern im Februar 1976 schrieb, bei<br />

einer tatkräftigen Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen und vertraglichen Vereinbarungen<br />

im Alltag!<br />

(Aus einer Erklärung von Dr. Udo Klausa, Köln, dem Präsidenten des Deutschen Heimatbundes.)<br />

Berliner Kunstpreis 1977<br />

Wie alljährlich wurde der 1948 zum 100. Jahrestag der März-Revolution von 1848 vom Land Berlin<br />

gestiftete „Berliner Kunstpreis" verliehen. Er fiel in diesem Jahr den Sparten „Bildende Kunst" und<br />

„Baukunst" zu. Neben dem Berliner Bildhauer Joachim Schmettau wurde unser Mitglied, der Architekturhistoriker<br />

Julius Posener, ausgezeichnet. Er erhielt diesen Preis in Würdigung, daß er als kritischer<br />

Beobachter der Baugeschichte „immer ganz gegenwärtig geblieben ist". Seit 1971 liegt diese<br />

Preisverteilung in der Zuständigkeit der Berliner Akademie der Künste und erfolgt seither ohne Fest-<br />

Verleihung des Ullstein-Ringes 1977<br />

Für seine Verdienste um die Druckindustrie zeichnete der Bundesverband Druck e.V. am 3. März<br />

in einer Feierstunde unser Mitglied, den Verleger Axel Springer, in seinem Berliner Verlagshaus mit<br />

dem Ullstein-Ring 1977 aus.<br />

Dieser Ring ist die einzige Auszeichnung, die von der deutschen Druckindustrie vergeben wird.<br />

Mit ihr soll eine Persönlichkeit geehrt werden, die sich besondere Verdienste um diesen Wirtschaftszweig<br />

erworben hat. Unter den zahlreich erschienenen Ehrengästen aus Politik. Wirtschaft und Kultur<br />

befand sieh auch der in London lebende Verleger Frederick Ullstein, ein Enkel des Firmengründers<br />

des Ullstein-Verlages, Leopold Ullstein, und Mitglied des Kuratoriums der Rudolf-Uilstein-Stiftung.<br />

Seit Gründung dieser Stiftung vor 14 Jahren ist diese Auszeichnung bereits elf mal vergeben worden.<br />

Der Ullstein Verlag kann in diesem Jahr auf ein lüOjähriges Bestehen zurückblicken.<br />

Unser Mitglied Axel Springer ist am 22. Februar 1977 von der „Freedom Foundation" in Valley Forge.<br />

Pennsylvania, mit der American Friendship Medal ausgezeichnet worden. Bislang haben diese nur für<br />

Nichtamerikaner bestimmte Medaille erst drei Persönlichkeiten erhalten: Winston Churchill, der<br />

frühere philippinische Präsident Magsaysay und Alexander Solschenizyn. In der Laudatio wird auf das<br />

„fortwährende und klare Eintreten für die Freiheit aller Menschen" eingegangen und das an der<br />

„schändlichen Berliner Mauer" errichtete Verlagshaus als „ein Symbol für Demokratie und freies<br />

Unternehmertum" bezeichnet.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum<br />

70. Geburtstag Herrn Dr. Hans Leichter; zum 75. Geburtstag Herrn Kurt Röder. Frau Elisabeth<br />

Kordes. Herrn Helmuth Engelhardt. Frau Anne Marie Behrbohm; zum 85. Geburtstag Frau Margot<br />

Krohn und Frau Else Wetzel.<br />

294


Buchbesprechungen<br />

Lieselott Enders u. Margot Beck (Bearb.): Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Teil IV: Teltow.<br />

Weimar: Böhlau 1976. 396 S.. 1 Karte. Leinen. 36.40 M. (Veröff. d. Staatsarchivs Potsdam. Bd. 13.)<br />

Reinhard E. Fischer: Brandenburgisches Namenbuch. Teil 4: Die Ortsnamen des Havellandes. Weimar:<br />

Böhlau 1976. 415 S. 5 Abb.. 4 Karten. Leinen. 44 M. (Berliner Beiträge zur Namenforschung<br />

Bd. 4.)<br />

Innerhalb einer Kurzen Zeitspanne sind in der DDR jeweils ein Band des Brandenburgischen Namenbuches<br />

und des Historischen Ortslexikons der Marl Brandenburg erschienen. Beide Bände enthalten<br />

auch Angaben zu Ortsteilen Groß-Berlins so daß nun für den westlichen Teil der Stadt (ehem. Kr.<br />

Osthavelland) und den Süden (ehem. Kr. Teltow) sowohl ein Ortsnamenbuch wie auch ein Ortslexikon<br />

vorliegt. Anlage und Intention der beiden verschiedenen Publikationsreihen sind von W. Vogel für das<br />

Ortsnamenbuch anhand des Ortsnamenbuches Teltow in den „Mitteilungen" Jg. 69 (1973), Nr. 11.<br />

S. 333 und für das Ortslexikon Havelland durch den Rezensenten Jg. 71 (1975). Nr. 1. S. 11 f. behandelt<br />

worden.<br />

Wenn auch insgesamt die Konzeption des Ortslexii ons beibehalten wurde, so gab es doch in einigen<br />

Punkten Verbesserungen. Es werden Angaben zu Kommunalverhältnissen sowie zur Wirtschafts- und<br />

Bevölkerungsstruktur - für die außerhalb Berlin (West) liegenden Orte — bis an die Gegenwart herangeführt.<br />

Der ehemalige Kreis Teltow umfaßte nahezu den gesamten Raum des späteren Groß-Berlin<br />

östlich der Havel und südlich der Spree. Besonders positiv zu bewerten sind ferner die nun lückenlosen<br />

Angaben der Besitzverhältnisse der Ritter- und Amtsgüter vom späten Mittelalter bis in das<br />

19. Jh. Hier werden z.B. im Falle Rudow und Britz, die außerordentlich komplizierten Gutsteilungen<br />

und -Vereinigungen und in anderen Fällen. z.B. Lichterfelde die rasche Aufeinanderfolge der Gutsinhaber<br />

deutlich. Auf die Entwicklung zahlreicher Landgemeinden zu Vororten Berlins wird insofern<br />

eingegangen, als das für dörfliche Entwicklungen maßgebende Schema Angaben darüber erlaubt.<br />

Wichtige Daten innerhalb dieses Prozesses, etwa der Zeitpunkt des Bahnanschlusses oder zum Beginn<br />

der Parzellierung großer Flächen, werden in der Regel nicht gegeben. Auch innerhalb des vorgegebenen<br />

Schemas werden nicht alle möglichen Angaben gemacht. So fehlt sowohl bei Treptow als auch bei<br />

Neukölln der Hinweis auf einen 1938 erfolgten Gebietsaustausch, durch den der größte Teil von<br />

Späthsfelde an den Bezirk "Treptow fiel. Für andere in Berlin (West) liegende Orte fehlt die Kenntnis<br />

neuerer Literatur zur Ortsgeschichte; so ist den Herausgebern die Arbeit von Helmut Winz über<br />

Schöneberg unbekannt geblieben. Doch ist im Ganzen auch dieser Band ein gelungener Versuch der<br />

märkischen Landesgeschichte eine erweiterte Quellenbasis zu geben.<br />

Für das Ortsnamenbuch Havelland sind im Vergleich zu den ebenfalls vorzüglichen Vorgängerbänden<br />

noch Verbesserungen zu bemerken. Hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist die erweiterte<br />

Form, in der Klaus Grebe die vor- und frühgeschichtliche Besiedlung des Gebietes vorstellt und zu<br />

einer Kombination von Bodenfunden und Ortsnamen wichtige Erkenntnisse - etwa über den Siedlungsbeginn<br />

und die Siedlungsdauer einzelner Plätze - beisteuern kann. Ebenfalls ausgezeichnet sind<br />

die vom eigentlichen Ortsregister getrennten namenl undlichen Abhandlungen zu den für das Havelland<br />

typischen kleinen lerritorien. Besonderes Interesse dürften die Leser der „Mitteilungen" für die<br />

Ableitung des Ortsnamens Spandau von einem polabischen, mithin slawischen Grundwort "spad<br />

„Scheffel" haben.<br />

So sind durch diese beiden Bände weitere Materialien der landesgeschichtlichen Forschung zugänglich<br />

gemacht worden. Jedem, der sich mit diesem Gebiet ernsthaft beschäftigt, seien sie wärmstens<br />

empfohlen. Felix Escher<br />

Kurt Pierson: Lokomotiven aus Berlin. Stuttgart: Motorbuch Verlag 1977. 164 S. mit 129 Abb. und<br />

Planskizzen, geb.. 32 DM.<br />

Ein weiteres Werk aus der Feder des Berliner Eisenbahnexperten Kurt Pierson hat die Dampfbahnliteratur<br />

vermehrt. Zu einer Zeit, in der zumindest in Westeuropa die Dampflokära und damit ein<br />

Stück Technikgeschichte zu Ende geht, wird hier in konzentrierter Form und ohne bloßen „nostalgi-<br />

295


sehen" Anstrich die überragende Bedeutung Berlins auf diesem Industriesektor aufgezeigt. Die Berichterstattung<br />

beginnt diesmal mit der Geburt eines kurzlebigen „Dampfwagens" von abenteuerlichem<br />

Aussehen und ebensolchen Fahreigenschaften und -leistungen. den die Königliche Eisengießerei - in<br />

der Nähe der Sandkrugbrücke gelegen - im Jahre 1815 auf die Räder gebracht hatte. Pierson schildert<br />

mit der ihm eigenen Virtuosität, den technischen Erwartungen des Fachmanns ebenso Rechnung<br />

tragend wie dem Wissensdurst des lol.alhistorisch interessierten Lesers gerecht werdend, die Gründung<br />

und Weiterentwicklung sämtlicher Berliner Lokomotivfabriken und ihrer Erzeugnisse. Die Schilderung<br />

umfaßt diesmal nicht ausschließlich das Gebiet der Dampftraktion, vielmehr erweist sich der Autor<br />

auf dem Sektor der Diesel- und elektrischen Antriebsfahrzeuge als nicht minder bewandert.<br />

In Wort und Bild werden uns die Oldtimer der Dampfwagen ebenso vorgeführt wie die schnellste<br />

Dampflokomotive der Welt, jene von Borsig im Jahre 1935 erbaute (und heute in einem Exemplar<br />

noch vorhandene) Baureihe 05. die eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h entwickelte, ebenso wie<br />

die Schnellfahr-Elektrolok von Siemens & Halske. die im fernen Jahr 1903 die 20ü-km-Marke sogar<br />

noch überschritten hat. Die Abhandlung bietet dem Leser eine umfassende Information über die<br />

wesentlichsten Typen und Modelle von Lokomotiven, die in Berliner Fabriken während des gesamten<br />

Zeitraums ihres Bestehens gebaut wurden. Auch die Fabrikation von Zugmaschinen für Klein- und<br />

Schmalspurbahnen kommt nicht zu kurz. 117 durchweg erstklassige fotografische Reproduktionen,<br />

teilweise aus dem Piersonschen Bildarchiv, bieten dem Leser auch visuell eine willkommene Texterläuterung,<br />

die durch 12 Planskizzen ergänzt wird, auf denen die Lage der einzelnen Produktionsstätten<br />

deutlich erkennbar ist. Das fotografische Bildmaterial ist durch Grundrißskizzen, zeichnerische<br />

Darstellungen sowie einige Tabellen erweitert. Das Foto der Borsigschen Fabrik in der Chausseestraße<br />

auf Seite 33 kann indessen nicht - wie angegeben - aus dem Jahre 1868 stammen, da die deutlich<br />

erkennbare Pferdebahnanlage in der Elsasser Straße erst im Herbst 1873 in Betrieb genommen worden<br />

ist.<br />

Mühselig zu interpretieren ist lediglich das Literaturverzeichnis am Schluß des Bandes infolge der völlig<br />

außer Norm und unübersichtlich gebotenen Zusammenstellung der einzelnen Angaben. Für die im<br />

übrigen ansprechende Ausstattung des Buches, die hohe Papierqualität und die gefällige, gut lesbare<br />

grafische Gestaltung gebührt dem Stuttgarter Motorbuch-Verlag der besondere Dank einer erfreuten<br />

Leserschaft. Hans Schiller<br />

Klaus Lehnartz: Bilder aus der Mark Brandenburg. Mit einer Einführung von Hans Scholz. Berlin:<br />

Stapp Verlag 1975. 16 S. u. 184 Abb. auf Tafeln. Leinen, 28 DM.<br />

Die uns seit einigen Jahren wieder zugänglich gemachte Umgebung Berlins wird in diesem Bildband<br />

in ihrer Vielgestaltigkeit vorgestellt. Ca. 40 Orte und Landschaften in allen Teilen der Mark wurden<br />

von dem Fotografen Klaus Lehnartz und seinem Begleiter, dem Schriftsteller Hans Scholz, zumeist in<br />

Schwarzweiß-Aufnahmen festgehalten. Den großen Reiz des Abbildungsteils machen nicht nur die<br />

gekonnten Aufnahmen bekannter Kunstdenkmäler und Landschaften, sondern vor allem das Einfangen<br />

der Atmosphäre, der Menschen und ihrer Umwelt aus. So besitzt der Bildband als Zeitdokument<br />

einen bleibenden Wert.<br />

Nicht in gleicher Weise befriedigen kann die Einleitung von Hans Scholz, der hier offenbar einen<br />

kulturhistorischen Überblick über die Mark und ihre Bewohner geben wollte, jedoch seinen oft wiederholten<br />

und wissenschaftlich nicht mehr haltbaren Auffassungen zum Suebenproblem und der von W.<br />

Steller aufgestellten abseitigen ..Germanentheorie" breiten Raum gewährt. Auch die Erläuterungen<br />

zu den Bildern sind nicht frei von größeren Irrtümern; so war im Fall Brandenburg (S. 12) Parduin<br />

weder ein Fischerdorf noch das „deutsche" Dorf - der Name hat sich aus „Stutzdorf" entwickelt —<br />

Keimzelle der Neustadt, und die St.-Gotthard-Kirche hat Bauteile, die wesentlich vor 1350 entstanden.<br />

Kleinere Ungenauigkeiten finden sich auch bei den an Brandenburg anschließenden Artikeln. So ist<br />

Rathenow bereits 1216 - nicht 1217 - zum ersten Mal erwähnt worden, und das Bistum Havelberg<br />

ist erst 948 - nicht bereits 946 - gegründet worden; bei der sogenannten „Gründungsurkunde" handelt<br />

es sich um eine Fälschung, der in dieser Urkunde benutzte Terminus „civitas" kann nicht mit „Stadt"<br />

übersetzt werden, womit der Hinweis auf eine „Stadt" im 10. Jh. entfällt.<br />

Diese Einwände sind jedoch nebensächlich gegenüber dem gut gestalteten Bildteil, und so sei dieser<br />

Band allen an der Mark Interessierten empfohlen. Felix Escher<br />

296


Helmut Obst: Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen<br />

Orthodoxie. Witten: Luther-Verlag 1972. 151 S., geb.. 34 DM. (Arbeiten zur Geschichte des<br />

Pietismus. Bd. 11.)<br />

Zu den leider weniger beachteten Kapiteln der Berliner Kirchengeschichte gehört auch der obige<br />

Beichtstuhlstreit; zeigt er doch eine der markantesten Zäsuren des staatskirchlichen Denkens in der<br />

zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.<br />

Worum ging es in dieser Auseinandersetzung? Der von der lutherischen Orthodoxie geforderte Zwang<br />

zur Einzelbeichte hatte zu einer untragbaren Verflachung der entsprechenden Praxis geführt. Dem<br />

bloßen Lippenwerk vieler Beichtender entsprach oft ein gedankenloser und oberflächlicher Absolutionsvollzug.<br />

Hiergegen wandte sich mit zunehmender Vehemenz der Prediger Johann Caspar Schade<br />

(1666—1698). Sein Protest fand leidenschaftliche Fürsprecher, aber auch Feinde. Seine unversöhnlichsten<br />

Gegner waren die Stadtverordneten und die Vertreter der Handwerkerinnungen (Gewerke).<br />

die sich auf keinerlei Kompromißvorschläge einließen. So wurden die Gegensätze immer schärfer.<br />

Auch die 1697 berufene Untersuchungskommission vermochte den Streit nicht zu schlichten, da ihr<br />

sowohl Freunde wie Feinde Schades angehörten. Schließlich griff der Kurfürst (Friedrich 111.) ein. der<br />

den umstrittenen Prediger ein Jahr später in das kleine Städtchen Derenburg (bei Halberstadt) versetzte<br />

und auch die ihm so angelasteten Konventikel in seinem Haus verbot (was Schade infolge<br />

Erkrankung und Tod nicht mehr erfuhr). Dennoch ging der gewissenhafte Prediger aus dem mehrjährigen<br />

Kampf nicht als Verlierer hervor, da der Kurfürst ihm jedenfalls in der eigentlichen Streitfrage<br />

beipflichtete. Der Zwang zur Privatbeichte wurde vom Landesherrn aufgehoben. Soviel zum<br />

äußeren Verlauf des Beichtstuhlstreites, der natürlich viel komplexer war, als sich hier wiedergeben<br />

läßt.<br />

Es ist das Verdienst der Hallenser Habilitationsschrift, die hier früher klaffende Forschungslücke mit<br />

Hilfe eines fast durchweg exakten Textapparates besser geschlossen zu haben, als es in den entsprechenden<br />

Vorarbeiten (von Lommatzsch und Simon) geschieht. Mit dem Blick des erfahrenen Historikers<br />

entwirrt Obst die komplizierten Vorgänge dieses aufwühlenden Streites und ordnet sie auch in die<br />

größeren zeitgeschichtlichen und historischen Zusammenhänge ein (vgl. S. 5. 15, 32, 66. 98 — 99. 123 —<br />

135, 140-144, 147).<br />

Dagegen vermißt man in Obsts Buch eine jeweils kurze Orientierung über den theologischen Standort<br />

der neben Schade maßgebenden Persönlichkeiten des Berliner Beichtstuhlstreites. Dieser Standort<br />

wird kaum angesprochen. Das gilt besonders von Spener und Francke. Nun mag Obst ja die Hintergründe<br />

der dogmatischen Richtungskämpfe im 17. Jahrhundert als bekannt voraussetzen - schließlich<br />

legt er eine Habilitationsschrift vor. Aber da er sich mit der Publikation dieser Schrift nicht nur an<br />

den Fachbereich einer Universität wendet, hätte ihm die Rücksicht auf den größeren Leserkreis eine<br />

wenn auch nur knappe Genesis der verschiedenen Lehrmeinungen auf dem damals so bedeutenden<br />

Kampffeld der orthodoxen und kryptoliberalen Glaubensstreiter gebieten müssen. Allerdings vermag<br />

dieser Mangel Obsts geschichtstheologische Leistung an sich kaum zu mindern. Friedrich Weichen<br />

Anna Sticker: Agnes Karll. Die Reformerin der deutschen Krankenpflege. Ein Wegweiser für heute<br />

zu ihrem 50. Todestag am 12. Februar 1977. Wuppertal: Aussaat-Verlag 1977. 240 S.. brosch.<br />

14,80 DM.<br />

Die Diakonisse Anna Sticker. Ehrendoktor der Universität Bonn, legt anhand der Briefe der Agnes<br />

Karll eine instruktive Biographie der aus Mecklenburg stammenden Krankenpflegerin vor. 1891 war sie<br />

nach Berlin gekommen. Die Briefe an die Mutter geben ein sehr plastisches Bild vom Leben im<br />

Bayerischen Viertel um die Jahrhundertwende. Die Krankenschwester schildert, wie sich die Hauskrankenpflege<br />

im Berliner Bürgertum dieser Gegend in der damaligen Zeit abspielte. Agnes Karll<br />

strebte einen unabhängigen Frauenberuf für die Krankenpflegerinnen an und berichtet über ihre<br />

Anstrengungen, die in der Reichshauptstadt auf einen fruchtbaren Boden fielen. Mit der Biographie<br />

von Agnes Karll erwarb sich Anna Sticker weitere Verdienste um die Erforschung der Geschichte der<br />

Krankenpflege; darüber hinaus legt sie auch ein Kapitel der Berliner Kulturgeschichte zur Zeit der<br />

Jahrhundertwende vor. Manfred Stürzbecher<br />

297


Ilse Kleberger: Berlin unterm Hörrohr. Berlin: arani-Verlag 1976. 91 S. mit Zeichnungen von Hans<br />

Kossatz. Pappbd., 9,80 DM.<br />

Vom selben Referenten wurde in den „Mitteilungen" Jg. 1976. Heft 2 eine Anekdotensammlung<br />

besprochen, in deren Mittelpunkt mehr oder weniger prominente Berliner Ärzte gestanden haben. In<br />

diesem Büchlein ist es umgekehrt. Hier lauscht eine Berliner Kassenärztin, was ihre Patienten über sie<br />

und ihre therapeutischen Bemühungen denken und sagen, was sie von ihren Sorgen und Problemen<br />

erzählen und wie schlagfertig sie auf unbequeme Fragen und Verordnungen reagieren. Beruhigend zu<br />

lesen, daß es den Berliner Dialekt noch gibt, und daß auch der Berliner Witz, den wir wohl dem Schuß<br />

gallischen Blutes in unserer germanisch-slawischen Grundsubstanz verdanken, noch nicht erloschen ist.<br />

Daß Kossatz, der Urberliner aus Brandenburg, dazu die richtigen Bilder gestrichelt hat. versteht sich<br />

am Rande. Von einer Frau erlauscht und zusammengestellt, kommen wir Männer doch glimpflich darin<br />

weg. Einer vereinsamten Patientin wird ein Telefon verordnet: „Ja", sagt sie. ,.'n Telefon is wirklich was<br />

Gutes, besser als 'n Fernseher - aber'n Mann ersetzt es nich!" W. Hoff mann-Axthelm<br />

Annemarie Lange: Berlin zur Zeit Bebeis und Bismarcks. Zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende.<br />

Berlin: das europäische buch o. J. 928 S. mit Abb. u. III., Leinen, 29.50 DM.<br />

dies.: Das Wilhelminische Berlin. Zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution. Berlin: das<br />

europäische Buch o. J. 962 S. mit Abb. u. 111., Leinen. 29,50 DM.<br />

Mit den beiden 1972 bzw. 1967 im Dietz Verlag. Berlin (Ost), erschienenen Bänden setzt der Verlag<br />

„das europäische buch" die Reihe seiner unveränderten Nachdruck e von DDR-Literatur fort. In den<br />

Bänden wird ein Überblic! über die politische, \ ulturelle und öl onomische Entwici lung der Hauptstadt<br />

des Kaiserreiches gegeben. Wie auch in anderen Veröffentlichungen der Vfn. (vgl. die Besprechung<br />

des Broc' haus-Stadtführers „Berlin" in den „Mitteilungen" Jg. 70/1974, Nr. 14, S. 435 f.) wird<br />

auch hier ihr politischer Standpun' t I lar herausgekehrt. So steht die Entwich lung der Arbeiterbewegung<br />

im Vordergrund. Von der „bürgerlichen" und „höfischen" Stadt werden vor allem die Schattenseiten<br />

geschildert. Dies führt mitunter zu Schiefheiten in der Aussage und zu Unterlassungen. So wird<br />

z. B. trotz breiter Schilderungen des Berliner Wohnungselends mit all seinen - bei annten - Auswirungen<br />

von den bereits vor der Jahrhundertwende beginnenden Gegenbestrebungen nur die „Tusch-<br />

I astensiedlung" Fall enberg genannt (Das Wilhelminische Berlin, S. 467). Anderes wird als „fragwürdig"<br />

abgetan. Hervorzuheben ist die gute Ausstattung der Bände. Felix Escher<br />

Wolfgang Carle: Das hat Berlin schon mal gesehn. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes, nach<br />

einer Dokumentation von Heinrich Martens. (Ost-)Berlin: Henschelverlag 1975. 220 S. mit Abb.,<br />

lamin. Pappband, 9 Mark.<br />

Es begann 1865 — 67 mit dem Bau der ersten Berliner Markthalle zwischen Karlstraße und Schiffbauerdamm.<br />

Die kiez-konservativen Berliner hielten jedoch nichts von diesem Super-Markt, und<br />

das riesige Gebäude stand bald darauf leer oder wurde zweckentfremdet. 1873 öffnete es als „Markthallen-Zirkus"<br />

wieder seine Pforten, 1879 — 97 ist es das Domizil des erfolgreichen Zirkus Renz,<br />

anschließend beherbergt es als „Neues Olympia-Riesentheater" allerhand Tingeltangel, und ab 1899<br />

ist dort der Zirkus Schumann zu Hause, der sein Programm mit schwülstigen Ausstattungspantomimen<br />

und Radrennen durchsetzt. Im Jahre 1918 dann die radikale Wendung: Max Reinhardt errichtet sein<br />

„Großes Schauspielhaus", und durch den Umbau von Hans Poelzig entsteht die legendäre „Tropfsteinhöhle".<br />

1923 kurzzeitig Operettenbühne, auf der auch kommunistische Agitpropaufführungen<br />

zu sehen sind, wird das Haus schließlich zum Revuetheater unter Erik Charell. 1933 folgt der Exodus<br />

fast der gesamten Künstlerschaft, und die Nazis machen aus dem Großen Schauspielhaus das „Theater<br />

des Volkes", das sich mühsam über die Revue- und Operettenrunden quält, bis es im Bombenhagel des<br />

2. Weltkrieges ausbrennt. Im August 1945 beginnt es als „Palast-Variete" wieder ein bescheidenes<br />

Leben, zunächst noch in Privatregie, ab 1947 unter der Ägide des Magistrats und dem neuen Namen<br />

„Friedrichstadt-Palast".<br />

Dieses ist in großen Zügen die äußere Geschichte des Friedrichstadt-Palastes, einer Institution, deren<br />

Kontinuität in einer schnellebigen Weltstadt doch immerhin erstaunlich ist. Erzählt wird aber auch<br />

die „innere" Geschichte, die Schicksale der Unternehmen und ihrer Prinzipale: von Albert<br />

Salamonsky zu Ernst Renz. dessen unerbittlicher Kampf mit den Konkurrenten und schließlich 1879<br />

sein Einzug in den Markthallenbau, in dem sein Programm Weltgeltung erreicht, bis andere<br />

Etablissements - etwa der Wintergarten im Central-Hotel - ihm den Rang ablaufen. Nach ihm versucht<br />

es Albert Schumann mit dem seinerzeit künstlerisch bedeutendsten Zirkusunternehmen Europas;<br />

298


dann der geniale Zugriff Max Reinhardts, der bereits 1910 im Zirkus Schumann ein Gastspiel gab<br />

und der jetzt seine große, aber vor den ökonomischen Realitäten nicht bestehende Schauspielkunst<br />

einsetzt. Im Souterrain hatte sich das literarisch-politische Kabarett „Schall und Rauch" etabliert und<br />

gleichfalls eine Tradition begründet. Schließlich 1924 der kometenhafte Aufstieg Erik Charells und<br />

seiner Revuen und Operetten mit einmaligen Stars. Nach der „Gleichschaltung" geht den Nazis in<br />

ihrem Bemühen, die Erfolgswelle fortzusetzen, sehr rasch die Luft aus; nur noch wenige Glanzpunkte<br />

erscheinen, bis dieses „Volkstheater" in der Kriegszeit als bloße Filmkulisse endet. Nach dem erneuten<br />

Machtwechsel und dem Wiederaufbau des Hauses (bis 1951) zieht die heitere Muse wieder ein,<br />

diesmal im Verbund mit der „sozialistischen Kunst". Hauptträger des Programms wird die sog.<br />

Variete-Revue, die das scheinbar unpolitische, reine Ausstattungsstück früherer Epochen durch eine<br />

parteiische und „geschmacksbildende" Varietefolge ersetzt, die streng an einen Leitfaden gebunden<br />

ist. Das klassenkämpferische Element findet seinen Platz demnach auch in der Show unserer Tage,<br />

wenngleich die drei Grundpfeiler der klassischen Revue - Orchester, Ballett und Ausstattung - auch<br />

im heutigen Friedrichstadt-Palast durch nichts anderes zu ersetzen sind.<br />

Das Buch ist flott und konzentriert geschrieben, das Zeitkolorit ist jeweils mit sicherem Gespür<br />

eingefangen. Der letzte Teil gerät verständlicherweise in die Nähe einer Reklamefibel, mit hausgemachter<br />

Kritik durchsetzt, was jedoch der dargebotenen Informationsfülle keinen Abbruch tut.<br />

Peter Letkemann<br />

>!-<br />

Achtung! Wir bitten unsere Mitglieder, bei Wohnungswechsel die neue Anschrift umgehend der<br />

Geschäftsstelle mitzuteilen, damit der Versand der Publikationen ohne zeit- und kostenaufwendige<br />

Verzögerungen erfolgen kann.<br />

Iml. Vierteljahr 1977<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Fritz Albert. Architekt<br />

1000 Berlin 28, Am Rosenanger 14<br />

Tel. 4 01 44 83 (Weigmann)<br />

Irma Brandenburg. Hausfrau<br />

1000 Berlin 19. Westendallee 101<br />

Tel. 3 04 49 00 , (Prof. Lüders)<br />

Gertrud Dreusici e, Kauffrau<br />

1000 Berlin 33. Furtwänglerstraße 4<br />

Tel. 8 26 19 97 (Schriftführer)<br />

Rudolf Huth. Schulleiter<br />

1000 Berlin 61. Hasenheide 19<br />

Tel. 6 9184 63 (Brauer)<br />

Dieter Klatt. Postamtmann<br />

1000 Berlin 19. Am Rupenhorn 7D<br />

Tel. 3 05 35 15 (Brauer)<br />

Georg Langermeier. Kaufmann<br />

1000 Berlin 42. Rathausstraße 20<br />

Tel. 7 06 18 91 (Schiller)<br />

Prof. Dr. Fred Niedobitek. Arzt<br />

1000 Berlin 19. Waldschulallee 11<br />

Tel. 3 02 76 23 (Prof. Lüders)<br />

Margarethe Radler. Rentnerin<br />

lOOOBerlin 45. Waltroper Platz 10<br />

Tel. 7 12 31 12 (Brauer)<br />

Leonard Rautenberg. Pensionär<br />

1000 Berlin 37. Hochsitzweg 111<br />

Tel. 8 13 18 30 (Vorsitzender)<br />

Ernst Schmidt. Rentner<br />

1000 Berlin 28, Triniusstraße 5<br />

Tel. 4 04 28 45 (Horst Michael)<br />

Dr. Klaus-Joachim Schneider. Rechtsanwalt<br />

1000 Berlin 38. Elvirasteig 6c<br />

Tel. 8 01 85 79 (Frau Dr. Hoffmann-Axthelm)<br />

Elisabeth Schoenccl.cr. Rentnerin<br />

1000 Berlin 33. Dillenburger Straße 62<br />

Tel. 8 24 52 29 (Frau Wallstein)<br />

Ingeborg Schröter. Lehrerin<br />

1000 Berlin 45. Brauerstraße 31<br />

Tel. 7 72 34 35 (Frau Radler)<br />

Elisabeth Stegmann. Sekretärin<br />

1000 Berlin 31. Livländische Straße 2<br />

Tel. 8 53 81 03 (Konrad Bohnert)<br />

Bernd Stegmann. Kaufmann<br />

1000 Berlin 31. Livländische Straße 2<br />

Tel. 8 53 81 03 (Konrad Bohnert)<br />

Dr. Peter Weichardt. Geschäftsführer<br />

1000 Berlin 37. Lco-Baeck-Straße 8<br />

Tel. 8 15 15 69 (Brauer)<br />

Rudolf Weigmann. Bauingenieur<br />

1000 Berlin 52. Pannwitzstraße 45<br />

Tel. 4 14 26 03 (Brauer)<br />

Hans Wolff-Grohmann. Architekt BDA<br />

1000 Berlin 33. Max-Eyth-Straße 3<br />

Tel. 8 23 44 89 (Prof. Lüders)<br />

Dieter Zilkenat. Regierungsamtmann<br />

1000 Berlin 62. Beiziger Straße 48<br />

Tel. 7 81 51 54 (Reiner Zilkenat)<br />

299


Veranstaltungen im II. Quartal 1977<br />

1. Freitag, 15. April 1977, 12.30 Uhr: Besichtigung des Informations- und Bildungszentrums<br />

mit Mediothek und des Schaltwerkhochhauses der Siemens AG. Anschließend<br />

Kaffeetafel. Treffpun, 1 1: Bildungszentrum der Siemens AG, Berlin 13, Rohrdamm 85/86.<br />

Fahrverbindungen: Autobus 10. 55, 72, 99.<br />

2. Sonnabend, 30. April 1977, 10 Uhr: Führung zu Pflanzen des heimischen Waldes im<br />

Botanischen Garten. Leitung: Prof. Voll mar Dencimann. Treffpunkt: Eingang des<br />

Botanischen Gartens, Berlin 45, Unter den Eichen/Begonienplatz (Autobus 48).<br />

3. Dienstag, 10. Mai 1977, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dipl.-lng, Hans<br />

Hoppe: „75 Jahre Berliner U-Bahn". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

4. Freitag, 13. Mai 1977, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Pommernsaal<br />

des Rathauses Charlottenburg.<br />

Tagesordnung:<br />

1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und Bibliotheksberichtes<br />

2. Berichte der Kassen- und der Bibliotheksprüfer<br />

3. Aussprache<br />

4. Entlastung des Vorstandes<br />

5. Wahl des Vorstandes<br />

6. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern<br />

7. Verschiedenes<br />

Anträge aus den Kreisen der Mitglieder sind bis spätestens 3. Mai 1977 der Geschäftsstelle<br />

einzureichen.<br />

5. Dienstag, 17. Mai 1977, 19.30 Uhr: Vonrag von Herrn Dr. Friedrich Weichen: „Wittenberg,<br />

die Stadt der Reformation und Luthers Beziehungen zur Mark Brandenburg".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

6. Sonnabend, 4. Juni 1977, Exkursion in die Lutherstadt Wittenberg und zum ersten deutschen<br />

Landschaftspan Wörlitz. Die Teilnahme an der Veranstaltung am 17. Mai ist für<br />

alle Interessenten verbindlich.<br />

7. Mittwoch. 8. Juni 1977, 17.00 Uhr: „Denkmalpflege am Beispiel des Bezirks Kreuzberg".<br />

Führung durch Landeskonservator Prof. Dr. Helmut Engel. Treffpunl t: Berlin 36,<br />

Mariannenplatz, Portal der Thomaskirche.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothel ist<br />

zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag. 29. April, 27. Mai und 24. Juni 1977, zwangloses Treffen in der Vereinsbibiiothel<br />

ab 17 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 3011. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Ukr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann. 1000 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

300


flc^tbÜa^wi A 20 377 F<br />

MITTEtttfW<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

73. Jahrgang Heft 3 Juli 1977<br />

Landesarchiv Berlin<br />

Gebäudefront (Flachbau) an der Kleiststraße, Berlin-Schöneberg. Foto: Ellen Brast<br />

301


Das Landesarchiv Berlin<br />

Von Dr. Jürgen Wetzel<br />

In einer Zeit, in der alte Fassaden, das Mobiliar und Handwerkszeug unserer Vorväter<br />

wieder zu Ehren kommen, in der das Verhältnis zur Tradition und Geschichte sich zu wandeln<br />

beginnt, kommt auch der schriftlichen Überlieferung, den Zeugnissen über Leben und<br />

Wirken vergangener Generationen eine wichtige Bedeutung zu. Seit anderthalb Jahrhunderten<br />

ist es die Aufgabe der Archive, diese Zeugnisse der Vergangenheit zusammenzutragen,<br />

um sie der Forschung und den interessierten Laien zu erhalten. Man braucht nicht so<br />

weit zu gehen wie der Journalist Paul Sethe, der die Geschichtswissenschaft als „Wächter<br />

des Gewissens" bezeichnete, doch wird man ihm in der Feststellung folgen, daß sich die<br />

Gegenwart nur aus der Vergangenheit begreifen und würdigen läßt. In diesem Sinne verstehen<br />

sich die Archive als Stätten der Wissenschaft und Forschung, die mit der Bereitstellung<br />

ihrer Quellen zur Erhellung der Vergangenheit und zum Verständnis der Gegenwart<br />

beitragen.<br />

Zentrales Archiv unserer Stadt ist das Landesarchiv Berlin. Es erfaßt alle Materialien von<br />

Bedeutung für die Geschichte der Hauptstadt, bereitet das Material auf und wertet es<br />

wissenschaftlich aus. Die Übernahme von Behördenschriftgut regelt die „Gemeinsame<br />

Geschäftsordnung für die Berliner Verwaltung" (GGO), die in § 82 festlegt, daß alle Akten<br />

mit geschichtlichem, kulturellem oder rechtlichem Wert dauernd aufzubewahren und dem<br />

Landesarchiv zu übergeben sind. Bei der Fülle des anfallenden Schriftgutes wird strengste<br />

Auslese getroffen, bei Massenakten werden nur repräsentative Beispiele ausgewählt. In<br />

jedem Fall wird sichergestellt, daß sich künftige Generationen anhand des überlieferten<br />

Schriftgutes ein Bild unserer Zeit machen können.<br />

Die Abteilung Zeitgeschichte des Landesarchivs führt die Stadtchronik und gibt im Auftra- '<br />

ge des Senats die „Schriftenreihe zur Berliner Zeitgeschichte" heraus. Bisher sind acht<br />

Bände erschienen, darunter „Quellen und Dokumente 1945 — 1951" (Bd. 4) und „25 Jahre<br />

Theater in Berlin" (Bd. 7). Die Chronik erfaßt das erregende Geschehen der jüngsten<br />

Berliner Geschichte von den letzten Aufrufen Goebbels' zum „Widerstand um jeden Preis"<br />

gegen die vorrückende Rote Armee bis zum Chruschtschow-Ultimatum imDezemberl958.<br />

Mit seinen Aufgaben setzt das Landesarchiv die Tradition des alten Stadtarchivs fort, dessen<br />

Ursprünge als Urkunden-Depot des Berliner und Köllner Rates bis ins 14. Jahrhundert<br />

zurückreichen. Wenn es trotz vieler Anstrengungen undtrfolge dennoch Lücken in der<br />

schriftlichen Überlieferung der Stadt gibt, liegt es an der Wechsel- und leidvollen Geschichte<br />

des Berliner Archivwesens. Wie ein roter Faden ziehen sich Katastrophen und Vernachlässigung<br />

durch die Jahrhunderte, von den Rathausbränden im Mittelalter über die Archivaliendiebstähle<br />

im 18., der Raumnot im 19. und 20. Jahrhundert bis zu den Auslagerungen<br />

und Verlusten im 2. Weltkrieg. Das Stadtarchiv hat im Bewußtsein der Öffentlichkeit auch<br />

stets im Schatten des Preußischen Geheimen Staatsarchivs gestanden. Sein desolater<br />

Zustand spiegelt ein wenig die Rolle der Berliner Kommune wider, die weit hinter den<br />

Behörden des Reiches, Brandenburg-Preußens und des Hofes der Hohenzollern rangierte.<br />

Die Urkunden und Amtsbücher der Stadt lagerten bis Anfang des vorigen Jahrhunderts in<br />

einem „roten eisernen Kasten" und zwei „Spinden" auf dem Registraturboden des alten<br />

Berliner Rathauses in der König- Ecke Spandauer Straße. Nach Jahrzehnten der Vernach-<br />

302


Pergamenturkunde vom 31. Juli 1620: Kurfürst Georg Wilhelm (1620—1640) verleiht bei seinem<br />

Regierungsantritt den beiden Städten Berlin und Kölln das untere Stadtgericht „mit aller seiner<br />

Zubehörung und gerechtigkeit nichts außgenommen, was Von alters dazu gehöret hatt und noch<br />

gehöret, und wie Sie solches Von Jürgen und Hansen Tempelhoeffen erkaufft, zu rechtem Manlehen".<br />

Die Urkunde beleuchtet die speziellen Justizverhältnisse Berlins seit dem Mittelalter: Im<br />

14. Jahrhundert war die gesamte Rechtsprechung auf den Stadtschulzen (= Richter) übergegangen,<br />

der sie dann mitsamt den Einkünften im Jahre 1391 dem Berliner Rat veräußerte.<br />

Kurfürst Friedrich II. zog jedoch diese Hoheitsrechte 1448 wieder an sich; das<br />

obere Stadtgericht behielt er für sich, das untere gab er zu Lehen aus. 1536 kam es in den<br />

Besitz der Bürgermeisterfamilie Tempelhof, die es 1544 für 2250 Gulden den Städten<br />

wieder abtrat. Diese erneute Transaktion wurde vom Kurfürsten mit der Maßgabe bestätigt,<br />

daß bei jedem Regierungswechsel die Konfirmation der Belehnung vom Rat nachgesucht<br />

werden mußte.<br />

303


lässigung beschloß 1816 der Magistrat, alle noch vorhandenen Urkunden sammeln und<br />

einige Jahre später von Rendant Zander nebenberuflich ordnen zu lassen. Erst 1826 legte<br />

der erste namentlich benannte Berliner Archivar ein Repertorium (Findbuch) vor, in dem<br />

die Urkunden chronologisch aufgeführt waren. In dieser Zeit gelangte nach einer im 18.<br />

Jahrhundert begonnenen Odyssee durch verschiedene deutsche Städte die wichtigste<br />

Geschichtsquelle, das Berliner Stadtbuch, wieder ins Archiv. Zanders Nachfolger Ernst<br />

Fidicin, der sich Verdienste um die Edition Berliner Urkunden erworben hat, verpaßte<br />

1870 die Gelegenheit, dem Archiv im neuerbauten „Roten Rathaus" eine angemessene<br />

Unterkunft zu sichern. Es mußte sich wieder mit einem schmalen gewölbten Raum begnügen.<br />

Ab 1878 wurde das Institut erstmals von einem Fachmann, dem Posener Staatsarchivar<br />

Paul Clauswitz geleitet. Er beklagte in mehreren Verwaltungsberichten, wie zuvor schon<br />

Zander, den schlechten Zustand und die Raumnot des Archivs. Bis zu seinem Ausscheiden<br />

konnten deshalb so gut wie keine Alt-Registraturen übernommen werden. Die wenigen<br />

vorhandenen Bestände ordnete er unverständlicherweise nach sachlichen Gesichtspunkten<br />

und nicht nach dem längst gültigen Herkunftsprinzip. Erst Ernst Kaeber, ab 1913 Leiter des<br />

Berliner Stadtarchivs, entwickelte den Ehrgeiz, das Archiv zu einem „der Reichshauptstadt<br />

wenigstens einigermaßen würdigen Institut" auszubauen. In schwieriger Zeit gelang es ihm,<br />

neue Räume anzumieten und mehrere Mitarbeiter hinzuzugewinnen. Wichtige Bestände<br />

verschiedener Deputationen, der Grundeigentums-, der Tiefbau- und Gewerbedeputation,<br />

der Armendirektion, der Kirchen- und Schulverwaltung sowie ältere Registraturen der<br />

Stadtverordnetenversammlung konnten nun übernommen werden. Diese Phase des Ausbaus<br />

und der Konsolidierung endete im Dritten Reich mit dem erzwungenen Rücktritt<br />

Kaebers und den Auslagerungen der Bestände im 2. Weltkrieg nach Böhmen und in den<br />

Warthegau. Nach Ende des Krieges organisierte Ernst Kaeber den Wiederaufbau. Das<br />

Stadtarchiv fand nach einigen Provisorien zunächst im Ermeler-Haus, dann im gegenüberliegenden<br />

Marstall am heutigen Marx-Engels-Platz eine neue Unterkunft. Mitte der<br />

fünfziger Jahre kehrte das ausgelagerte Aktengut nach Ost-Berlin zurück.<br />

Inzwischen war während der Blockade die administrative Spaltung Berlins erzwungen worden.<br />

Am 1. Dezember 1948 nahm der Magistrat seine Amtsgeschäfte für die Westhälfte im<br />

Schöneberger Rathaus auf. Zum selben Zeitpunkt begann auch das Stadtarchiv der neuen<br />

Verwaltung zu arbeiten. Ernst Kaeber, der mit zwei Mitarbeitern den Ostsektor verlassen<br />

hatte, fing in einem Kurfürstendamm-Hotel zum zweitenmal am Nullpunkt an. Alle im<br />

Krieg geretteten Archivalien verblieben jenseits des Brandenburger Tores. Die Anfänge<br />

waren kläglich. Zunächst werteten die Archivare nur Ost- und West-Zeitungen aus. Erst<br />

allmählich konnte durch Aktenübernahmen und Ankauf von Sammlungsstücken der<br />

Grundstein des neuen Archivs gelegt werden. Nach Zwischenstationen im Hotel Tusculum,<br />

im Deutschland-Haus und im Dahlemer Staatsarchiv fand das Landesarchiv Berlin - so die<br />

amtliche Bezeichnung seit 1951 - für zwei Jahrzehnte eine Unterkunft im Ernst-Reuter-<br />

Haus. Aber auch dort waren Lagerungs- und Arbeitsmöglichkeiten begrenzt. 1976 konnte<br />

das Landesarchiv endlich einen seiner Bedeutung entsprechenden Neubau, der nach archivischen<br />

Gesichtspunkten um- und ausgebaut wurde, in der Kalckreuth- Ecke Kleiststraße<br />

beziehen. In klimatisierten und durch C02-Feuerlöschanlagen gesicherten Magazinen können<br />

jetzt die Archivalien fachgerecht gelagert werden. Ein großer Benutzersaal, ein Lesegerät-<br />

und ein Schreibmaschinenraum gewährleisten eine optimale Besucherbetreuung.<br />

Dem breiten Publikum kann das Landesarchiv in einem speziellen Saal seine Bestände in<br />

wechselnden Ausstellungen präsentieren. Dieser Saal sowie ein größerer Vortragsraum<br />

304


dienen der verstärkten Öffentlichkeitsarbeit. Das Archiv ist jetzt auch in der Lage,<br />

beschädigte Archivalien und Bücher in einer eigenen, mit neuesten Maschinen ausgerüsteten<br />

Werkstatt zu restaurieren und braucht sie nicht mehr gegen hohe Kosten an Privatfirmen<br />

zu vergeben. Die gesetzlich vorgeschriebene Sicherungsverfilmung der wertvollsten<br />

Bestände wird in modernen Fotolabors vorgenommen.<br />

Wer heute im Landesarchiv eine Spitzweg-Idylle erwartet, wird enttäuscht sein. Das Archiv<br />

305


ist ein lebendiger Organismus, in dem alle technischen und organisatorischen Möglichkeiten<br />

zum Wohl der Berliner Geschichtsforschung ausgenutzt werden.<br />

Alle jetzt im Landesarchiv deponierten Bestände aus den Jahren vor 1945 lagerten bei<br />

Kriegsende schon auf West-Berliner Boden, in den Rathäusern der Bezirke, in den Amtsgerichten<br />

und den Dienstgebäuden von Zentralbehörden. Unter ihnen befanden sich die<br />

Akten der Preußischen Bau- und Finanzdirektion, die ihren Sitz in der Invalidenstraße<br />

hatte. Neben dem Polizeipräsidium gehörte sie zur wichtigsten staatlichen Behörde Berlins.<br />

Sie war für die Errichtung und Unterhaltung der Staatsbauten, für die Kataster-, Tiergarten-<br />

und Domänenverwaltung sowie für die Zivilgehalts- und Hinterbliebenenangelegenheiten<br />

zuständig. In der Plankammer der Preußischen Bau- und Finanzdirektion befinden<br />

sich seltene Pläne, Karten und Stiche aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die häufig bei dem<br />

Wiederaufbau oder der Restaurierung beschädigter Bauten herangezogen werden.<br />

Vom ehemaligen Polizeipräsidenten befinden sich neben einigen Aktenbeständen circa<br />

10 000 Theaterzensurexemplare im Landesarchiv. Diese Bühnentextbücher enthalten<br />

Streichungen, Genehmigungs- bzw. Verbotsvermerke der staatlichen Zensoren und bilden<br />

mit drei neu erworbenen Privatsammlungen, dem Nachlaß Günter Neumann, der Matthesund<br />

der Körner-Sammlung eine wichtige Quelle für die theaterwissenschaftliche Forschung.<br />

Der Zeithistoriker findet interessantes Material im Bestand „Stadtpräsident der Reichshauptstadt<br />

Berlin" mit verschiedenartigen Akten aus dem Dritten Reich, u.a. Enteignung<br />

jüdischen Grundbesitzes, Straßenbaupolizei, Kriegssachschäden, Luftschutz- und Wohnungswesen.<br />

Von den Amtsgerichten, vor allem vom Amtsgericht Schöneberg, sind Notariats-Registraturen<br />

mit Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit übernommen worden. Sie enthalten eine<br />

Fülle von Handels- und Industrieverträgen der letzten 100 Jahre. Das Amtsgericht Charlottenburg<br />

übergab zahlreiche Vereinsakten, das Amtsgericht Spandau Testamentsakten,<br />

die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Der wertvollste Bestand aus dem Justizbereich<br />

ist der des preußischen Generalstaatsanwalts mit Material über die Parteien, vor allem über<br />

die NSDAP und deren Gliederungen, über die NS-Größen und die SA, über Kommunisten,<br />

über Beleidigungen gegen Repräsentanten der Republik, über Korruptionen und Skandale,<br />

über Juden, Grenzkämpfe, Unruhen und Streiks, über Wirtschaftsverbrechen und Sensationsprozesse.<br />

Dieser Bestand vermittelt ein eindrucksvolles Bild von den politischen,<br />

sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Weimarer Zeit.<br />

Über die Verwaltung der ehemals selbständigen Kommunen Spandau, Steglitz und Wilmersdorf<br />

geben Bestände aus dem vorigen Jahrhundert Auskunft. Von den übrigen Berliner<br />

Bezirken, vor allem von Kreuzberg, Tiergarten und Charlottenburg befinden sich<br />

wertvolle Akten der Bauaufsichtsämter im Archiv. Sie vermitteln dem Historiker, aber<br />

auch dem Denkmalpfleger, dem Architekten und Soziologen interessante Aufschlüsse über<br />

die Besitzverhältnisse und den baulichen Zustand von Berliner Häusern. Ähnliche Aufschlüsse<br />

sind von den Grundbüchern des Amtsgerichts Mitte und den Katasterbänden der<br />

Feuersozietät zu gewinnen, die teilweise bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreichen.<br />

Inzwischen sind auch zahlreiche Registraturen der Nachkriegszeit von den Senats- und<br />

Bezirksverwaltungen ins Archiv gelangt, darunter größere Bestände der Senatskanzlei, der<br />

Senatsverwaltungen für Inneres und Wirtschaft sowie des Polizeipräsidenten. Diese Bestände<br />

werden den Besuchern nur in Ausnahmefällen mit Zustimmung der abgebenden Behörde<br />

vorgelegt. Im allgemeinen wird vor der Freigabe der Akten eine 30-Jahres-Frist einge-<br />

306


halten. Alle Akten werden nach dem Provenienz- oder Herkunftsprinzip gelagert, einem<br />

Ordnungssystem, das Bände und Bestände gleicher Behördenherkunft beisammen läßt und<br />

sie nicht nach Pertinenz- oder Sachzugehörigkeit aufsplittert. Dieses System hat sich seit<br />

rund 100 Jahren in den deutschen Archiven bewährt; es ermöglicht einen schnellen Zugriff<br />

und gewährt den besten Überblick.<br />

Wie jedes Staatsarchiv legt auch das Berliner Institut Wert darauf, die Entwicklung seines<br />

Gebietes an Hand von Karten und Plänen zu dokumentieren. Seine Plankammer enthält<br />

umfangreiche Kartensammlungen, angefangen beim ältesten bekannten Berliner Stadtplan<br />

des kurfürstlichen Baumeisters Memhardt aus dem Jahre 1648 bis zu den jüngsten Landaufnahmen<br />

des Senators für Bau- und Wohnungswesen. Die Karten und Pläne bilden zu<br />

den im Archiv lagernden Akten die erforderliche Ergänzung.<br />

Angesichts der Lücken in der schriftlichen Überlieferung ist das Landesarchiv um die<br />

Beschaffung von Sekundärquellen, vor allem von Zeitungen und Büchern, bemüht. In den<br />

letzten Jahren konnte es seine Zeitungssammlung zur größten auf Berliner Boden ausbauen.<br />

Neben Originalbänden sind viele Zeitungen auf Mikrofilmen vorhanden. Die<br />

Bestände setzen mit den beiden ältesten Berliner Zeitungen, der Vossischen und der<br />

Haude-Spenerschen, um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein und reichen bis in die Gegenwart.<br />

Von den rund 120 Titeln sollen hier nur die wichtigsten genannt werden:<br />

Vossische Zeitung 1725 -1934<br />

Haude-Spenersche Zeitung 1763 — 1849<br />

Nationalzeitung 1848 -1910<br />

Kreuzzeitung 1848-1939<br />

Berliner Volkszeitung 1853 -1944<br />

Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1866 — 1918<br />

Germania 1871-1938<br />

Die Jüdische Presse 1872 -1923<br />

Vorwärts 1891-1933<br />

Tägliche Rundschau 1894 -1896<br />

1914-1933<br />

Berliner Illustrierte Zeitung 1895 -1945<br />

Berliner Börsen-Courier 1895 —1933<br />

Berliner Tageblatt 1895 -1939<br />

Simplicissimus 1897 — 1944<br />

Berliner Lokal-Anzeiger 1906-1944<br />

Die Rote Fahne 1918-1933<br />

Jüdische Liberale Zeitung 1920-1945<br />

Völkischer Beobachter 1927 - 1945<br />

Die angegebenen Jahre bei einigen Titeln sind nur Grenzjahre, innerhalb deren erhebliche<br />

Lücken bestehen können.<br />

Die Bibliothek des Landesarchivs enthält ausschließlich Berolinensien und bietet mit ihren<br />

32 000 Bänden gute Auskunftsmöglichkeiten. Vorhanden sind auch die Stenographischen<br />

Berichte der Stadtverordnetenversammlung von 1878 bis 1935 und die Berichte der Stadtverwaltung<br />

seit 1829.<br />

Den Besuchern sind ferner Sammlungen brandenburg-preußischer Edikte, Gesetze und<br />

Verordnungen, die Preußischen Staatshandbücher (1795 bis 1939), Adreßkalender für die<br />

Residenzstädte Berlin/Potsdam/Charlottenburg (1720 bis 1918), die Stadtadreßbücher<br />

des 19. und 20. Jahrhunderts sowie eine umfangreiche Sammlung der neuesten Amtsdrucksachen<br />

des Landes Berlin zugänglich.<br />

Insgesamt lagern im Archiv auf einer Magazinfläche von 2900 m 2 rund 50 000 Aktenpakete,<br />

32 000 Bücher, 4000 Karten und Pläne, 3500 Filmrollen und 3000 Zeitungsbände.<br />

Das Landesarchiv Berlin ergänzt laufend seine Bestände durch Ankäufe auf Auktionen<br />

und von Privathand. Auf diese Weise erfährt vor allem die Autographen-Sammlung so<br />

manchen wertvollen Zugang. Das Archiv besitzt bereits viele Handschriften Berliner Persönlichkeiten,<br />

u.a. von Humboldt, Fontane, Liebermann, Menzel und Zille. Reizvolle<br />

Berlin-Ansichten auf Postkarten, Kupfer- und Stahlstichen aus dem 17. bis 20. Jahrhundert<br />

befinden sich in der Bildersammlung.<br />

307


1962 wurde dem Landesarchiv das Ernst-Reuter-Archiv eingegliedert. Es enthält eine<br />

Dokumentation über das Leben des früheren Regierenden Bürgermeisters (1889—1953)<br />

und diente als Fundament für die Reuter-Biographie von Brandt/Löwenthal. Das Archiv<br />

bemüht sich auch um die Übernahme von Nachlässen prominenter Berliner. Es besitzt<br />

bereits eine Vielzahl von Nachlässen, darunter die der Politiker Hans E. Hirschfeld, Otto<br />

Suhr (über die in früheren „Mitteilungen" berichtet wurde) und Siegmund Weltlinger, aus<br />

dem kulturellen Bereich die der Verlegerfamilie Nicolai-Parthey und des Schriftstellers<br />

Adolf Glassbrenner.<br />

In den letzten Jahrzehnten sind in allen Archiven - so auch im Landesarchiv — Zeitgeschichtliche<br />

Sammlungen eingerichtet worden. Sie versuchen das nichtstaatliche Schriftgut,<br />

das Schriftgut von Parteien und Verbänden zu erfassen, um die Überlieferung auch dieser<br />

Gesellschaftsgruppen, die ja wesentlich das öffentliche Leben mitbestimmen, zu sichern<br />

und der Nachwelt zu übermitteln. Gesammelt werden Handzettel, Aufrufe, Plakate, Broschüren,<br />

Druckschriften, Propagandamaterial und vor allem Flugblätter der Studentenbewegung.<br />

In den fast drei Jahrzehnten seines Bestehens hat sich das Landesarchiv zur umfassenden<br />

Dokumentationsstätte für die Berliner Geschichte entwickelt. Steigende Besucherzahlen,<br />

zahlreiche Anfragen aus der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland zeugen von<br />

dem lebhaften Interesse an der historischen Entwicklung unserer Stadt.<br />

Die Leitung der Preußischen Archivverwaltung<br />

Von Georg Winter (f)<br />

Herausgegeben und ergänzt von Eckart Henning<br />

Anschrift des Verfassers: Grüner Weg 77,1000 Berlin 47<br />

Die hier vorliegende kleine Arbeit von Georg Winter war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung<br />

bestimmt, sondern ist, wie man dem erhalten gebliebenen Begleitschreiben<br />

vom 23. Februar 1939 entnehmen kann, „auf Anweisung des Generaldirektors Dr. Zipfel"<br />

für Ministerialdirektor Dr. Gramsch im Preußischen Staatsministerium angefertigt worden,<br />

der es freilich noch am gleichen Tage nach mehr oder weniger eingehender Lektüre für<br />

„erledigt" erklärte und „zu den Akten" schrieb. Da Winters Aufsatz, der vom Geheimen<br />

Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem noch heute im Aktenbestand des<br />

Preußischen Staatsministeriums verwahrt wird 1 , mehr als eine bloße „Liste der früheren<br />

Direktoren und Generaldirektoren der Archivverwaltung" darstellt — wie es untertreibend<br />

im Begleitschreiben heißt —, sondern in der Tat, wie die Manuskriptüberschrift verspricht,<br />

einen ausgezeichneten behördengeschichtlichen Überblick über die „Leitung der preußischen<br />

Archivverwaltung" bietet, soll er den Teilnehmern des 51. Deutschen Archivtages<br />

1977 in Berlin zur Begrüßung vorgelegt werden. Da noch immer manche von ihnen ihre<br />

berufliche Laufbahn als preußische Beamte begonnen haben, oder doch, soweit sie einer<br />

jüngeren Generation von Archivaren angehören, wie z.B. der Herausgeber, heute vielfach<br />

308


mmmmmmmmmm


U /• Nr. 9682 DER TAGESSPIEGEL i BERLINER TEIL SONNTAG, 31. JULI 1977,<br />

mm<br />

men und in. den Warthegau geendet. Nach En-<br />

Stets im Schatten des Preußischen Staatsarchivs ide des Krieges habe Kaeber den Wiederaufbau<br />

organisiert. Das Stadtarchiv'fand nadi ei­<br />

Erst nach 1910 begann eine systematische Arbeit im Landesarchiv Berlin — Ausstellung in den neuen Räumen nigen Provisorien zunächst im Ermeier-Haus,<br />

Wann im gegenüberliegenden Marställ am heu­<br />

Vom 19. bis zum 22. September findet in leute, um Pläne einzusehen. Im Besitz des gegen Jdie vorrückende Rote Armee bis zum<br />

West-Berlin der 51. Deutsche Ardiivtag statt Landesarchivs sind auch die Restaurierungstigen<br />

Marx-Engels-Platz eine neue Unterkunft;,<br />

Chruschtschow-Ultimatum in» Dezember 1958",<br />

400 Facbarchtvare werden erwartet. Veranstalpläne für das Brandenburger Tor,<br />

schreibt der Autor. / * '-<br />

Mitte der 50er Jahre kehrte das ausgelagerte<br />

tet wird die Tagung vom Geheimen Staatsarchiv<br />

Preußischer Kulturbesitz (Archivstraße in Fontane-Briefe in einer Vitrine<br />

Mit seinen Aufgaben setzt das Landesardiiv<br />

iAktengut nach Ost-Berlin zurück. .<br />

Dahlem) und dem Landesardiiv Berlin In der<br />

die Tradition des alten Stadtarchivs fort, des­ Zunächst nur Zeitungen ausgewertet<br />

Bis-zum Oktober findet im Parterre des Hau-<br />

Kaldsreutbstrane 1-3 in Schöneberg. Gesen<br />

Ursprünge als Urkuiiden-Depot-vdas Beridunückt<br />

ist die Einladung mit dem Brandenses<br />

ah der KalckreuthsH4ße^e^ * " .<br />

. Inzwischen war es zur Spaltung Berlins gekommen.<br />

Ende 1948 begann auch das Stadtarburger<br />

Tor, einer Lithographie von A. Carse, lung—j ein Querschnitt durcTrdte Berliner Ge­<br />

die im neuen Haus des Landesarchivs zu den<br />

schichte; —- statt. Zu sehen sind unter anderem hundert zurückreichen. Dennoch seien.Lücken chiv der neuen westlichen Verwaltung zu ar­<br />

geständen sfehßrt.<br />

die erste Ausgabe,der Vossischen Zeitung im vorhandßnr schreibt Wetzel, das liege an der beiten. Wie Jürgen Wetzel in diesem Zusam­<br />

Format eines normalen Buches, Unterlagen Wechsel- und leidvollen'Geschichte des Berlimenhang berichtet, sei Ernst Kaeber „mit ei-<br />

'• Wie berichtet, haben sich die Mitarbeiter und Fotos des Schuhmachers Wilhelm Voigt, ner Archivwesens. Wie ein icter Faden zögen Jier Handvoll Archivaren" nach West-Berlin<br />

des Landesarchivs in dem ursprünglich als Ber­ der dann dar „Hauptmann von Köpenick" wur­ sich mißliche Umstände wie Rathausbrände im<br />

igekommen. Im Kurfürstendamm-Hötel fing er<br />

lin-Center deklarierten Bürohauskomplex an de. Auch Briefe von Theodor Fontane und<br />

zum zWeiten Male beim Nullpunkt an. Alle<br />

Mittelalter-r" Archjvaliendiebstfihle im 48.,<br />

der Kleiststraße in dem viergeschossige» Adolf Glaßbrenner liegen in einer Vitrine.<br />

im Krieg geretteten Akten blieben im Osten.<br />

Raumnot im 19, und 20. Jahrhundert bis zu<br />

Flachbau an der Ecke Kalckreuthstraße im Ök-i Diwe "Ausstellung ist montags bis' freitags<br />

(Zunächst Werteten die Archivare in West-Ber­<br />

den Auslagerungen und Verlusten im zweiten<br />

iwüöi vorigen Jahres eingerichtet. Was dort! von 8 Uhr 30 bis 15 Uhr qeöffnet.<br />

lin nur Ost- und West-Zeitungen aus. Erst all­<br />

Weltkrieg durch die Geschichte des Archivs. mählich wurde durch Aktenübernahmen und<br />

als Tiefgarage geplant war» wurde zu Maga­ In den (.Mitteilungen des Vereins für die Außerdem habe, so Wetzel, das Stadtarchiv Ankauf von Sammlungssrüdceri der Grundstein<br />

zin-Räumen. Vorher war das Landesardiiv im<br />

Ernst-Reuter-Haus an der Straße des 17. Juni<br />

Geschichte Berlins" (gegründet .18651, Heft 3 im Bewußtsein der Öffentlichkeit auch stets für das neue Archiv gelegt. Nach Zwischenstä-<br />

untergebracht.<br />

Vom Juli 1977, hat Dr. Jürgen.'' Wetzel einen im Schatten des Preußischen Geheimen Staatstionen im Hotel" Tusculum, im Deutschland-<br />

Bericht über die Geschichte -des Landesarchivs archivs gestanden. „Sein desolater, Zustand Haus und im Dahlemer Staatsarchiv fand, das<br />

Wie Ärchivrat Dr. J. W e t z e 1 vom Lan­ Berlin veröffentlicht. , Es ist das zen­ spiegelt ein wenig die Rolle der Berliner Kom­<br />

Landesardiiv Berlin — so die amtliche Bezeichnung<br />

seit 1951 — für zwei Jahrzehnte<br />

desardiiv sagt, ist der Umzug ein rechtes trale Archiv unserer 'Stadt; hier werden alle mune wider, die weit hinter den Behörden des Unterkunft im Ernst-Reuter-Haus.<br />

1 anmut-Unternehmen gewesen. In diesem Materialien von Bedeutung für die Geschichte Reiches, Brandenburg-Preußens und des Hofes<br />

Jaar wurden im neuen Haus auch schon 500<br />

Besucher mehr registriert als im gesamten vo­<br />

Berlins gesammelt und dann wissenschaftlich der Hohenzöllem rangierte."<br />

Im Herbst 1976, im Neubau endlich, entsprach<br />

rigen. Jahr. Grundsätzlich ist das Archiv Jeder­ ausgewertet. Die Abteilung Zeitgeschichte des Auslagerungen im Krieg<br />

alles den archivarischen Gesichtspunkten. Die<br />

mann zugängüa,- aber das Schwergewicht Landesafchivs führt die Stadtchronik; sie gibt<br />

Magazine sind klimatisiert; sie verfügen, wie<br />

liegt nach Auskunft von Dr. Wetzel bei der im Auftrag des Senats „Die Schriftenreihe -zur<br />

Erst Ernst Kaeber, seit 1913 Leiter des berichtet, über Kohlendioxvd-Feuerlöschaiila-<br />

Stadtarchivs, habe den Ehrgeiz entwickelt, das<br />

Forschung. Es kommen beispielsweise Archi­ Berliner Zeitgeschichte" heraus, von der bis­ Archiv zu einem „der Reichshauptstadt weniggen,<br />

so daß jetzt alles fachgerecht gelagert<br />

tekten, Denkmalpfleger und Historiker. Das her acht Bände erschienen sind. „Die Chronik stens würdigen Institut" "-auszubauen. Diese werden kann. Ein großer Benützersaal, ein Le­<br />

Archiv verfügt über wertvolle Bauakten und erfaßt das erregende Geschehen der jüngsten Phase habe bei den Nazis mit dem erzwungesegerät und ein Schreibmaschinenraum ge­<br />

Darstellungen von Fassaden aus allen Bezir­ Berliner Geschichte von den letzten Aufrufen nen Rücktritt Kaebers und den Auslagerungen währleisten jetzt, so Dr. Wetzel, eine „optimaken.<br />

Auch aus Ost-Berlin koamen öfter Fach­ Goebbels' .zum Widerstand, um jeden Preis' der Bestände im zweiten Weltkrieg nach Böhle Besucherbetreuung". . ' - hp<br />

Historisches auf dem Bildschirm. Die Vossische<br />

Zeitung vom*9. November 1923, die mit dem<br />

„Zusammenbruch des Ludendorff-Putsches"<br />

aufgemacht hatte, ist im Landesarchiv auf Mikrofilm<br />

enthalten. Auf dem Lesegerät kann<br />

der Benutzer dann die Zeitung lesen.<br />

Fotoi-von Waldütausen<br />

%


Karl Georg v. Raumer Georg Wilhelm v. Raumer Wilhelm Karl v. Lancizolle<br />

in Staatsarchiven mit preußischer Tradition ihren Dienst versehen, mag diese Zusammenstellung,<br />

nicht zuletzt auch wegen ihres Autors, ihr Interesse finden.<br />

Als Georg Winter (1895 — 1961) diese Arbeit abfaßte, war er bereits seit einem knappen<br />

halben Jahr als Staatsarchivdirektor und Referent in der Archivabteilung des Preußischen<br />

Staatsministeriums tätig 2 , in das ei* schon zwei Jahre zuvor zur Unterstützung des Generaldirektors<br />

als kommissaristirfer Sachbearbeiter eingetreten war 3 . Seine gründlichen Kenntnisse<br />

verdankt Winter noch der Ausbildung, die ihm im alten Geheimen Staatsarchiv in der<br />

Berliner Klosterstraße zuteil wurde, wo er von 1921 — 1922 am Lehrgang für den wissenschaftlichen<br />

Archivdienst teilnahm und am 6. 12. 1922 die Archivarische Staatsprüfung<br />

ablegte. Auch als junger Archivassistent (12. 12. 1922) und späterer Staatsarchivrat<br />

(1. 10. 1927) war es Winter vergönnt, in Berlin zu bleiben. 1930 übertrug ihm Albert<br />

Brackmann als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive die Geschäftsführung seines<br />

neugegründeten „Instituts für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung"<br />

(IfA) in der Dahlemer Archivstraße 4 , die er bis zu seinem Wechsel in die Dorotheenstraße.<br />

wo damals die Archivabteilung des Preußischen Staatsministeriums untergebracht<br />

war, besorgt hat. Doch auch später blieb Georg Winter dem Geheimen Staatsarchiv-<br />

Verbünden, das er nach Kriegsende vorübergehend vom 16. 6.— 18. 7. 1945 kommissarisch<br />

leitete und das seiner Fachaufsicht auch noch unterstand, als er Direktor (1952 — 60) des<br />

in Koblenz neugegründeten Bundesarchivs geworden war.<br />

Durch die Verordnung vom 27. 10. 1810 5 wurde „das Archiv" der unmittelbaren Leitung des<br />

Staatskanzlers unterstellt, und zwar auf persönliche Veranlassung Hardenbergs entgegen<br />

dem ursprünglichen Vorschlag, es dem Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten anzugliedern.<br />

Die Sachbearbeiter für das Archiv und Archivfragen überhaupt waren der WirklficheJ<br />

Geheime Legationsrat Karl Georg von Raumer, geb. 16. 11. 1753, und der Regierungsrat<br />

Gustav Adolf Tzschoppe, geb. 22. 8. 1794.<br />

309


Max Duncker Heinrich v. Sybel Reinhold Koser<br />

Nach dem Tode des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg bestimmte die Kfabinetts-]<br />

OfrdreJ vom 30. 4. 1823, daß die bisher unter der unmittelbaren Oberaufsicht des Staatskanzlers<br />

erfolgte Bearbeitung der das Geheime Archiv betreffenden Angelegenheiten dem<br />

gesamten Staatsministerium verbleiben sollte in der Art, daß die spezielle Bearbeitung dem<br />

Minister des Königlichen Hauses und dem Minister für die Auswärtigen Angelegenheiten<br />

gemeinsam übertragen würde.<br />

Die Archivangelegenheiten zerfielen in 2 Gruppen:<br />

l. betr. das Geheime Staatsarchiv und das Archivkabinett<br />

IL betr. Archive und Archivstücke in den Provinzen.<br />

Die genannten beiden Minister teilten demgemäß dem Oberpräsidenten [= Präsidenten des<br />

Staatsministeriums] unter dem 26. 5. 1823 mit, daß ihnen die „Leitung des Archivwesens"<br />

gemeinschaftlich übertragen sei. Die eigentliche Leitung des Geheimen Staatsarchivs und<br />

damit der Archivsachen überhaupt lag in der Hand Karl Georgs von Raumer, gest. 30. 6.<br />

1833 als Wirklicher] Gehfeimer] Rat, Exzellenz, Direktor des Geheimen Staatsarchivs 6 .<br />

Sein „vortragender Rat im Geheimen Staatsarchiv" war Gustav Adolf Tzschoppe, zugleich<br />

vortragender Rat (Regierungsrat) im Staatsministerium.<br />

Die Leitung des Geheimen Staatsarchivs wurde als ein Nebenamt wahrgenommen; Raumer<br />

war im Hauptamt vortragender Rat im Staatsministerium, im Ministerium des Königlichen<br />

Hauses und im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten.<br />

Seit 1831 ist von einem „Direktorium der Staatsarchive" die Rede. Seit diesem Jahre gibt es<br />

einen Etat für die Provinzialarchive, während bis dahin laut KO. vom 2. 4. 1822 die zur Verwaltung<br />

der Provinzialarchive (seit 1819 im Entstehen) erforderlichen Kosten aus dem<br />

Exlraordinarium der Generalstaatskasse bestritten waren.<br />

Bis 1874 hatte das Direktorium keinen Bürobeamten, was hauptsächlich in der nebenamtlichen<br />

Wahrnehmung dieser Stelle begründet lag.<br />

Nach Karl Georg von Raumers Tode wurde gemäß seinem Vorschlage durch KO. vom 9. 8.<br />

1833 Gustav Adolf Tzschoppe (1836 geadelt) zum „Direktor des Geheimen Staats- und<br />

Kabinettsarchivs und der gesamten Archivverwaltung" [ernannt]. Er starb am 16. 9. 1842<br />

310


Paul Fridolin Kehr Albert Brackmann Ernst Zipfel<br />

als Wirklicher] Gehfeimer] Oberregierungsrat. Sein Hauptamt war zuletzt die Stelle des<br />

Direktors der 1. Abteilung des Ministeriums des Königlichen Hauses.<br />

Zum „vortragenden Rat beim Geheimen Staats- und Kabinettsarchiv und der Archivverwaltung"<br />

wurde gleichzeitig der Sohn des verstorbenen Direktors, der Regierungsrat Georg<br />

Wilhelm von Raumer, geb. 19. 9. 1800, ernannt''; auch er war außerdem als Referent im<br />

Finanzministerium, später im Hausministerium tätig.<br />

Nach von Tzschoppes Tode wurde durch KO. vom 17. 3. 1843 der Geheime Oberregierungsrat<br />

Georg Wilhelm von Raumer zum „Direktor der Archive" ernannt.<br />

Die Stelle des vortragenden Rats beim Geheimen Staatsarchiv blieb zunächst vakant; aus ihr<br />

wurden der Professor der Rechte von Lancizolle als Konsulent des Ministeriums des Königlichen<br />

Hauses und der Geheime Finanzrat von Obstfelder remuneriert für Gutachtertätigkeit<br />

auf politischem und staatsrechtlichem Gebiet. Die Stelle ist 1848 eingegangen.<br />

Im Jahre 1852 wurde die Abtrennung des Hausarchivs vom Geheimen Staatsarchiv durchgeführt.<br />

Die KO. vom 2. 2. 1852 bestimmte, daß Hausarchiv und Geheimes Staatsarchiv ein<br />

Ganzes unter der gemeinsamen Leitung des Hausministers und des Präsidenten des Staatsministeriums<br />

(dieser anstelle des bisherigen Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten) darstellen<br />

und daß dem letzteren zugleich die Provinzialarchive speziell untergeordnet bleiben<br />

sollten. Die gemeinsame Leitung des Geheimen Staatsarchivs und des Hausarchivs durch<br />

Ministerpräsidenten und Hausminister ist praktisch nicht durchgeführt worden.<br />

Gleichzeitig wurde auf eigenen Antrag der Wirkliche] Geheime Oberregierungsrat Georg<br />

Wilhelm von Raumer von seinem Amte entbunden; er starb am 11. 3. 1856. Sein Amt übernahm<br />

mit dem 1. 4. 1852 der am 17. 2. 1796 geborene Professor der Rechte, Karl Wilhelm<br />

von Deleuze de Lancizolle, Direktor der Staatsarchive, der etwas später den Titel Geheimer<br />

Oberarchivrat erhielt, wobei der Rang des Inhabers dieser Stelle als der eines Ministerialrats<br />

II. Klasse festgesetzt wurde 8 . Lancizolle war weiterhin als Universitätslehrer tätig. Er legte<br />

infolge von Kränklichkeit endgültig mit dem 1. 1. 1867 sein Amt nieder. Er wurde pensioniert<br />

durch KO. vom 22.10.1866 und starb nach schwerem Siechtum am 26. 5. 1871.<br />

Sein Nachfolger wurde am 8. 7. 1867 wieder einer der Räte des Staatsministeriums, nämlich<br />

311


der Geheime Regierungsrat Max Duncker, Direktor der Staatsarchive, geb. 15. 10. 1811,<br />

gest. 21. 7. 1886. Auch er blieb zugleich und der Form nach im Hauptamt vortragender Rat<br />

beim Kronprinzen. Der Geheime Oberregierungsrat Duncker verzichtete auf die Stellung als<br />

Direktor der Staatsarchive am 28. 9. 1874 und erhielt das Dimissoriale durch KO. vom<br />

11. 11. 1874".<br />

Zu seinem Nachfolger wurde berufen am 23. 6. 1875 Professor Heinrich von Sybel, Direktor<br />

der Staatsarchive und Direktor des Geheimen Staatsarchivs, geb. 2. 12. 1817, gest. 1. 8. 1895<br />

als Wirklicher] Gehfeimer] Rat, Exzellenz 10 . Mit seiner Ernennung wurde die Stelle des<br />

Direktors der Staatsarchive zum Hauptamt. Der Direktor der Staatsarchive war wie bisher<br />

dem Präsidium des Staatsministeriums unterstellt und daselbst zugleich Referent für Archivsachen.<br />

Mit jener Stelle wurde das neugeschaffene Amt eines Direktors des Geheimen Staatsarchivs<br />

als Nebenamt verbunden.<br />

Ihm folgte am 9. 3. 1896 Professor Reinhold Koser (1913 geadelt), Direktor der Staatsarchive<br />

und zugleich Direktor des Geheimen Staatsarchivs, geb. [7. 2.J 1852, gest. als<br />

Wirklicher] Geh/eimer] Rat, Exzellenz, am 25. 8. 1914 11 . Seine Amtsbezeichnung wurde<br />

durch Allerhöchsten Erlaß vom 27. 12. 1899 umgewandelt in die eines „Generaldirektors der<br />

Staatsarchive", indem gleichzeitig die Vorsteher der zwölf größten Staatsarchive damals die<br />

Amtsbezeichnung „Archivdirektoren" erhielten. Am Geheimen Staatsarchiv wurde die<br />

Stelle eines Zweiten Direktors des Geheimen Staatsarchivs geschaffen, durch Beschluß des<br />

Abgeordnetenhauses aber in die eines Zweiten Direktors der Staatsarchive umgewandelt. Der<br />

erste Inhaber dieser Stelle wurde im April 1896 der Archivrat Kar! Sattler (gest. 13. 7. 1906),<br />

dem im September 1906 der Geheime Archivrat Paul Bailleu folgte.<br />

Nach Kosers Tode wurde durch KO. vom 16. 8. 1915 Professor Paul Fridolin Kehr, geb.<br />

28. 12. 1860, zum Generaldirektor der Staatsarchive und zugleich zum Direktor des Geheimen<br />

Staatsarchivs unter Beilegung des Charakters als Geheimer Oberregierungsrat ernannt 12 .<br />

Als Geheimrat Bailleu am 1. 4. 1921 mit Einführung der Bestimmung wegen der Altersgrenze<br />

aus dem Dienste schied 13 , wurde die Stelle eines Zweiten Direktors der Staatsarchive in<br />

eine solche des Zweiten Direktors des Geheimen Staatsarchivs umgewandelt (Archivrat Dr.<br />

Klinkenborg 14 [Aug. 1821 — 29. 3. 1930]). Generaldirektor Professor Dr. Kehr schied nach<br />

mehrmaliger Verlängerung der infolge Erreichens der Altersgrenze abgelaufenen Dienstzeit<br />

mit dem 1. 4.1929 aus dem Amte.<br />

Ihm folgte am 1. 4. 1929—10. 9. 1936 Generaldirektor der Staatsarchive Professor Dr.<br />

Brackmann 15 . Mit der Besoldungsordnung vom 4. März 1936 und dem Haushalt 1936<br />

hörte das Verhälmis des Generaldirektors zum Geheimen Staatsarchiv als dessen Erster<br />

Direktor auf; der Leiter des Geheimen Staatsarchivs führte [bis 1946 und wiederum seit<br />

1963] die Amtsbezeichnung: „Direktor des Geheimen Staatsarchivs" 16 .<br />

Am 21. 9. 1938 wurde der bereits seit dem 29. 8. 1936 mit der Vertretung beauftragte<br />

Oberregierungsrat Dr. Ernst Zipfel (geb. 23. 3. 1891 in Dresden) zum Generaldirektorder<br />

Staatsarchive ernannt. Er war zugleich seit dem 19. 9. 1936 Direktor des Reichsarchivs<br />

Potsdam, seit 22. 5. 1940 auch Reichskommissar für den Archivschutz (für das gesamte<br />

westliche, seit 21. 4. 1941 auch für das östliche Operationsgebiet), und seit dem 18. 6. 1942<br />

daneben noch als Leiter des neugeschaffenen Sonderreferates „Archivwesen" in der<br />

Hauptabteilung I des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, sowie seit dem<br />

21.1. 1944 als Leiter der Unterabteilung I „Archiv- und Schriftgutwesen" im Reichsministerium<br />

des Innern tätig; vom 2. 2. —30. 9. 1944 übernahm Zipfel vorübergehend noch die<br />

312


Leitung des Geheimen Staatsarchivs. Am 21. 4. 1945 wurde er, der gleichsam in seiner<br />

Person die von ihm wiederholt vergeblich geforderte Bildung einer „Reichsarchivspitze"<br />

durch Ämterkumulation verwirklicht hatte 17 , „einem Arbeitsstab des Reichsministeriums<br />

des Innern zugeteilt, der zur Aufrechterhaltung eines Notbetriebes gebildet worden" war<br />

und mit der Reichsführungsspitze nach Schleswig-Holstein versetzt, wo er am 7. 5. 1945 in<br />

den Ruhestand trat. Ernst Zipfel starb am 17. 4. 1966 in Bad Pyrmont.<br />

Zuvor ernannte man am 18. 4. 1945 noch im Falle von Zipfels Verhinderung Staatsarchivdirektor<br />

Dr. Erich Randt, seit 16. 10. 1944 selbst Direktor des Geheimen Staatsarchivs,<br />

zum stellvertretenden Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, ferner sollte ihm die<br />

stellvertretende Leitung der Archivabteilung des Preußischen Staatsministeriums übertragen<br />

werden 18 . Diese Funktionen suchte Randt auch über den Zeitpunkt des Zusammenbruchs<br />

hinaus aufrechtzuerhalten, bis er am 15. 6. 1945 aus dem Dienst ausschied.<br />

1 GStA, Rep. 90, Nr. 213.<br />

2 Ernannt am 9. 9. 1938.<br />

3 Über Winters archivarische Laufbahn wie über die anderer preußischer Berufskollegen vgl. Eckart<br />

Henning/Christel Wegeleben: Archivare beim Geheimen Staatsarchiv 1924 — 1974, in: Jahrbuch<br />

für brandenburgische Landesgeschichte 27 (1976), S. 155 — 178, mit Literaturang;iben. - An<br />

Würdigungen Winters sei hier nur verwiesen auf: Wilhelm Rohr, in: Der Archivar 13 (1961), Sp.<br />

137—140; Ernst Posner, in: American Archivist 24 (1961), S. 457 — 459; Wolfgang Mommsen, in:<br />

Historische Zeitschrift (künftig: HZ) Bd. 194 (1962), S. 457-459.<br />

4 Vgl. Wolfgang Leesch: Das Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung<br />

(IfA) in Berlin-Dahlem (1930—1945), in: Brandenburgische Jahrhunderte. Festschrift für<br />

Johannes Schultze zum 90. Geburtstag, hrsg. von Gerd Heinrich u. Werner Vogel. Berlin 1971.<br />

S. 219-254.<br />

5 Vgl. die Verordnung über die veränderte Verfassung aller obersten Staatsbehörden, in: Gesetz-<br />

Sammlung für die Kgl. preußischen Staaten, 1810, S. 3 — 23, hier: S. 4, u. Das Reglement für das<br />

Geheime Staatsarchiv, 1812; ferner: Reinhold Koser: Die Neuordnung des preußischen Archivwesens<br />

durch den Staatskanzler Fürsten Hardenberg. Leipzig 1904. - Adolf Brenneke: Archivkunde.<br />

Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, hrsg. von W.<br />

Leesch. Leipzig 1953, hier: Brandenburg-Preußen bis 1815, S. 144—148, sowie Geheimes Staatsarchiv<br />

ab 1803 und Preußische Archivverwaltung. S. 402 — 408. - Gerhard Zimmermann: Hardenbergs<br />

Versuch einer Reform der preußischen Archivverwaltung und deren weitere Entwicklung<br />

bis 1933, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Bd. 4 (1966), S. 69-87.<br />

6 Hermann von Raumer: Die Geschichte der Familie von Raumer. Neustadt/Aisch 1975, S. 81—83<br />

(= Bibliothek familiengeschichtl. Arbeiten, Bd. 38): - Ernst Friedlaender: Karl Georg v. Raumer,<br />

in: Allgemeine Deutsche Biographie (künftig: ADB) Bd. 27 (1888), S. 416-418. - Johannes<br />

Schultze: Karl Georg v. Raumer, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 4, Magdeburg 1929,<br />

S. 186-198.<br />

7 H. v. Raumer: Geschichte der Familie von Raumer, S. 83 — 87. - Ernst Friedlaender, in: ADB<br />

Bd. 27 (1888), S. 414. - Vgl. auch: Georg Wilhelm v. Raumer: Die Geschichte des Geheimen<br />

Staats- und Cabinets-Archivs zu Berlin. Hrsg. von Eckart Henning, in: Archivalische Zeitschrift<br />

(künftig: AZ) Bd. 72 (1976), S. 30-75, Vorbem. über d. Verf. S. 30-33.<br />

8 Vgl. ADB Bd. 17 (1883), S. 583-584, und [Richard Beringuier?] Guillaume Charles von<br />

Lancizolle, in: Vermischte Schriften im Anschluß an die Berlinische Chronik und an das Urkundenbuch,Bd.<br />

1,B: Namhafte Berliner, Taf. 11. Berlin 1887, S. 1-8.<br />

9 Eckart Henning: 50 Jahre Geheimes Staatsarchiv in Berlin-Dahlem - 100 Jahre seit seiner Vereinigung<br />

mit dem Ministerialarchiv, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte Bd. 25<br />

(1974), S. 154-174, hier: S. 155-157. Kurzfassung, in: Der Archivar 28 (1975), S. 143-152.<br />

-Über M. Duncker s. auch Neue Deutsche Biographie (künftig: NDB) 4 (1959), S. 195 -1%.<br />

10 E. Henning: Geheimes Staatsarchiv, S. 157—162, vgl. auch H. Rössler/G. Franz: Biographisches<br />

Wörterbuch zur deutschen Geschichte. München 1952. S. 827 — 828. Winter irrt vermutlich, wenn<br />

313


er sagt, daß D. weiterhin vortragender Rat b. Kronprinzen blieb; richtig ist vielmehr, daß er dies<br />

hauptamtl. im Staatsministerium war. Seine Bindung an den Kronprinzen hatte aufgehört, vgl.<br />

Rudolf Haym: Das Leben Max Dunckers, Berlin 1891, S. 418f.<br />

11 Vgl. Nachrufe über R. K. von Berthold Volz, in: Hohenzollern-Jahrbuch, 1914, S. 166 ff.; Otto<br />

Hintze, in: HZ 114 (1915), S. 65 ff.; Melle Klinkenborg, in: Forschungen zur Brandenburgischen<br />

und Preußischen Geschichte (künftig: FBPG) 28 (1915), S. 285-310, mit Schriftenverz.;<br />

Johannes Schultze, in: AZ 35 (1925), S. 270-272; ferner die Würdigung von Stephan Skalweit,<br />

in: Bonner Gelehrte. Beitr. z. Wissenschaft, Bonn 1968, S. 272-277; vgl. künftig Eckart Henning:<br />

Der erste Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, Reinhold Koser (1896 — 1914), in:<br />

Neue Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Berlin 1977 (i. Vorher.) u.<br />

Bernhard vom Brocke: R.K., in: NDB (i. Druck). Von seiner persönl. Nobilitierung i.J. 1913<br />

scheint K. jedoch keinen Gebrauch gemacht zu haben.<br />

12 Aufschlußreich zum vorliegenden Thema, auch zur Würdigung seiner Amtsvorgänger, vgl. Paul<br />

Fridolin Kehr: Ein Jahrhundert preußischer Archivverwaltung. Rede gelegentl. d. Wiedereröffnung<br />

d. Geheimen Staatsarchivs am 26. 3. 1924, in: AZ 35 (1925), S. 3-21. - Über Kehr vgl.<br />

Nachrufe u.a. von Ernst Zipfel, in: Mitteilungen der preußischen Staatsarchive, 1944, S. 103 — 107;<br />

Leo Santifaller, in: Almanach d. Akademie der Wissenschaften i. Wien f.d.J. 1945, 195 (1947),<br />

S. 192-199; Walther Holtzmann, in: Deutsches Archiv 8 (1950), S. 26-58; Friedrich Baethgen,<br />

in: Jahrb. d. Deutschen Akademie d. Wiss., 1950/51, S. 157-160; Karl Brandi, in: Jahrb. d.<br />

Akademie d. Wiss. in Göttingen, Übergangs-Bd. 1944-60 (1962), Sp. 134-152 (mit Bibliographie<br />

seiner Schriften). - Vgl. auch Martha Kehr: Die Vorfahren v. P.F.K., in: Genealogie 17<br />

(1968), S. 321-330, nebst Nachtr. ib. 20 (1971), S. 471 -472.<br />

" Gest. 25. 6. 1922. Über P. B., s. Melle Klinkenborg, in: Deutsches biographisches Jahrbuch 4<br />

(1922), S. 3 — 10, u. Preußischer Wille. Gesammelte Aufsätze von P. B. mit e. Nachruf v. Melle<br />

Klinkenborg. Berlin 1924, ferner NDB 1 (1953), S. 545.<br />

14 Er war vom August 1921 bis zu seinem Tode am 29. 3. 1930 im Amt. Vgl. Johannes Schultze:<br />

M. K., in: FBPG 43 (1930), S. 1-21, mit Schriftenverz. Klinkenborgs (letzter) Nachfolger als<br />

Zweiter Direktor wurde am 1. 7. 1930 Adolf Brenneke. der bis zu seiner Ernennung zum Direktor<br />

des Geheimen Staatsarchivs am 8. 4. 1936 (— 30. 9. 1943) diese Amtsbezeichnung führte.<br />

15 Über A. Brackmann vgl. Nachrufe u.a. von: F. Baethgen, in: Bayer. Akademie d. Wiss., Jhb. f.<br />

1952, S. 169-174; W. Ohnsorge, in: HZ 166 (1952), S. 580-586; H. Meinert: A. B. u. das<br />

deutsche Archivwesen, in: AZ 49 (1954), S. 127-138; F. Steinhoff, in: Nds. Lebensbilder, Bd. 2,<br />

Hildesheim 1954, S. 20-36 (= Veröff. d. Hist. Komm. f. Nieders., 22); H. Goetting, in: NDB 2<br />

(1955), S. 504-505; L. Santifaller, in: Der Archivar 15 (1962), S. 317-328.<br />

16 Vgl. die Liste der Direktoren des Geheimen Staatsarchivs bei Johann Caspar Struckmann: Katalog<br />

der Ausstellung 50 Jahre Geheimes Staatsarchiv in Berlin-Dahlem - 100 Jahre seit seiner Vereinigung<br />

mit dem Ministerialarchiv. Berlin 1974, S. 29 — 30.<br />

17 Gerhard Zimmermann: Das Ringen um die Vereinheitlichung des Archivwesens in Preußen und im<br />

Reich von 1933-45, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 5 (1968), S. 129-142. - Über E.<br />

Zipfel vgl. den Nachruf von Wilhelm Rohr, in: Der Archivar 20 (1967), Sp. 206-210.<br />

18 Ein entsprechendes Gesuch Zipfels vom 18. 4. 1945 an den Preußischen Ministerpräsidenten liegt<br />

im Konzept bei den Akten; es wurde einem Bearbeitungsvermerk zufolge am selben Tage gefertigt<br />

- AV 636/45 - und abgesandt, doch scheint die erbetene Bestätigung nicht mehr eingegangen zu<br />

sein (vgl. GStA, Rep. 178 A, Nr. 39).<br />

Anschrift des Bearbeiters: Lückhoffstraße 33, 1000 Berlin 38<br />

Zum Abriß des ehemaligen Garnison-Lazaretts in Spandau<br />

Von Jürgen Grothe<br />

Seit Jahren wird in Spandau von der Sanierung der Altstadt gesprochen. Geschehen ist bis<br />

heute nichts, und wenn Aktivitäten zu beobachten sind, so heißt das meistens Abriß. So sind<br />

alle wesentlichen Zeugen der Ackerbürgerstadt, z.B. Wendenschloß, Kinkelstraße 35,<br />

314


Der Neue Packhof (Stahlstich nach einer Zeichnung von Hintze um 1833) Foto: J. Grothe<br />

Ritterstraße 6 und Fischerstraße 33, in den letzten Jahren abgebrochen worden. Gebäude,<br />

die die Garnisonstadt dokumentierten, sind ebenfalls der Spitzhacke zum Opfer gefallen.<br />

Ein Bau war erhalten geblieben — er wird gerade abgetragen: das ehemalige Lazarett am<br />

Lindenufer 2.<br />

Weshalb auch dieses Gebäude verschwinden muß, liegt auf der Hand. Spandau braucht<br />

Parkplätze als Provisorium während des U-Bahnbaues, so heißt es. Fährt die U-Bahn dann<br />

nach Spandau, soll eine Grünfläche an dieser Stelle entstehen. Wem ist mit dieser Grünfläche<br />

gedient, wenn gleichzeitig Grünflächen zwischen Altstädter Ring und Mühlengraben,<br />

die im Flächennutzungsplan als solche ausgewiesen sind, in Parkplätze umgewandelt werden?<br />

Außerdem werden nach Abriß des genannten Gebäudes die weniger dekorativen<br />

Fassaden an der Westseite des Lindenufers voll sichtbar. Eine optische Bereicherung für die<br />

Ausflügler, die auf der Havel Spandau passieren, ist das wahrlich nicht. Gern wird von den<br />

Stadtplanern im Zusammenhang mit der Spandauer Altstadt das Wort Urbanität benutzt;<br />

in Wirklichkeit ist jedoch eine immer stärker werdende Verödung der Stadtlandschaft zu<br />

beobachten. Ein alter Bau nach dem anderen wird abgerissen und durch sterile Betonarchitekturen<br />

ersetzt. Man muß leider feststellen, daß der bauliche Bestand der Altstadt<br />

stärker durch die Abrisse der letzten Jahre als durch Kriegszerstörungen dezimiert worden<br />

ist. So sind die Atmosphäre und der Charakter der Altstadt weitgehend verlorengegangen.<br />

Diese Gefahr droht auch Kolk und Behnitz. Der Eingang zu diesen Straßen, der Hohe<br />

Steinweg, soll an der Nordseite durch eine moderne Architektur verändert werden. Warum<br />

nehmen die Verantwortlichen nicht zur Kenntnis, daß in anderen Städten mit Erfolg restauriert<br />

statt abgerissen wird? Als Beispiele seien genannt: Danzig, Warschau, Bern oder der<br />

Schnoor in Bremen.<br />

315


Ehem. Garnison-Lazarett am Lindenufer 2 Foto: J. Grothe<br />

Das Lazarett Lindenufer 2 entstand 1851—53 auf militärfiskalischem Gelände. An dieser<br />

Stelle, vor der Stadtmauer, standen bereits das Salzhaus und ein Exerzierschuppen. Das<br />

Lazarett wurde als reiner Zweckbau vom Preußischen Militärbauamt errichtet. Wegen der<br />

frischen und gesunden Luft entschied man sich für die Lage am Wasser. Der Bau bestand<br />

aus roten Rathenower Verblendern. Die Architektur bestach durch klare Formen: Elf an<br />

der Havelseite paarweise zusammengefaßte rundbogige Fenster gliederten den dreistöckigen<br />

Baukörper. Den Übergang zum Dach schuf ein Zwischengeschoß mit kleineren rechteckigen<br />

Fenstern. Die Bögen der Fenster waren freitragend gewölbt, die Kanten abgestumpft,<br />

die Regenrinnen versenkt. Das ursprünglich mit Schiefer gedeckte Walmdach<br />

ruhte auf feingestuften Konsolen. Zur Straßenseite bildete der U-förmige Baublock einen<br />

Ehrenhof. Hier befand sich der Haupteingang.<br />

Das Lazarett war ein typischer Bau der Zeit nach Schinkel. Als Vorbild diente das 1832<br />

nach Entwürfen Karl Friedrich Schinkels erbaute Magazingebäude des Packhofes in Berlin.<br />

Dieses Gebäude stand auf der heutigen Museumsinsel. Es wurde 1896 für den Neubau des<br />

Kaiser-Friedrich-Museums, des heutigen Bode-Museums, abgebrochen.<br />

In Berlin wie in Spandau war die Lage der Gebäude, jeweils an einem Wasserlauf, gleich.<br />

Schwierigkeiten mit dem schlechten Baugrund gab es an beiden Baustellen, Pfahlroste<br />

tragen die Fundamente. Schinkel beschreibt den Berliner Bau ausführlich: „Durch das in<br />

einfacher und kräftiger Architektur gehaltene Äußere, ist die Bestimmung charakterisiert.<br />

Die vorzüglich gutgeformten und gebrannten Ziegel verblenden die in genauem Verbände<br />

ausgeführten Mauern." Diese Beschreibung trifft auch für den Spandauer Bau zu. Vergleicht<br />

man das Spandauer Lazarett mit dem Packhofgebäude, wird die starke Abhängig-<br />

316


keit des Hauses am Lindenufer mit dem Berliner Vorbild sichtbar. So ist die Gestaltung der<br />

Fenster, des Gesimses und des Walmdaches vom Vorbild übernommen. Auch die Umfassungsmauer<br />

war in Berlin vorhanden. In Spandau war diese Mauer mit angedeuteten<br />

Schießscharten versehen. Sie sollte die für den Bau des Lazaretts abgerissene Stadtmauer<br />

optisch ersetzen.<br />

Das vom Militär genutzte Grundstück war bis 1918 mit seinen Nebenbaulichkeiten 6300<br />

Quadratmeter groß. 1932 wurden Nebengebäude abgerissen und die freigewordenen Flächen<br />

der Grünanlage des Lindenufers hinzugefügt. Ein Kasino, das südlich des Lazaretts<br />

stand, wurde während des Zweiten Weltkrieges zerstört und nach 1945 abgebrochen.<br />

Das Gebäude Lindenufer 2 diente von 1853 — 1879 als Lazarett. Nach einem Umbau zur<br />

Kaserne II waren bis 1896 Teile des 3. Garde-Grenadier-Regiments Königin Elisabeth und<br />

anschließend bis 1914 das Garde-Fußartillerie-Regiment in dem Bau stationiert. Nach<br />

Kriegsende 1918 mußte die Kaserne einer zivilen Nutzung zugeführt werden. Die Stadt<br />

Spandau ließ die Räume für Wohnzwecke umbauen. Am Ende der 20er Jahre kaufte die<br />

Stadt Berlin das ehemalige Lazarett und ließ es erneut umgestalten. 1929 zog das Arbeitsamt,<br />

das bis 1948 die Räume nutzte, in das Gebäude. Seit 1949 wurden die ca. 9 X 5 Meter<br />

großen Räume wiederum von Familien bewohnt.<br />

Als die Abrißpläne bekannt wurden, setzte sich eine Bürgerinitiative für die Erhaltung des<br />

Baues ein; er sollte zu einem Seniorenwohnheim umgestaltet werden. Das Spandauer<br />

Volksblatt (27. Juli 1975 und 13. Juni 1976) und Der Tagesspiegel (25. April 1976)<br />

setzten sich ebenfalls für die Erhaltung des Gebäudes ein. Das Bezirksamt nannte folgende<br />

Gründe für den Abriß:<br />

1. Der Bau hätte sich durch einen Bombentreffer während des Zweiten Weltkrieges an der<br />

Westseite gesenkt. Dazu ist festzustellen, daß anläßlich einer Restaurierung 1951 Gipsmarken<br />

gesetzt worden waren, die bis zum Beginn des Abrisses keine Veränderungen<br />

gezeigt hatten.<br />

2. Die Dachbalken wären vom Schwamm durchsetzt. Beim Abriß sah man jedoch, daß die<br />

Balken nur im Südteil eine leichte Schwammbildung besaßen, die ohne weiteres hätte herausgenommen<br />

werden können. Festzustellen war ferner, daß sich die dichten Balkenlagen<br />

in den einzelnen Etagen in einem ausgezeichneten Zustand befanden.<br />

Mit dem Abriß des ehemaligen Lazaretts verschwand in der Spandauer Altstadt das letzte<br />

bauliche Zeugnis, das an die einstige Garnisonstadt erinnerte.<br />

Geschehen vor 40 Jahren<br />

Die Beschlagnahme des Logenhauses in der Kleiststraße<br />

Von Dr. Ernst G. Lowenthal<br />

Anschrift des Verfassers: Kellerwaldweg 9, 1000 Berlin 20<br />

„Ich ersuche, die Gebäude und sonstigen Räumlichkeiten des UOBB, der ihm angeschlossenen<br />

Tochter- und Neben- sowie aller dem UOBB ähnlich gearteten jüdischen Organisationen<br />

im engsten Einvernehmen mit den zuständigen SD-Oberabschnitten ... am 19.<br />

April 1937, 7 Uhr früh, schlagartig zu besetzen. Das gesamte Vermögen dieser Organisa-<br />

317


tionen, ohne Rücksicht darauf, wo es sich im Augenblick befindet, ist zu beschlagnahmen."<br />

So hieß es in einer als „Streng vertraulich!" bezeichneten Verfügung des Geheimen Staatspolizeiamts<br />

Berlin vom 10. April 1937 betr. „Auflösung des 'Unabhängigen Ordens Bne<br />

Briss'". Dieser an alle Staatspolizeistellen im Deutschen Reich gerichteten Anweisung lag<br />

ein Verzeichnis „der für den jeweiligen Dienstbereich in Betracht kommenden Organisationen<br />

und Nebenorganisationen und der Anschriften der früheren Logenangehörigen"<br />

bei.<br />

Der 1843 in New York (von ausgewanderten deutschen Juden) gegründete jüdische<br />

U.O.B.B. - Bne Briss (auch Bnai Brith) bedeutet soviel wie „Söhne des Bundes" - übt<br />

Wohltätigkeit, Bruderliebe und Eintracht. In Deutschland begann diese Bewegung 1882,<br />

verbreitete sich zusehends und umfaßte, bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts,<br />

etwa 100 Logen; die Gesamtzahl ihrer Mitglieder wurde auf 12 000 bis 13 000 geschätzt.<br />

Bne Briss unterhielt in Deutschland Ausbildungsstätten, Alters-, Kinder- und Erholungsheime<br />

und hatte von 1901 bis 1937 ein eigenes gedrucktes monatliches Mitteilungsblatt mit<br />

dem Titel „Der Orden Bne Briss".<br />

Mit welcher wie stets von den Naziverfolgern betriebenen organisatorischen Minuziösität<br />

die Durchführung der zumindest intern zu einer Art kleiner Staatsaktion hochgespielten<br />

Maßnahme im einzelnen vorbereitet war, zeigen die Spezialanweisungen der Gestapo, als<br />

da sind: die restlose Erfassung der Personalakten und ähnlichen Unterlagen, die Beschlagnahme<br />

bestimmter Vermögenswerte, die Verhaftung (bis nach Beendigung der Aktion) der<br />

„führenden" Logenangehörigen (Präsidenten, Schriftführer, Kassenwarte), die Durchsuchung<br />

der Wohnungen der Genannten nach Logenmaterial sowie dessen Sichtung, Sicherstellung<br />

und Trennung nach freimaurerischem und nichtfreimaurerischem Inhalt. Die Tragweite<br />

der widerrechtlichen Entziehungsmaßnahmen ist im Einzelfall dadurch dokumentiert,<br />

daß beispielsweise ein ehemaliger Stuttgarter Logenbruder im Juni 1937 ersucht wurde,<br />

seinen rückständigen Mitgliedsbeitrag an den örtlichen „Liquidator", einen Bezirksnotar,<br />

zu entrichten!<br />

Dem Geschehnis, soweit es sich auf Berlin bezog, ging sogar im Dienstgebäude Wilhelmstraße<br />

98 eine besondere Referentenbesprechung am 14. April voran, zu der mit der gleichen<br />

Gestapo-Verfügung eingeladen wurde. Das mochte seinen Grund darin haben, daß von<br />

den ursprünglich über 100 Bnai-Brith-Logen in Deutschland (von denen sich schon vor<br />

dem „Stichtag" gut ein Drittel angeblich freiwillig aufgelöst hatte oder mehr oder weniger<br />

zwangsweise „suspendiert" worden war) sich allein neun in Berlin befanden. Sie alle hatten<br />

ihren Sitz in dem geräumigen und repräsentativen Logenhaus in der Kleiststraße 10—12,<br />

wo lange auch das Büro der Großloge für Deutschland VIII war. Seit 1924 war Dr. Leo<br />

Baeck der Großpräsident, der letzte in Deutschland; vor ihm hatten dieses Ehrenamt<br />

bekleidet: Julius Fenchel (von 1885 bis 1887), Louis Maretzki (1888/98), von dem eine<br />

Geschichte des Ordens bis 1907 stammt, und der Geheime Justizrat Berthold Timendorfer<br />

(bis 1924).<br />

Das beschlagnahmte und „entzogene" Berliner Logenhaus hat ein eigenartiges, seltsames<br />

Schicksal gehabt: Wie durch ein Wunder überlebte es die fast totale Zerstörung der Nordseite<br />

der Kleiststraße während des letzten Krieges beinahe unversehrt, so daß es in seinem<br />

äußeren Gepräge wie in seinem Interieur von Eingeweihten heute gut wiederzuerkennen<br />

ist. Nach der unrechtmäßigen Entziehung „zugunsten des preußischen Staates" wurde das<br />

Eigentum an dem um die Jahrhundertwende errichteten, repräsentativen Gebäude von der<br />

„Kleiststraße 10 — 12 Grundstücks-Aktiengesellschaft" (bis etwa Mitte 1935: „Berliner<br />

318


Logenhaus-Aktiengesellschaft") auf den preußischen Staat (Allgemeine Finanzverwaltung)<br />

offiziell umgeschrieben; dieser seinerseits beauftragte die „Fundamentum Treuhand<br />

A.-G.", Berlin NW 7, mit der Verwaltung des „neuerworbenen" Grundbesitzes. Urkundlich<br />

feststellbar ist, daß, jedenfalls im Jahre 1940, die „Reichsanstalt für Film und Bild in<br />

Wissenschaft und Unterricht (Reichserziehungsministerium)" in dem Gebäude untergebracht<br />

war. Nach Kriegsende stand es zunächst unter amerikanischer Requisition und unter<br />

der Fürsorge des Treuhänders für jüdisches Vermögen; später ging es in die Verwaltung<br />

und das vorübergehende Eigentum des JRSO (Jewish Restitution Successor Organization)<br />

über. Jetzt ist es seit geraumer Zeit Eigentum der „Urania Berlin E.V.", der weitbekannten<br />

Vereinigung zur Pflege der Kunst, Wissenschaft und des Kulturfilms, die das mit dem<br />

modernen Hauptgebäude verbundene, etwas im Hintergrund versteckt liegende ehemalige<br />

Logenhaus, besonders dessen großen Saal, für ihre Veranstaltungen benutzt.<br />

Die Aktion vollzog sich zwar unauffällig im Morgengrauen des 19. April 1937, sprach sich<br />

aber dennoch rasch herum, auch in nicht unmittelbar betroffenen jüdischen Kreisen, und<br />

rief starke Bestürzung hervor. „Was folgt?", war die bange Frage. An eine größere Öffentlichkeit<br />

gelangte, soweit erinnerlich, nichts, und die jüdische Presse, damals noch verhältnismäßig<br />

stark vertreten, doch von den Nazi-Behörden zusehends schärfer beobachtet und<br />

kontrolliert, konnte es nicht wagen, die Zwangsauflösung, d. h. das Verbot der Logen, auch<br />

nur zu erwähnen, geschweige denn zu kommentieren. Das abrupte Ausfallen des für vielerlei<br />

Zwecke geeigneten Berliner Logenhauses, in dem bis zu diesem Zeitpunkt - ganz allgemein<br />

— zahlreiche jüdische Veranstaltungen vor allem kultureller Art stattgefunden hatten,<br />

stellte die jüdischen Organisationen von heute auf morgen vor rasch zu treffende Entscheidungen.<br />

Eine von der Kleinkunstbühne des Jüdischen Kulturbundes Berlin aufgeführte<br />

Revue mußte „aus technischen Gründen", wie es in einer Mitteilung hieß, „unterbrochen<br />

werden". Als sie aber schon bald eine Ersatzaufführungsstätte im benachbarten<br />

„Brüdervereinshaus" (in der Kurfürstenstraße) gefunden hatte, wandelte Max Ehrlich, der<br />

unvergessene Kabarettist, wie stets schlagfertig und selbst noch in jener Situation um ein<br />

mutig-tröstendes Scherzwort nicht verlegen, den Titel der Revue („Bitte einsteigen!") ab<br />

in — „Bitte umsteigen!"<br />

Seit Hitler die Macht ergriffen hatte, sei, so berichtete ein zuverlässiger Gewährsmann nach<br />

dem Kriege, den Logen in Deutschland wiederholt nahegelegt worden, dem Beispiel der<br />

Freimaurer folgend, die Organisation freiwillig aufzulösen. Unter Baecks Führung habe<br />

jedoch der deutsche U.O.B.B.-Distrikt ein solches Verhalten als nicht im Einklang stehend<br />

mit den Pflichten der Logen als Kämpfer für Humanität und Gleichberechtigung abgelehnt.<br />

Rückblickend kann in dieser Haltung ein Wille zum geistigen Widerstand erblickt werden,<br />

zum Widerstand selbst im drohenden Untergang.<br />

Daß heute in West-Berlin wieder zwei und in der übrigen Bundesrepublik wieder fünf<br />

Bnai-Brith-Logen bestehen, in Düsseldorf, Frankfurt/M., Hamburg, München und Saarbrücken,<br />

ist nicht nur ein Zeichen für ausgeprägtes Gemeinschaftsbewußtsein, sondern,<br />

verglichen mit den rund 565 000 Juden und den etwa 100 Logen im Deutschland des ausgehenden<br />

Jahres 1932, auch numerisch eine beachtliche Leistung. 1982 wird sich Gelegenheit<br />

bieten, der dann hundert Jahre zuvor erfolgten Inauguration der ersten Bnai-Brith-<br />

Loge in Deutschland, der Deutschen Reichsloge in Berlin, zu gedenken. Die Gründung der<br />

Gesamtorganisation auf internationaler Ebene geht indes noch einige Dekaden weiter<br />

zurück.<br />

Anschrift des Verfassers: Kaunstraße 33, 1000 Berlin 37<br />

319


Charlotte Bara<br />

Von Karl-Robert Schütze<br />

Charlotte Bara. Scherenschnitt von Lotte Reiniger<br />

Kunst und Kultur der zwanziger Jahre sind fast nicht denkbar ohne den Beitrag des Tanzes,<br />

sogar von einer Tanzpsychose 1 wurde gesprochen. In der damaligen Weltmetropole der<br />

Kunst. Berlin, haben sie alle gastiert, die Vertreter verschiedener Schulen des Ausdruckstanzes:<br />

Mary Wigman, Niddy Impekoven, Valeska Gert— und Charlotte Bara, die hier ihre<br />

treueste Gemeinde gefunden hat. Im Jahr 1929 hat sie zuletzt auf einer Berliner Bühne<br />

gestanden und das Publikum in ihren Bann gezogen. Ihre vielen früheren Tanzabende in<br />

den Theatern des Kurfürstendamms und in verschiedenen Sälen haben insbesondere<br />

Künstler zur Beschäftigung mit dem Tanz angeregt.<br />

Martel Schwichtenberg, in Berlin und Worpswede ansässig, immer rastlos unterwegs, hat<br />

einen nicht realisierten Plakatentwurf angefertigt; Lotte Reiniger, die durch ihre Scherenschnitt-Trickfilme<br />

bekannt geworden ist, fertigte den abgebildeten Schnitt nach einer<br />

Tanzfigur von Charlotte Bara. Der heute kaum noch bekannte Dietz Edzard gehörte zu<br />

ihren Dauergästen bei einer Tournee durch Holland und Belgien. Heinrich Vogeler und<br />

Alfred Schulze, empfohlen von ihrem Onkel Dr. Emil Löhnberg aus Hamm, oblag kurz<br />

vor dem ersten Weltkrieg die Einrichtung des Elternhauses in Brüssel.<br />

Diesen Künstlern war die Familie durch Freundschaft ebenso verbunden wie Christian<br />

Rohlfs, der später ebenfalls in Ascona 2 ansässig wurde. Werke von M. Kogan, H. Vogeler,<br />

Ch. Rohlfs und M. Wels illustrieren einen kleinen Band über die Tänzerin, 1921 von Alfred<br />

Richard Meyer im eigenen Verlag herausgebracht 3 ; sie versuchen zusammen mit einer<br />

Anzahl von künstlerischen Photographien die vergängliche Kunst des Tanzes lebendig zu<br />

erhalten. Dieses Ziel zu erreichen wurde erst möglich durch den Film. „Die gotischen<br />

Tänze der Charlotte Bara" wurden produziert vom Institut für Kulturforschung unter der<br />

Leitung von Dr. Hans Cürlis. Leider ist es bisher nicht gelungen, eine Kopie nachzuweisen.<br />

Nach Auskunft von Dr. Cürlis sind die Filme des Institutes, darunter auch die frühen Trickfilme<br />

von Lotte Reiniger, von der Reichsfilmkammer ausgelagert worden und seitdem verschollen.<br />

Rochus diese — er konnte im Januar dieses Jahres seinen 86. Geburtstag feiern -<br />

320


Martel Schwichtenberg: Plakatentwurf (Farbstifte)<br />

entwarf die Dekorationen zu dem Bara-Film. Durch seinen Stil der „entrümpelten Szene"<br />

hat er sich insbesondere als Bühnenbildner und Filmarchitekt, aber auch als Regisseur<br />

einen Namen gemacht.<br />

321


Der expressionistische Dichter Ernst Blass schrieb: „Sie fühlt sich in gotische Bildwerke ein,<br />

in mystische Verschwebungen und Gebärden. Hierbei aber findet sie etwas anderes als sie<br />

suchte, in für sie fruchtbarster Weise, - die Gotik ist nicht nur 'fromm' und 'gläubig'. Hier<br />

wird sie mystisch, individuell, seelenhaft." 4 Besonders fasziniert zeigt sich Blass von dem<br />

„Totentanz", er nennt die Bara „großartig und unvergeßlich". Inspiriert von Ausdruck und<br />

Bewegung der Künstlerin zeigte sich auch Georg Kolbe — er schuf die Mappe „Eine Tänzerin"<br />

für den Seemann Verlag in Leipzig. Die originalen Tuschzeichnungen dazu werden<br />

neben anderen in einer Sonderausstellung des Kolbe-Museums anläßlich der 15. Europäischen<br />

Kunstausstellung „Tendenzen der zwanziger Jahre" zu sehen sein. Stärker als bisher 5<br />

wird dann deutlich werden, daß Plastiken wie die „Kathedrale" in diesem Zusammenhang<br />

entstanden sein müssen. Der für eine figürliche Plastik ungewöhnliche Titel weist auf die<br />

frommen Tänze der Bara hin.<br />

Else Lasker-Schüler dichtet:<br />

„Charlotte wandelt an den Nachmittagen<br />

Durch ihre Gartengänge grünen Heiligensagen<br />

Von frommer Dämmerung ins Himmelreich getragen." 6<br />

Der Garten umgibt das mittelalterliche Castello San Materno in Ascona, das die Familie<br />

Bachrach in Konkurrenz zu Gerhart Hauptmann 1919 erwerben konnte. Auf diesem<br />

Anwesen entstand 1928 nach Plänen des Worpsweder Architekten Carl Weidemeyer, DWB,<br />

das kleine Teatro San Materno als Versuchs- und Kammerspielbühne und für die Schulung<br />

des Nachwuchses. Die Gästewohnungen für Schüler und Künstler gehören zu den ersten<br />

Ferienwohnungen im Tessin überhaupt.<br />

Die Aufgaben der Schule und die politischen Verhältnisse ließen Gastspiele in Berlin nicht<br />

mehr zu, und so ist es hier still geworden um Charlotte Bara, die in Ascona lebt und aus<br />

ihrem reichen Gedächtnis Erinnerungen notiert; ein Verleger hat sich allerdings noch nicht<br />

gefunden. Zwei so vielfältig verbundene Orte, Berlin und Ascona, dazu Worpswede und die<br />

vielen Bekanntschaften von Tourneen — kaum vorstellbar, wie viele bedeutende Persönlichkeiten<br />

ihren Weg gekreuzt haben. Mancher unter den älteren Berlinern wird sich vielleicht<br />

noch erinnern können an diese Form sakraler Kunst, die ihre Vorbilder fand in bildlichen<br />

Darstellungen des Mittelalters, aber auch in den Wandmalereien Ägyptens, neuen Ausdruck<br />

suchend in mystischer Verklärung.<br />

1 Rudolf Pfister: Theodor Fischer. München 1968. S. 68.<br />

2 Christian Rohlfs: Blätter aus Ascona. München 1955 (Piper-Bücherei Nr. 80).<br />

3 Munkepunke-Bibliographie. Berlin 1933, Nr. 54.<br />

4 Ernst Blass: Das Wesen der neuen Tanzkunst. Weimar 1921, S. 38.<br />

5 Plastiken und auch einige Blätter der Mappe sind ständig im Georg-Kolbe-Museum zu besichtigen.<br />

6 Vollständig in: Margarete Kupper, Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers, in: Literaturwiss.<br />

Jahrbuch. Im Auftr. der Görres-Gesellschaft hrsg. von Hermann Kunisch, NF Bd. 5 (1964), S. 246.<br />

322<br />

Anschrift des Verfassers: Burgemeisterstraße 56 c, 1000 Berlin 42


Nachrichten<br />

Mitgliederversammlung 1977<br />

Die Ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins für die Geschichte Berlins am 13. Mai 1977 im<br />

Pommernsaa! des Rathauses Charlottenburg wurde vom Vorsitzenden, Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm,<br />

geleitet, der vor Eintritt in die Tagesordnung die Totenehrung vornahm. Seit der<br />

letzten Mitgliederversammlung sind folgende Mitglieder verstorben: Elisabeth Baron, Gerd Buchwald,<br />

Eugen Ernst, Eva-Maria Gottschild, Anne-Marie Grabow, Dr. Kurt Haußmann, Dr. Waldemar<br />

Heinrich, Emil Hess, Bruno Hoffmann, Renate Jaeckel, Alexander Kreuter, Erna Laux, Dr. Hans<br />

Leichter, Erna Loebeling, Hugo Oberbeck, Thomas Runge, Günter Rutenborn, Prof. Dr. Johannes<br />

Schutze, Lothar Schulz, Edgar Stephan, Friedrich Träger, Günter Wichmann.<br />

Da der Tätigkeitsbericht des Schriftführers den Teilnehmern an der Versammlung schriftlich vorlag<br />

und auch im Jahrbuch 1977 „Der Bär von Berlin" veröffentlicht werden soll, wurde auf seine Vorlesung<br />

verzichtet. Der Schatzmeister, Frau R. Koepke, erstattete den Kassenbericht, der den Mitgliedern<br />

ebenso wie der Voranschlag 1977 in Schriftform zur Verfügung gestellt worden war. Für die<br />

Betreuer der Bibliothek berichtete K. Grave über den Ablauf des Jahres in der Bibliothek als der<br />

einzigen Einrichtung des Vereins mit wöchentlichen Zusammenkünften. Aus den Berichten der Kassenprüfer<br />

Degenhardt und Kretschmer (von diesem vorgetragen) und der Bibliotheksprüfer Mende<br />

und Schlenk (von Mende erstattet) ergaben sich keinerlei Beanstandungen. Der Wunsch nach fleißigerem<br />

Besuch der Vereinsbibliothek und nach Belebung der Bibliotheksabende war allgemein. In der<br />

Aussprache wurde auf Fragen der Bibliothek eingegangen. Der Anregung von Frau E. M. Kaatz. die<br />

Namen verstorbener Mitglieder in den Vereinsorganen bekanntzugeben, soll künftig in der bisher<br />

geübten Weise entsprochen werden.<br />

Landgerichtsrat a.D. Rechtsanwalt D. Franz beantragte mit einem Dank für die Arbeit die Entlastung<br />

des Vorstandes, und die Versammlung stimmte diesem Antrag einmütig zu. Der Vorsitzende<br />

dankte dem langjährigen, jetzt auf eigenen Wunsch ausscheidenden Vorstandsmitglied W. G.<br />

Oschilewski für sein stetes Interesse und für die Redaktion des Jahrbuches in einem Vierteljahrhundert.<br />

Auf Vorschlag des Vorstandes wurde F. Escher neu für den Beirat nominiert. Unter der Wahlleitung<br />

von Rechtsanwalt D. Franz wurden die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstandes einzeln<br />

ohne Gegenstimmen in ihren Ämtern bestätigt und die Beiratsmitglieder gemeinsam einstimmig<br />

gewählt. Der neue Vorstand hat für die kommenden zwei Jahre folgende Zusammensetzung: Vorsitzender:<br />

Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm, 1. stellv. Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch,<br />

2. stellv. Vorsitzender: J. Grothe, Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Stellv. Schriftführer:<br />

A. Brauer, Schatzmeister: Frau R. Koepke, Stellv. Schatzmeister: Frau L. Franz, Beirat: Professor Dr.<br />

H. Engel, F. Escher, Professor Dr. K. Kettig, Dr. P. Letkemann, K. P. Mader, J. Schlenk, Professor Dr.<br />

M. Sperlich, G. Wollschlaeger. Die Versammlung nahm mit Bedauern zur Kenntnis, daß Professor<br />

Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm nur noch für ein Jahr das Amt des Vorsitzenden ausüben will. Die<br />

bewährten Kassenprüfer Degenhardt und Kretschmer wie die ebenso gewissenhaften Bibliotheksprüfer<br />

Mende und Schlenk wurden einmütig in ihren Ämtern bestätigt.<br />

Am Schluß wurden Fragen des Veranstaltungsprogramms aufgeworfen. Das Mitglied Pierson fragte<br />

nach der Ausstrahlung des Vereins auf den Geschichtsunterricht. An der Erörterung dieser Fragen<br />

beteiligten sich Professor Hoffmann-Axthelm, Dr. Kutzsch, Frau Koepke und K. P. Mader. Der<br />

Mitgliederstand am 31. Dezember 1976 war 838. Vom 1. Januar 1977 bis 13. Mai 1977 sind 27 Mitglieder<br />

neu aufgenommen worden, von denen eines auf der Mitgliederversammlung mit Beifall begrüßt<br />

werden konnte. H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Achtung! Wir bitten unsere Mitglieder, bei Wohnungswechsel die neue Anschrift umgehend der<br />

Geschäftsstelle mitzuteilen, damit der Versand der Publikationen ohne zeit- und kostenaufwendige<br />

Verzögerungen erfolgen kann.<br />

323


Schadow-Statue Friedrichs des Großen für das Charlottenburger Schloß<br />

Am 13. Juni 1977 übergab unser Mitglied Herr Axel Springer im Rahmen einer Feierstunde im<br />

Gartensaal des Mittelbaues des Charlottenburger Schlosses der Schlösserverwaltung den Nachguß der<br />

im Kriege untergegangenen Friedrich-Statue von Schadow.<br />

Die Idee zu diesem ersten ausgeführten monumentalen Friedrichsdenkmal (Höhe 2.40 m) stammt von<br />

dem Minister v, Hertzberg, der seit 1791 die Pommerschen Landstände zu einer Spendenaktion für<br />

dieses Denkmal aufrief. Nach anfänglich schleppendem Verlauf der Spendenaktion kamen schließlich<br />

6.200 Taler zusammen, so daß am 3. 8. 1791 der Kontrakt mit Schadow geschlossen werden<br />

konnte.<br />

Die Statue wurde 1792 unter Mitarbeit eines Gehilfen Schadows, des Franzosen Claude Goussaut,<br />

fertiggestellt; ihre feierliche Enthüllung erfolgte am 10. 10. 1793 auf dem Stettiner Exerzier- und<br />

Paradeplatz vor dem alten Anklamer Tor. Für die Umzäunung des Denkmals fand der gleiche Zauntyp<br />

Verwendung, den Schadow für sein Zieten-Denkmal auf dem Wilhelmplatz in Berlin entworfen hatte.<br />

Napoleon wollte die Statue 1807 nach Paris entführen, ließ aber davon ab, als er hörte, daß sie nicht<br />

auf Befehl des Königs, sondern durch die Beiträge der pommerschen Provinzen errichtet worden sei.<br />

Witterungsbedingte Schäden waren 1877 der Anlaß, das Marmordenkmal durch eine Bronzekopie zu<br />

ersetzen. Die Firma Gladenbeck führte den Guß aus, den man auf einen neugeschaffenen Granitsockel<br />

anstelle des alten, aus grauem schlesischem Marmor bestehenden, setzte. Die Abgüsse der<br />

Reliefs des alten Sockels wurden in den neuen eingelassen, der alte Sockel selbst versteigert, während<br />

die drei Originalreliefs in das Stettiner Museum kamen (Verbleib unbekannt). Das verwitterte<br />

Original der Statue fand nun eine Aufstellung im Treppenhaus des Ständegebäudes in der Luisenstraße<br />

28; es ist heute verschollen. Ein Hilfsmodell in genau halber Höhe des Originals befand sich vor<br />

dem Kriege im runden Saal der Berliner Akademie der Wissenschaften. Es ist heute ebenso verschollen<br />

wie nach ihm gefertigte alte Abgüsse, von denen sich einer bei C. G. Gerolds Erben in Berlin,<br />

der andere im Schloß Charlottenburg befand.<br />

Von dem 1877 ausgeführten Bronzeguß sind noch folgende Kopien bekannt;<br />

1. Galvanoplastische Kopie, als Ersatz eines ursprünglichen Zinkgusses 1904 auf dem Friedrichsplatz<br />

in Liegnitz aufgestellt.<br />

2. Marmorkopie der Statue ohne Sockel von Tübbecke, 1902 im hinteren kleinen Treppenhaus des<br />

Kaiser-Friedrich-Museums aufgestellt.<br />

3. Bisquitstatuette (Höhe 0,17 m) der Kgl. Porzellan-Manufaktur, um 1850 entstanden.<br />

4. Größere Nachformung unter Zugrundelegung des Hilfsmodells (Höhe 1,10 m) aus glasiertem<br />

Porzellan vom Ende der 1880er Jahre.<br />

Unser Bronzeguß wurde nach einem im Besitz der Staat). Gipsformerei befindlichen Gipsabguß,<br />

der von dem verschollenen Marmor-Original genommen worden war. in der Gießerei Noack ausgeführt.<br />

Ihren endgültigen Standort wird die Statue im Knobelsdorff-Flügel des Schlosses erhalten, wenn die<br />

z. Zt. darin befindliche Sammlung des Kunstgewerbe-Museums ihren endgültigen Platz im Museumsgelände<br />

am Südrand des Tiergartens gefunden haben wird. Thilo Eggeling<br />

Historisches Archiv der Technischen Fachhochschule Berlin<br />

Seit dem Sommersemester 1976 wird im Auftrag des Rektorats der Technischen Fachhochschule<br />

Berlin von den Professoren Wefeld und Dr. Ortel eine zentrale Sammlung aller historischen Unterlagen<br />

über die früheren Ingenieurschulen seit ihrer Gründung aufgebaut und auch die neuere Zeit der<br />

Technischen Fachhochschule dokumentarisch erfaßt. Ziel des Archivs ist es zunächst, die Geschichte<br />

der ehemaligen Bereiche Bau, Beuth, Gauß und Gartenbau und ihr Weiterleben in der Technischen<br />

Fachhochschule in Bild, Text und Ton systematisch zu sammeln. Später sollen die jeweiligen Archivgruppen<br />

auch ausgewertet werden.<br />

Die 2. Oberschule Charlottenburg im Bildungszentrum Schillerstraße wurde auf den Namen „Friedensburg-Oberschule"'<br />

getauft. Dieser Name erinnert an unser verstorbenes Mitglied, den Bürgermeister<br />

Professor Dr. Ferdinand Friedensburg.<br />

324


Restaurierungsarbeiten an historischen Bauten in Potsdam<br />

Im Rahmen des jetzt laufenden Fünfjahrplans sollen nach einem Beschluß der Potsdamer Stadtverordneten<br />

die schöne Fassade des im Krieg zerstörten Langen Stalls (1737), das als Moschee verkleidete<br />

Pumpwerk für die Fontänen des Schlosses Sanssouci und der als Filmmuseum vorgesehene Marstall<br />

restauriert werden. In der Wilhelm-Külz-Straße ist die Restaurierung einer Reihe historischer Gebäude<br />

vorgesehen.<br />

Wie die BZ am Abend, Berlin (Ost), Nr. 37 vom 14. Februar 1977 weiter berichtet, soll sich durch<br />

Neubau von Wohnungen vor allem im „Stern" und in der Waldstadt II in den Ravensbergen die Einwohnerzahl<br />

Potsdams bis 1980 um 8000 auf 128 000 erhöhen. Die Planung sieht ferner 1600 neue<br />

Restaurantplätze sowie eine Beobachtungsstation für Satelliten-Geodäsie und ein Geophysikalisches<br />

Festkörper-Laboratorium für die Akademie der Wissenschaften der DDR auf dem Telegrafenberg vor.<br />

Denkmalschutz für das Holländische Viertel in Potsdam<br />

Das Holländische Viertel in Potsdam, dessen Abriß lange Zeit befürchtet werden mußte, ist jetzt in die<br />

(höchste) Kategorie I („Denkmale von republikweiter und internationaler Bedeutung") der Denkmalliste<br />

der DDR aufgenommen worden, die gemäß Denkmalpflegegesetz jetzt für alle Bezirke aufgestellt<br />

wird. Damit konnte der jahrelange Streit um die Erhaltung der 134 in vier Karrees angeordneten<br />

Backsteinhäuser mit ihren gegenwärtig unzulänglichen Wohnbedingungen entschieden werden. Auf<br />

Anordnung von König Friedrich Wilhelm 1. wurde dieses Ensemble 1737 bis 1742 von Baumeister<br />

Johann Boumann mit holländischen Handwerkern errichtet. Im Sinne der Peuplierungspolitik des<br />

Soldatenkönigs sollte es von holländischen Einwanderern bezogen werden. Die Generalrestaurierung<br />

dieses Viertels soll 1980 beginnen.<br />

Ehrung für Walther G. Oschilewski<br />

Am 9. Mai 1977 fand im Schöneberger Rathaus auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters eine<br />

Feierstunde zu Ehren unseres Mitgliedes Walther G. Oschilewski statt. Eine stattliche Zahl von fachlich<br />

und literarisch mit dem Geehrten Verbundenen, von Freunden und Bekannten hatte sich zur<br />

Überreichung der Urkunde eines „Professors ehrenhalber" eingefunden, die in Vertretung des Bürgermeisters<br />

von Wissenschaftssenator Löffler mit anerkennenden Worten vorgenommen wurde.<br />

Prof. Oschilewski antwortete mit einer Dankesansprache, in welcher er uns mit seinem ebenso ungewöhnlichen<br />

wie tief beeindruckenden Lebenslauf bekanntmachte.<br />

Wir benutzen die Gelegenheit, auch an dieser Stelle Walther G. Oschilewski nochmals für die jahrzehntelangen<br />

Dienste zu danken, die er dem Verein in uneigennützigster Weise geleistet hat. Fast<br />

sämtliche Ausgaben unseres Jahrbuchs „Der Bär" wurden von ihm redigiert, und in zahlreichen wertvollen<br />

Aufsätzen hat er aus seinem großen Wissen über manches wichtige Detail aus der Geschichte<br />

unserer Stadt berichtet. Wenn Prof. Oschilewski jetzt auch die redaktionelle Leitung unseres Jahrbuchs<br />

abgegeben hat, so hoffen wir doch noch auf manchen Beitrag aus seiner unermüdlichen Feder.<br />

W. Hoffmann-Axthelm<br />

*<br />

Unserem Mitglied Franz Berndal ist im Rahmen einer Feierstunde vom Landesverband Berlin des Verbandes<br />

der Heimkehrer und deren Hinterbliebenen Deutschlands die „Silberne Ehrennadel" verliehen<br />

worden. Das Bezirksamt Charlottenburg zeichnete ihn anläßlich eines Lyrik-Wettbewerbs mit einem<br />

Lyrikpreis aus.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum<br />

70. Geburtstag Frau Agathe Meinecke, Frau Margarete Oschilewski, Frau Waltraut Hahn, Frau Irmgard<br />

Zillessen, Herrn Paul-Michael Matern; zum 75. Geburtstag Herrn Arno Hartmann, Frau Gertrud<br />

Lauschke, Frau Irmgard Koch; zum 80. Geburtstag Frau Irmgard Zeye, Frau Gertrud Hedrich, Frau<br />

Käthe Haack-Schroth, Herrn Dr. Ernst Wiehert; zum 85. Geburtstag Frau Margarete Muthmann.<br />

325


Buchbesprechungen<br />

Max Mechow: Die Ost- und Westpreußen in Berlin. Ein Beitrag zur Bevölkerungsgeschichte der<br />

Stadt. Berlin: Haude & Spener 1975. 114 S., brosch., 14,80 DM. (Berlinische Reminiszenzen,<br />

Nr. 48.)<br />

Wie jede andere Weltmetropole der jüngsten Zeit ist auch Berlin nur durch den Zuzug Auswärtiger<br />

groß geworden. Dieses Einströmen, häufig ebenso begünstigt wie beargwöhnt, meistens jedoch unkontrolliert,<br />

führte in der Stadt nicht zur landsmannschaftlichen Separation, sondern zu einer<br />

Verschmelzung, die jenen Typ des weltoffenen und assimilierungsfreudigen Berliners erst herausbildete.<br />

Die Herkunftsmerkmale traten in dem Maße zurück, in dem die Aufnahmebereitschaft des<br />

„Schmelztiegels" zunahm und alle deutschen Landschaften gleichermaßen umfaßte. Dies dürfte jedoch<br />

nicht gleich zu „irrigen Vorstellungen" von der Herkunft der Berliner Bevölkerung geführt haben, wie<br />

der Autor des vorliegenden Buches eingangs vorgibt, denn seine nachfolgende Ausarbeitung beweist<br />

das Gegenteil. Danach steht fest, daß die Ost- und Westpreußen seit den 1890er Jahren den 2. Platz<br />

der Einwandererquote (hinter Brandenburg) innehatten und sogar die Schlesier hinter sich lassen<br />

konnten. Während 1864 die Zuwanderer aus Altpreußen - knapp 15 000 - noch die letzte Stelle<br />

hinter den anderen Ostprovinzen einnahmen, lebten 1905 bereits 143 000 gebürtige Ostpreußen und<br />

115 000 Westpreußen in Berlin. Dieses Potential blieb nicht ohne Auswirkungen auf die politische,<br />

wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Reichshauptstadt.<br />

In Form von ausgewählten Kurzbiographien erscheinen dann die geschichtlich bedeutenden Ost- und<br />

Westpreußen aus 3 i /2 Jahrhunderten, beginnend mit Schlüter, Chodowiecki, Jablonski und Gotzkowsky,<br />

ferner E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Otto Nicolai, Johann Jacoby und Fanny Lewald bis<br />

zu den namhaften Vertretern der jüngsten Vergangenheit wie Käthe Kollwitz, Ernst Wiechert, Leopold<br />

Jeßner, Paul Wegener und Kurt Schumacher. Dazwischen eine große Zahl nicht minder<br />

herausragender Zuwanderer - Unternehmer, Politiker, Militärs, Gelehrte, Künstler. Mechow weitet<br />

diese personale Studie zu einer Untersuchung der wirtschaftlich-ökonomischen Verhältnisse (und<br />

Verhaltensweisen) aus, die die Abwanderung aus den Ostgebieten bedingt haben. So verdienstvoll die<br />

Schilderung z. B. der Agrarsituation in der alten Heimat oder des Dienstbotenlebens im neuen Berlin<br />

auch ist, so gestattet der begrenzte Raum des Bändchens häufig nur recht undifferenzierte Äußerungen,<br />

die dem Thema nicht immer gerecht werden können. Auf dem Gebiet der Handwerks- und<br />

Gewerbeentwicklung Berlins, speziell in der Phase der Frühindustrialisierung, gibt es inzwischen<br />

einen erheblich erweiterten Forschungsstand zu berücksichtigen. Die gleichfalls eingestreuten Quellenangaben<br />

belegen neben Statistiken auch persönliche Lebensbilder und die Namensforschung.<br />

Trotz mancher Lücken in dieser Hinsicht bietet die Arbeit einen verdienstvollen Querschnitt durch<br />

ein bedeutendes Kapitel deutscher Binnenwanderung. Peter Letkemann<br />

Willy Brandt: Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960—1975. Hamburg: Hoffmann und<br />

Campe 1976.655 S., 16 Abb.-Taf., Leinen, 36 DM.<br />

Willy Brandt, Ehrenmitglied unseres Vereins und Ehrenbürger Berlins (1970), ist neben seinen weltweiten<br />

politischen und staatsmännischen Aktionen auch immer wieder als Schriftsteller hervorgetreten.<br />

Seine publizistische Produktivität ist enorm, sie richtet sich vornehmlich an den selbstbewußten Bürger,<br />

der das zerschlissene Kleid des Untertans abgestreift hat. Geschehnisse und Probleme während<br />

seiner Amtszeit als Bundeskanzler hat Willy Brandt schon in dem Zwischenbilanz-Buch „Über den<br />

Tag hinaus" (1974) dargestellt. In seinem neuen Buch „Begegnungen und Einsichten" ist der Rahmen<br />

weiter gefaßt: Hier beschreibt er die Zeit von 1960 bis 1975, d.h. die ereignisreichen Jahre, in denen<br />

er auf exponiertem Posten an den Schalthebeln der Zeitgeschichte stand: als Regierender Bürgermeister<br />

des Landes Berlin (1957-1966), Präsident des Deutschen Städtetages (1958 — 1963), Vizekanzler<br />

und Bundesaußenminister (1966 — 1969), als Bundeskanzler von 1969 bis zu seinem Rücktritt<br />

wegen der Guillaume-Affäre im Mai 1974 und nicht zuletzt auch als Vorsitzender der Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands (seit 1964).<br />

326


Die vorliegende fulminante Veröffentlichung ist nicht nur ein vorurteilsfreier und selbstkritischer<br />

Erfahrungs- und Erkenntnisbericht und eine Porträtgalerie der die weltpolitische Szene beherrschenden<br />

Akteure (so interessant dies auch erscheint), sondern sie ist in ihrer frappierenden Anschaulichkeit<br />

und sprachlichen Plastizität geradezu ein eindringliches Lehrbuch der politischen Vernunft, das über<br />

den Tag hinaus Geltung beanspruchen kann. Brandt mahnt, wo Fehlentscheidungen und Engstirnigkeit<br />

den Freiheitsraum beeinträchtigen und gefährden, er bemüht sich, Tabus, Immobilität und Verkrustungen,<br />

die die Politik oft so ungenießbar machen, aufzuweichen, und er kämpft um progressive<br />

Entwicklungen in Staat und Gesellschaft - der Menschen, ihrer Würde und ihrer Lebensbedingungen<br />

wegen.<br />

So werden hier viele Fakten und Spannungsfelder in ihren Hintergründen und Höhepunkten deutlich<br />

gemacht, Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten beleuchtet, ohne dabei die Schwierigkeiten und<br />

Hemmnisse zu verniedlichen. Es ist erstaunlich, wie viele Ereignisse und Geschehnisse von exemplarischer<br />

Bedeutung bereits vom Flugsand der Zeit verschüttet und damit aus dem Bewußtsein der<br />

Menschen geschwunden sind.<br />

Willy Brandts Begegnungen mit unzähligen Persönlichkeiten der internationalen Politik kulminieren<br />

in seinen Gesprächen mit J. F. Kennedy, Charles de Gaulle, Leonid Breschnew, Georges Pompidou,<br />

Edward Heath, Josip Broz Tito und vielen anderen, wobei die Unmittelbarkeit der reflektierenden<br />

Darstellung bei aller Wahrung der Diskretion als Stilmittel besonders auffällt.<br />

Wer sich von den leider noch immer grassierenden Diffamierungskampagnen freihält, wird Brandts<br />

Bemühungen um eine Symbiose von Politik und Moral, von Geist und Erfahrung den Respekt nicht<br />

versagen wollen. Niemand, der in der Politik kein mieses Geschäft, sondern eine staatsbürgerliche<br />

Aufgabe sieht, kann — wie immer man auch zu politischen Positionen dieses Mannes stehen mag- nicht<br />

an der Tatsache vorübergehen, daß dieser untadelige Demokrat den von ihm als richtig erkannten<br />

Weg geradlinig und konsequent zu verfolgen sucht. So ist es auch kein Zufall, daß ihm im Hinblick auf<br />

sein Engagement um Einführung der bundesdeutschen Außenpolitik in eine weltweite Entspannungs-<br />

und Friedensdiplomatie nach wie vor Achtung und Sympathie der Weltöffentlichkeit entgegengebracht<br />

wird, wie wohl kaum einem anderen Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte.<br />

Walther G. Oschilewski<br />

Gustav Sichelschmidt: Berlin in alten Ansichtskarten. Zaltbommel/Niederlande: Europäische Bibliothek<br />

1975 (2. Aufl. 1977). 156 Abb.-Taf. mit Text, Pappbd., 26,80 DM.<br />

Nachdem in der Buchreihe „Städte in alten Ansichten" in den Niederlanden bereits 800 Bände erschienen<br />

sind, in Belgien mehr als 300 und in Frankreich etwa 125, konnten bis zum Herbst 1976<br />

auch rund 100 deutsche Städte behandelt werden, darunter die früher selbständigen Charlottenburg,<br />

Spandau und Schöneberg. Der Verfasser, der die Ansichtskarten mit Geschick ausgewählt und mit<br />

Sachverstand kommentiert hat, schreibt in seiner Einleitung zu Recht, das in diesem Band vorgelegte<br />

Material wirke „jedenfalls wie ein imaginäres Museum einer Epoche, der man trotz aller latenten<br />

inneren Brüchigkeit heute Glanz und Glorie zugesteht". Die Ansichtskarten, so Gustav Sichelschmidt,<br />

reflektierten noch etwas von der Seele des alten Berlins, „das sich auf kärglichem Boden sein Lebensrecht<br />

in einer nicht immer wohlmeinenden Welt erringen mußte". Berlin, damals drittgrößte Stadt<br />

der Welt, wahrscheinlich interessanteste Metropole Europas und Mittelpunkt Deutschlands, ist heute<br />

um vieles ärmer geworden. Dies liegt nicht nur am nostalgischen Rückblick jeder Generation auf die<br />

„gute alte Zeit", sondern ganz gewiß auch an den Kriegszerstörungen und an der Stadtsanierung, die<br />

als „schmerzlicher Tiefschlag gegen den guten Geschmack" bezeichnet wird. Der Autor geht mit den<br />

Stadtplanern hart ins Gewicht, über deren Unfähigkeit „auch die monotonen Deklamationen unserer<br />

Denkmalschützer keineswegs hinweg (täuschen)".<br />

Dieser Band läßt sich jedem Berlinfreund empfehlen, gerade auch der jungen Generation. Wer weiß<br />

noch etwas vom Luna-Park am Haiensee, dessen Terrassen 7000 Besucher aufnehmen konnten,<br />

oder wer kann heute noch die Stelle des Wilmersdorfer Sees und von „Schramms Seebad Wilmersdorf"<br />

angeben? Die Abbildungen 133 bis 135 sind leider vertauscht. H. G. Schultze-Berndt<br />

327


Deutscher Planungsatlas. Bd. 9: Berlin (West), Lieferung 1: Verkehrserschließung Berlin (West),<br />

bearb. von Bruno Aust und Jürgen Bollmann. Hannover: Schroedel Verlag 1975. Textteil 25 S. m.<br />

5 Abb., Kartenteil 4 Karten, 28 DM.<br />

Der bereits in den 50er Jahren konzipierte und nach 1961 abgeschlossene Planungsatlas Berlin erhält<br />

mit den vorliegenden Karten eine erste Ergänzung. Dargestellt ist die Häufigkeit der Verkehrsmittel<br />

des öffentlichen Nahverkehrs sowie die Entfernung der einzelnen Stadtgebiete von Haltestellen des<br />

öffentlichen Nahverkehrs (Darstellung der Isodistanzen). Für jedes der beiden Stichdaten liegen Karten<br />

zur Verkehrshäufigkeit in den Spitzenzeiten wie auch zur verkehrsschwächeren Mittagszeit vor.<br />

Die Karten bieten eine Fülle von Aussagemöglichkeiten. Besonders deutlich wird die Umgestaltung der<br />

Verkehrsabläufe im Steglitz-Friedenauer Bereich durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie von<br />

Spichernstraße bis Walther-Schreiber-Platz. Doch sind hier bereits wieder durch die Streckenverlängerung<br />

nach Steglitz Änderungen eingetreten.<br />

Die Möglichkeit des flexiblen - nach Bedarf gestaffelten - Einsatzes von Omnibussen zeichnet sich<br />

ebenso ab wie die Ballung von Nahverkehrsmitteln in den Spitzenzeiten etwa im Zoogebiet. In spezielle<br />

inhaltliche und kartographische Probleme, etwa des in der Hauptkarte nicht dargestellten Platzangebotes<br />

der einzelnen Verkehrsmittel, führt das Erläuterungsheft ein.<br />

Es bleibt zu wünschen, daß bald weitere Lieferungen dieses Kartenwerkes erscheinen mögen.<br />

Felix Escher<br />

Studien zur Europäischen Geschichte, Band XI. Herausgegeben von Hans Herzfeld, Wilhelm Berges,<br />

Otto Busch, Henning Köhler, Ernst Schulin: Zisterzienser-Studien I. Berlin: Colloquium-Verlag 1975.<br />

128 Seiten, brosch., 34- DM.<br />

Innerhalb der Reihe „Studien zur Europäischen Geschichte" ist im Colloquium-Verlag Berlin der<br />

erste Band der „Zisterzienser-Studien" erschienen. Mit ihm beginnt eine Publikationsreihe, in der<br />

die Ergebnisse eines „Forschungsschwerpunktes Zisterzienser", wie er verkürzt genannt wird, niedergelegt<br />

werden. Autoren sind Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter des Friedrich-<br />

Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin. Da sich die Zisterzienserforschung außerhalb der<br />

traditionellen Ordensgeschichtsschreibung bisher nur auf begrenzte historische Teildisziplinen beschränkt<br />

hat, wird mit dieser selbstgestellten Aufgabe, die „seit Beginn von der Freien Universität<br />

durch Sachmittelfinanzierung unterstützt wird", wie es im Vorwort Prof. Reinhard Schneiders<br />

heißt, hoffentlich eine wichtige Lücke in der Zisterzienserforschung geschlossen werden können.<br />

Interessant wird das Arbeitsprogramm durch das Zusammenwirken von Mediävisten aus der Landes-,<br />

Kirchen-, Wirtschafts-, Sozial-, Verfassung- und allgemeinen politischen Geschichte, deren unterschiedliche<br />

wissenschaftliche Erfahrungen umfassende und grundlegende Erkenntnisse bei der Lösung<br />

vieler noch offener Probleme in der Zisterzienserforschung versprechen, zumal eine Unzahl noch<br />

nicht publizierter Quellen einer intensiven Bearbeitung harrt.<br />

Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte werden die ökonomische Bedeutung der Klöster<br />

in ihrer Umgebung und ihre Organisationsformen untersucht werden. Die Rolle der Grangien als<br />

landwirtschaftliche Großbetriebe und die der städtischen Klosterhöfe als Stapelplätze und Verkaufszentren<br />

dürften hierbei in den Vordergrund gerückt werden. Die Tätigkeit der Mönche als Diplomaten<br />

und Politiker im Dienst der jeweiligen Territorialherrschaft und das Verhältnis des Ordens zu<br />

anstehenden Reformen und seine Einstellung zu Häresien sollen ebenfalls erhellt werden. Quelleneditionen<br />

und Monographien werden die Folge ergänzen. Ziel aller am „Zisterzienserobjekt" beteiligten<br />

Wissenschaftler ist es, über die Ordensgeschichte hinaus neue Beiträge zur allgemeinen Mittelaltergeschichte<br />

West- und Mitteleuropas veröffentlichen zu können. Ein hochgestecktes, ungemein<br />

reizvolles Projekt also.<br />

Jeder Interessierte weiß, welche Bedeutung diesem Reformorden zukommt, wie schnell er speziell im<br />

12. Jahrhundert gewachsen ist, welches hohe Ansehen er besonders in diesem und im 13. Jahrhundert<br />

genoß, wie tief er im Rahmen seiner straffen Organisation und Wirtschaftsbestrebungen in die Belange<br />

von Kirche und Gesellschaft eingriff und welchen Einfluß er im Zusammenwirken mit der landesherrlichen<br />

Politik bei der Besiedlung der brandenburgischen Marken besaß.<br />

Im ersten Band untersucht Reinhard Schneider das Problem bewaffneter Dienstleute bei den Zisterziensern,<br />

deren zentralistische Ordensverfassung natürlicherweise auch Belastungen für die einzelnen<br />

Klöster hervorbrachte. Reisen der jeweiligen Äbte zum Generalkapitel, Bewachung der Güterlieferungen<br />

im allgemeinen Handelsverkehr und Schutz der manchmal weitab gelegenen Grangien dürften<br />

Bewaffnete im Dienst des Ordens notwendig gemacht haben.<br />

328


Peter Feige beleuchtet die Entstehung der Zisterzienserkongregationen auf der Iberischen Halbinsel,<br />

und Wolfgang Ribbe stellt in einem Beitrag zur Ordenspolitik der Askanier heraus, wie planmäßig<br />

sich die Landesherrschaft im Elbe-Oder-Raum der Zisterzienser zu bedienen wußte, ehe ihre eigene<br />

Verschuldung die Wirtschaftskraft und damit die Unabhängigkeit des Ordens wieder erheblich<br />

stärkte.<br />

Noch einmal berichtet Reinhard Schneider über Güter- und Gelddepositen in Zisterzienserklöstern<br />

und zeigt die Stellung des Ordens im mittelalterlichen Wirtschafts- und Finanzleben.<br />

Die nächsten zwei Bände sollen im Spätsommer erscheinen. Man sieht der Niederlegung der Forschungsergebnisse<br />

des Zisterzienserprojekts mit Spannung entgegen, weil sie die überragende Rolle<br />

des Ordens im Hohen Mittelalter weit gefächert sichtbar machen werden. Günter Wollschlaeger<br />

Olaf Groehler: Das Ende der Reichskanzlei. Herausgeber: Zentralinstitut für Geschichte der Akademie<br />

der Wissenschaften der DDR. (Ost-)Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1976.<br />

40 S. broschiert, 5,-M.<br />

Bestrebungen, die Geschichte zu popularisieren, sind allenthalben anzutreffen. Dies gilt für neue Geschichtszeitschriften<br />

mit Hinwendung an die breite Öffentlichkeit wie für die Reihe „illustrierte historische<br />

hefte" der Akademie der Wissenschaften der DDR, die mit dem hier vorliegenden Heft eingeleitet<br />

wurde. (Die Titel der Hefte 2 bis 4 sind: Evemarie Badstübner-Peters: Wie unsere Republik<br />

entstand; Willibald Gutsche: 1. August 1914; Baidur Kaulisch: U-Bootkrieg 1914/1918).<br />

Der Schilderung der Tage vom 20. April bis 1. Mai 1945 in der (Neuen) Reichskanzlei wird deren<br />

Chronik vorangestellt, vom Auftrag Ende Januar 1938 an Albert Speer zum Neubau an der Voßstraße,<br />

über die Einweihung nur ein Jahr später am 12. Januar 1939 bis zum Kriegsende und zur<br />

Sprengung der letzten Ruine im Sommer 1950 und der Verwendung von Steinen und Marmor für<br />

das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park und für den U-Bahnhof Thälmannplatz. Man erfährt hier<br />

wie auch schon in anderen Publikationen die jeweilige Frontlage und die Geschehnisse in der Reichskanzlei.<br />

Die Sprache hat nicht unbedingt populärwissenschaftliches Niveau, wenn es etwa heißt:<br />

„Dönitz mausert sich zum Stellvertreter des in Agonie liegenden faschistischen Reiches". Von Interesse<br />

ist ein Anlageplan der Reichskanzlei einschließlich der unterirdischen Anlagen.<br />

H. G. Schultze-Berndl<br />

Berliner Wände. Bilder aus einer verschwundenen Stadt. In Ost-Berlin fotografiert von Thomas<br />

Höpker. Begleittext von Günter Kunert. München/Wien: Hanser 1976. 96 Seiten Abb. mit Text,<br />

lamin. Pappbd., 38,-DM.<br />

Als farbiges Titelfoto prostet einem der offenbar unverwüstliche und auch die Ost-West-Spaltung<br />

überstehende Schultheiss auf einem lädierten Wandbild entgegen (und auch auf Seite 74 ist die<br />

reichgestaltete Fassade der Bergbrauerei abgebildet, durch deren leere Fensterhöhlungen man in das<br />

Grün der inzwischen herangewachsenen Natur blickt). Thomas Höpker, den man als einen Star-<br />

Fotografen bezeichnen könnte, wenn er nicht ein „stern"-Fotograf wäre, hat in Ost-Berlin, meist<br />

in den Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte, seine Bilder von Berliner Wänden und Wandstücken<br />

aufgenommen, denen vom Bildmotiv her und durch die Linse des Fotografen Symbolgehalt zukommt.<br />

Günter Kunert, in Ost-Berlin lebender Lyriker und Erzähler, hat diesem eigenwilligen Band<br />

einen Essay „Besuch im versunkenen Berlin" beigegeben, den er wie folgt einleitet: „Ein neues Vineta<br />

— so liegt das alte Berlin auf dem Grunde der Vergangenheit, vom Vergessen überspült, und nur<br />

manchmal, unter besonders günstigen atmosphärischen Bedingungen, wird es wie durch einen<br />

Schleier sichtbar." Das Besondere Berlins wird ständig insularer (und zwar gerade in der „Hauptstadt<br />

der DDR"): Es schrumpft räumlich, je umfassender der Aufbau vorangeht. Kunert erkennt den<br />

Hauswänden und den auf ihnen angebrachten Zeichen eine eigene Stimme zu: Diese verkommenen<br />

und vergammelten Häuser, echte Plebejer in einer Gegenwart, die dem Plebejischen hauptsächlich<br />

Lippendienst leistet, reden lauter und ungenierter von ihrer durchlebten Zeit, und manche von ihnen<br />

tun das sogar schriftlich: in Worten, Zeichen, Symbolen, zu enigmatischen Chiffren gewordenen<br />

Buchstaben, mit Kritzeleien und Graffiti, wie es für das Altertum kennzeichnend gewesen ist.<br />

Kritisch merkt Kunert an, welches das Programm einer Sanierung hätte sein müssen, „ganz zu schweigen<br />

vom historischen Stadtkern, der nicht annähernd so beschädigt war wie die Zentren von Warschau,<br />

329


Danzig, Breslau. Spät, nämlich eine ganze Generation nach der Zerstörung, beginnt die Wiederherstellung<br />

des alten Gendarmenmarktes, . . . beginnt auch die Restaurierung des Berliner Doms." Verfremdung,<br />

Eindringlichkeit, Fälle des Inhalts und der Botschaft ergeben sich daraus, daß die hier<br />

gezeigten Dinge in den Fotografien als Medium auftauchen: ein Medium in einem anderen. Und<br />

um noch einmal auf die Eingangsworte zurückzukommen, diesmal aber Günter Kunert zu zitieren:<br />

Dem Schultheiss mit dem monströsen Bierseidel wird durch den gegenwärtigen Zustand der Beschädigung<br />

eine neue Würde verliehen; das Höpkersche Foto stattet ihn zudem mit der Qualität eines<br />

Artefaktes aus, welches, wie andere seinesgleichen, Interpretation ebenso provoziert wie legitimiert.<br />

H. G. Schultze-Bernd!<br />

*<br />

Unser Jahrbuch „Der Bar von Berlin" wird voraussichtlich Ende September ausgeliefert werden. Die<br />

Mitglieder erhalten den Band zugeschickt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das laufende<br />

Jahr < /. Z. 36 DM) entrichtet haben.<br />

Im II. Vierteljahr 1977<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Heinz-Günther Bahr. Kirchenmusikdir.<br />

1000 Berlin 41, Dickhardtstraße 42<br />

Tel. 8 52 43 86 (Vorsitzender)<br />

Fritz Bunsas, Ingenieur<br />

1000 Berlin 42, Hoeppnerstraße 37<br />

(Bibliothekare)<br />

Prof. Dr. Dietrich Hahn, Physiker<br />

1000 Berlin 38. Am Schlachtensee 98<br />

Tel. 8 03 31 17 (Dr. Hans Leichter)<br />

Sigismund Keuten, Linoleumhändler<br />

1000 Berlin 31, Westfälische Straße 58<br />

Tel. 8 92 53 94 (Brauer)<br />

Erhard Mayer, Gärtner<br />

1000 Berlin 41. Rubensstraße 23<br />

Tel. 8 55 32 23 (Dieter Brozat)<br />

Rainer Peglow, Auszubildender<br />

1000 Berlin 51, Romanshorner Weg 29<br />

Tel. 4 51 83 98 (Dr. Bickerich)<br />

Angelika Rutenborn. Hausfrau<br />

1000 Berlin 44, Schillerpromenade 16/17<br />

Tel. 6 23 52 19 (Vorsitzender)<br />

Dr. Klaus-Joachim Schneider, Rechtsanwalt<br />

1000 Berlin 38, Elvirasteig 6c<br />

Tel. 8 01 85 59<br />

(Frau Dr. Hoffmann-Axthelm)<br />

Marianne Strobel<br />

1000 Berlin 31, Paulsborner Straße 20<br />

Tel. 8 91 15 65 (Günther Linke)<br />

330<br />

Ellen Wiegand, Rentnerin<br />

1000 Berlin 41, Opitzstraße 3<br />

• Tel. 8 12 21 44 (Alice Hamecher)<br />

Wilhelm Zilkenat, Reg.-Amtmann<br />

1000 Berlin 21, Jagowstraße 42<br />

Tel. 3 91 29 10 (Dieter Zilkenat)<br />

Dr. G. B. von Hartmann, Chemiker<br />

1000 Berlin 31, Ringbahnstraße 9<br />

Tel. 8 92 98 44<br />

(Frau Dr. Hoffmann-Axthelm)<br />

Werner Papke, Vertreter<br />

1000 Berlin 20, Kretzerzeile 4<br />

Tel. 3 66 84 04<br />

(Frau Dr. Hoffmann-Axthelm)<br />

Gabriele Villain, Schulleiterin<br />

1000 Berlin 19, Eichenallee 62<br />

Tel. 3 04 83 66 (Adelheid Rintelen)<br />

Hildegard Rudolph, Rentnerin<br />

1000 Berlin 30, Goltzstraße 12<br />

Tel. 2 16 18 89 (Vorsitzender)<br />

Wolfgang Liebehenschel, Dipl.-Ing., Baudirektor<br />

1000 Berlin 37, Am Lappjagen 7<br />

Tel. 8 13 58 92 (Brauer)


Studienfahrt ins Wendland<br />

Die diesjährige Exkursion führt vom 23. bis 25. September ins Hannoversche Wendland, in den Bereich<br />

des seit 1968 bestehenden Naturparks Elbufer-Drawehn (Drawehn = wendisches Wort für<br />

„Waldland") im Kreis Lüchow-Dannenberg. Die etwa um 800 eingewanderten slawischen Wenden<br />

und ihre Sprache sind um die Mitte des 18. Jahrhunderts untergegangen. Die für das Wendland<br />

typische Dorfform der Rundlinge ist allerdings von den Wenden weder geplant noch gestaltet; auch<br />

deutsche Siedler lebten zusammen mit den Wenden in Runddörfern. Der als „Wendenknüppel"<br />

bekannte hölzerne Giebelpfahl kommt in gleicher Weise außerhalb slawischer Siedlungsgebiete vor.<br />

Die Teilnehmer an der Studienfahrt werden in Hitzacker untergebracht, von dem Merlan vor 300 Jahren<br />

schrieb, „das Ampt vnd Stättlein Hitzger oder Hitzakker ist in einer lustigen Gegend an der<br />

Elbe gelegen". Zweimal ist Hitzacker ins „Rampenlicht der Weltgeschichte" getreten: einmal 1635, als<br />

Herzog August der Jüngere aus Hitzacker, der kleinen Residenz seines Anteils an der Herrschaft Dannenberg.<br />

seinem „nova Ithaka", zum Herzog von Braunschweig und Lüneburg berufen wurde und<br />

seine bedeutende Bibliotheca Augusta nach Wolfenbüttel mitnahm. Zum anderen hatte Claus von<br />

Arnsberg, Klassenkamerad unseres Schriftführers und jetzt Prinz Claus der Niederlande, seinen Wohnsitz<br />

in Hitzacker.<br />

Es ist das folgende Programm vorgesehen:<br />

Freitag, 23. September 1977<br />

6.30 Uhr Abfahrt von der Hardenbergstraße 32 (Berliner Bank)<br />

11.30 Uhr Besuch der Brauerei Wittingen, Imbiß, Führung durch die Braustätte, Referat von<br />

Dr. H. G. Schultze-Berndt „Zur Historie der Bierstadt Wittingen und ihrer<br />

Brauerei" sowie Abtrunk<br />

17.00 Uhr Ankunft in den Hotels in Hitzacker<br />

19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen im „Waldfrieden"<br />

Sonnabend, 24. September 1977<br />

9.00 Uhr Abfahrt in das Rundlingsdorf Bussau<br />

9.30 Uhr Kurzreferat von Landesbaupfleger Professor Dr.-Ing. Erich Kulke, Mitbegründer<br />

des „Vereins zur Erhaltung von Rundlingen im Hannoverschen Wendland", über<br />

die Eigenart der Rundlinge<br />

Anschließend Weiterfahrt nach Lübeln in den Wendlandhof. Dort Vortrag von<br />

Dr. Berndt Wächter: „Deutsche und Slawen im Licht der archäologischen Forschung"<br />

12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen im Ratskeller Lüchow<br />

14.00 Uhr Dia-Vortrag im kleinen Saal des Ratskellers vom Wilhelm Meier-Peithmann über<br />

die Vogelwelt im Naturpark Elbufer-Drawehn<br />

15.30 Uhr Weiterfahrt durch die Rundlinge und anschließend durch die Göhrde mit Kaffeepause<br />

19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen im Schafstall auf dem Schafskovenberg in Ventschau<br />

(Spanferkel, 12,50 DM)<br />

Sonntag, 25. September 1977<br />

9.30 Uhr Abfahrt, auf der Eibuferstraße über den Kniepenberg (Gründungspunkt des Naturparks)<br />

bis nach Lauenburg<br />

12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen in Lauenburg und Rundgang durch die Elbestadt<br />

ca. 20.00 Uhr Ankunft in Berlin<br />

Änderungen vorbehalten!<br />

Auf der gesamten Fahrt am 24. September und am Sonntag bis zum Kniepenberg werden wir dankenswerterweise<br />

vom Geschäftsführer des Naturparks Elbufer-Drawehn e.V., Bürgermeister Oberstleutnant<br />

a. D. Walter Eschrlch, begleitet.<br />

331


Richten Sie bitte Ihre Anmeldungen formlos bis zum 25. Juli 1977 an Dr. H. G. Schultze-Berndt,<br />

Seestraße 13, 1000 Berlin 65. In Rundschreiben werden Sie über weitere Einzelheiten der Studienfahrt<br />

unterrichtet und dann auch um den Kostenbeitrag von 60,- DM je Person gebeten, der die<br />

Omnibusfahrt und alle weiteren Aufwendungen einschließt. In Hitzacker sind insgesamt 30 Einzelzimmer<br />

und 8 Doppelzimmer reserviert worden, etwa zur Hälfte in der gehobenen Preisklasse des<br />

Parkhotels (laut Prospekt 32,- DM bis 40,- DM Endpreis je Bett). Wenn eine niedrigere Kategorie<br />

gewünscht wird, müßten Sie dies bei der Anmeldung mitteilen.<br />

Gesonderte Einladungen werden nicht verschickt!<br />

Hatte Obersuperintendent Hildebrand: 1671 geschrieben, bei den Wenden sei ,.freßen und sauffen<br />

ihr erstes, ihr letztes, ihr aller bestes", so wurde ihm 1914 widersprochen, daß Spiel und Trunk nur<br />

Laster der „Germanen" in der Lüneburger Heide seien, die „der verschlagene Wende" nicht kenne.<br />

Wir bilden uns ein eigenes Urteil!<br />

Veranstaltungen im III. Quartal 1977<br />

1. Freitag, 15. Juli 1977, 9.30 Uhr: Besichtigung der Gipsformerei der Stiftung Preußischer<br />

Kulturbesitz. Sophie-Charlotte-Straße 17. Führung durch Herrn Ernst Kretschmann.<br />

Fahrverbindungen: Busse 54, 74, 87, S-Bahn Westend.<br />

2. Sonnabend. 16. Juli 1977, 15 Uhr: Besichtigung der Ausstellung „Theodor Hosemann"<br />

im Torhaus der Spandauer Zitadelle, 1. Stockwerk, Straße Am Juliusturm. Führung<br />

durch Herrn Wolfram Geister. Fahrverbindungen: Busse 13, 55, 99.<br />

3. Sonnabend. 23. Juli 1977, 10 Uhr: Besichtigung des Landesarchivs, Kalckreuthstraße<br />

1 — 2 Ecke Kleiststraße. Führung durch Herrn Dr. Gerhard Kutzsch. Fahrverbindungen:<br />

U-Bahn Wittenbergplatz, Busse 19, 85.<br />

Im Monat August finden keine Vorträge und Führungen statt. Die Bibliothek ist zu<br />

den üblichen Zeiten geöffnet.<br />

4. Freitag. 2. September 1977, 18 Uhr: Besichtigung des Kraftwerkes Reuter. Otternbuchtstraße.<br />

Führung durch Herrn Hauß. Fahrverbindungen: Busse 10, 55, 99, 72.<br />

5. Sonntag, 18. September 1977, 11 Uhr: „Streiflichter aus Friedenau". Führung durch<br />

Herrn Günter Wollschlaeger. Treffpunkt: Kaisereiche. Fahrverbindungen: Busse 48,<br />

75,85,25.<br />

6. 23. bis 25. September: Studienfahrt ins Wendland. Ausführliches Programm auf der<br />

vorhergehenden Seite. Bitte Anmeldungsmodus beachten.<br />

Freitag. 29. Juli, 26. August und 30. September 1977. zwangloses Treffen in der<br />

Vereinsbibliothek ab 17 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31.<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße<br />

13. Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-AUee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1000 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

332


Schabt dcr7^, , ! , ?, tf, * lr A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

73. Jahrgang Heft 4 Oktober 1977<br />

Berliner Telefonzelle um 1913 (Foto: Landesbildstelle Berlin)<br />

333


Es begann in Berlin: Hundert Jahre Fernsprecher (1877 — 1977)<br />

Von Gerd Gnewuch<br />

„Meine Herren, diesen Tag müssen wir uns merken", sagte der Generalpostmeister<br />

Heinrich Stephan am 26. Oktober 1877, als die ersten Sprechversuche zwischen dem<br />

Generalpostamt (Leipziger Straße 15) und dem etwa 2 km entfernten Haupttelegrafenamt<br />

(Französische Straße 33 c) erfolgreich verlaufen waren. Es war der Geburtstag des deutschen<br />

Fernsprechwesens, und Stephan selbst hatte das neue Kind der Technik aus der<br />

Taufe gehoben. Kurz zuvor hatte er in einer amerikanischen Zeitschrift vom Telefon des<br />

in Boston lebenden Alexander Graham Bell gelesen und sofort die Bedeutung des Gerätes<br />

als umfassendes Kommunikationsmittel erkannt. Stephan ließ sich von dem in Berlin<br />

weilenden Leiter des Londoner Haupttelegrafenamts zwei Beil-Telefone beschaffen, die<br />

am 25. Oktober 1877 im Gebäude des Generaltelegrafenamts (Französische Str. 33b/c)<br />

erprobt wurden, einen Tag vor dem oben erwähnten „Geburtstag".<br />

Bald danach wurden weitere Versuche, im Fernverkehr über Telegrafenleitungen, zwischen<br />

Berlin und den Orten Schöneberg (6 km), Potsdam (26 km), Brandenburg (61 km) und<br />

Magdeburg (150 km) abgewickelt. Am 12. November 1877 ließ Stephan das Telefon, das<br />

er in „Fernsprecher" umbenannte, dem Reichskanzler Fürst Bismarck in Varzin und am<br />

25. November dem Kaiser in seinem Berliner Palais vorführen. Aber damit war der<br />

Siegeszug des Fernsprechers noch nicht gesichert. Den Anfang dazu machte die Reichs-<br />

Post- und Telegrafenverwaltung selbst, die das von Siemens nachgebaute und verbesserte<br />

Beil-Gerät als Hilfsmittel im Telegrafendienst einsetzte. Die erste Telegrafenbetriebsstelle<br />

arbeitete damit seit dem 12. November 1877 in Friedrichsberg bei Berlin. 18 weitere<br />

Postanstalten, darunter die in Britz, Friedrichsfelde, Reinickendorf, Weißensee und<br />

Wilmersdorf, schlössen sich an. Deutschland war somit das erste Land der Welt, das den<br />

Fernsprechverkehr in den öffentlichen Nachrichtendienst einführte.<br />

Aber Stephan kam mit seinem bereits Ende 1877 gefaßten Vorsatz, den Fernsprecher auch<br />

dem privaten Nachrichtenverkehr nutzbar zu machen, nicht voran. Bei den Berlinern galt<br />

das von Siemens für 12 Goldmark angebotene Gerätepaar als technisches Spielzeug, über<br />

das Witzblätter gern herfielen. Auch unter der Berliner Kaufmannschaft fanden sich<br />

anfangs keine ernsthaften Interessenten, obwohl Emil Rathenau, der spätere Begründer<br />

der AEG, in Stephans Auftrag werbend tätig war. Der in seinen Bemühungen wenig erfolgreiche<br />

Rathenau klagte, daß „die Einwohner unserer Stadt neuen Einrichtungen gegenüber<br />

stets ungewöhnliche Kälte bewahrt haben". Doch Stephan ließ nicht locker. Gewarnt<br />

durch die Absicht des Bankiers Gerson von Bleichröder, ein privates Fernsprechnetz einzurichten,<br />

ließ Stephan seine weitreichenden Beziehungen bei den Berliner Unternehmen<br />

spielen. Zwar blieb ein Aufruf an die Berliner Öffentlichkeit (14. Juni 1880) zur Beteiligung<br />

an einer „Stadtfernsprecheinrichtung" ohne Resonanz, die Behörde begann aber<br />

trotzdem (Winter 1880) mit dem Bau der Anlage. Schließlich konnte am 12. Januar 1881<br />

die erste deutsche Fernsprechvermittlungsstelle beim Haupttelegrafenamt in Berlin mit<br />

acht Teilnehmern einen Versuchsbetrieb aufnehmen. Die ersten wagemutigen Teilnehmer<br />

waren: sechs Banken, die Direktion der Großen Berliner Pferdeeisenbahn-Aktiengesellschaft<br />

und Cäsar Wollheim (Kohlen und Metalle). Am 1. April 1881 trat die „Berliner<br />

Stadtfernsprecheinrichtung" mit 48 Anschlüssen, darunter neun Börsensprechstellen, aus<br />

dem Versuchsstadium an die Öffentlichkeit. Das erste Teilnehmerverzeichnis, ein Heft-<br />

334


Fernsprechamt in Berlin um 1890<br />

chen mit 200 Eintragungen, erschien am 14. Juli 1881. Bis auf das Königliche Polizeipräsidium,<br />

Molkenmarkt 1, fehlen darin die Behörden (selbst die Post!) völlig. Jedoch findet<br />

man in dem Verzeichnis so bekannte Namen wie die Bankhäuser Mendelssohn u. Co..<br />

Bank für Handel und Industrie, Dresdner Bank, Delbrück, die Handelshäuser Ravene,<br />

Spindler, Gerson und Borchardt, die Vossische Zeitung und das Berliner Tageblatt sowie<br />

Siemens & Halske. Die Nr. 1 hatte die Berliner Börse (Zelle 3) erhalten.<br />

Zur ersten Vermittlungsstelle kamen noch im ersten Betriebsjahr drei weitere, und schon<br />

am 15. August 1881 wurde beim Postamt W 64 (Unter den Linden 5) dem Publikum<br />

die erste öffentliche Sprechstelle zugänglich gemacht. Ein selbständiges Stadtfernsprechamt<br />

(Oranienburger Straße 76) gab es allerdings erst seit 1887. Bis dahin gehörte der Fernsprechbetrieb<br />

zur Telegrafie. In den Vororten entwickelten sich schnell eigene „Stadtfernsprecheinrichtungen".<br />

So begann z.B. Rixdorf 1885 mit acht und Spandau 1886 mit<br />

335


16 Teilnehmern. Bald wurden auch benachbarte Ortsnetze wie Charlottenburg (1882) und<br />

Potsdam (1883) den Berliner Teilnehmern zugänglich gemacht. Zu dem anfangs<br />

erhobenen Gebühren-Pauschbetrag von 200 Mark jährlich kamen in diesen Fällen Zuschläge<br />

von 50 Mark. Der erste bedeutende Fernsprech-Fernverkehr wurde seit Dezember<br />

1883 zwischen den Börsen in Berlin und Magdeburg abgewickelt. Dem Verkehr mit<br />

Hamburg (seit 1887) und Dresden (seit 1888) dienten oberirdische Fernleitungen aus<br />

Bronzedraht. Der erste Auslandsverkehr fand 1894 zwischen Berlin und Wien statt.<br />

1889 zählte man in Berlin schon die 10 000. Sprechstelle. Damals begann man verstärkt,<br />

das bis dahin über die Dächer der Häuser gespannte Leitungsnetz durch unterirdische,<br />

in gußeisernen Röhren verlegte Kabel zu ersetzen. 1899 setzte man in Berlin, bei Postämtern,<br />

Privatgeschäften und auf Bahnhöfen versuchsweise die ersten Münzfernsprecher<br />

ein. 80 andere deutsche Orte schlössen sich diesem Beispiel an. In Berlin arbeitete auch<br />

(seit 1900) eine erste, allerdings nichtöffentliche Vermittlungsstelle mit Wählbetrieb,<br />

wobei die Teilnehmer (selbstwählend) ohne Hilfe einer Vermittlungskraft miteinander<br />

sprechen konnten. Aber erst nach dem Ersten Weltkrieg konnte damit begonnen werden,<br />

den Berliner Fernsprechbetrieb planmäßig auf Selbstwählverkehr umzustellen.<br />

Das war auch unerläßlich, denn die Aufnahmefähigkeit der technisch veralteten 41 Vermittlungsstellen<br />

mit Handbetrieb war erschöpft. Seit dem 18. Juni 1922 (zunächst nur<br />

innerdienstlich) arbeitete die erste Selbstwähl-Vermittlungsstelle (Berlin-Zehlendorf). Für<br />

das Publikum begann der Selbstwählverkehr 1926 bei den Ämtern Lichterfelde. Wannsee<br />

und Breitenbach. Die letzte Handvermittlungsstelle („Bismarck") wurde am 15. März<br />

1936 auf Wählbetrieb umgestellt. Damals gab es in Berlin sieben Fernsprechämter,<br />

75 Vermittlungsstellen und 502 000 Anschlußeinheiten, davon 291 000 Hauptanschlüsse.<br />

Unter den 5810 öffentlichen Sprechstellen befanden sich 4260 Münzfernsprecher.<br />

Bemerkenswert für den Fernverkehr waren die Kabellegungsarbeiten von Siemens &<br />

Halske gewesen. Das Unternehmen hatte 1912 mit der Verkabelung der deutschen Fernsprech-Fernlinien<br />

begonnen. Anlaß hierfür war ein schweres Unwetter, das im November<br />

1909 um Berlin die oberirdischen Leitungen zerstört und die Stadt wochenlang vom<br />

Fernsprechverkehr mit der Umwelt abgeschnitten hatte. Dem bekannten „Rheinlandkabel"<br />

(von Berlin nach Köln und Düsseldorf) folgten nach dem Ersten Weltkrieg weitere<br />

Linien unter Beteiligung der „Deutschen Fernkabelgesellschaft". Das 1929 in Berlin W 35,<br />

Winterfeldtstraße, in Betrieb genommene Fernamt entwickelte sich bald zum größten<br />

Fernamt Europas. Es vermittelte Ferngespräche in alle Welt (seit 1930 auch über Kurzwelle<br />

nach Übersee), wickelte den Schnelldienst nach 27 Orten der Berliner Umgebung ab<br />

und stellte Leitungen für Rundfunk- und Fernsehübertragungen bereit. 1945 waren dort<br />

4700 Kräfte tätig.<br />

Bei Kriegsende 1945 waren durch Bombeneinwirkung und Erdkämpfe etwa zwei Drittel<br />

aller Fernsprechanschlüsse verlorengegangen. Nur 11 von 79 Vermittlungsstellen hatten<br />

(teilweise beschädigt) den Krieg überstanden. Der gesamte innerstädtische Fernsprechverkehr<br />

war unterbrochen, denn das meist unter Trümmern begrabene Kabelnetz war<br />

entweder durch Bomben zerrissen oder an wichtigen Stellen, z.B. durch Brückensprengungen,<br />

unterbrochen worden. Was in den Vermittlungsstellen an noch brauchbaren Einrichtungen<br />

vorhanden war, verfiel (ab Mitte Mai 1945) großenteils der Demontage.<br />

Trotzdem befahl die sowjetische Militärkommandantur schon am 13. Mai 1945, bis zum<br />

20. Mai 25 000 Anschlußeinheiten in Betrieb zu setzen und Verbindungen zwischen<br />

Behörden. Krankenhäusern und lebenswichtigen Betrieben herzustellen. Zugleich mußte<br />

336


Haupttelegraphenamt Berlin, Ecke Oberwall- und Französische Straße 33 b/c<br />

der Fernsprechdienst der Besatzungsmächte vorrangig gesichert werden. Die drei Berliner<br />

Telegrafenbauämter lösten die ihnen gestellten Aufgaben trotz unüberwindlich erscheinender<br />

Schwierigkeiten.<br />

Mitte Juli 1945 erschien ein „Amtliches Verzeichnis der Fernsprechteilnehmer in Berlin<br />

1945" mit einer Auflage von 500 Stück. Es umfaßte auf 49 Seiten (Oktavformat) etwa<br />

750 Anschlüsse von Behörden, Versorgungsbetrieben usw. Die Zahl der privaten Anschlußinhaber<br />

war auf Befehl der Alliierten Kommandantur (23. August 1945) auf 2 v.H.<br />

der Zivilbevölkerung beschränkt worden. Alle Anschlüsse mußten neu beantragt werden,<br />

wobei die Stadtkommandanten, zeitweilig unter Beteiligung der Bezirksbürgermeister,<br />

ein langwieriges Prüf- und Genehmigungsverfahren ausübten.<br />

Ende 1945 waren 18 Vermittlungsstellen mit etwa 16 000 Anschlußeinheiten wieder<br />

betriebsfähig, und es erschien (Januar 1946) nach dem Stand vom Dezember 1945 das<br />

„Amtliche Fernsprechbuch für Berlin". Es enthielt auf 436 Seiten etwa 10 000 Anschlüsse<br />

meist behördlichen Charakters. Dem Mangel an Privatanschlüssen versuchte die Post<br />

durch Einrichtung öffentlicher Sprechstellen (seit November 1945) in den postalischen<br />

Schalterräumen zu begegnen. Weitere Erleichterungen brachten die seit Januar 1946 bei<br />

den Postämtern installierten Münzfernsprecher, deren Zahl bis Ende 1946 auf 1000 anwuchs.<br />

Obwohl das erste Fernsprechhäuschen schon am 20. Dezember 1945 dem Verkehr<br />

übergeben wurde (Standort: Schöneberg, Ecke Potsdamer und Grunewaldstraße), stieg<br />

337


Telefonarbeiten auf den Dächern von Berlin (Aus: „Daheim" 1882. Nr. 25)<br />

die Zahl der „Zellen" mangels Glas und anderer kaum erreichbarer Materialien dagegen<br />

nur langsam an. Der Fernverkehr war nach dem Ende des Krieges nur stockend in Gang<br />

gekommen. Die Kriegszerstörungen beim Fernamt waren zwar nicht besonders schwerwiegend,<br />

doch wurden nach der Besetzung des Gebäudes durch russische Truppen etwa<br />

70 v.H. der vorhandenen technischen Einrichtungen ausgebaut und abtransportiert.<br />

Die Demontageverluste sind auf einen Wert von 13 Mio. Mark geschätzt worden. Am<br />

7. Juli 1945 übernahm die amerikanische Besatzungsmacht die Verfügungsgewalt über<br />

das Haus.<br />

338


Leitungsgestänge<br />

der Fernlinie 8<br />

am S-Bhf. Botanischer<br />

Garten (1921)<br />

(Alle Bilder: Berliner<br />

Post- und Fernmeldemuseum)<br />

Anfang August 1945 wurde der Ferndienst für den zivilen Behördenverkehr mit fünf<br />

Orten in der SBZ aufgenommen. Nach einer Genehmigung durch die Alliierte Kommandantur<br />

konnten vom 31. Januar 1946 an bestimmte Privatteilnehmer den Fernsprechdienst<br />

zwischen Groß-Berlin und der SBZ wahrnehmen. Die Erlaubnis wurde bereits am<br />

25. Februar 1946 auf den Verkehr mit den übrigen Besatzungszonen ausgedehnt. Wer<br />

telefonieren durfte, entschieden die Stadtkommandanten für ihre jeweiligen Sektoren.<br />

Der erste (selbstverständlich ebenfalls genehmigungspflichtige) Auslandsverkehr setzte<br />

am 3. April 1948 ein.<br />

Auf Veranlassung der Deutschen Wirtschaftskommission der SBZ begannen schon 1948,<br />

und zwar vor der politischen Spaltung Berlins, die Arbeiten zum Aufbau eines separaten<br />

Fernmeldenetzes im Ostsektor. Die auf das Fernamt in Berlin W 35 zuführenden Fernkabel<br />

erhielten außerhalb West-Berlins Schaltstellen, die eine spätere Trennung ermöglichen<br />

sollten. Bei der Spaltung wurden nach dem 30. November 1948 von 99 481 Fernsprechhauptanschlüssen<br />

und 1806 öffentlichen Sprechstellen 31 710 Anschlüsse und<br />

571 Sprechstellen der Kontrolle der (westlichen) Magistratspost entzogen. Bald darauf<br />

339


wurden auch die Anschlüsse von Teilnehmern, die in der SBZ, im südwestlichen Stadtrandgebiet<br />

Berlins, wohnten und deren Vermittlungsstellen in Berlin (West) lagen, auf<br />

Fernsprechämter in Potsdam, Teltow und Kleinmachnow umgeschaltet. Vom 12. April<br />

1949 an nahm das bis dahin auf den Behördenverkehr beschränkte, im sowjetischen<br />

Sektor liegende Fernamt Lichtenberg den Dienst zwischen Ost-Berlin und der SBZ wahr.<br />

Ohne Vorankündigung wurden von der Postverwaltung im anderen Teil Berlins am<br />

14. April 1949 die 89 Fernleitungen, die vom Fernamt (Berlin W 35) in die SBZ führten,<br />

abgetrennt und auf das Amt im Ostsektor umgeschaltet. Gespräche aus Berlin (West) in<br />

die SBZ mußten nun entweder über Lichtenberg oder auf dem Umweg über Westdeutschland<br />

geführt werden.<br />

Ein wichtiges Datum, das in seiner politischen Bedeutung weit über den praktischen<br />

Fernsprechdienst hinausgeht, markiert der 27. Mai 1952. An diesem Tage wurde - vom<br />

Ostsektor aus — das innerstädtische Berliner Fernsprechnetz unterbrochen. Durch Umleitung<br />

von Gesprächen über die Bundesrepublik war wenigstens ein bescheidener, oft mit<br />

langen Wartezeiten verbundener Sprechverkehr mit Teilnehmern in Ost-Berlin möglich.<br />

Dagegen gestaltete sich der Fernsprechverkehr mit dem Westen durch Ausbau der Funkwege<br />

zunehmend günstiger. Am 5. August 1954 führte der damalige Berliner Finanzsenator<br />

Dr. Haas mit dem Bonner Oberbürgermeister das erste Selbstwähl-Ferngespräch<br />

von Berlin aus in die Bundesrepublik. 1959 stand die erforderliche Zahl der Fernleitungen<br />

für einen umfassenden Selbstwählferndienst zur Verfügung. Nur die Bereiche um Hannover<br />

und Nürnberg blieben bis zur Inbetriebnahme des Fernmeldeturms auf dem Schäferberg<br />

(1964) im handvermittelten Dienst erreichbar. Seit 1966 ist Berliner Teilnehmern auch<br />

die Selbstwahl in zahlreiche Gebiete des Auslandes möglich. Im innerstädtischen Bereich<br />

von Berlin (West) konnte das Fernmeldebauvolumen in den Jahren zwischen 1960 und<br />

1970 mit der Zahl der Anträge nicht Schritt halten. Zu der Versorgung der neuen Satellitenstädte<br />

mit Anschlüssen kam die notwendige Umstellung auf das Zehnmillionensystem<br />

(Rufnummern siebenziffrig). Viele Antragsteller kamen auf die erst Mitte 1975<br />

„abgebaute" Warteliste, auf der sich z.B. 1971 über 59 000 Antragsteller befanden.<br />

Im Januar 1971 konnten zur Erleichterung des Fernsprechverkehrs zwischen Berlin (West)<br />

und der DDR (einschließlich Ost-Berlin) 10 Handrufleitungen zwischen dem West-Berliner<br />

Fernmeldeamt 1 und dem Fernamt Potsdam geschaltet werden. Dadurch konnte seit dem<br />

31. Januar 1971 nach jahrelanger Pause wieder ein direkter - wenn auch handvermittelter<br />

— Fernsprechverkehr zwischen beiden Teilen Berlins durchgeführt werden. Als Folge<br />

weiterer, mit dem Berlin-Abkommen zusammenhängender Verhandlungen nahm die Zahl<br />

der von östlicher Seite bereitgestellten Verbindungen nach und nach zu. Heute (Stand:<br />

31. Dezember 1976) stehen im Fernsprechverkehr mit der DDR und Berlin (Ost) abgehend<br />

280 voll- und 69 halbautomatische Leitungen und ankommend dagegen nur 72 voll- und<br />

11 halbautomatische Leitungen zur Verfügung. Dem postinternen Betriebsdienst dienen<br />

einige zusätzliche Handrufleitungen.<br />

Den Dienst in Berlin (West) versehen ein Fernmeldeamt für den Weitverkehr, vier Fernmeldeämter<br />

für den Ortsverkehr, 95 Ortsvermittlungsstellen und ein Fernmeldezeugamt.<br />

Nach dem Stand vom 31. Dezember 1976 gibt es in Berlin (West) 848 772 Haupt- und<br />

247 172 Nebenanschlüsse. Unter den 4891 öffentlichen Sprechstellen sind 4718 Münzfernsprecher.<br />

Die West-Berliner wickeln im Tagesdurchschnitt etwa 2 Millionen Orts- und<br />

150 000 Ferngespräche ab (darunter 17 000 Gespräche mit Teilnehmern in Berlin [Ost]<br />

und 3300 in die DDR). Die für Berlin (West) so wichtigen Fernsprechverbindungen mit<br />

340


dem Bundesgebiet werden über Richtfunk vom Fernmeldeturm Schäferberg (nach Gartow<br />

über Lüchow bzw. Torfhaus/Harz) und vom Fernmeldeturm Frohnau (nach Clenze über<br />

Lüchow) abgewickelt.<br />

Literatur:<br />

Gerd Gnewuch und Kurt Roth: Aus der Berliner Postgeschichte. Von der OPD zur LPD Berlin<br />

1850—1975. Berlin 1975. Dort umfangreiche Quellenangaben. Die Zahlen nach dem Stand vom<br />

31. Dezember 1976 stammen aus: Landespostdirektion Berlin. Kurze Zusammenfassung wichtiger<br />

Daten aus dem Post- und Fernmeldewesen.<br />

70 Jahre Siemens-Archiv Berlin - München<br />

Von Dr. Sigfrid v. Weiher<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 37. Im Mühlenfelde 1<br />

Am 14. März 1907 gab ein Direktions-Rundschreiben der Siemens-Werke Berlin folgendes<br />

bekannt:<br />

„Herr Chefingenieur Richter 1 ist aus der Abteilung für Beleuchtung und Kraft ausgeschieden<br />

und hat im Auftrage des Herrn Geheimrat von Siemens eine neue Tätigkeit übernommen,<br />

die sich auf allgemeine, außerhalb des Geschäfts liegende, wirtschaftliche, technische<br />

und insbesondere historische Aufgaben erstrecken wird. Eine seiner wichtigsten<br />

Obliegenheiten ist die Begründung eines Archivs, zunächst der Firma Siemens & Halske.<br />

später auch der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vormals Schuckert & Co. Im Gebäude<br />

des Glühlampenwerkes von S&H, Helmholtzstraße 4. sind Herrn Richter für Bureau und<br />

Archiv die erforderlichen Räume zur Verfügung gestellt. Sein Assistent ist Herr Kundt."<br />

Mit dieser Verfügung hatte Wilhelm von Siemens 2 , der damalige Chef des Hauses, deutlich<br />

gemacht, daß die Traditionspflege und die Konservierung wertvoller Reminiszenzen an<br />

die Pionierzeit der Firma und der Elektrotechnik nun einen institutionellen Rahmen<br />

erhalten sollten.<br />

Der Anstoß zur Archivgründung bei Siemens kam von außen. Bereits kurz nach der Jahrhundertwende<br />

hatte Prof. Dr. Richard Ehrenber^ bei Vorbereitung seines Werkes über<br />

„Die Unternehmungen der Brüder Siemens" als erster die Briefsammlungen des Firmengründers<br />

eingesehen und für seine Arbeit ausgewertet 4 . Nachdem er im Spätjahr 1905<br />

bereits die Gründung eines ersten deutschen Werkarchivs, bei Krupp in Essen, herbeigeführt<br />

hatte, wurde nun, knapp eineinhalb Jahre später, auch bei Siemens in Berlin<br />

seinem Vorschlag entsprochen. Der Mann der ersten Stunde, Chefingenieur Richter, war<br />

zweifellos mit der ihm gestellten völlig neuartigen Aufgabe überfordert. Er hat aber in der<br />

kurzen Zeit seines Wirkens die Zusammenführung aller historisch wertvollen Dokumente<br />

eingeleitet und den Versuch unternommen, den Nachschub archivwürdiger Akten zu<br />

sichern.<br />

341


Wilhelm von Siemens<br />

(1855-1919)<br />

Nach Richters Tod im Jahre 1909 übernahm Dr. Karl Burhenne 5 die Leitung des Archivs.<br />

Es war ein mutiger Schritt der Firma, einen jungen, von der Firmentradition zunächst<br />

noch völlig unberührten, dafür aber fachlich vorgebildeten Mann für diese Aufgabe einzusetzen.<br />

Seine Studien bei Prof. Ehrenberg hatten ihm das wissenschaftliche Rüstzeug<br />

geliefert, mit neuartigen Methoden die gestellte Aufgabe anzugehen. Bei Verfeinerung<br />

und Fortsetzung der Initiativen seines Amtsvorgängers begann Burhenne nun systematisch,<br />

pensionierte Beamte und Werkmeister zu Gesprächen aufzusuchen, bei denen mit gutem<br />

Wirkungsgrad versucht wurde, Klarheit über frühere Werkverhältnisse, über die Anfänge<br />

der sozialen Einrichtungen und über technikgeschichtliche Einzelheiten zu gewinnen.<br />

Diese protokollierten Gespräche wurden für die spätere Geschichtsschreibung immer<br />

wieder herangezogen; sie ergänzten die Akten und Dokumentensammlung in nützlicher<br />

Weise. — Das 100. Geburtsjahr des Firmengründers, 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, gab<br />

Veranlassung, eine erste Sammlung musealer Objekte zur Finnengeschichte zusammenzutragen<br />

und in Siemensstadt in einer Sonderausstellung zu präsentieren. Daraus entwickelte<br />

sich dann später das Siemens-Museum. Prof. Conrad Matschoß veröffentlichte<br />

342


Werner-von-Siemens-<br />

Institut in München,<br />

Prannerstraße lü<br />

zum gleichen Anlaß eine erste Teilausgabe der Briefe von Werner Siemens in einem zweibändigen<br />

Werk 6 .<br />

Das Ende des Ersten Weltkrieges hatte gezeigt, welche große Bedeutung einer zentral<br />

gelenkten Sozialpolitik in einem Großunternehmen zukommt. So wurde Dr. Burhenne<br />

1919 mit dem Aufbau und der Leitung einer Sozialpolitischen Abteilung betraut, der er<br />

dann bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorstand. Aus dem jungen Historiker<br />

war ein Sozialpolitiker geworden.<br />

Die Archivleitung ging 1919 auf Oberingenieur August Rotth 1 über, der während der<br />

letzten Jahre für den Firmenchef Wilhelm von Siemens als wissenschaftlicher Berater tätig<br />

war; ihm hat er 1922 ein biographisches Gedenkbuch gewidmet. Zum gleichen Zeitpunkt<br />

gedachte das Haus Siemens seines 75. Gründungsjubiläums. Man nahm dies zum Anlaß,<br />

nun im Siemensstädter Verwaltungsgebäude eine erste permanente historische Ausstellung<br />

aufzubauen, die bereits den Charakter eines echten Firmenmuseums hatte. Hierfür<br />

besorgte Rotth aus Zaukeroda in Sachsen die erste, 1882 von Siemens gebaute Grubenlokomotive,<br />

ein besonders attraktives Pionierstück der frühen Starkstromtechnik, an der<br />

jahrelang aufgrund praktischer Erfahrungen verbessert wurde.<br />

Nachdem Rotth 1929 verstorben war, übernahm Dr. Friedrich Natalis 8 die Leitung des<br />

Siemens-Archivs. Er war bis dahin praktischer Ingenieur im Bereich des Schaltwerks gewesen.<br />

Seinem Bemühen, eine möglichst lückenlose Chronologie über die wichtigsten<br />

technischen und wirtschaftlichen Leistungen des Hauses zu besitzen, verdanken wir das<br />

343


Tabellenwerk der „Pionierarbeiten", wie sie 1934 nach weitgehend selbst zusammengetragenen<br />

Einzelrecherchen und versehen mit exakten Quellennachweisen als Firmendokumentation<br />

verwirklicht wurde. Erst 33 Jahre später, 1967, gelang es, dieses Werk zu<br />

erneuern und kontinuierlich fortzuführen.<br />

1935, nachdem Natalis verstorben war, übernahm Friedrich Heintzenberg' die Archivleitung.<br />

Er hatte bis dahin die technisch-wissenschaftliche „Siemens-Zeitschrift" redigiert<br />

und herausgegeben und brachte auf dieser Grundlage auch den Sinn für publizistische<br />

Aktivierung in das Archiv. So förderte er die Benutzung des Archivs auch für Firmenfremde:<br />

der Schriftsteller Conrad Wandrey begann eine großangelegte biographische<br />

Würdigung von Werner Siemens, die wegen des zu frühen Todes des Verfassers jedoch<br />

unvollendet blieb. Georg Dettmar schrieb die Entwicklung der Starkstromtechnik in<br />

Deutschland, und Otto Mahr untersuchte die Priorität an der Entstehung der Dynamomaschine,<br />

beides technikgeschichtliche Arbeiten, die die Schätze des Siemens-Archivs<br />

zur Grundlage hatten. Heintzenberg selbst erstellte eine Stichwortkartei zu den über<br />

6000 Siemens-Brüder-Briefen und — nach dem Zweiten Weltkrieg — eine vergleichbare<br />

systematische Kartei, in der alle gesammelten Aktenstücke nachgewiesen werden und die<br />

ein breitgefächertes wissenschaftliches Arbeiten erst ermöglicht. Als Schriftsteller hatte<br />

Heintzenberg zahlreiche kleinere Arbeiten, sowohl Archivstudien als auch Veröffentlichungen,<br />

zur Siemens-Geschichte beigetragen; zuletzt gab er 1953 unter dem Titel „Aus<br />

einem reichen Leben" eine Auswahl jener Briefe von Werner Siemens heraus, die sich<br />

an Freunde und Verwandte richten. Sie bilden einen bemerkenswerten Beitrag zur Kulturgeschichte<br />

des 19. Jahrhunderts.<br />

Die Ereignisse des Jahres 1945 waren an der Firma Siemens im allgemeinen wie auch am<br />

Siemens-Archiv im besonderen nicht spurlos vorübergegangen. Nach einigen Jahren der<br />

Unschlüssigkeit mußte das Archiv 1954 auch dort etabliert werden, wohin die Firmenleitung<br />

sich aus den politischen Notwendigkeiten begeben hatte, nach München.<br />

1954 übernahm Dr. Kurt Busse 10 die Leitung des Siemens-Archivs in dem Gebäude, das<br />

seit 1903 als Technisches Büro der Siemens-Werke in München gedient hatte und nun in<br />

zweckentsprechender Weise für die Belange des Archivs und Museums der Firma umgebaut<br />

worden war. Busse hatte seit 1921 in der kulturellen Arbeit des Hauses Siemens<br />

mitgewirkt, zuletzt als Herausgeber der Werkzeitschrift „Siemens-Mitteilungen". So lag<br />

es auch nahe, daß er neben der Bekanntmachung des erweiterten Siemens-Museums,<br />

durch das er 1955 auch den Bundespräsidenten Theodor Heuss führen konnte, eine kommentierte<br />

und illustrierte Ausgabe der autobiographischen „Lebenserinnerungen" von<br />

Werner von Siemens 11 vorlegen konnte, die dieses bedeutsame Werk der Literaturgeschichte<br />

einer neuen Generation nahebrachte.<br />

Mit dem Ausscheiden von Dr. Busse 1960 trat eine strukturelle Neuordnung des Archivs<br />

insofern ein, als nun Professor Dr. Friedrich Spandöck 12 die Oberleitung von Archiv und<br />

Museum übernahm. Spandöck war Physiker, und im Ausbau des Siemens-Museums, hierbei<br />

besonders der fachbezogenen speziellen technischen Studienräume, sah er den Schwerpunkt<br />

seines Schaffens. Die Archivseite wurde von Dr. Sigfrid v. Weiher betreut, der 1951<br />

als Wirtschaftsarchivar und Technikhistoriker zum Siemens-Archiv gekommen war und<br />

der auch 1954 die Einrichtung von Archiv und Museum in München leitete.<br />

1966 entschloß sich die Firmenleitung, anläßlich des 150. Geburtstages von Werner von<br />

Siemens und des 100. Geburtstages des von Siemens gefundenen dynamoelektrischen<br />

Prinzips Archiv und Museum unter dem Namen „Werner-von-Siemens-Institut für Ge-<br />

344


Elektrische Grubenlokomotive in Zaukeroda/Sachsen von 1882 bis 1927<br />

(Alle Bilder: W.-v.-Siemens-Institut, München)<br />

345


schichte des Hauses Siemens" zusammenzufassen. Die Institutsleitung übernahmen seither:<br />

Professor Dr. Ferdinand Trendelenburg (bis 1968), Dipl.-Ing. Hans Materna (bis 1971),<br />

Dr. Kurt Reche (1972) und, nach dem sehr bald erfolgten Tod des letzteren, Dr. Karl<br />

Thalmayer. Die Archivseite im besonderen wurde und wird weiterhin von Dr. v. Weiher<br />

betreut 13 .<br />

Die Archivarbeit hatte, nachdem die Einrichtung in München vollzogen war, eine Ergänzung<br />

erfahren durch die zusätzliche wissenschaftliche Betreuung des Siemens-Familienarchivs<br />

in Goslar 14 . Die schon zu Zeiten von Friedrich Heintzenberg einsetzende Möglichkeit,<br />

fremden Benutzern das Archiv für Forschungsarbeiten zugänglich zu machen, wurde<br />

in bemerkenswerter Weise ergänzt, nachdem Professor Hans Herzfeld von der Historischen<br />

Kommission zu Berlin (FU Berlin) um 1958 gebeten hatte, die Schätze des Firmenarchivs,<br />

die ja weitgehend Berliner Geschichte dokumentieren, den Doktoranden und Diplomanden<br />

der Hochschulen zu öffnen. Diesem Gedanken wurde gern entsprochen. So sind seither<br />

zahlreiche quellenkritische Arbeiten unter mehr oder weniger Nutzung von Siemens-<br />

Archivalien in den letzten 20 Jahren zustande gekommen 15 .<br />

Das Siemens-Archiv, das sich quantitativ mit 1500 m laufenden Akten vorstellen läßt,<br />

wurde erst um 1950/52 durch eine Stichwortkartei in zweckentsprechender Weise erschlossen.<br />

Es war und ist allerdings aus den älteren Beständen immer noch erforderlich, sich<br />

an die vermuteten oder gewünschten Nachweisungen durch umständliches Nachforschen<br />

in der Akte selbst heranzutasten. Seit 1970 hat sich dieses Prozedere insofern geändert, als<br />

seither alle Neuzugänge dokumentiert werden, d.h. ein jedes aufzunehmende Aktenstück<br />

wird kritisch nach wichtigen Gesichtspunkten durchgesehen, und die anfallenden Stichwörter-<br />

für die zuvor ein einheitlicher Thesaurus erarbeitet worden war - werden in einer<br />

Schlitzlochkarte festgehalten. In absehbarer Zeit wird das System auf elektronische<br />

Datenverarbeitung übergehen, sobald die Abfrage der seit 1970 erfaßten Daten über die<br />

Lochkarten zu mühsam wird. Das bisher erfaßte Material ist dann ebenfalls auf diese<br />

Weise abfragbar, da es EDV-gerecht auf einen Archiv-Lochstreifen aufgezeichnet wurde.<br />

Die Größenordnung des Hauses Siemens, das mittlerweile weit über 300 000 Mitarbeiter<br />

in allen Teilen der Erde beschäftigt, hat seit den Jahren des schnellen Wiederaufbaues das<br />

Problem nahegelegt, eine Methode zu ermitteln, nach der die wesentlichen Unterlagen für<br />

die historische Betrachtung des Gesamthauses kontinuierlich sicher erfaßt und in das<br />

Archiv eingebracht werden. Die strukturelle Neuordnung der Unternehmens- und Zentralbereiche<br />

der Siemens AG im Jahre 1966 gaben Anlaß, entsprechende Überlegungen des<br />

Archivs nun an übergeordneter Stelle zu prüfen und in sinnvoller Weise zu regeln. So<br />

entstand 1970 eine Verfügung, nach der die Archiv-Neuzugänge wesentlich bestimmt und<br />

selektiert werden sollen durch sog. „Archiv-Verbindungsleute", die verantwortlich darüber<br />

zu wachen haben, daß aus ihren Bereichen entsprechende Dokumente, Berichte,<br />

Bilder, Tonaufnahmen usw. dem Firmenarchiv zugeführt werden. Diese Einrichtung hat<br />

sich seither gut bewährt; sie findet in gelegentlichem Gedankenaustausch aller Verbindungsleute<br />

mit der Archivleitung ihre laufende, aus der Praxis resultierende Verbesserung.<br />

Abschließend wäre noch festzustellen, daß sich seit 1952 eine historische Fachbücherei<br />

mit rund 11 000 Bänden angesammelt hat, daß das Bildarchiv - dessen Anfänge um 1935<br />

in Berlin lagen — mittlerweile über 380 000 Fotos verfügt, von denen etwa 20 % über Karteien<br />

direkt nachzuweisen sind (80 % sind in Alben) und daß dem Archiv eine eigene<br />

Dokumentationsstelle und eine Buchbinder- und Fotowerkstatt angeschlossen sind. Zur<br />

346


Zeit sind am Siemens-Archiv 11, im Gesamtbereich des Werner-von-Siemens-Instituts<br />

22 Mitarbeiter tätig. Es ist zu hoffen, daß 1982 - beim 75. Geburtstag des Siemens-<br />

Archivs - eine umfassende Dokumentation der geleisteten Arbeit dieses Instituts vorgelegt<br />

werden kann.<br />

1 Ernst Richter (1851 — 1909) trat 1878 als Ingenieur bei Siemens & Halske in Berlin ein und gehörte<br />

zum Mitarbeiterstab Friedrich v. Hefner-Altenecks. 1899 wurde er Leiter des Technischen<br />

Zentralbüros, 1907 erster Leiter des Siemens-Archivs.<br />

2 Wilhelm von Siemens (1855—1919), zweiter Sohn von Werner Siemens, trat 1879 in die väterliche<br />

Firma ein. 1890 neben seinem Onkel Carl und seinem Bruder Arnold Leiter der Firma.<br />

Nachdem die KG Siemens & Halske (im folgenden: S&H) 1897 AG geworden war und 1903 die<br />

Siemens-Schuckertwerke (im folgenden: SSW) zustande kamen, wurde Wilhelm v. Siemens Vorsitzender<br />

des Aufsichtsrates der SSW, nach dem Tode des Bruders Arnold (1918) auch Vorsitzender<br />

des AR von S&H. 1977 wurde ihm in Siemensstadt ein Denkmal gesetzt.<br />

3 Richard Ehrenberg (1857-1921) hatte um 1900 in Rostock ein Institut für exakte Wirtschaftsforschung<br />

gegründet. In seiner Zeitschrift „Thünen-Archiv" hat er sich nachhaltig für die Gründung<br />

von Betriebsarchiven eingesetzt. Sein erster Hinweis zur Gründung des Siemens-Archivs findet<br />

sich in einem Brief an Carl v. Siemens vom 26. August 1902.<br />

4 Das 1906 in lena erschienene Buch von R. Ehrenberg „Die Unternehmungen der Brüder Siemens"<br />

reicht inhaltlich bis 1870; es erschien leider nur der erste Band mit 510 Seiten.<br />

5 Dr. Karl Burhenne (1882—1963), Schüler Ehrenbergs, trat als erster wissenschaftlicher Archivar<br />

in das Haus Siemens 1909 ein. 1932 gab er in München sein Buch „Werner Siemens als Sozialpolitiker"<br />

heraus. 1919—1951 war er Leiter der Sozialpolitischen Abteilung.<br />

6 Schon 1906 hatte das Haus Siemens dem 1903 von Oskar v. Miller gegründeten Deutschen Museum<br />

in München wertvolle Geräte und Maschinen aus den ersten Jahrzehnten der Firma S&H gestiftet,<br />

Telegraphen, Meßinstrumente und die 1879 gebaute erste elektrische Lokomotive, worüber<br />

ein besonderer illustrierter Katalog mit 227 Seiten Aufschluß gibt. - C. Matschoß, Werner<br />

Siemens. Ein kurzgefaßtes Lebensbild nebst einer Auswahl seiner Briefe, 2 Bde., Berlin (Springer)<br />

1916.<br />

7 August Rotth (1854—1929) war 1895 in das Sonderbüro für Versuchskonstruktionen von S&H<br />

eingetreten und wurde 1903 Leiter des Patentbüros im Charlottenburger Werk. Sein 1922 erschienenes<br />

Werk betitelt sich „Wilhelm von Siemens, ein Lebensbild".<br />

8 Dr. Friedrich Natalis (1864—1935) war 1890 in die Bahnabteilung von S&H in Berlin eingetreten.<br />

Vorübergehend bei der El. AG vorm. Schuckert & Co. in Nürnberg tätig, kam er 1903 zu den SSW.<br />

9 Friedrich Heintzenberg (1879-1955) trat 1908 als Mitarbeiter des literarischen Büros der SSW<br />

in Berlin ein. Die 1921 von ihm gegründete „Siemens-Zeitschrift" betreute er bis zu seinem Übertritt<br />

ins Archiv 1935. - Die im Text erwähnte Arbeit C. Wandreys, die 1942 nur im ersten Teil<br />

erschien, reichte zeitlich von 1816 bis 1855. - Das im Auftrage des VDE (Verband Deutscher<br />

Elektrotechniker) erarbeitete Werk Dettmars über die Starkstromtechnik erschien 1940; es reicht<br />

inhaltlich bis 1890. - Die Entstehung der Dynamomaschine von O. Mahr war dessen Dr.-Arbeit,<br />

die Professor C. Matschoß betreute und die 1941 als Buch erschien.<br />

10 Dr. Kurt Busse (geb. 1889) war 1921 zum Hause Siemens gekommen. Er leitete zunächst den<br />

Verein der Siemens-Beamten, sodann die Werkbüchereien. Nach 1951 betreute er die wieder<br />

erscheinende Werkzeitschrift „Siemens-Mitteilungen" und 1954 bis 1960 das Siemens-Archiv.<br />

Danach wirkte er noch einige Jahre als Sekretär der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung in<br />

Nymphenburg.<br />

11 Die erste Auflage dieses Werkes erschien bei Springer in Berlin wenige Tage vor dem Tode<br />

Werner von Siemens' im Dezember 1892 (Werner Siemens war 1888 von Kaiser Friedrich in den<br />

Adelsstand erhoben worden). 1956 erschien die hier genannte 16. Auflage dieser Autobiographie,<br />

1966 folgten eine 17. deutsche und eine 2. englische Auflage; diese drei Neuauflagen kamen bei<br />

Prestel in München heraus.<br />

12 Prof. Dr. Friedrich Spandöck (1904-1966) war 1934 in Berlin in das Haus Siemens eingetreten<br />

und hat als Physiker besonders akustische Probleme bearbeitet. Bekannt in der Fachwelt wurde er<br />

durch seine raumakustischen Modellversuche.<br />

347


11 Prof. Dr. Ferdinand Trendelenburg (1896—1973) war 1922 in das Forschungslaboratorium in<br />

Berlin-Siemensstadt eingetreten, 1950 übernahm er das SSW-Forschungslaboratorium in Erlangen<br />

bis 1962. Nach dem plötzlichen Tod von Prof. Spandöck 1966 übernahm er die kommissarische<br />

Leitung des Werner-von-Siemens-lnstituts. - Dipl.-lng. Hans Materna (geb. 1901) war seit 1925<br />

im Hause Siemens tätig, von 1952 bis 1967 als Leiter der Abteilung Serienfabrikate und ab 1961<br />

Vorstandsmitglied. Im Werner-von-Siemens-Institut hat er bis 1971 eine großzügige Modernisierung<br />

der Ausstellungsräume herbeigeführt. - Dr. Kurt Reche (1906—1972) war seit 1931 zunächst<br />

im Zentrallaboratorium der Siemens-Werke, später als Leiter des Wernerwerks für Telegrafenund<br />

Signaltechnik tätig; er war seit 1954 Mitglied des Vorstandes. Die Leitung des Werner-von-<br />

Siemens-Instituts hatte er zwei Monate vor seinem Tode übernommen. - Dr. Karl Thalmayer<br />

(geb. 1911) ist seit 1938 im Hause Siemens tätig; vor seinem Übertritt in das Werner-von-Siemens-<br />

Institut war er Geschäftsbereichsleiter für Nachrichtenkabeltechnik.<br />

14 Das Siemens-Familienhaus in Goslar, 1693 von einem Vorfahren Werners von Siemens' erbaut,<br />

wurde 1916 von der Familie Siemens käuflich erworben, nachdem es über 100 Jahre in Fremdbesitz<br />

war. Der 1873 gegründete Familienverband hat in diesem Haus mit Unterstützung des<br />

Siemens-Archivs ein Familienarchiv, eine Bücherei und zwei Ausstellungsvitrinen eingerichtet.<br />

Dem 1935 herausgegebenen Stammbaum-Buch von H. W. Siemens folgte 1973 ein von A. Siemens<br />

und S. v. Weiher bearbeiteter Ergänzungsband.<br />

15 Eine im Frühjahr 1977 erarbeitete erste Übersicht externer Arbeiten am Siemens-Archiv zeigte,<br />

daß von etwa 160 wissenschaftlichen Forschungsprojekten, die seit 1958 betrieben wurden, 56 mehr<br />

oder weniger umfangreiche Publikationen zustande gekommen waren. Als Beispiel seien hier zwei<br />

im Jahre 1969 publizierte Dissertationen genannt: Jürgen Kocka. Unternehmensverwaltung und<br />

Angestelltenschaft am Beispiel Siemens, 1847—1914. und P. Czada. Die Berliner Elektroindustrie<br />

in der Weimarer Zeit.<br />

Eine erste „Geschichte des Hauses Siemens" wurde 1947/51 von Georg Siemens (1882—1977)<br />

in 3 Bänden vorgelegt (2. Auflage in 2 Bänden unter dem Titel ,.Der Weg der Elektrotechnik -<br />

Geschichte des Hauses Siemens". Freiburg/München 1961). Diese Darstellung reicht von der<br />

Firmengründung 1847 bis zum Jahre 1945. - Eine kurzgefaßte Geschichte mit Quellenangaben und<br />

Illustrationen wurde 1972 von S. v. Weiher und H. Goetzeler unter dem Titel „Weg und Wirken<br />

der Siemens- Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847 — 1972" in München (als Beiheft 8 der<br />

Zeitschrift „Tradition") herausgebracht. Eine englische, in der Zeittafel bis 1977 fortgeführte<br />

Übersetzung dieser Schrift erscheint in Kürze.<br />

Ein vergessenes Museum<br />

Von Kurt Pierson<br />

Anschrift des Verfassers: 8000 München 70, Leo-Graetz-Straße 9<br />

In der Invalidenstraße zu Berlin erhebt sich unmittelbar am Grenzübergang Sandkrugbrücke<br />

zum anderen Teil unserer Stadt der ehemalige Kopfbahnhof der Berlin-Hamburger<br />

Eisenbahn. Das durch Kriegseinwirkungen stark mitgenommene Empfangsgebäude war in<br />

zwei Flügeln nahezu symmetrisch auf beiden Seiten der vier Hallengleise angeordnet,<br />

wobei die Westseite der Ankunft, die Ostseite der Abfahrt diente.<br />

Als zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Berlin-Hamburger Bahn<br />

im Zuge der Verstaatlichung mit der Lehrter Bahn gemeinsam nach Berlin hereingeführt<br />

und der Personenverkehr beider Linien in dem nur wenige hundert Meter weiter westlich<br />

gelegenen Lehrter Bahnhof zusammengefaßt wurde, fand der Personenverkehr im Hamburger<br />

Bahnhof am 15. Oktober 1884 sein Ende, und in dem Empfangsgebäude wurden<br />

Verwaltungsstellen und Dienstwohnungen der kurz vorher ins Leben gerufenen Kgl.<br />

348


Der Hamburger Bahnhof in Berlin (um 1860)<br />

Eisenbahndirektion Berlin untergebracht. Zwanzig Jahre später übergab der preußische<br />

Minister der öffentlichen Arbeiten den ehemaligen Hamburger Bahnhof seiner letzten<br />

Bestimmung: eine würdige Stätte zu sein für eine umfassende historische Darstellung<br />

der Verkehrsentwicklung, wie sie zu jener Zeit schwerpunktmäßig im Eisenbahnwesen<br />

ihren Ausdruck fand.<br />

Hervorragende Fachleute waren am Aufbau der Sammlung aus allen Sparten des Eisenbahnwesens<br />

beteiligt, die das „Verkehrs- und Baumuseum Berlin" durch seine großzügige<br />

und übersichtliche Anordnung der Exponate in aller Welt berühmt machte und deren<br />

Mittelpunkt die Fahrzeugabteilung darstellte. Eine Vielzahl von Lokomotiv- und Waggonmodellen<br />

im Maßstab 1:5, die von Lehrlingen verschiedener Eisenbahnwerkstätten der<br />

ehemaligen preußischen Staatsbahnen gebaut waren oder aus Zuwendungen der Industrie<br />

sowie aus Stiftungen von Freunden des Museums herrührten, wurden ergänzt durch zahlreiche<br />

Originalfahrzeuge, wie z.B. die erste deutsche Lokomotive mit Verbundwirkung,<br />

eine Omnibuslokomotive der Kgl. Eisenbahndirektion Hannover oder dem Salonwagen des<br />

letzten deutschen Kaisers. Für Fachleute besonders wertvoll war die von dem verstorbenen<br />

Generaldirektor des Georg-Marien-Bergwerks- und Hüttenvereins, Dr.-Ing. Haarmann,<br />

dem Museum geschenkte einmalige Sammlung von Eisenbahngleisen aus aller Welt, die<br />

eine Übersicht über die Entwicklung des Schienenweges vom 16. Jahrhundert bis in die<br />

Neuzeit vermittelte.<br />

Heute ist das einstige „Verkehrs- und Baumuseum Berlin" für die Öffentlichkeit unzugänglich.<br />

Im britischen Sektor von Berlin gelegen, untersteht es der Ost-Berliner Verwaltung<br />

der Deutschen Reichsbahn, und nur deren Vertreter sowie Vertreter der für das Gelände<br />

349


Vorderfront des<br />

• früheren Verkehrs-<br />

verantwortlichen Schutzmacht haben in Ausübung ihrer Funktionen Zutritt. Verstaubt<br />

und teilweise beschädigt schlummern seit Kriegsende hier unersetzliche Werte, die von den<br />

Briten sorgfältig inventarisiert worden sind. Wenn auch seinerzeit manch wertvolles<br />

Stück wie der oben genannte Salonwagen verlagert wurde, befinden sich trotzdem die<br />

Mehrzahl der Modelle und Originalfahrzeuge, die Sammlung der verschiedensten Bremssysteme,<br />

das Gleismuseum, eine über hunderttausend Exemplare umfassende Fahrkartensammlung<br />

und vieles andere mehr aus dem Sektor Eisenbahnwesen in den verwaisten<br />

Hallen des alten Hamburger Bahnhofs, an dessen verrammelte Tore die heutige Zeit pocht.<br />

Denn diese Zeit will nicht nur teilhaben an dem, was war, sondern auch künden von<br />

dem was ist und sein wird: ein moderner Verkehr zu Lande, zu Wasser und in der Luft.<br />

Ein Verkehrsmuseum der achtziger Jahre muß daher anders aussehen, muß allen drei<br />

Verkehrssparten gerecht werden, wenn auch der Schienenverkehr aus geschichtlicher wie<br />

technischer Sicht auf lange Zeit hin noch die Dominante einer solchen Schau sein wird,<br />

solange es noch eine in welcher Form auch immer geartete Beziehung zwischen Schiene<br />

und Fahrzeug gibt.<br />

Diese Beziehung aber reicht, wie wir sahen, weit in die Jahrhunderte zurück. Mit der<br />

Erfindung des „Dampfwagens" und den Ideen und Plänen des württembergischen Nationalökonomen<br />

und amerikanischen Konsuls Friedrich List (1789—1846) wurden vor<br />

150 Jahren auch in deutschen Landen die Grundlagen des Eisenbahnwesens und damit<br />

350


Halle für die Eisenbahnfahrzeuge des Verkehrs- und Baumuseums Berlin<br />

(Alle Bilder: Sammlung Pierson)<br />

einer Industrie geschaffen, in der das Berlin des 19. Jahrhunderts führend in der Welt<br />

wurde. Neben der damals größten deutschen Waggonfabrikation in der Chausseestraße<br />

wurden in nicht weniger als elf Fabriken Lokomotiven gebaut. Es war daher nur folgerichtig,<br />

daß in diesem universellen Brennpunkt des Verkehrs das „Berliner Verkehrs- und<br />

Baumuseum" entstand, das durch das „Museum für Meereskunde" in unmittelbarer Nähe<br />

des Bahnhofs Friedrichstraße sowie durch das „Reichspostmuseum" in der Leipziger Straße<br />

eine adäquate Ergänzung fand.<br />

Gar vielfältig waren nach Kriegsende private Bemühungen, beim Wiederaufbau Berlins<br />

das alte Verkehrsmuseum zu neuem Leben zu erwecken. Doch was sich die Bürger seit<br />

zwanzig Jahren wünschen und der Berliner Senat immer wieder versprach, ist bis heute<br />

nicht über die erste Planungsstufe hinausgekommen. Man fragt sich unwillkürlich, was<br />

aus den vor rund fünf Jahren auf den Tisch gelegten, sehr konkreten und vielversprechend<br />

klingenden Angeboten vieler „berufener" Stellen eigentlich geworden ist (nachzulesen<br />

in den „Mitteilungen" Heft 7/1972, S. 187). Nachdem die Absicht mißlang, viele wertvolle<br />

Einzelsammlungen in der Tempelhofer Abflughalle unterzubringen, blieb als Provisorium<br />

nur die verkehrstechnische Sammlung im Gebäude der heutigen „Urania".<br />

Mit Beginn des Sommerfahrplans 1977 fand auf unseren Eisenbahnen eine fast eineinhalb<br />

Jahrhunderte alte Epoche deutscher Verkehrsgeschichte durch Beendigung des Dampfbetriebes<br />

ihren Abschluß. Das Fernsehen war dabei, die Presse. Dann ging die Öffentlich-<br />

351


keit wieder zur Tagesordnung über. Doch Idealismus und Tatkraft geschichtsbewußter<br />

privater Vereinigungen und Einzelpersonen haben es sich seit Jahren angelegen sein lassen,<br />

vor allem ältere Schienenfahrzeuge vor dem Verschrotten zu bewahren, um historisch<br />

wertvolle Zeugen technischer Vergangenheit der Nachwelt zu erhalten. Leider müssen<br />

diese Stellen oft darum kämpfen, derartige kostbare Objekte vor Witterungseinflüssen<br />

und unbefugten Zugriffen zu sichern. Zwar hat die Deutsche Bundesbahn in später Erkenntnis<br />

einer vertanen Chance einige übriggebliebene Schienenfahrzeuge in ihre vorübergehende<br />

Obhut genommen, um sie für ein - irgendwann einmal in der einstigen deutschen<br />

Hauptstadt enstehendes — Verkehrsmuseum zur Verfügung zu stellen, dennoch steht zu<br />

befürchten, daß diese in ihrer Verborgenheit nicht besser werden. Auch die Berliner Verkehrsbetriebe<br />

bemühen sich, ihren Anteil an der Geschichte insbesondere des Berliner<br />

Nahverkehrs in erfreulichem Umfange zu erhalten, um diesen mit einem zukünftigen<br />

Berliner Verkehrsmuseum verbinden zu können.<br />

Am 29. April 1976 hatte Bundespräsident Walter Scheel im Reichstagsgebäude in Berlin<br />

die Teilnehmer des Symposiums des Europarates begrüßt und bei dieser Gelegenheit<br />

auch zur Stadt Berlin, zu ihrer Geschichte und zu den Aufgaben des Denkmalschutzes<br />

u.a. gesagt:<br />

„Berlin ist für uns Deutsche ja nicht irgend eine Stadt. Berlin ist das Zentrum der<br />

deutschen Nation. Und es ist für die deutsche Nation nun durchaus nicht gleichgültig,<br />

ob die Zeugnisse der deutschen Geschichte, die sich in diesem Teil der Stadt befinden,<br />

erhalten bleiben oder nicht. Es ist wichtig für uns, für die Zukunft unseres Volkes,<br />

daß die deutsche Geschichte hier, in dieser Stadt, lebendig bleibt, anschaubar und erlebbar<br />

bleibt."<br />

Das gilt nicht zuletzt für die große Vergangenheit dieser Stadt auf industriellem Gebiet,<br />

die durch ihre Leistungen in einer über hundertjährigen Verkehrsgeschichte so entscheidend<br />

zur gegenseitigen Annäherung der Menschen in aller Welt beigetragen hat. Hier hatte<br />

August Borsig die entscheidende Idee für die spätere moderne Heißdampflokomotive,<br />

hier schenkte Werner Siemens der Welt die elektrische Lokomotive, hier startete Otto<br />

Lilienthal zu seinen ersten motorlosen Gleitflügen, die zur modernen Aviatik führten und<br />

Edmund Rumpier veranlaßten, in Berlin die erste deutsche Flugzeugfabrik einzurichten.<br />

Hier war es schließlich auch, wo Major v. Parseval sein Luftschiff in Johannisthai baute,<br />

das zum Vorbild heutiger Luftschiffkonstruktionen der amerikanischen Firma Goodyear<br />

wurde. Eine verständnislose Bürokratie ließ die Initiatoren der Deutschen Luftsammlung<br />

nach jahrelangen Kämpfen um entsprechende Räumlichkeiten schließlich resignieren,<br />

so daß diese einmalige Einrichtung nach München abwanderte.<br />

Wir haben in unserer Stadt ein Museum für Vor- und Frühgeschichte, ein Museum für<br />

Völkerkunde. Wir haben sachbezogene Museen für indische, islamische und ostasiatische<br />

Kunst; wir haben ein Musikinstrumenten-Museum und nicht zuletzt unser Berlin-Museum.<br />

All diese Institutionen setzen bestfundiertes Wissen voraus. Nur ein international anerkanntes<br />

Verkehrsmuseum - das haben wir nicht! Eine Abendschau-Sendung des Senders<br />

Freies Berlin am 5. September 1974 erweckte sogar den Eindruck, als ob man bei einer<br />

eventuellen Schaffung eines solchen von Vorstellungen ausgehen könnte, die dem Charakter<br />

der Darstellung verkehrsgeschichtlicher Entwicklungen nicht im erforderlichen Rahmen<br />

gerecht werden. Dies aber entspräche nicht dem Sinn dessen, was der Bundespräsident<br />

meinte, wenn er sagte:<br />

352


„Es ist wichtig für uns, für die Zukunft unseres Volkes, daß die deutsche Geschichte<br />

hier, in dieser Stadt, lebendig bleibt, anschaubar und erlebbar bleibt."<br />

Das einstige Berliner Verkehrs- und Baumuseum war von Fachleuten hohen Ranges gestaltet<br />

worden und nicht von Verwaltungsbeamten. Es wird die Aufgabe der heute Verantwortlichen<br />

sein müssen, an diese Tradition anzuknüpfen.<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 15, Meierottostraße 4<br />

Ein Berliner Napoleon-Forscher: Friedrich M. Kircheisen<br />

(1877-1933)<br />

Von Prof. Dr. Michael Erbe<br />

Der Name Kircheisen ist in Berlin nicht unbekannt, da er sogleich Erinnerungen weckt an<br />

den preußischen Justizminister Friedrich Leopold von Kircheisen (1749—1825) 1 . Ende<br />

Juni dieses Jahres nun gedachte die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin<br />

mit einer Ausstellung des hundertsten Geburtstages seines Ururenkels, des lange Jahre in<br />

Berlin tätigen Historikers Friedrich Max Kirscheisen. Sehr viele Geschichtsforscher sind<br />

es ja nicht mehr, deren Namen mit dem unserer Stadt eng verknüpft und deren Werk weit<br />

über die Grenzen der alten preußischen Metropole hinaus bekanntgeworden sind. Um so<br />

mehr besteht Anlaß, sich der wenigen bedeutenden aus der Vergangenheit zu erinnern.<br />

Dabei ist auch das Wirken dieses Gelehrten kurz zu würdigen.<br />

Friedrich Max Kircheisen wurde am 23. Juni 1877 in Chemnitz als Sohn eines Handschuh-<br />

und Strumpf-Fabrikanten geboren und starb am 12. Februar 1933 in Berlin 2 .<br />

Seine Laufbahn als Gelehrter verlief ungewöhnlich und gewissermaßen außerhalb der<br />

üblichen Bahnen. Sie wäre in dieser Form heute wohl kaum noch denkbar. Vorgeprägt<br />

wurde sie allem Anschein nach durch die Begegnung mit Werken über Napoleon I. in<br />

der väterlichen Bibliothek eines Schulfreundes, die dem Sechzehnjährigen zur Benutzung<br />

offenstand und die er in der lesehungrigen Manier, welche diesem Lebensalter eigen<br />

ist, so in sich aufnahm, daß er zu dem Entschluß gelangte, seine ferneren Studien ganz der<br />

Lebensgeschichte des großen Korsen zu widmen. Daß dergleichen packende geistige Erlebnisse<br />

die Zielrichtung eines Arbeitslebens bestimmen, ist durchaus nichts Ungewöhnliches;<br />

ungewöhnlich ist aber, wie unbeirrbar Kircheisen dem einmal gefaßten Vorsatz treu<br />

blieb und daran trotz aller Umwege, die er zu gehen genötigt war, festhielt. Denn zunächst<br />

hat er versucht, die Laufbahn eines Ingenieurs einzuschlagen, nachdem er von 1883 bis<br />

1886 das Königliche Gymnasium auf dem Kaßberge besucht hatte und dann auf die<br />

Realschule seiner Heimatstadt übergewechselt war. Der Grund für das zunächst ins Auge<br />

gefaßte Berufsziel war der frühe Tod des Vaters und die Notwendigkeit, dessen Betrieb<br />

bald zu übernehmen. Nach dem Realschulabschluß im Jahre 1895, einem Praktikum<br />

in einer Chemnitzer Maschinenfabrik und dem obligaten Militärdienst als „Einjähriger"<br />

ging Kircheisen 1898 auf die Königliche Höhere Gewerbeschule seiner Heimatstadt, um<br />

353


sich zum Maschineningenieur ausbilden zu lassen. Allerdings trat jetzt der Widerstreit<br />

zwischen seinen eigentlichen Interessen auf historischem Gebiet, die sich durch einige<br />

Reisen (u. a. 1898 nach Paris) noch vertieft hatten, und den Wünschen der Familie<br />

offen zutage: Kircheisen verzichtete auf einen Ingenieurabschluß und beschloß, an der<br />

Universität Leipzig ein geisteswissenschaftliches Studium zu beginnen. Gutachten von<br />

Karl Lamprecht und Friedrich Ratzel über seine Kenntnisse ermöglichten die Immatrikulation<br />

ohne das sonst notwendige Reifezeugnis einer neunklassigen höheren Schule,<br />

und das Vermögen der Familie gab ihm Gelegenheit, sich seinen Neigungen ohne finanzielle<br />

Not zu widmen.<br />

Kircheisen hat indessen auch sein Universitätsstudium nicht mit einem Examen abgeschlossen.<br />

Eine bei Lamprecht eingereichte Dissertation über „Die Anfänge des literarischen<br />

Portraits in Deutschland" 3 zog er — aus nicht ganz geklärten Gründen - zurück<br />

und ließ sich zum Ende des Wintersemesters 1902/1903 exmatrikulieren. Sein anfangs<br />

recht breit angelegtes Studium hatte sich schließlich ganz auf das Fach Geschichte konzentriert,<br />

und hier muß die Beschäftigung mit Napoleon bald einen wesentlichen Schwer-<br />

354


punkt gebildet haben, da - kurz bevor er die Universität verließ - seine erste Arbeit<br />

aus diesem Bereich, die „Bibliographie Napoleons", eine Auswahl der wichtigsten Quelleneditionen<br />

und der Sekundärliteratur, erschien 4 , die unverzüglich in französischer, englischer<br />

und italienischer Übersetzung herauskam 5 . Sie war eine Vorarbeit zur 1908 publizierten<br />

„Bibliographie des napoleonischen Zeitalters" 6 , dem bisher einzigen Versuch, die Masse<br />

der Napoleon-Literatur in einer Bibliographie zu bewältigen, ein Versuch, der denn<br />

auch schon damals nicht zu Ende geführt werden konnte. Daß diese Bibliographie ihren<br />

wissenschaftlichen Wert trotzdem behalten hat, zeigt sich dadurch, daß sie soeben im<br />

Nachdruck erschienen ist 7 .<br />

Diese Bibliographie bildete nur eine Vorarbeit zu einer umfassenden Lebensgeschichte<br />

Napoleons. Weitere Früchte der Erschließung des Schrifttums über die Zeit des großen<br />

Korsen sind Übersichten über Quellen und Literatur zu Friedrich von Gentz und die<br />

preußische Königin Luise 8 . Ansonsten beschäftigten ihn Rousseau 9 , die Memoiren Segurs 10 ,<br />

der spanische Freiheitskrieg 11 und der Feldzug von 1809 12 . Zwischen 1906 und 1910 gab<br />

Kircheisen eine dreibändige Auswahl aus der Napoleon-Korrespondenz heraus, mit der<br />

zum ersten Mal ein umfangreicher Querschnitt aus dem Briefwerk des Korsen in deutscher<br />

Übersetzung vorgelegt wurde 13 . 1911 endlich erschien der erste Band von Kircheisens<br />

Hauptwerk „Napoleon I. Sein Leben und seine Zeit", dem bis 1934 acht weitere Bände<br />

folgen sollten 14 .<br />

1903 war Kircheisen, der fortan von den Erträgen seiner Feder lebte, nach Genf gezogen,<br />

wo er bis 1916 blieb. Von der Aufbruchstimmung des Sommers 1914 wie viele, die nicht<br />

auf den Grund der Dinge schauen konnten, erfaßt, versuchte er, mit einer (allerdings<br />

bald eingegangenen) Zeitschrift „Das Völkerringen" die Kriegsgeschehnisse aus deutscher<br />

Sicht zu kommentieren 15 . Von 1916 bis 1918 war er in Berlin im Kriegsministerium tätig,<br />

wo er mit der Abfassung einer Geschichte des militärischen Nachrichtenwesens beauftragt<br />

wurde. Zwar ist eine solche Darstellung nicht über die Vorarbeiten hinaus gediehen,<br />

aber die Tätigkeit in dieser Behörde brachte ihm doch manchen Einblick in die Interna<br />

und einige Bekanntschaften mit Akteuren der Kriegsszene, so die mit dem sächsischen<br />

General von Hausen, der 1914 an der Marneschlacht beteiligt gewesen war und dessen -<br />

seinerzeit Aufsehen erregende - Erinnerungen Kircheisen 1920 herausgab 15 . Entsprechende<br />

Pläne mit den Erinnerungen Falkenhayns zerschlugen sich durch den frühen Tod<br />

des Generals im April 1922.<br />

Seit 1916 war Kircheisen dauernd in Berlin ansässig, seit 1926 wohnte er in Hermsdorf.<br />

Hier führte er - neben kleineren Arbeiten zu diesem Thema - sein Werk über Napoleon<br />

zu Ende, von dem vor dem Krieg noch die Bände I bis III (bis einschließlich zum Ägyptenfeldzug<br />

reichend) erschienen waren. Band IV (bis zum Staatsstreich vom 18. Brumaire)<br />

erschien 1922, und den letzten (neunten) Band, der die Zeit vom Rußlandfeldzug bis<br />

zum Ende des Kaisers umfaßte, konnte Kircheisen einen Monat vor seinem plötzlichen<br />

Tod vollenden 16 . Gewissermaßen eine Kurzfassung des großen Werkes bilden die beiden<br />

1927/29 erschienenen Bände „Napoleon I. Ein Lebensbild" 17 .<br />

Man tut vielleicht am besten daran, wenn man Kircheisens Napoleon-Biographie mit<br />

einem anderen Werk über das gleiche Thema, das vor dem Ersten Weltkrieg von einem<br />

deutschsprachigen Historiker konzipiert wurde, vergleicht, nämlich mit der Napoleon-<br />

Biographie des österreichischen Geschichtsforschers August Fournier (1850—1920) 18 .<br />

Dabei muß man natürlich berücksichtigen, daß Fournier eine Generation älter als Kircheisen<br />

war und daß dieser das bereits Ende der achtziger Jahre publizierte Werk für seine<br />

355


Arbeiten verwenden konnte. Fournier ist, was die wissenschaftliche Gediegenheit und<br />

die Beherrschung der historischen Fakten anlangt, bis heute unerreicht geblieben. Freilich<br />

ist sein Stil trocken, und daher sind die drei Bände seines Werkes keine leichte<br />

Lektüre. Kircheisen dagegen kommt das Verdienst zu, Napoleon - im guten Sinne —<br />

popularisiert zu haben. Seine Darstellung ist breiter angelegt, dabei ist der Stil des Erzählens<br />

stärker ausgeprägt, einzelne Szenen - wie etwa der Staatsstreich von 1799 im<br />

fünften oder der Schlacht von Leipzig im neunten Band — werden breit ausgemalt, und<br />

dies wird noch dadurch verstärkt, daß Kircheisen sein Werk mit Bildbeigaben bestückt,<br />

während Fournier lieber Aktenbeilagen veröffentlicht. Beide Werke aber sind - jedes<br />

für sich Höhepunkte der deutschsprachigen Napoleon-Historiographie - schon deshalb<br />

unerreicht, weil sich seitdem kein Historiker mehr gefunden hat, der Faktenkenntnis,<br />

Interesse und Darstellungskunst genug mitbrächte, um dem Thema gerecht zu werden.<br />

Freilich darf man nicht verkennen, daß die Napoleon-Forschung mittlerweile andere<br />

Wege geht, seit die französische Sozialgeschichtsforschung nach dem noch Altes und<br />

Neues gleichermaßen berücksichtigenden Werk von Georges Lefebvre 19 neue Zeichen<br />

gesetzt hat. Während Fournier wie Kircheisen noch stark persönlichkeitsbezogen und eher<br />

chronistikartig wie heutzutage in Frankreich Jean Thiry 20 ihre Biographien anlegten,<br />

steht heute bei dem Thema „Napoleon und seine Zeit" mehr das historische Umfeld<br />

im Vordergrund, die demographische Entwicklung Frankreichs, die für unser Nachbarland<br />

bis heute prägende napoleonische Gesellschaftsordnung, die Auswirkungen der Kontinentalsperre<br />

auf das „Empire", seine Nebengebiete und seine Verbündeten, während die —<br />

freilich immer noch faszinierende - Persönlichkeit Bonapartes, seine Schlachten, seine<br />

Politik und sein Verhältnis zu den ihn umgebenden Personen auf weniger Interesse<br />

stoßen 21 . Die deutsche Forschung hat hier noch kaum aufschließen können 22 . Wer indessen<br />

an diesen Themen weniger interessiert ist, sondern etwas von der Faszination<br />

Napoleons spüren möchte, der wird nach wie vor mit Gewinn gerade zu Kircheisens<br />

biographischem Werk greifen. Wenn es je so etwas wie eine deutsche Napoleon-Forschung<br />

gegeben hat, so ist Berlin mit ihm einmal deren Zentrum gewesen — Anlaß genug<br />

für eine kurze Rückbesinnung.<br />

1 Vgl. über ihn den Artikel von Teichmann in der ADB XV, 1882, S. 789-791. K. war von 1810<br />

bis zu seinem Tode preußischer Justizminister.<br />

2 Ich benutze für die Zeit bis 1927 die Broschüre eines Freundes von K., des Chemnitzer<br />

Gymnasialprofessors Bernhard Rost: Friedrich M. Kircheisen. Lebensabriß des Geschichtsforschers<br />

und ausführliches Verzeichnis seiner Werke nebst deren Beurteilung, Chemnitz (Verl. C. Strauß)<br />

1927. Für die Zeit danach vgl. das Nachwort des Verlags Albert Langen und Georg Müller in<br />

K.s „Napoleon I." (vgl. Anm. 14), Bd. 9 (1934), S. 609-611. Im übrigen stütze ich mich<br />

auf Mitteilungen von K.s Tochter, Frau Zia-Hortense Kircheisen, Berlin-Hermsdorf.<br />

3 Teile des Dissertationsvorhabens erschienen etwas später unter dem Titel „Die Geschichte<br />

des literarischen Portraits in Deutschland, I: Von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts",<br />

Leipzig (Hiersemann) 1904.<br />

4 Berlin (Mittler u. Sohn) 1902, VIII u. 188 S.<br />

5 Vgl. den bibliographischen Anhang bei Rost (Anm. 2), S. 18, Nr. 1.<br />

6 Bibliographie des napoleonischen Zeitalters, einschließlich der Vereinigten Staaten von Nordamerika,<br />

2 Bde., Berlin (Mittler u. Sohn) 1908.<br />

7 Hildesheim (Olms) 1977.<br />

8 Vgl. bei Rost (Anm. 2), S. 18 f., Nr. 3 u. 5.<br />

9 Ebd. S. 20, Nr. 8 u. 10.<br />

356


10 Ebd.S. 19 f., Nr. 7.<br />

" Ebd. S. 20, Nr. 9.<br />

12 Ebd. S. 22, Nr. 12.<br />

13 Briefe Napoleons I., 3 Bde., Stuttgart (Lutz) 1906-1910.<br />

14 Napoleon I. Sein Leben und seine Zeit, 9 Bde., München-Leipzig (Langen-Müller) 1911 - 1934.<br />

15 Vgl. bei Rost (Anm. 2), S. 29, Nr. 29.<br />

16 Das Vorwort von Bd. 9 datiert vom Januar 1933. - Laut Verlagsangabe im Anhang von Bd. 2<br />

des in der folgenden Anm. angeführten Werkes waren ursprünglich zehn Bände geplant.<br />

17 Stuttgart-Berlin(CottaNachf.) 1927-1929.<br />

18 August Fournier: Napoleon I. Eine Biographie, 3 Bde., Leipzig - Prag 1886-1889, 4. Aufl.,<br />

besorgt v. Viktor Bibl, Wien - Leipzig 1922.<br />

19 Georges Lefebvre: Napoleon, Paris 1936, 6. Aufl., besorgt v. Albert Soboul, Paris 1969 (Peuples<br />

et Civilisations, 14).<br />

20 Jean Thirys Napoleon-Biographie ist allerdings bereits auf 26 Bände angewachsen. In seiner<br />

seit 1939 erscheinenden „Collection Napoleon Ier" stehen nur noch der Band über Napoleons<br />

Jugend und der über seine Gefangenschaft auf St. Helena aus.<br />

Eine Summe der gegenwärtigen Napoleon-Forschung in Frankreich bietet die Aufsatzsammlung<br />

„La France ä l'epoque napoleonienne" in der „Revue d'histoire moderne et contemporaine" 17<br />

(1970), S. 329-912.<br />

22 Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang etwa auf das Buch von Helmut Berding: Napoleonische<br />

Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen, 1807- 1813, Göttingen 1973.<br />

Nachrichten<br />

Nachruf auf Kurt Pomplun<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 28, Ringstraße 23<br />

Kurt Pomplun lebt nicht mehr! - Das ist für Berlins Heimatkunde mehr als eine betrübliche Neuigkeit,<br />

das ist in der Tat ein Ereignis. Über ein Jahrzehnt war er stellvertretender Vorsitzender des Vereins für<br />

die Geschichte Berlins, als der er oft in den Vorstandssitzungen den entscheidenden Rat gegeben hat.<br />

Auf mancher Führung durch entlegene Winkel unserer Stadt, in manchem stets den Saal füllenden<br />

Vortrag konnten wir seine von früher Jugend an gesammelten, aber auch fleißig erarbeiteten Kenntnisse<br />

entgegennehmen. Als erfolgreicher Buchautor, als Journalist und Rundfunksprecher hat er in<br />

weiten Kreisen das heimatgeschichtliche Interesse geweckt, am unscheinbaren Detail ebenso wie an<br />

den historischen Zusammenhängen.<br />

Ja, das alles war Kurt Pomplun. Aber er war mehr. Er war das, was man in unserem einerseits einsam<br />

gewordenen, andererseits fremdüberfluteten Berlin kaum noch kennt - er war ein Original, das für<br />

unsere Stadt bereits zu einer Institution geworden war. Wenn seine stattliche Erscheinung auftauchte,<br />

da wußte ein jeder: jetzt gibt es etwas Besonderes. Dann hörten wir keine billigen Berolinismen oder<br />

Witzchen, es wurden tiefschürfende Kenntnisse mit typisch-unverwechselbarem Zungenschlag in<br />

einer Form dargebracht, die wohl jeden in seinen Bann schlug, ihn mit dem Objekt identifizierte, und<br />

dieses Objekt hieß immer irgendwie Berlin. So hat der sich stets auskennende „Kutte" unvergeßlich<br />

in die Herzen seiner Berliner hineingesprochen.<br />

Kurz seine Vita: Geboren am 29. Juli 1910 in der „roten Insel" Schönebergs, dem Dreieck zwischen<br />

S-Bahngleisen und Gasanstalt, in welchem auch Marlene Dietrich das Licht der Welt erblickt hat,<br />

schickte ihn der Vater, ein Oberwerkmeister im technischen Postdienst, auf die Fichte-Realschule, die<br />

er 1926 mit der Reife für Obersekunda, dem sogenannten Einjährigen, verließ. Schon als Schüler<br />

wanderte und fuhr er mit der Straßenbahn kreuz und quer durch Berlin und legte den Grund für die<br />

geradezu enzyklopädische Kenntnis seiner Heimatstadt. Es folgte die Ausbildung als Vermessungstechniker,<br />

die er 1930 nach Besuch der Baugewerksschule Neukölln mit der Staatsprüfung als Ver-<br />

357


messungsingenieur abschloß. Im gleichen Jahre Eintritt in das Vermessungsamt des Kreises Teltow,<br />

in welchem er bald zu Sonderaufgaben herangezogen wurde, so bei der Inventarisierung der Bau- und<br />

Kunstdenkmäler durch den Provinzialverband Brandenburg. Nebenher besuchte Pomplun Vorlesungen<br />

und Übungen der Universitätsprofessoren Hoppe, Kiekebusch, Solger und Vogel. Studienreisen<br />

führten ihn durch fast ganz Europa.<br />

Dieser Zeit eines immer strebenden Bemühens machte 1940 der Einzug zum Kriegsdienst ein Ende.<br />

Nach dem Zusammenbruch zunächst freiberuflich tätig, trat er 1954 als Sachbearbeiter in das Bezirksamt<br />

Schöneberg ein und baute hier nebenher ein Heimatarchiv auf. 1965 ging er in das Amt für Denkmalpflege<br />

über, das er 1972 - nach einem chirurgischen Eingriff vorzeitig pensioniert - als Vermessungsamtsrat<br />

verließ.<br />

Doch Ruhe gab es für Pomplun nicht: Allwöchentlich war er in seiner Sendereihe im RIAS zu hören,<br />

jeden Sonntag erschien ein heimatgeschichtlicher Beitrag in der „Berliner Morgenpost". Seine zahlreichen<br />

Bücher, von denen das über „Berlins alte Dorfkirchen" wohl weiteste Verbreitung gefunden<br />

hat. wurden immer wieder aufgelegt, und noch im letzten Jahr gab es als Neuerscheinung „Berlinisch<br />

Kraut und Märkische Rüben". Weniger bekannt ist, daß er auch Baedekers Reiseführer für Berlin,<br />

Salzburg, Nürnberg, Würzburg, Regensburg, Augsburg, Bamberg, Braunschweig und Innsbruck bearbeitet<br />

hat, alles in allem eine selbst auferlegte, kaum vorstellbare und - wie sich gezeigt hat — nicht<br />

tragbare Arbeitsleistung.<br />

„Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen." Während der Vorstellung eines neuen Berliner<br />

Kunstführers in der Buchhandlung Elwert und Meurer ereilte ihn am 5. August 1977 der tödliche<br />

Infarkt. Welche Gnade für ihn, so aus dem vollen Leben genommen zu werden, welch Verlust für die<br />

Zurückgebliebenen. Denn Kurt Pomplun war in seiner Art einmalig und ist in der Tat unersetzlich,<br />

eben - ein Original. Walter Hoffmann-Axthelm<br />

358


Frau Gertrad Doht 90 Jahre<br />

Am 6. September 1977 konnte Frau Gertrud Doht ihr 90. Lebensjahr vollenden. Als Vorstandsmitglied<br />

des Vereins hat sie die schon seit 1905 währende Familientradition fortgesetzt, die mit<br />

dem Beitritt ihres Vaters, des Kaufmanns Max Carstens, in den Verein für die Geschichte Berlins<br />

begann. 1917 wurde auch ihr Ehemann, Handelsgerichtsrat Dr. Walter Doht, Mitglied, der seit<br />

1931 das Amt des 3. Vorsitzenden und später bis zu seinem Tode nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

dasjenige des 2. Vorsitzenden innehatte. Die Verdienste von Frau Doht reichen bis in jene Jahre<br />

zurück, in denen sie in ihrer Wohnung die Versandarbeiten der seinerzeit noch hektographierten<br />

„Mitteilungen" besorgte. Die Rücksicht auf das Alter ließ sie dann vom Vorstandsamt zurücktreten,<br />

als dank der fortschreitenden finanziellen Besserstellung des Vereins auch die „Mitteilungen"<br />

wieder in dem jetzigen, so ansprechenden Gewand erscheinen konnten.<br />

Ihr 90. Lebensjahr hat die verehrte Jubilarin im engsten Familienkreis gefeiert. An dieser Stelle<br />

sollen ihr aber herzliche Dankesgrüße und die besten Wünsche zugehen. H. G. Schultze-Berndt<br />

Käte Haack 80 Jahre<br />

Genau einen Monat nach ihrem turbulenten 80. Geburtstag am 11. August 1977 - mit zahllosen<br />

Gratulanten, Funk und Fernsehen, in einem Meer von Blumen und Geschenken - saß ich bei Käte<br />

Haack zu einem Plauderstündchen in ihrem gemütlichen, mit schönen alten Möbeln eingerichteten<br />

Heim mit dem Blick auf das Grün des Lietzenseeparks und den Funkturm. Sie erzählte aus ihrem<br />

reichen, glücklichen Leben, das natürlich auch leidvolle Tage enthielt, in das sie am Lützowplatz<br />

geboren wurde - in eine alte Berliner Familie, deren Stammhaus in der Leipziger Straße 6 stand.<br />

Mütterlicherseits hatte sie den Turnvater Jahn zum Vorfahren. Wie sie, war schon ihr Vater Paul<br />

Haack Mitglied des Vereins für die Geschichte Berlins, wie auch ihr Onkel, der Geheime Justizrat<br />

Friedrich Holtze, von dem sie viele kostbare Bücher und Erstausgaben geerbt hat, die u. a. in der<br />

Bücherwand stehen, die eine ganze Seite ihres Zimmers bis unter die Decke einnimmt. Bücher und<br />

Lesen sind Käte Haacks ganze Leidenschaft - besonders Fontane hat es ihr angetan.<br />

Aufgewachsen ist sie in der Grolmanstraße. Nach Abschluß des Lyzeums, einer ganz kurzen Schauspielausbildung<br />

und einem ebenso kurzen Engagement in Göttingen stand sie mit 16 Jahren in Berlin<br />

auf der Bühne des Lessingtheaters mit Curt Goetz und Theodor Loos. Unter den namhaftesten<br />

Theaterleitern und Regisseuren hat sie auf der Bühne und in unzähligen Filmen gespielt. Dann die<br />

beglückenden Jahre bis Kriegsende im Staatstheater bei Gustaf Gründgens, bei dem sie sich in jener<br />

schrecklichen „braunen" Zeit in einer verschworenen Gemeinschaft sicher aufgehoben fühlte. Nach<br />

dem Krieg war neben anderen ihr größter Erfolg die Mrs. Higgins in „My Fair Lady", die sie nun<br />

schon 1500mal in Berlin und anderen Städten gespielt hat. Nun freut sie sich auf die Premiere mit<br />

Rudolf Platte und Thomas Fritsch im November/Dezember bei Wölffer am Kurfürstendamm. Ein<br />

Jahr hatte sie jetzt kein festes Engagement - das war für diese noch so vitale Vollblutschauspielerin<br />

einfach schrecklich, wie sie sagte.<br />

Wir sprachen über Berlin, das sie nie verlassen würde, über die derzeit stattfindenden Festwochen, von<br />

der Diskussion über die „Goldenen 20er Jahre" im Renaissance-Theater, bei der sie mitgewirkt hat,<br />

über Politik, über den Verein, dem sie immer gern zur Verfügung stünde, wenn man sie ruft, und<br />

vieles mehr. Zu uns gesellte sich nun auch ihre reizende junge Freundin Rose Armenad - auch eine<br />

waschechte Berlinerin -, die seit einigen Jahren bei ihr wohnt und sie betreut und verwöhnt und die<br />

wir bald als Mitglied in unserem Verein begrüßen können.<br />

Der hübsche Nachmittag ging zu Ende. Ich nahm Käte Haack im Wagen mit zum Kurfürstendamm,<br />

wo sie bei Freunden eingeladen war. Die leidenschaftliche Autofahrerin - sie fuhr als erste Schauspielerin<br />

in Berlin einen Wagen - bedauerte, daß sie wegen ihrer Augen das Fahren aufgeben mußte.<br />

Wünschen wir ihr noch viele Jahre voll Aktivität in ihrem schönen Beruf zu ihrer und unserer Freude!<br />

Alice Hamecher<br />

359


Stadtteilschreiber in Hamburg<br />

Seit einigen Jahren leistet es sich die Gemeinde Bergen-Enkheim nahe Frankfurt am Main, einen<br />

„Stadtschreiber" zu besolden. Jeweils für die Dauer eines Jahres wird ein namhafter Dichter mit diesem<br />

Ehrenamt betraut.<br />

Hiermit nicht zu verwechseln ist die neue Aufgabe eines „Stadtteilschreibers", die in Hamburg geschaffen<br />

werden soll. Im Verlauf von sechs Monaten sollen drei derartige Stadtteilschreiber die Geschichte<br />

dreier Hamburger Stadtteile aufspüren und sie niederschreiben. Die Stadtteilschreiber<br />

gehen die Verpflichtung ein, in dem von ihnen gewählten Stadtteil aus der Historie von Familien,<br />

Betrieben, Gebäuden, öffentlichen Straßen und Plätzen oder in sonst geeigneter Weise ein Bild<br />

der Geschichte dieses Bezirks zu entwerfen. Im Kulturamt soll das Ergebnis in Form einer Monographie<br />

zur Veröffentlichung vorgelegt oder zumindest als Material für eine Ausstellung verwendet<br />

werden. Drei von den Schriftstellerverbänden „Literaturzentrum" e.V. und Freier Deutscher Autorenverband<br />

vorgeschlagene Literaten erhalten ein Stipendium von je 6000 DM. Als erste Hamburger<br />

Stadtteile wurden St. Georg, Ottensen und die Neustadt ausgesucht.<br />

Diese Anregung sollte auch in Berlin auf fruchtbaren Boden fallen, zumal immer wieder der Wunsch<br />

oder der Bedarf besteht, die Geschichte eines Bezirks festzuhalten, etwa in naher Zukunft die des<br />

dann 275jährigen Charlottenburg. H. G. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Mehrfach ist an Herrn Pfarrer Dr. Thomas Buske vom Evangelischen Pfarramt zum Guten Hirten in<br />

Berlin-Friedenau, Bundesallee 76, der Wunsch herangetragen worden, das Buch der Gefallenen aus<br />

dem Ersten Weltkrieg, das seinerzeit von Prof. Schoppenmeyer kunstvoll gestaltet wurde, mit den<br />

Namen der Kriegstoten aus dem Zweiten Weltkrieg zu ergänzen. Alle, die heute in Friedenau wohnen<br />

und Angehörige während des Krieges verloren haben, entweder an der Front gefallen, während eines<br />

Bombenangriffes umgekommen oder in der Gefangenschaft oder auf der Flucht verschollen, werden<br />

gebeten, die Namen dieser Familienglieder, Verwandten und Freunde dem Pfarramt mitzuteilen<br />

(direkt an Pfarrer Dr. Buske oder an die Gemeindehelferin Frau Schwedt, Telefon 8 52 75 39).<br />

Auch das Ehrenmal in der Kirche (von dem Friedenauer Bildhauer Mißfeldt 1920 gestaltet) wird bis<br />

zum diesjährigen Volkstrauertag - aus Spenden der Gemeinde - seinen ursprünglichen Schmuck<br />

wiedererhalten, nachdem bereits Pfarrer Trompke schon vor Jahren das Ehrenmal durch die Daten<br />

des Zweiten Weltkrieges „1939— 1945" ergänzen ließ.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Frau Alma Schnell. Frau Ilse Kabisch, Frau Dorothea Brose; zum 75. Geburtstag<br />

Herrn Prof. Dr. Karl Feußner, Frau Elsa-Marie Kaatz, Frau Anneliese Gericke, Frau Ella Dohm;<br />

zum 80. Geburtstag Herrn Dr. Joachim Lachmann, Herrn Dr. Johannes Broermann, Frau Liesbeth<br />

Zahn, Herrn Günther Grabowski, Herrn Johann Schönbeck.<br />

*<br />

Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin" ist erschienen und wurde im Monat September ausgeliefert.<br />

Die Mitglieder erhielten den Band zugeschickt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das laufende<br />

Jahr (z. Z. 36 DM) entrichtet hatten.<br />

360


Buchbesprechungen<br />

Hsi-Huev Liang: Die Berliner Polizei in der Weimarer Republik. Aus d. Amerikanischen übersetzt<br />

von Brigitte und Wolfgang Behn. Berlin: de Gruyter 1977. XVIII u. 235 S.. 3 Karten, Leinen, 68 DM<br />

(Veröff. der Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 47).<br />

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Raum Berlin bietet durch die zentrale Stellung der<br />

Stadt gerade in der Zwischenkriegszeit die Möglichkeit, daß die am Objekt gewonnenen historischen<br />

Aussagen sogar im europäischen Rahmen bedeutsam sind. So ist es nicht lokalgeschichtliches Interesse,<br />

das Liang zur Auseinandersetzung mit den Problemen der Berliner Polizei der Weimarer Republik<br />

angeregt hat, sondern die 1970 zunächst in den USA erschienene Arbeit ist als Versuch zu werten,<br />

umfassende Entwicklungen auf stadtgeschichtlicher Ebene zu diskutieren. Bearbeitet werden die<br />

Entwicklungen in der Kriminal- und Schutzpolizei; letztere bildete nach dem kurzen Zwischenspiel<br />

der „Sicherheitspolizei" die organisatorische Basis der politischen Arbeit in der Stadt. Es fehlen hingegen<br />

Ausführungen zur traditionell auch auf anderen Gebieten starken Stellung des Berliner Polizeipräsidenten<br />

sowie die Einbindung in das preußische Behördensystem.<br />

Der Rahmen der Darstellung spannt sich von dem Zusammenbruch im Jahre 1918, der ein zeitweises<br />

Aufhören der Tätigkeit der Schutzmannschaft, nicht aber der Kriminalpolizei zur Folge hatte, bis<br />

zu den von den Nationalsozialisten vorgenommenen personellen Veränderungen des Jahres 1933. Wie<br />

der Polizeigedanke selbst, so stammte auch der Kern der Polizeitruppe noch aus der Zeit vor 1914.<br />

Polizeiarbeit wurde als „unpolitisch" angesehen, und man versuchte bis 1933, die parteipolitische<br />

Neutralität zu wahren. Die „Politische Abteilung" der Polizei wurde als notwendiges Übel angesehen<br />

und hatte zu keiner Zeit eine hervorragende Bedeutung. Die politische Neigung der zumeist aus<br />

ländlichen Gebieten stammenden Schutzpolizisten - nur wenige gebürtige Berliner genügten den<br />

hohen gesundheitlichen Anforderungen, die bei der Rekrutierung nach 1918 an die jungen Bewerber<br />

gestellt wurden - ging eher nach rechts als nach links. Doch war eine große Zahl von Polizisten in<br />

der SPD oder in gewerkschaftsähnlichen Verbänden organisiert.<br />

Nachdem bald nach 1918 die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt war, führte die Zeit nach 1928 zu<br />

tiefgreifenden Spannungen - auch innerhalb der Polizei. Nationalsozialisten wurden in einigen<br />

Revieren dominierend, der Einfluß der KPD war hingegen unbedeutend. Bis 1933 wurde zwar noch<br />

versucht, die Neutralität aufrechtzuerhalten, doch gelang es nicht mehr vollständig. Auch gegen die<br />

Gleichschaltung der Polizei erhob sich kein nennenswerter Widerstand. Besonderes Interesse für den<br />

lokalhistorisch Interessierten werden die Abschnitte über die geographische Verbreitung der Kriminalität<br />

sowie die Schilderung spezieller polizeilicher Aktivitäten finden.<br />

Dn# Liang keine Möglichkeit besaß, die Archive der DDR zu besuchen, stützt sich seine Argumentation<br />

vor allem auf die Befragung von Zeugen. Daneben scheinen auch das Landesarchiv Berlin, das<br />

Document Center Berlin. Akten des Polizeipräsidiums sowie Material des Bundesarchivs Koblenz<br />

benutzt worden zu sein. Leider fehlt darüber eine Aufstellung. Auch hätte man bei der deutschen<br />

Ausgabe nach der Drucklegung erschienene Literatur, etwa die Lebenserinnerungen Ferdinand<br />

Friedensburgs, in das Literaturverzeichnis aufnehmen sollen. Felix Escher<br />

Carl Brinitzer: Die Geschichte des Daniel Ch. Ein Sittenbild des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Deutsche<br />

Verlags-Anstalt 1973. 460 S. mit Abb., Leinen, 38 DM.<br />

Es bedarf schon einiger Phantasie und journalistischer Geschicklichkeit, um aus der Biographie eines<br />

nach Maßstäben des 19. und 20. Jahrhunderts so „bürgerlichen", fleißigen und unauffällig lebenden<br />

Künstlers wie Daniel Chodowiecki die „Geschichte des Daniel Ch." als „Sittenbild" zu formen. Vf.<br />

bringt beides ebenso auf wie die Geduld, rund neunzig Bücher heranzuziehen, um seinem romanhaft<br />

unterhaltsam geschriebenen Opus die durch Anmerkungen untermauerte Wissenschaftlichkeit zu verleihen,<br />

zu der auch Personenregister und Abbildungsverzeichnis am Schluß verhelfen. Wo das Überlieferte<br />

- vor allem der Briefwechsel Chodowieckis und seine Reisetagebücher - nicht zum Aufpolieren<br />

der Lebensgeschichte reicht, tut es Erfindung - weiß Brinitzer doch ganz genau, wie die<br />

Treffen zwischen Friedrich IL und dem Künstler verlaufen sein könnten und was Majestät dabei<br />

äußerte.<br />

361


Von solchen Einlagen und den die Biographie streckenden, teils liebevollen, teils ironischen Werkinterpretationen<br />

abgesehen ist das Buch chronologisch angelegt und schildert nach einem vielleicht<br />

etwas oberflächlichen Exkurs über die polnisch-französische Abstammung des gebürtigen Danzigers<br />

seinen Werdegang von 1740 an, als der Vierzehnjährige - bereits verwaist - als Lehrling im Spezereiwarenladen<br />

einer Tante die ersten Tuschzeichnungen und Pergamentbildchen fertigte. Diese lieferte<br />

er einem Onkel in Berlin, der sie im Rahmen seines Galanteriewarenhandels vertrieb und 1743 den<br />

Neffen als Künstler, Buchhalter und Verkaufshilfe einstellte. Von da an ist das Buch ein Stück Berliner<br />

Kulturgeschichte und weitet sich schließlich auch zu einem Überblick über die Geistesgeschichte<br />

des 18. Jahrhunderts. Denn Chodowiecki, der anfangs vorwiegend Emailbilder für Tabakdosen herstellte<br />

und in dieser Sparte mit 23 Jahren den ersten künstlerischen Unterricht erhielt, bildete sich<br />

durch Besuche in bekannten Ateliers und Zeichenkurse in der Privatakademie des Malers Rode weiter,<br />

experimentierte mit Radierungen und Kupferstichen und gelangte über Vervielfältigungen eines<br />

Miniaturporträts der Prinzessin Friederike Wilhelmine Sophie von Preußen und ihres Bräutigams<br />

schließlich zu größeren Erfolgen und zu einem Illustrationsauftrag für den Berliner Genealogischen<br />

Kalender auf das Jahr 1769. Als er für 1770 Illustrationen zu „Minna von Barnhelm'' schuf, hatte<br />

er seinen endgültigen Beruf gefunden und war seither als Illustrator u. a. für Basedows Werke und<br />

Lavaters physiognomische Fragmente, für Theaterstücke, Goethes „Werther", für Almanache usw.<br />

sehr gefragt, brachte es schließlich sogar zum Akademiedirektor.<br />

Da über das Privatleben des Künstlers so wenig zu berichten ist - von der liebevollen Schilderung der<br />

zwei größeren Reisen nach Danzig und der Reise nach Dresden und Dessau abgesehen -, liegt das<br />

Schwergewicht mehr auf dem Nachvollzug seines Schaffens, von dem reizvolle Beispiele dem Text beigegeben<br />

sind. Ob die Ausführungen immer kunsthistorischen Erkenntnissen standhalten, sei dahingestellt<br />

(die historischen Exkurse haben wenig Tiefgang); das Verdienst, Liebhaber in origineller<br />

Weise an das umfangreiche Werk Chodowieckis heranzuführen und ihnen die Möglichkeit zur weiteren<br />

Vertiefung der Kenntnisse durch Lektüre von Fachbüchern aufzuzeigen, hat der Autor zweifellos.<br />

Was etwas verblüfft, ist die Tatsache, daß er eine durch Neuauflage so leicht zugängliche Quelle<br />

wie die „Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam" von Friedrich Nicolai anläßlich der<br />

Hinweise auf die von Chodowiecki zusammengetragene Kunstsammlung, die dort im zweiten Band<br />

(1786, S. 835 f.) gewürdigt wird, nicht herangezogen hat. Eva Gießer- Wirsig<br />

Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg. Bd. 2: Die Zeit um 1800; die Zeit um<br />

1875. Hrsg. von Otto Busch. Berlin: Colloquium 1977. 186 S., 2 mehrfarb. Karten, 13 Abb. u. Tab.,<br />

Leinen, 98 DM. (Einzelveröff. d. Hist. Kommission zu Berlin, Bd. 19.)<br />

Während in dem 1971 erschienenen ersten Band die Gewerbeentwicklung im brandenburgischen<br />

Raum in der Zeit bis 1850 im Mittelpunkt stand und die Zeit um die Mitte des Jahrhunderts in<br />

Tabellen und einer Karte besonders herausgehoben wurde, enthält der vorliegende Band die Karten<br />

„Gewerbe in Brandenburg um 1800" und „Gewerbe in Brandenburg um 1875". Die Erläuterungen<br />

zu den beiden Karten sind von Otto Busch und Wolfgang Scharfe in dem Beitrag „Gewerbe in<br />

Brandenburg um 1800" und von Otto Busch „Das brandenburgische Gewerbe im Ergebnis der<br />

.Industriellen Revolution'" zusammengefaßt worden. Nicht nur in den Karten, sondern auch in den<br />

Auswertungen wird der zentralen Rolle Berlins bei der Industrialisierung des ganzen Raumes Rechnung<br />

getragen. Einen Einstieg in die Problematik der statistischen Grundlagen sowie der kartographischen<br />

Darstellung bietet Wolfgang Scharfe in dem Aufsatz „Brandenburg in der Gewerbekarte".<br />

Vom selben Verfasser stammt auch der Versuch, mit Hilfe des in der wissenschaftlichen Statistik<br />

ausgebildeten Dreiecksdiagramms „Wirtschaftsstrukturelle Veränderungen in brandenburgischen<br />

Städten 1800—1875" auszuwerten. Hier werden die Anteile der Beschäftigten in Gewerbe, Landwirtschaft<br />

und dem Handels- und Dienstleistungsbereich in eine Beziehung gesetzt. Auffällig ist die<br />

zunehmende landwirtschaftliche Orientierung in den kleineren Städten. - Mit beiden Bänden liegt nun<br />

eine gute Quellendarstellung und -auswertung für die Entwicklung der Industrialisierung in einem der<br />

zentralen deutschen Wirtschaftsräume vor. Felix Escher<br />

362


Dieter Hoffmann-\xthelm. Das abreißbare Klassenbewußtsein. (Baugeschichte und Wiederaufbau<br />

des Mehringplatzes in Berlin.) Gießen: Anabas-Verlag 1975. 132 S., 70 Abb., brosch., 12,80 DM.<br />

Die Tugend dieses Buches ist zugleich seine Schwierigkeit: Es ist so konzentriert geschrieben, daß<br />

selbst große Anspannung auf Seiten des Lesenden zuweilen nicht genügt, den Sinn eines Satzes zu<br />

erfassen. Und der Autor beginnt mit einem „didaktischen Teil" - und endet mit einem „didaktischen<br />

Zusatz"! Allerdings versteht er in diesem Buch, anders als in seiner Tätigkeit als Lehrer, unter<br />

Didaktik nicht die Technik, das Verstehen zu erleichtern; vielmehr ist Didaktik ihm hier das Gewinnen<br />

eines Standpunktes, der es ermöglicht, die Fehlschlüsse endlich zu vermeiden, welche wir ständig<br />

machen. Der didaktische Teil am Anfang und der didaktische Zusatz am Ende lassen erkennen, worauf<br />

es ihm ankommt: Das Anfangskapitel beschäftigt sich eingehend mit den Bedingungen, den Zielen<br />

dem Gegenstand und dem Verfahren der geplanten Vermittlung - und das heißt jeder heute möglichen<br />

Vermittlung; und es bedarf dann des ganzen Ablaufes der Geschichte des Mehringplatzes nebst<br />

Exkursen und des architekturtheoretischen Teiles, um am Ende als gewonnenes Ergebnis bekräftigen<br />

zu können, was am Anfang als Postulat gestanden hatte. Am Anfang: „Nur in dieser Lebendigkeit<br />

kann dann zwingend erkannt werden, daß das, was sich im Gegenstand ausdrückt. Element und<br />

Gegenstand einer von tödlichen Widersprüchen vorangetriebenen gesellschaftlichen Geschichte ist,<br />

und also die Vernichtung der Objekte die Konsequenz ihrer eigenen Verwirklichung." Am Ende:<br />

„Was den architektonischen Gegenstand in Bewegung hält, ist aber nicht der Gebrauchswert, sondern<br />

gerade das Wertschicksal." Das Wort bedeutet die Abnutzung aller faktischen und Gebrauchswerte<br />

und ihre Ersetzung durch die Verwertung, die „mit Abschreibung, Überalterung usw." ihr Ende<br />

nimmt. Und, kurz davor: „Dieser Widerspruch muß begriffen, und bearbeitet, nicht weggewünscht<br />

werden." Das heißt, kurz und gut. daß wir uns von der bürgerlichen Perspektive, welche sich etwa<br />

in den Worten Baukunst, Stadtbaukunst usw. ausdrückt, befreien müssen, daß wir weder von einem<br />

neuen Historismus träumen dürfen (wie manche das bereits tun) noch von Plätzen und anderen<br />

städtischen Räumen als Dingen an sich, welche unter jeder historischen Bedingung, also auch derjenigen,<br />

welcher wir unterworfen sind, herzustellen wären; daß wir nicht vorwärtskommen, wenn wir<br />

nicht bereit sind, die gegenwärtige Situation - die Situation des Bauens für die Verwertung - mit<br />

allen ihren Widersprüchen als historisch schlüssig anzuerkennen, womit allerdings nicht gesagt ist, daß<br />

wir sie bejahen sollten. Das Buch endet mit dem Satz: „Auch die architektonische Bewußtlosigkeit<br />

des Verwertungsstandpunktes wird abgerissen werden, spätestens dann, wenn die Menschen wieder<br />

Platz und Plätze brauchen, um gesellschaftlich miteinander zu verkehren." Also spätestens im<br />

Sozialismus. Man darf allerdings fragen, ob die Menschen dann Plätze brauchen werden. Das ist<br />

schwer vorauszusagen. Es mag sein, daß sie räumliche Gebilde anderer Art benötigen werden, um<br />

gesellschaftlich miteinander zu verkehren.<br />

An diesem Ende angelangt, welches auf den Anfang zurückweist, möchte man das Buch noch einmal<br />

lesen. Und das sollte man; denn zwischen Anfang und Ende enthält es keineswegs nur die Geschichte<br />

des Mehringplatzes, es enthält Zusammenfassungen von haarsträubender Knappheit: über die Piazza,<br />

die Place Royale und den Square als Ursprünge aller bürgerlichen Plätze; über Rundplätze des bürgerlichen<br />

Zeitalters - wozu die Architektur des Faschismus und die der DDR gerechnet werden; über<br />

die dialektische Beziehung zwischen dieser Architektur des Faschismus und der des Funktionalismus;<br />

über das Wesen der Ornamentlosigkeit als eines Versuches, zur reinen Form zu gelangen, wobei sich<br />

die funktionalistischen Formeln als Vorwände herausstellen; aber auch über die dialektische Beziehung<br />

zwischen Katholizismus und Protestantismus seit der Gegenreformation.<br />

Man nimmt einige dieser Thesen mit Befremden zur Kenntnis, um bald zu merken, daß sie sich auf<br />

jeden Fall vertreten lassen; denn sie sind auf bedeutendes und vielseitiges Wissen gegründet.<br />

Gleichwohl geschieht es, daß man die Fragen, die sich aufdrängen, durch die kahle und zuweilen verschlüsselte<br />

Formel, die der Autor gibt, noch nicht für beantwortet hält. Um solche Gegenstände<br />

auseinanderzusetzen, hätte man sie ein wenig mehr auseinanderlegen müssen; es hätte da in vielen<br />

Fällen statt eines Satzes eines Kapitels bedurft, in einigen eines Buches. Auch geschieht es nicht selten,<br />

daß von Gegenständen gesprochen wird, welche in dem billigen Büchlein nicht abgebildet werden<br />

konnten, ja, der Haupt- und eigentliche Gegenstand selbst, der Mehringplatz in seiner heutigen<br />

Form, ist nicht genügend dokumentiert, was nur zum Teil daran liegt, daß er, als das Buch geschrieben<br />

wurde, noch nicht ganz fertig war. Mit einem Wort, man wünscht sich eine Auseinanderfaltung: anstelle<br />

der 132 Seiten mindestens 500.<br />

Dabei handelt es sich bei dieser formelhaft knappen Sprache keineswegs um einen Jargon (wenngleich<br />

ich wünschte, das Wort „Vermittlung" wäre weniger häufig gebraucht worden). Dieter Hoffmann-<br />

363


Axthelm schreibt reines Deutsch, allerdings nicht eben das Deutsch der bürgerlichen Novelle oder<br />

des (bürgerlichen) Essays. Die Begriffe, die er benutzt, und die Art, wie er sie einsetzt, setzen voraus,<br />

daß der Leser ebenso gelehrt sei wie der Autor, daß er „nun, ach! Philosophie" und alle anderen<br />

Disziplinen studiert haben, welche Dieter Hoffmann-Axthelm offenbar „durchaus mit heißem Bemühn"<br />

studiert hat. Aber das haben die wenigsten.<br />

Das Buch ist eines der wenigen, die mir wichtig erscheinen. Es werden ja gegenwärtig sehr viele<br />

Bücher geschrieben, auch gute Bücher; aber grundsätzlich kann man nur von solchen Büchern lernen,<br />

die auf die Grundsätze zurückgehen; und das tut dieses Buch. Julius Posener<br />

Klaus Duntze: Der Geist, der Städte baut. Planquadrat - Wohnbereich - Heimat. Stuttgart: Radius-<br />

Verlag 1972. 213 S. mit 25 Abb., kart., 24 DM.<br />

Das Wohnen und die Kirche. = Kunst und Kirche, hrsg. vom Arbeitsausschuß des Ev. Kirchenbautages<br />

Marburg. H. 2. Gütersloh: Mohn 1977. 110 S., brosch.<br />

Das Interesse an Fragen des Städtebaus ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Mitwirkung der<br />

Betroffenen bereits an der Planung neuer oder zu sanierender Wohnquartiere erhält dabei ein besonderes<br />

Gewicht. Auch von Seiten der Kirche wird dem Problem der „Humanisierung" der Planung<br />

immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Ein interessantes Beispiel dafür ist das anläßlich des Ev.<br />

Kirchentages in Berlin erschienene Heft der Zeitschrift „Kunst und Kirche", das speziell diesen Fragen<br />

in Berlin gewidmet ist. Die hier gebotenen, meist sehr knappen Aufsätze reichen von allgemeinen<br />

Themen zum Wohnen und der Situation der Kirche in Berlin über spezielle Probleme der Jugendarbeit<br />

im Märkischen Viertel und anderen Neubaugebieten und Sanierungsaufgaben im Ortskern von<br />

Neukölln bis zum Aufzeigen alternativer Wohnmöglicheiten in Lichtenrade-Ost.<br />

Auch Pfarrer Duntze von der Martha-Kirchengemeinde Kreuzberg ist in dem Bd. mit einem Beitrag<br />

zu einer von ihm maßgeblich beeinflußten Ausschreibung zur Neubelebung des seit Jahrzehnten vernachlässigten<br />

Stadtteils Kreuzberg-Ost (,.SO 36") vertreten. Bereits 1972 war er mit dem Buch „Der<br />

Geist, der Städte baut" einem ähnlichen Thema nachgegangen. Ziel war, neue Denkanstöße zur Planung<br />

von Stadtquartieren, insbesondere des von der Sanierung bedrohten SO 36 zu geben. Gedanken<br />

zur Architektur, Soziologie und Theologie im Städtebau stehen oft unvermittelt nebeneinander, ohne<br />

daß eine Synthese gelingt. Dennoch bleiben der historische Abriß zur Theorie des Städtebaus und<br />

besonders die theologische Fundierung seiner Ansichten lesenswert. Felix Escher<br />

Werner Jaeger: Das Mittelrad-Dampfschiff „Prinzessin Charlotte von Preußen" 1816. Oldenburg<br />

u. Hamburg: Stalling 1977. 128 S. mit Abb. u. 6 Skizzen-Beil., Leinen, 39.80 DM. (Schriften d.<br />

Deutschen Schiffahrtsmuseums. Bd. 7.)<br />

Werner Jaeger hat sich der lohnenden Mühe unterzogen, in seinem Buch die Mysterien aufzuhellen,<br />

die 150 Jahre hindurch den Bau des ersten deutschen Dampfschiffes umgeben hatten. Das Fahrzeug<br />

ist 1816 unter Leitung eines englischen Konstrukteurs in Picheisdorf bei Spandau erbaut und noch im<br />

selben Jahr in Betrieb genommen worden. Obwohl das dampfgetriebene Fahrzeug alle technischen<br />

Erwartungen erfüllt und zum Teil übertroffen hat. war ihm dennoch nur die extrem kurze Lebensdauer<br />

von drei Jahren beschieden, da sich eine rentable Verwendung des Schiffes im Betrieb nicht hatte<br />

erreichen lassen.<br />

Die Tatsache, daß die Konstruktions- und Bauzeichnungen, die dem zuständigen preußischen Ministerium<br />

eingereicht wurden, „trotz preußischer Gründlichkeit", wie der Autor sagt, bis zum heutigen<br />

Tage unauffindbar geblieben sind, hatte bewirkt, daß sich im Laufe von mehr als hundert<br />

Jahren unter den Experten Meinungen über die Konstruktion des Schiffes gebildet haben, die,<br />

obzwar samt und sonders nur auf zeitgenössischen Presseberichten, Darstellungen von Malern<br />

sowie technischen Indizien und Hypothesen basierend, in einer immer umfangreicher werdenden<br />

Literatur von jedem einzelnen Autor mit hartnäckiger Überzeugungskraft verfochten wurden. „Aufgrund<br />

der vorliegenden Erkenntnisse" wurde 1962 ein Modell des Schiffes erstellt.Kurz darauf<br />

wurden originalgetreue Kopien der Konstruktionszeichnungen mit genauen Maßangaben im Archiv<br />

der englischen Firma entdeckt, die seinerzeit die Antriebsmaschine geliefert hatte. Dieser unerwartete<br />

Zufall bewies in Vergleichen mit dem Modell, wie weit sich die Phantasie der Berufenen von der<br />

Wirklichkeit entfernt hatte . . .<br />

364


Durch das unerwartete Wiederauftauchen der Zeichnungen wurde dem Autor die Erstellung einer<br />

weitgehend authentischen technisch-historischen Dokumentation des ersten, in Deutschland erbauten<br />

hölzernen Dampfschiffes möglich. Der Leser des gefälligen Bandes der Schriften des Deutschen<br />

Schiffahrtsmuseums erlebt die Anfänge des Schiffbaus in der Pichelsdorfer Sandbucht, die Probefahrten,<br />

den Stapellauf und den Betriebseinsatz bis hin zur Stillegung des Fahrzeuges. Die Abhandlung vermittelt<br />

dem historisch Interessierten durch den teilweise wörtlichen Abdruck zahlreicher Stellungnahmen<br />

aus der lokalen Tagespresse ein zeitgetreues Lokalkolorit und dem Techniker durch eine<br />

Vielzahl von Faksimile-Wiedergaben der englischen Kontruktionszeichnungen. mit erläuternden<br />

Begleittexten versehen, einen umfassenden Überblick über Konstruktion und Wirkungsweise des<br />

Antriebsaggregates sowie die Manövrierfähigkeit und das Fahrverhalten des ersten deutschen Flußdampfers.<br />

Im zweiten Teil des Bandes befaßt sich der Autor mit dem Bau von vier weiteren Flußdampfern<br />

ähnlicher Konstruktion zwischen 1816 und 1819, teils in Picheisdorf, teils in Potsdam erbaut. Der<br />

Anhang des Werkes enthält die Übersetzung einer langen Reihe englischer schiffsbautechnischer<br />

Fachausdrücke sowie deutschsprachige Erläuterungen zu den englischen Werkzeichnungen. Die<br />

58 Anmerkungen auf den Seiten 89— 111 bieten eine Fülle wissenswerter Details aus dem Gesamtbereich<br />

der Frühzeit des Dampfschiffbaus. Eine Quellenangabe und ein übersichtliches Verzeichnis<br />

sämtlicher Tafeln. Abbildungen und Zeichnungen befindet sich am Schluß des hochinformativen<br />

Werkes. Hans Schiller<br />

Valentin Heinrich Schmidt u. Daniel Gottlieb Gebhard Mehring: Neuestes gelehrtes Berlin oder<br />

literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen. 2 Teile,<br />

Berlin: Maurer 1795 (Nachdruck Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1973). XXIV, 294 u. XII,<br />

308 S., Leinen, zus. 140 M.<br />

(Hitzig, Julius Eduard:) Gelehrtes Berlin im Jahre 1825. Verzeichnis im Jahre 1825 in Berlin lebender<br />

Schriftsteller und ihrer Werke. Mit Forts.: Biographische und literarische Nachrichten von den in<br />

Berlin lebenden Schriftstellern u. Schriftstellerinnen, hrsg. von Karl Büchner. 2 Teile in 1 Bd. Berlin:<br />

Dümmler 1826 / Duncker & Humblot 1834 (Nachdruck Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1973).<br />

X, 327 u. XII, 48 S., Leinen, 72 M.<br />

(Koner, Wilhelm David:) Gelehrtes Berlin im Jahre 1845. Verzeichnis im Jahre 1845 in Berlin lebender<br />

Schriftsteller und ihrer Werke. Berlin: Athenäum 1846 (Nachdruck Leipzig: Zentralantiquariat<br />

der DDR 1973). XII, 390 S., Leinen, 70 M.<br />

Bereits vor der Gründung der Berliner Universität war die Stadt zu einem Mittelpunkt der Wissenschaft<br />

in Preußen geworden. Das von Valentin Heinrich Schmidt und Daniel Gottlieb Gebhard Mehring<br />

gesammelte und herausgegebene „Neueste gelehrte Berlin oder literarische Nachrichten von<br />

jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen" aus dem Jahre 1795. das in zwei<br />

Bänden zusammengefaßt den ersten Teil der hier vorliegenden Sammlung bildet, gibt dafür einen<br />

überzeugenden Beweis. Nicht nur Mitglieder der bereits zahlreich entstandenen gelehrten medizinischen<br />

und naturwissenschaftlichen Institutionen sowie der gelehrten Schulen der Residenz, sondern<br />

gerade auch „private" Gelehrte und preußische Staatsbeamte werden erfaßt. Insbesondere die wissenschaftliche<br />

Tätigkeit der letzteren Gruppe hat erst in den letzten Jahren durch G. Heinrich für den<br />

Bereich der Historiographie eine umfassende Würdigung erfahren. Neben einer kurzen Biographie,<br />

die auch den wissenschaftlichen Werdegang enthalten kann, ist als kostbarster Teil eine umfassende<br />

chronologische Bibliographie der Gelehrten angefügt. Deutlicher als durch jede Darstellung wird in<br />

den Bibliographien die Breite der wissenschaftlichen Tätigkeit, die in einer Zeit vor der strengen Trennung<br />

der Disziplinen auch durchaus journalistisch gefärbt sein konnte. So stehen wir mit Staunen vor<br />

dem Lebenswerk eines der frühen Historiographen der Mark, Johann Karl Konrad Oelrichs (Bd. II,<br />

S. 70-92).<br />

Der ungeheure Fortschritt der Wissenschaften, den nicht nur die einzelnen Disziplinen, sondern auch<br />

die Wissenschaftsorganisation genommen hatte, zeigt sich in den folgenden, als „Verzeichnis im Jahre<br />

1825, bzw. 1845 in Berlin lebender Schriftsteller und ihrer Werke" 1826 bzw. 1846 erschienenen<br />

Bänden. Hier sind es die an den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen wirkenden<br />

Fachgelehrten, die den größten Teil der aufgenommenen Schriftsteller bilden. Aber er fehlt in<br />

der Ausgabe von 1846 auch nicht der „expedirende Secretair der Stadtverordneten-Versammlung zu<br />

365


Berlin" Johann Karl Ernst Fidicin (S. 87), der (1845) erst am Anfang seiner literarischen Tätigkeit<br />

stand.<br />

Weit über die Grenzen der Stadt hinaus dürften diese seltenen, jetzt im Neudruck vorliegenden Bände<br />

Beachtung finden. Sie bilden eine repräsentative und durch die Neuauflage jeweils im Abstand einer<br />

Generation auch nahezu lückenlose Übersicht über die wissenschaftliche Tätigkeit in Berlin vom<br />

ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Felix Escher<br />

Die „Schriften" des Vereins<br />

... werden voraussichtlich noch vor Ende dieses Jahres mit dem Erscheinen von Band 61 fortgesetzt.<br />

Er wird folgende zwei Arbeiten enthalten:<br />

Wolfgang Ribbe: Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen Geschichte von<br />

Berlin-Brandenburg<br />

Konrad Kettig: Goetheverehrung in Berlin. August und Ottilie von Goethe besuchen<br />

1819 die preußische Residenz<br />

Insgesamt ca. 128 Seiten mit zahlreichen Abbildungen.<br />

Die Mitglieder erhalten den Band nach Erscheinen zugesandt, soweit der fällige Mitgliedsbeitrag fiir<br />

das laufende Jahr entrichtet worden ist. Der Verkaufspreis wird ca. 16 DM betragen.<br />

Im III. Vierteljahr 1977<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Eva Draegert, Hausfrau<br />

1000 Berlin 33, Bitterstraße 27<br />

Tel. 8 31 12 23 (Dr. Beerbohm)<br />

Werner Freundt, Bäckermeister<br />

1000 Berlin 61. Körtestraße 8<br />

(Bibliothek)<br />

Harald Goegge, Angestellter<br />

1000 Berlin 13, Rohrdamm 70<br />

Tel. 3 81 20 70 (Brauer)<br />

Gertraud Goegge<br />

1000 Berlin 13, Rohrdamm 70<br />

Tel. 3 81 20 70 (Brauer)<br />

Bärbel Hartmann, Rechtsanwältin<br />

1000 Berlin 41, Dickhardtstraße 48<br />

Tel. 8 51 48 19 (RA Gerhard Asch)<br />

Walter Jagow, Rentner<br />

1000 Berlin 41, Perelsplatz 17<br />

Tel. 8 52 74 76 (Brauer)<br />

Margarete Jeske, kaufm. Angestellte<br />

1000 Berlin 41, Riemenschneiderweg 28<br />

Tel. 8 55 44 81 (Ellen Wiegand)<br />

Brigitte Kaul, Studentin<br />

1000 Berlin 31, Fechnerstraße 23<br />

Tel. 8 6117 75 (Brauer)<br />

Dorothea Krahn, Rentnerin<br />

1000 Berlin 41, Wilhelmshöher Straße 13<br />

Tel. 8 216619 (Brauer)<br />

366<br />

Hildegard Krause, OStR i. R.<br />

1000 Berlin 19, Horstweg 18<br />

Tel. 3 21 57 75 (Eckhard Grothe)<br />

Peter Malik, Verwaltungsangestellter<br />

1000 Berlin 61, Ritterstraße 95<br />

(Brauer)<br />

Hans-Ulrich Mehner, Oberbibl.-Rat<br />

1000 Berlin 19, Kaiserdamm 18<br />

Tel. 3 21 25 19 (Adelheid Beck)<br />

Theo Reckers, Student<br />

1000 Berlin 41, Handjerystraße 71<br />

(Brauer)<br />

Johann Schönbeck, Ing. (Rentner)<br />

1000 Berlin 13, Janischweg 25<br />

Tel. 3 81 39 42 (Schriftführer)<br />

Dietrich Stobbe, Regierender Bürgermeister<br />

von Berlin<br />

1000 Berlin 28, Hedwigstraße 15<br />

(Walter Mügel)<br />

Horst Wesolowski, Signalmechaniker<br />

1000 Berlin 41, Sembritzkistraße 18<br />

(Brauer)


Weitere Veröffentlichungen des Vereins<br />

Von den früheren Ausgaben des Jahrbuchs<br />

DER BÄR VON BERLIN<br />

sind folgende Bände noch erhältlich:<br />

1953, 1957/58 und 1960 je 4,80 DM; 1961 bis 1964 je 5,80 DM; 1965 (Festschrift)<br />

38,- DM; 1968 und 1969 je 9,80 DM; 1971 und 1972 je 11,80 DM;<br />

1973 bis 1975 je 12,80 DM; 1976 und 1977 je 18,50 DM.<br />

MITTEILUNGEN<br />

des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

erscheinen vierteljährlich im Umfang von 32 Seiten. Sie enthalten in der<br />

Regel mehrere Artikel mit Themen zur Berliner Geschichte (mit Abbildungen),<br />

Nachrichten zu aktuellen Anlässen und aus dem Vereinsleben,<br />

Buchbesprechungen und das Programm der laufenden Veranstaltungen<br />

des Vereins.<br />

Einzelhefte aus früheren Jahrgängen sind zum Stückpreis von 4,- DM<br />

noch erhältlich.<br />

Von der neuen Folge der<br />

Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

sind bisher erschienen:<br />

Heft 59: Johann David Müller, Notizen aus meinem Leben. (1973)<br />

Preis 9,80 DM<br />

Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing, Königin Elisabeth von Preußen. (1974)<br />

Preis 11,80 DM<br />

Bestellungen sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten:<br />

Albert Brauer, Blissestraße 27,1000 Berlin 31


Veranstaltungen im IV. Quartal 1977<br />

1. Sonnabend, 15. Oktober 1977, 15 Uhr: Besuch des Georg-Kolbe-Museums anläßlich des<br />

100. Geburtstages des Bildhauers. Leitung: Frau Maria Freifrau von Tiesenhausen.<br />

Treffpunkt: Georg-Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25. Eintritt: 2,50 DM. Fahrverbindungen:<br />

S-Bahnhof Heerstraße, Autobusse 92,94.<br />

2. Sonnabend, 22. Oktober 1977, 10 Uhr: Besuch der Ausstellung „Aus der Geschichte der<br />

Burg und Zitadelle Spandau". Leitung: Jürgen Grothe. Treffpunkt: Torhaus der Zitadelle.<br />

Fahrverbindungen: Autobusse 13, 55, 99.<br />

3. Freitag, 28. Oktober 1977, 13 Uhr: Herbstwanderung durch den Düppeler Forst.<br />

Leitung: Herr Oberforstrat Dr. Friedrich Riecke. Treffpunkt: Stahnsdorfer Damm Ecke<br />

Kurfürstenweg (Wanderkarte). Fahrverbindungen: S-Bahnhof Wannsee, Autobus 18.<br />

4. Dienstag, 1. November 1977, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Peter<br />

Bloch: „Christian Daniel Rauch. Zum 100. Geburtstag eines Berliner Bildhauers".<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Sonnabend, 19. November 1977, 10.15 Uhr: „Heinrich von Kleist, zum Gedenken an<br />

seinen 200. Geburtstag". Führung durch Herrn Dr. Eberhard Siebert. Treffpunkt:<br />

Orangerie des Schlosses Charlottenburg.<br />

6. Dienstag, 29. November 1977, 19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Manfred Stürzbecher:<br />

„100 Jahre Berliner Krippenverein". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Dienstag. 6. Dezember 1977, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Friedrich<br />

Wilhelm Wentzel: „100 Jahre Ullstein". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

8. Sonnabend, 17. Dezember 1977, 17 Uhr: Vorweihnachtliches Treffen mit „Geistlicher<br />

Abendmusik" in der Dahlemer Dorfkirche St. Annen. Leitung: Frau Adelheid Fischer.<br />

Anschließend: Beisammensein im Alten Krug. Dahlem. Königin-Luise-Straße 52. Fahrverbindungen:<br />

U-Bahn Dahlem Dorf, Autobusse: 1, 10, 68.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek ist<br />

zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 28. Oktober, 25. November und 16. Dezember zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank. 1000 Berlin 19. Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Peter Letkemann, 1000 Berlin 33, Archivstraße 12-14; Claus P.<br />

Mader; Felix Escher. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für<br />

Nichtmitglieder 16 DM jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

368


RctsbiblicSbek A 2Q 3?? p<br />

Fadiabt dar Berliner Ctac'ib'llieihelt<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

74. Jahrgang Heft 1 Januar 1978<br />

Kleist-Büste von Karl Friedrich Wichmann, 1816 (Foto: Bernd-Peter Keiser)<br />

369


Heinrich von Kleist zum 200. Geburtstag<br />

Ein Ausstellungsbericht<br />

Von Dr. Ingeborg Stolzenberg<br />

Berlin, die Stadt, in die Heinrich von Kleist immer wieder zurückkehrte, ohne daß er hier<br />

jedoch festen Fuß fassen konnte, ehrte den vor 200 Jahren, am 18. Oktober 1777, in Frankfurt<br />

an der Oder geborenen großen deutschen Dichter mit einer umfassenden Ausstellung,<br />

die an historischer Stelle, in der Orangerie des Charlottenburger Schlosses, vom 11. Oktober<br />

1977 bis 8. Januar 1978 sein Leben, sein Werk und seine Wirkungsgeschichte veranschaulichte.<br />

Die Initiatoren dieser Ausstellung, die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz<br />

und die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, waren bestrebt, mit Hilfe einer Vielzahl<br />

zeitgenössischer Dokumente. Bilder, Bücher, Karten und Erinnerungsstücke dem heutigen<br />

Betrachter ein möglichst getreues und exemplarisches Bild von den Lebens- und Schaffensbedingungen<br />

des Dichters und seiner Umwelt zu vermitteln. Damit erhebt sich diese<br />

Schau über die kleineren Bibliotheksausstellungen, die ebenfalls in Berlin stattfanden,<br />

und zwar in der Amerika-Gedenkbibliothek und in der Deutschen Staatsbibliothek im<br />

Ostteil der Stadt. Auch die vorwiegend auf der Privatsammlung des Kleistforschers Helmut<br />

Sembdner beruhende Kabinettausstellung im Schiller-Nationalmuseum und Deutschen<br />

Literaturarchiv Marbach am Neckar konnte — in wesentlich kleinerem Rahmen - nichts<br />

Entsprechendes bieten, wenn auch hier erstmalig an einer Stelle über die Hälfte, nämlich<br />

10 der insgesamt 17 in der Bundesrepublik erhaltenen originalen Kleistbriefe zu sehen<br />

waren.<br />

Die Bedeutung des Unternehmens in der Orangerie wird durch einen gedruckten Katalog<br />

von 183 Seiten im Großoktavformat unterstrichen*, der in der Hauptsache von Eberhard<br />

Siebert, dem für die Konzeption und den Aufbau der Ausstellung verantwortlichen Bibliothekar,<br />

verfaßt wurde. Die Beschreibungen sämtlicher Objekte aus dem Bereich der bildenden<br />

Kunst sowie zum Teil die zugehörigen Erläuterungen lieferte Barbara Wilk, die<br />

außerdem das Kapitel über Kleists Werke in der bildenden Kunst bearbeitete, während<br />

Hans-Günter Klein den Abschnitt über Kleists Werke in der Musik betreute. Dieser<br />

Katalog enthält genaue wissenschaftliche Beschreibungen der insgesamt 366 Ausstellungsstücke<br />

mit Herkunftsangaben und Signaturen. Sie werden durch erläuternde Texte,<br />

die den Leser an vielen Stellen in allgemeinverständlicher Weise in die wissenschaftliche<br />

Diskussion, einführen sowie durch zusammenfassende Einleitungen zu jedem Kapitel ergänzt.<br />

43 Textabbildungen sowie 18 Tafeln halten die wichtigsten ausgestellten Objekte<br />

fest. Eine ausführliche Zeittafel, eine Liste ausgewählter Literatur und ein Register beschließen<br />

den Band, der über die Ausstellung hinaus als Einführung in die Quellengeschichte<br />

zu Kleists Leben und Werk dienen kann. Mit diesem Katalog übertrifft diese<br />

* Heinrich von Kleist. Zum Gedenken an seinen 200. Geburtstag. Ausstellung der Staatsbibliothek<br />

Preuß. Kulturbesitz in Verbindung mit der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft e.V. in der Orangerie<br />

des Charlottenburger Schlosses. Berlin, 11. November 1977 bis 8. Januar 1978. (Ausst. u. Katalog:<br />

Eberhard Siebert, in Zus.-Arbeit m. Barbara Wilk u. Hans-Günter Klein.) (Berlin: Staatsbibl. 1977.)<br />

(Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz. Ausstellungskataloge, 8.) ISBN 3-88053-006-8. ISSN<br />

0340-0700. 12-DM.<br />

370


Ausstellung auch alle früheren Ausstellungen, selbst diejenige, die 1927 bei einer noch<br />

weitaus besseren Quellenlage von der Preußischen Staatsbibliothek, der Vorgängerin der<br />

Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, und der Kleist-Gesellschaft in Berlin veranstaltet<br />

wurde.<br />

Es erheischt Respekt, was die Bearbeiter, voran Eberhard Siebert, zusammengetragen<br />

haben. Die Überlieferungssituation war für diesen Dichter, der ein unstetes Leben führte,<br />

zahlreiche Manuskripte selbst verbrannte und früh seinem Leben ein Ende setzte, von jeher<br />

schlecht. Verständnislosigkeit für sein Werk, falsch verstandene Pietät und vor allem der<br />

letzte Krieg und seine Folgen vernichteten viele Zeugnisse oder machten sie im geteilten<br />

Deutschland unerreichbar. Immerhin aber gehört die West-Berliner Staatsbibliothek,<br />

obwohl der größte Teil der Kleistautographen der Preußischen Staatsbibliothek seit Kriegsende<br />

verschollen ist. auch heute noch zu denjenigen Instituten, die wichtigste originale<br />

Unterlagen besitzen, nämlich das Manuskript der „Familie Ghonorez" (später die „Familie<br />

Schroffenstein"), die einzige vollständige Dramenniederschrift von der Hand des Dichters,<br />

eine Schreiberkopie der „Penthesilea'" mit eigenhändigen Verbesserungen des Autors,<br />

das einzige nachweislich authentische Porträt Kleists, das Peter Friedet im Frühjahr 1801<br />

in Berlin malte (es wurde 1971 von der Staatsbibliothek aus Kleistschem Familienbesitz<br />

erworben), ferner die biographischen Notizen über Kleist von Wilhelm v. Schütz. Im<br />

Buchbestand der Bibliothek befinden sich einige Stücke der von Kleist und Adam Müller<br />

herausgegebenen Zeitschrift „Phöbus" (1808/09), ein fast vollständiges Quartal der<br />

seltenen „Berliner Abendblätter", die Kleist 1810/11 veröffentlichte sowie eine Reihe<br />

von Erstausgaben des Dichters und seiner Zeitgenossen. Insgesamt stammen 151 Ausstellungsstücke<br />

aus der Staatsbibliothek. Weitere 60 steuerten andere Institute der Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz bei, von denen vor allem das Bildarchiv, das Kupferstichkabinett<br />

der Staatlichen Museen und das Geheime Staatsarchiv, das verschiedene Aktenstücke<br />

und Quellenwerke zur Verfügung stellte, genannt sein sollen. Der Stiftung gehört<br />

ferner das sonst als Leihgabe im Schinkel-Pavillon hängende Gemälde Caspar David<br />

Friedrichs „Der Mönch am Meer" (1808/10), über das sich Kleist am 13. Oktober 1810<br />

in den „Berliner Abendblättern" äußerte und das den zentralen Blickpunkt der Kleistausstellung<br />

bildete.<br />

Darüber hinaus war man auf die Mitarbeit von 50 Leihgebern angewiesen, auf die zusammen<br />

155 Objekte entfallen. Fast die Hälfte hiervon lieferte die Amerika-Gedenkbibliothek<br />

in Berlin, die den als „Sammlung Kleist" fortgeführten und laufend ergänzten<br />

Nachlaß des Kleistforschers Georg Minde-Pouel (t 1950) verwaltet. In diese Sammlung<br />

gehören ein eigenhändiger Brief des Dichters an den Berliner Verleger Georg Andreas<br />

Reimer (1811), der Gipsabguß einer allerdings nicht unumstrittenen Lebendmaske Kleists<br />

nach dem Exemplar der Kunstakademie Düsseldorf sowie zahlreiche Fotografien von<br />

Bildern und Handschriften, die zum Teil heute, nach dem Verlust der Originalvorlagen,<br />

dokumentarischen Wert bekommen haben.<br />

Wertvolle Manuskripte und Lebenszeugnisse Kleists kamen aus der Bundesrepublik nach<br />

Berlin. Die Universitätsbibliothek Heidelberg trennte sich von ihrer Prinz-von-Homburg-<br />

Handschrift, die 1811 als kalligraphische Schreiberkopie für die Prinzessin Wilhelm von<br />

Preußen, einer geborenen von Hessen-Homburg, angefertigt worden war. Die Staatsund<br />

Universitätsbibliothek Hamburg gab aus ihrer Campe-Sammlung die eigenhändig von<br />

Kleist aufgezeichneten Denkübungen für seine Braut (Nr. 1), Wilhelmine von Zenge,<br />

heraus. Ein Nachkomme von Kleists Freund, des späteren preußischen Kriegsministers<br />

371


und Ministerpräsidenten Ernst von Pfuel, deponierte eine goldene Tabakdose seines Vorfahren,<br />

die der Überlieferung nach ein Geschenk des Dichters darstellte. Das Frankfurter<br />

Goethe-Museum schickte u. a. den Rest des „Glückskranzes", den Karoline von Schlieben<br />

im Mai 1801 zusammen mit dem Dichter an der Brühischen Terrasse in Dresden band, und<br />

den letzten Brief Kleists an Wilhelmine von Zenge (Thun, 20. Mai 1802), mit dem er ihre<br />

Verlobung auflöste. Zwei weitere Originalschreiben des Dichters konnten aus westdeutschem<br />

Privatbesitz (an Reimer, 1810) und dem des Schiller-Nationalmuseums (an den<br />

Verleger Cotta, 1808) gezeigt werden. Das gleiche Institut verlieh dazu das seit 1938<br />

bekannte Kleistporträt, das wohl zur Zeit der französischen Gefangenschaft des Dichters<br />

von einem unbekannten Maler in Öl ausgeführt wurde.<br />

Einer kleinen Sensation kommt schließlich die Vorstellung einer Kleistbüste aus westdeutschem<br />

Privatbesitz gleich, von der die Kleistforschung bisher offenbar nichts wußte<br />

und die lt. Signatur der Berliner Bildhauer Karl Friedrich Wichmann 1816, also fünf<br />

Jahre nach Kleists Tod — vielleicht nach der oben erwähnten Maske —, in Gips herstellte<br />

(s. Titelbild). Außerdem förderte die Ausstellung das Original des Pastellbildes von Kleists<br />

drei Jahre jüngerem Bruder Leopold (1780— 1837) zutage, das sich bei einem Zweig der<br />

Familie von Kleist in Ratingen erhalten hat. Im Katalog ist nur die Fotografie hiervon aus<br />

der Amerika-Gedenkbibliothek angezeigt (Nr. 21).<br />

Alle diese Dokumente und Unterlagen zur Lebensgeschichte des Dichters sind zusammen<br />

mit den Zeugnissen seines Werkes in ihren biographischen Zusammenhang gebracht und<br />

auf sieben Zeitabschnitte aufgeteilt, denen räumlich im langen Gang der Orangerie mit<br />

Hilfe von Stellwänden gebildete „Nischen" entsprechen: von der Familie, Geburt und<br />

Kindheit über die Militär- und Studienzeit, die Jahre der Verlobung bis zu den Stationen<br />

von Oßmannstedt bis Königsberg, von Fort de Joux bis Prag und den letzten Lebensjahren<br />

in Berlin mit dem Ende am Kleinen Wannsee.<br />

Bei der Vorstellung der Familie durften natürlich die Bildnisse und Werke von Kleists<br />

dichtenden Angehörigen nicht fehlen, seines Großonkels Ewald Christian von Kleist<br />

(1715 — 1759), der in der Schlacht von Kunersdorf fiel, und des entfernter verwandten,<br />

früh verstorbenen Franz Alexander von Kleist (1769— 1797). Auch die Kleistsche Flasche<br />

ist abgebildet, die der Kamminer Domdekan Ewald Jürgen von Kleist (1700—1748)<br />

1745 erfand, eine Voraussetzung der drahtlosen Telegraphie (die jedoch nach ihrem<br />

zweiten Erfinder im Jahre 1746, Cunäus in Leiden, als Leidener Flasche bekannt wurde).<br />

Daß auch Heinrich von Kleist technisches Talent besaß, bezeugt ein Brief von 1805 an<br />

Ernst von Pfuel, in dem er das von ihm erfundene Unterwasserfahrzeug, das er Hydrostat<br />

nannte, vorstellte.<br />

Heinrichs Taufzeugnis ist im originalen Kirchenbuch der Garnison Frankfurt an der Oder<br />

aus dem Geheimen Staatsarchiv zusammen mit der Liste seiner neun Paten und einem<br />

Eintrag über seinen Tod nachzulesen. Bilder, meist in Form von Fotografien, zeigen seine<br />

Eltern und zwei seiner Geschwister. Ein Originalbrief von Carl Eduard Albanus an Ludwig<br />

Tieck von 1832 (aus der Amerika-Gedenkbibliothek) überliefert das Urteil des ersten<br />

Hauslehrers Martini über den jungen Kleist.<br />

Die Militärzeit kündigt sich mit Uniformbildern, einem echten Degen für preußische<br />

Infanterie-Offiziere aus dem Wehrgeschichtlichen Museum Schloß Rastatt und dem Modell<br />

einer französischen Feldkanone (die auch im preußischen Heer verwendet wurde; ebenfalls<br />

aus Rastatt) an. Der zum Fähnrich beim Regiment Garde Nr. 15 avancierte Kleist<br />

fand natürlich auch Eingang in die gedruckte Rangliste der Königlich Preußischen Armee<br />

372


für das Jahr 1796, und zusammen mit anderen Regimentskameraden erscheint sein Name<br />

1795 im Besucherbuch der Gemäldegalerie Kassel - eine Entdeckung, die Hans Joachim<br />

Kreutzer machte und die erstmalig im Ausstellungskatalog veröffentlicht wurde. Zwei<br />

zeitgenössische Musikinstrumente aus dem Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer<br />

Kulturbesitz, eine Querflöte und eine B-Klarinette. weisen darauf hin, daß Kleist<br />

sehr musikalisch war, beide Instrumente meisterlich beherrschte und auch das Quartettspiel<br />

pflegte.<br />

Die Schauplätze von Kleists Lebensstationen wie auch die markanten historischen Ereignisse<br />

der Zeit sind durch alte Stiche und Karten, zum Teil auch mit Hilfe jüngerer<br />

Fotografien belegt. Hinzu kommen die Bilder der Freunde, Gönner und einflußreichen<br />

Persönlichkeiten, mit denen der Dichter zu tun hatte.<br />

Gezeigt werden die Bücher, die den jungen Kleist besonders beeindruckten: die „Mathematischen<br />

Anfangsgründe", Teil 1, von Abraham Gotthelf Kästner (4. Aufl. 1786), die<br />

„Unterhaltungen über den Menschen" des Frankfurter Professors Christian Ernst Wünsch<br />

(T. 1, 2. Aufl. 1796), Wielands „Sympathien" (Erstausgabe 1756), Rousseaus „Emile"<br />

(T. 1, La Haye 1762), die „Luise" von Johann Heinrich Voß, 1795, und Kants „Kritik der<br />

reinen Vernunft" (2. Aufl. 1787).<br />

Zum „Zerbrochenen Krug" ist der Kupferstich von Le Veau „Le juge, ou la cruche<br />

cassee" aufgehängt, der Anlaß des Dichterwettstreits zwischen den Freunden Kleist,<br />

Heinrich Zschokke, Ludwig Wieland und Heinrich Geßner bildete, deren Werke dann gemeinsam<br />

in den Vitrinen eingesehen werden können. - Neben Kleists eigenhändigem<br />

Manuskript der „Familie Ghonorez" erscheinen die überwiegend positiven oder doch<br />

wohlwollenden ersten Kritiken aus den Jahren 1803 und 1804, darunter diejenige von<br />

Joseph von Görres. - Die Quelle zum „Robert Guiskard" ist mit K. W. F. v. Funcks Geschichte<br />

des Herzogs von Apulien und Calabrien in den „Hören", 1797, ebenso vertreten<br />

wie Johannes Daniel Falks „Amphitruon". 1804, der Kleist zu seinem Lustspiel „Amphitryon"<br />

anregte. - Eine Lithographie stellt Francois Dominique Toussaint l'Ouverture<br />

dar, der sich mit Hilfe der Neger zum Gouverneur von Haiti gemacht hatte, dann aber<br />

von napoleonischen Truppen besiegt und als Gefangener nach Fort de Joux verbracht<br />

worden war, wo er 1803 in denselben Gewölben starb, in denen vier Jahre später Kleists<br />

Kamerad Gauvain festgehalten wurde. Kleist hörte dadurch vom Freiheitskampf der<br />

Neger in Westindien, an den seine Novelle „Die Verlobung in St. Domingo" anknüpft.<br />

— In Hederichs „Gründlichem mythologischen Lexikon" von 1770 sind die Stichwörter<br />

„Penthesilea" und „Pentheus" aufgeschlagen, die Kleist mit zu seinem Penthesilea-Stoff<br />

verhalfen. - Als Grundlage des „Käthchen von Heilbronn" werden Gotthilf Heinrich<br />

Schuberts „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft". 1808, gezeigt, dazu ein<br />

Foto des Wachsreliefs der somnambulen Heilbronner Ratsherrentochter Lisette Kornacher<br />

(1773—1858), ein Bild des im letzten Krieg zerstörten, aber wieder aufgebauten<br />

Käthchenhauses und Bürgers „Graf Walter" in seinen „Sämmtlichen Schriften", Band 2.<br />

1796. Das Echo, das das Stück fand, dokumentieren die Besprechungen von Wilhelm<br />

Grimm, Friedrich Wilhelm Guhitz und Friedrich Weißer, von denen der letzte sich vollkommen<br />

negativ äußerte. - In der Sammelhandschrift eines Kopisten im Nachlaß von<br />

Ludwig Tieck in der Berliner Staatsbibliothek hat sich der Anfang einer Einleitung zu der<br />

1809 von Kleist in Prag geplanten, aber nicht zustande gekommenen Zeitschrift „Germania"<br />

erhalten.—Verschiedene Quellenwerke werden zum „Michael Kohlhaas" beigebracht,<br />

und besonders ausführlich wird der historische Hintergrund des „Prinzen von Homburg" be-<br />

373


legt. Siebert baut hier die These weiter aus, daß Prinz Louis Ferdinand von Preußen das<br />

Urbild des Prinzen gewesen sei, was die Ablehnung dieses Stückes durch den mit Louis<br />

Ferdinand nicht übereinstimmenden Friedrich Wilhelm III. erklären würde. Über die<br />

Druckgeschichte dieses Werkes orientieren uns die Aufzeichnungen des Literaturhistorikers<br />

Rudolf Köpke über seine Gespräche mit Ludwig Tieck im Nachlaß Tieck, in denen<br />

Klaus Kanzog erst 1968 den entscheidenden Satz über die Weitergabe der der Prinzessin<br />

Wilhelm gewidmeten Handschrift ohne deren Wissen durch eine Hofdame an Tieck fand,<br />

wonach dieser die Erstausgabe in Kleists „Hinterlassenen Schriften" (1821) veranstaltete.<br />

Ein Gipsabguß des antiken Dornausziehers aus Rom veranschaulicht den anmutigen Jüngling<br />

im ursprünglichen Zustand des Menschen vor dem Sündenfall, den Kleist nach einer<br />

Kopie im Louvre in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater" beschrieb. Auf dasselbe<br />

Werk weist weiter die Radierung nach einem Gemälde von David Teniers d.J. mit<br />

tanzenden Bauern aus der Dresdener Galerie, „Die lustige Hahnreyschaft". Auch andere<br />

Dichtungen Kleists standen unter dem Einfluß dieses Künstlers.<br />

Breiten Raum nehmen dann die Quellen und Unterlagen zum Selbstmord am Kleinen<br />

Wannsee ein. Aus dem Besitz des verstorbenen Kurt Pomplun stammt das Foto von der<br />

Bauzeichnung des Neuen Kruges in der Königstraße, in dem Kleist und Henriette Vogel<br />

die letzten 24 Stunden vor ihrem Tode verbrachten. Fotos von Kleists Abschiedsbrief<br />

an seine Schwester Ulrike und von Henriettes „Todeslitanei" stehen neben Klopstocks<br />

Ode „Die todte Clarissa", die mit zur letzten Lektüre der zum Tode Entschlossenen gehörte.<br />

Es folgen die amtlichen Unterlagen über diese Verzweiflungstat, die Todeseintragung<br />

im Stahnsdorf-Machnower Kirchenbuch, Henriettes Todesanzeige und Ernst Friedrich<br />

Peguilhens erst 1909 gedruckte Verteidigungsschrift. Neben den verständnisvollen<br />

Äußerungen der Freunde fehlen auch kritische Stimmen und der Schmähartikel von<br />

Friedrich Weißer nicht. Der wechselnde Zustand des Kleistgrabes, der dem Lokalhistoriker<br />

noch einige Rätsel aufgibt, wird von den Zeiten Fontanes an mit mehreren Bildern bzw.<br />

Fotos dokumentiert.<br />

Der zweite Teil der Ausstellung ist der Wirkungsgeschichte des Dichters gewidmet, die<br />

gleichsam als Kontrapunkt zu dem anscheinend erfolglosen Leben Kleists aufgefaßt werden<br />

kann. Besonders ausführlich geht Siebert auf die Aufführungsgeschichte der Dramen<br />

ein. Sie traten ihren Siegeszug am Ende des vorigen Jahrhunderts an; Kleist selber<br />

sah kein einziges seiner Stücke auf der Bühne und hatte auch keine Gelegenheit zur praktischen<br />

Theaterarbeit. Die wichtigsten Inszenierungen des 19. Jahrhunderts, vor allem in<br />

Berlin, werden anhand von Theaterzetteln, Textbearbeitungen. Entwürfen für Bühnenbilder<br />

und Figurinen, Rezensionen und natürlich Bildern von Schauspielern und Aufführungsstätten<br />

vorgestellt.<br />

Es schließt sich ein Kapitel über Dramatisierungen, Bearbeitungen und Übersetzungen<br />

Kleistscher Werke an. Besonderes Interesse beanspruchen weiter die Vertonungen des<br />

Dichters. Es ist bemerkenswert, wieviele Komponisten in unserer Zeit sich mit Kleist<br />

beschäftigten: von Werner Egk, Fritz Geißler und Heimo Erbse bis zu Giselher Klebe und<br />

Hans Werner Henze. Auch für die bildenden Künstler unserer Tage hat Kleist eher noch<br />

an Faszination gewonnen, wenn im Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit dem Dichter<br />

auch mehr die kleinen Schriften als die Dramen stehen. Die Beispiele sind nach den einzelnen<br />

Dichtungen geordnet und vereinigen so bekannte Namen wie Moritz von Schwind,<br />

Adolph von Menzel, Wilhelm Busch, Max Liebermann, Ernst Barlach, Oskar Kokoschka,<br />

Alfred Kubin, Max Ernst, Hann Trier u. a.<br />

374


Die Ausstellung wurde in Verbindung mit dem Senator für kulturelle Angelegenheiten<br />

von einem Veranstaltungsprogramm begleitet, das Vorträge namhafter Wissenschaftler<br />

im Schloß Charlottenburg und die Vorführung von Filmen nach Kleistschen Stoffen sowie<br />

Kleistlesungen bekannter Autoren und eine Ansprache des DDR-Dichters Günter Kunert<br />

in der Akademie der Künste vorsah. Auch hieran zeigte sich, wie stark die Wirkung ist,<br />

die von Kleists Werk heute ausgeht.<br />

Die Hauptstadt und die Havelstadt<br />

Berlin und Spandau in ihren wechselseitigen Beziehungen<br />

Von Arne Hengsbach<br />

Anschrift der Verfasserin: 1000 Berlin 30, Motzstraße 12<br />

Die Darstellung der Beziehungen zwischen Spandau und Berlin - bzw. Berlin und Spandau<br />

- ist in dem umfangreichen Schrifttum über Spandau kaum behandelt worden. Doch sind<br />

gerade diese wechselseitigen Beziehungen, die die kleine Havelstadt und die große Hauptstadt<br />

gepflegt haben, für das Verständnis des Stadt-Umlandverhältnisses beider Städte aufschlußreich.<br />

Berlin hat mannigfache Einflüsse ausgestrahlt, auch nach Spandau, sie haben<br />

sich auch verschiedentlich deutlich bemerkbar gemacht, aber sie waren doch nicht relevant<br />

genug, um die Eigenständigkeit Spandaus aufzuheben, und dieses hat seinerseits wesentlich<br />

dazu beigetragen, daß es schließlich seine Selbständigkeit verlor und in Berlin aufgehen<br />

mußte.<br />

Zunächst muß auf die Doppelfunktion hingewiesen werden, die Spandau seit dem 18. Jahrhundert<br />

innegehabt hat. Es hat für einen Teil des benachbarten Kreises Osthavelland<br />

zentralörtliche Funktionen ausgeübt, deren Ursprung z.T. noch aus dem Mittelalter herrührte.<br />

Das Spandauer Benediktinerinnen-Nonnenkloster besaß zahlreiche Dörfer in der<br />

näheren und weiteren Umgebung Spandaus entweder ganz, oder aber es zog Abgaben verschiedener<br />

Art aus ihnen. Nach der Reformation trat das Kurfürstliche, später das Königliche<br />

Amt Spandau an die Stelle des Klosters und wurde nun Verwaltungszentrum für die<br />

umliegenden Amtsdörfer. Das domänenfiskalische Rentamt Spandau hat noch bis 1874<br />

Polizei- und Verwaltungsaufgaben in jenen Dörfern wahrgenommen. Auch andere staatliche<br />

Behörden mit dem Sitz in Spandau erstreckten ihren Amtsbereich auf Ortschaften des<br />

Kreises Osthavelland, wie das Königliche Kreis-, seit 1879 Amtsgericht oder das Postamt<br />

Spandau.<br />

Die Stadtgemeinde Spandau selbst hatte im 18. Jahrhundert das Recht des Krugverlags,<br />

d.h. bestimmte Dorfkrüge im Umland sollten von Spandauer Brauern und Brennern ihr Bier<br />

und ihren Branntwein beziehen. Von erheblicher Bedeutung waren für die Stadt und ihr<br />

Umland die Spandauer Jahr- oder „Kram"- und Pferdemärkte. Riehl und Scheu schrieben<br />

1861 in ihrer Landeskunde „Berlin und die Mark Brandenburg": „Noch jetzt fährt der<br />

kurmärkische Bauer in vollem Staat und Ornat zum Spandauer Markt und macht dort seine<br />

375


Einkäufe an Stoffen und Geräten fürs Jahr, wie er auch seine Pferde daselbst ein- und verkauft."<br />

Die Bedeutung der Stadt selbst lag also auf wirtschaftlichem Gebiet; die Verwaltung<br />

des Kreises Osthavelland, zu dem auch Spandau gehörte, hatte ihren Sitz in Nauen; erst<br />

1887 schied Spandau aus dem Kreise aus und bildete einen eigenen Stadtkreis.<br />

Die Grenzen des Spandauer Umlandes waren fließend oder schwankend, z.B. je nach den<br />

verwaltungsmäßigen Abgrenzungen, die in einem Falle mehr, im anderen Falle weniger<br />

Ortschaften erfaßten. Im 18. Jahrhundert gehörten zum Amte Spandau die Dörfer Damm,<br />

Kietz-Burgwall, Picheisdorf, Gatow, Kladow, Seeburg, Rohrbeck, Wustermark, Falkenhagen,<br />

Hennigsdorf, Tegel und Lübars. Für das Jahr 1886 liegen genauere Angaben über<br />

die zu jener Zeit dem Spandauer Umland zuzurechnenden Dörfer vor. In dem in jenem<br />

Jahre erschienenen Spandauer Adreßbuch werden in dem Abschnitt „Boten aus der Umgegend<br />

und deren Absteigequartiere" die Handelsleute und Milchmänner aufgeführt, die<br />

regelmäßig, z.B. an den Wochenmarktstagen, nach Spandau kamen und hier Bestellungen<br />

und Besorgungen ausführten bzw. von hier Aufträge in ihre Heimatdörfer mitnahmen.<br />

Diese Männer kamen aus Dallgow. Dyrotz, Falkenhagen, Gatow, Pausin, Perwenitz.<br />

Schönwalde, Staaken und Wansdorf. Etwa bei Dyrotz-Wustermark grenzte die Spandauer<br />

Einflußsphäre an die von Nauen, während Kladow und Groß-Glienicke bereits im Schnittpunkt<br />

des Spandauer und des Potsdamer Einzugsgebietes lagen. Im Norden gehörten Teile<br />

des Glins zum Spandauer Umland, während im Osten der Bereich der Havelstadt bereits in<br />

Ruhleben und Haselhorst endete.<br />

Da Spandau bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auch noch eine Ackerbürgerstadt<br />

war und viel Gärtnerei, vor allem im Stadtteil Stresow getrieben wurde, konnte der<br />

Absatz landwirtschaftlicher Produkte aus den Dörfern des Umlandes in Spandau nur einen<br />

beschränkten Umfang haben. Erst als in der zweiten Jahrhunderthälfte Spandau immer<br />

mehr zur Industrie- und Arbeiterwohnstadt wurde, kam der Belieferung der Spandauer<br />

Wochenmärkte mit ländlichen Erzeugnissen oder der Einfuhr von Milch aus den benachbarten<br />

Landgemeinden größere Bedeutung zu.<br />

So bestanden zwischen Spandau und seinem havelländischen Umland zahlreiche Beziehungen,<br />

andererseits hatte die Stadt seit dem 18. Jahrhundert mehrfache Beziehungen zu<br />

Berlin. Maßgebend für die Entstehung und Ausbildung von Stadt-Stadt-Verhältnissen<br />

zwischen Spandau und Berlin und umgekehrt ist die Lage der Havelstadt gewesen, die nur<br />

gut 15 km von Alt-Berlin entfernt lag. Besonders auf wirtschaftlichem Gebiete machte sich<br />

die Nachbarschaft Berlins bemerkbar. Schon in einer statistischen Zusammenstellung<br />

„Nachricht was vor Bürger und Einwohner vorhanden", die 1723 in Spandau gefertigt und<br />

am 29. Januar 1934 von der „Spandauer Zeitung" wiedergegeben wurde, finden sich Hinweise<br />

auf Beziehungen zwischen den beiden so ungleichen Nachbarstädten: Ein Bäcker<br />

schickte bereits damals sein Gebäck regelmäßig nach Berlin. Dilschmanns „Diplomatische<br />

Geschichte und Beschreibung der Stadt und Festung Spandow" (1785) bestätigt das: „Die<br />

Spandowsche Semmel hatte in vorigen Zeiten großen Abgang nach Berlin und wurde<br />

wöchentlich in Menge zum Verkauf dahin gebracht . . ." Ferner sagt Dilschmann: „Der<br />

größte Teil von den gefangenen Fischen und den vorzüglich wohlschmeckenden Krebsen<br />

wird den Einwohnern nach Berlin zugeführt." Auch Spandauer Bier fand nach Dilschmann<br />

in Berlin Absatz.<br />

Im Jahre 1808 erschien ein satyrischer Roman des Schriftstellers Sigismund Gottfried<br />

Dietmar, „Sirius oder die Hundspost von Spandau nach Berlin", der zeitgenössische Berliner<br />

Verhältnisse behandelte. Es kommt in ihm ein kluger Pudel vor, der einem Spandauer<br />

376


Ausschnitt aus einer Umgebungskarte von Berlin, um 1830 (Geh. Staatsarchiv Berlin)<br />

Milchbauern gehört, für den er anfänglich den Milchwagen von Spandau nach Berlin fährt.<br />

In diesem Romanmotiv kann durchaus ein Hinweis auf seinerzeit bestehende Verhältnisse<br />

in den Versorgungsfunktionen Spandaus für den Berliner Markt gegeben sein. Ein Protokoll<br />

von einer Spandauer Stadtverordneten-Versammlung aus dem Jahr 1810 liegt in der gleichen<br />

Richtung: „Es ist bekannt, daß unsere Gärtner nach Potsdam und Berlin mit ihren<br />

Gartenfrüchten fahren und da zum Verkauf zugelassen werden; schlechte Ware dürfen sie<br />

dahin nicht bringen, derweil sie solche wegen der Menge, die davon zusammenkommt, nicht<br />

los werden würden." Der Spandauer Bürgermeister Roedelius beantwortete 1853 einen<br />

Fragebogen des Professors Heinrich Berghaus, den dieser zur Materialsammlung für seine<br />

„Landeskunde der Mark Brandenburg" eingesandt hatte: „Der Absatz der Produkte,<br />

namentlich Gartengewächse und Fische, ist in der nahegelegenen Residenz Berlin."<br />

Noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts brachten die Spandauer Ackerbürger<br />

und Gärtner aus der Oranienburger Vorstadt, der nachmaligen Neustadt, ihr Gemüse<br />

nach Berlin, wie die „Muhme Schlei" aus der Falkenhagener Straße. Fünf Spandauer<br />

Gemüsegärtner mieteten sich damals ein Fuhrwerk, schleppten zur nachtschlafenden Zeit<br />

ihre Kiepen zum Halteplatz und fuhren dann nach Berlin zum Wochenmarkt auf dem<br />

Dönhoffplatz. Spandau hat also im 18. und 19. Jahrhundert wie die anderen ländlichen<br />

Nachbargemeinden Berlins mit zur Belieferung des hauptstädtischen Lebensmittelmarktes<br />

beigetragen. Allerdings hat Spandau nicht in der äußeren Randzone der Lebensmittellieferungen<br />

für die Hauptstadt gelegen; Molkereiprodukte kamen von noch weiter her. 1820<br />

wurde z.B. „süße Sahnenbutter" aus Seegefeld zweimal in der Woche nach Berlin gebracht,<br />

auch die Butter des Königlichen Amtes Königshorst im Havelländischen Luch nördlich von<br />

Nauen kam an zwei Wochentagen frisch in Berlin an.<br />

Infolge der geringen Entfernung von Berlin konnte sich andererseits in Spandau ein differenzierteres<br />

Gewerbe- und Geschäftsleben nicht voll entfalten. Schon in der oben erwähn-<br />

377


ten Statistik von 1723 beklagten sich die beiden Handschuhmacher, daß doch Berlin gar zu<br />

nahe liege und die zahlungskräftigen Käufer dort mit Vorliebe ihre Einkäufe machten. In<br />

der Gewerbetabelle des Jahres 1809 gab der Seifensieder Schildbach an, „daß die hiesigen<br />

Kaufleute ihre Waren von Berlin entnehmen". Und Dilschmann merkt 1785 an: „Wegen<br />

der Nähe der Hauptstadt des Landes ist leicht zu erachten, daß kein großer Handel hier<br />

getrieben wird."<br />

Ganz ausführlich ist der Bürgermeister Zimmermann im Jahre 1841, als das Projekt der<br />

Berlin-Hamburger Eisenbahn in den städtischen Körperschaften diskutiert wurde, auf den<br />

Einfluß Berlins auf das Spandauer Geschäftsleben eingegangen: „So entschieden sich nun<br />

auch die Meinung unserer Mitbürger eines Teiles für die Anlage der Eisenbahn in der Nähe<br />

der Stadt ausgesprochen hat, so sind doch auch mannigfache Stimmen dagegen aufgetreten,<br />

und es scheint nicht unbeachtenswert, die andere Meinung zu prüfen. Die Besorgnis, welche<br />

in dieser Beziehung ausgesprochen wird, bezieht sich nämlich auf den gewerblichen Verkehr;<br />

es wird behauptet, daß, ehe die Chaussee nach Berlin angelegt wurde (1822), der<br />

gewerbliche Verkehr, insbesondere der Handwerker, viel lebhafter gewesen sei, als dies<br />

jetzt der Fall ist, weil vieles aus Berlin genommen wird, was bei der früheren schwierigeren<br />

Verbindung nicht möglich war. Auch jetzt werden noch viele zurückgehalten, ihre Bedürfnisse<br />

aus Berlin zu entnehmen, weil der Zeitaufwand zu groß ist. Wird es dagegen möglich,<br />

in V4 Stunde nach Berlin hin, in ebensoviel Zeit zurückzugelangen, dann fürchten viele, daß<br />

noch mehr aller Bedarf aus Berlin bezogen werden wird, und so die Gewerbe völlig darniederliegen<br />

würden, ja daß, wenn es anginge, Spandow wie eine Vorstadt von Berlin aus<br />

mit Schuh und Stiefeln. Bekleidung, womöglich wenn es geht, mit Brot und Semmeln versorgt<br />

wird.'" Unumstößlich bliebe das Vorurteil, meinte Zimmermann, „in Berlin sei alles<br />

besser".<br />

Derartige Befürchtungen äußerten die Spandauer Geschäftsleute auch in späteren Jahren<br />

noch, vor allem in der Vorweihnachtszeit, wenn die kaufkräftige Kundschaft in der Havelstadt<br />

es vorzog, ihre Einkäufe für das Fest in Berlin zu erledigen. So schrieb der Spandauer<br />

„Anzeiger für das Havelland" am 7. Dezember 1883: „Gerade bei der bevorstehenden<br />

Weihnachtszeit wird, wie die alljährliche Erfahrung gelehrt hat, viel Geld aus Spandau herausgetragen<br />

und gerade meistens für Artikel, welche hier ebenso gut und billig zu haben<br />

sind wie in Berlin . . . Daß die Auswahl nicht überall eine so große sein kann wie dort, ist<br />

klar, dafür ist aber auch die Nachfrage keine so große wie in der Residenz. Schließlich ist es<br />

doch entschieden richtiger und gemeinnütziger gehandelt, wenn man das Geld, welches man<br />

hier verdient, so weit tunlich, auch hier läßt und nicht aus Berlin bezieht, von dessen Nähe<br />

unsere Verhältnisse überhaupt schon viel zu leiden haben." Bei der geringen Einwohnerzahl<br />

(1850 rd. 8000, 1860 rd. 11 000. 1870 rd. 15 000, 1880 rd. 25 000) und bei der wegen<br />

ihrer niedrigeren Verdienste anspruchslosen und wenig kauffreudigen Arbeiterbevölkerung<br />

konnten sich große Ladengeschäfte mit umfangreichem Sortiment natürlich nicht entfalten.<br />

Die verhältnismäßig dünne Schicht des Spandauer Mittelstandes mit höheren Ansprüchen<br />

fuhr daher, besonders in der Adventszeit, in das benachbarte Berlin, um sich in den dortigen<br />

spezialisierten Ladengeschäften anregen zu lassen und dann ihre Besorgungen von Wäsche,<br />

Textilien. Leder- und Pelzwaren, Schmuck, Büchern, Musikalien, Spielzeug usw. zu<br />

machen. Bis weit in die achtziger Jahre hinein machte sich die Konkurrenz der großen<br />

Nachbarstadt bei Käufen von Gegenständen des gehobenen Bedarfs bemerklich. Seit etwa<br />

1885 änderte sich das allmählich. Es ließen sich nämlich nun in Spandau eine Anzahl<br />

jüdischer Kaufleute nieder, die in ihren Ladengeschäften für Garderobe, Wäsche. Textilien<br />

378


usw. eine größere Auswahl als zuvor anboten, so daß bald ein guter Teil der bisher in Berlin<br />

erworbenen Artikel nun auch am Ort gekauft werden konnte. Da Spandaus Einwohnerzahl<br />

kräftig anstieg (1890 rd. 40 000, 1900 rd. 60 000). konnten sich diese neuen und größeren<br />

Geschäfte auf eine größere Kundschaft stützen. Diese neuen Geschäfte übertrugen<br />

die in Berlin entwickelten Geschäftstypen (Basare. Warenhäuser, spezialisierte Geschäfte<br />

für Damen- und Herrenoberbekleidung. Filialgeschäfte usw.) und Usancen (z.B. Ausverkäufe)<br />

nach Spandau. Es entstand das Vorortgeschäft, dessen Sortimente meist so umfangreich<br />

waren, daß in einer Vielzahl von Fällen - wenn nicht gerade spezielle Kaufwünsche<br />

vorlagen oder hohe Qualitätsansprüche gestellt wurden - die Einkaufsfahrten nach Berlin<br />

entfallen konnten. Diese Geschäftsformen, die neben Spandau auch das gesamte weitere<br />

Umland Berlins erfaßten, wanderten dann weiter in die Provinz hinein.<br />

Die mittleren Schichten der Spandauer Bevölkerung waren auch diejenigen, die im Bereich<br />

der Künste Ansprüche stellten, die ihnen in Spandau nicht erfüllt werden konnten. Theatervorstellungen<br />

und Konzerte mußten in Spandau auf Gasthofs- und Tanzsäle beschränkt<br />

bleiben, und die Darbietungen der wandernden Schauspieltruppen wurden ebenso wie die<br />

Aufführungen von den Werken der Tonkunst von den „gebildeten" Kreisen wenigstens als<br />

zweitrangig empfunden. Spandau hatte aber nicht nur keine Bühnen und Konzertsäle, es<br />

besaß auch keine Büchereien, wenn man von den privaten Leihbibliotheken absieht, weshalb<br />

die Interessenten aus Spandau nach Berlin zum Besuch der dortigen Theater. Konzerthäuser,<br />

der Oper, der Museen, von Vorträgen. Spezialbuchhandlungen usw. fahren mußten.<br />

Im Jahre 1883 gaben die Hamburger und Lehrter Eisenbahn nach Schätzungen des Kaufmännischen<br />

Vereins an Sonntagen etwa 1000, an den sechs Wochentagen zusammen 200<br />

Fahrkarten nach Berlin aus, die zumeist von Spandauern gelöst wurden, die Theater.<br />

Konzerte usw. in Berlin aufsuchten. Ein gesellschaftliches und kulturelles Leben war nach<br />

den Feststellungen des Kaufmännischen Vereins auch kaum möglich, weil die vorhandenen<br />

besseren Lokale sich für Veranstaltungen schlecht eigneten. Das eine ,.war zu klein, das<br />

andere zu kalt, dieses hatte schlechte Ventilation, jenes mangelhafte Bedienung, unangenehmen<br />

Zugang, dito Garderobenlokal, unsaubere Anstandsorte, ungemütliche Nebenräume,<br />

schlechte Akustik . . . schlechte Beleuchtung, alles schwere Mißstände, die sich<br />

jedem durch die Nähe Berlins verwöhnten Spandauer Einwohner fühlbar machen".<br />

Schließlich war auch der Berliner Arbeitsmarkt, wenn auch nur in einigen Zweigen, mit<br />

Spandau locker verknüpft. Bereits 1809 stellten die Spandauer Stadtverordneten in einer<br />

Eingabe fest: „Es wohnen hier eine große Anzahl Arbeiter. Maurer. Zimmerleute. Schiffsknechte,<br />

die nur nach Spandau mit Weibern und Kindern der wohlfeilen Miete wegen<br />

zogen. Diese Leute fanden zwar Arbeit in Berlin den Sommer durch, aber im Winter nicht,<br />

da helfen sie sich durch Plünderung der Forsten, woraus sie ihren Bedarf an Holz holen<br />

und noch was mehr, um zu verkaufen; während des Krieges, da alle Bauten lagen und sie<br />

ganz arbeitslos waren, sind sie mit ihren zahlreichen Familien ganz verarmt." Und im<br />

Jahre 1849 stellte der Spandauer Magistrat in einem Bericht über die hiesigen mißlichen<br />

Arbeitsverhältnisse fest: „ . . . nicht viel besser steht es mit den Maurer- und Zimmerleuten,<br />

da diese sonst in Berlin ihre Arbeit suchten und fanden."<br />

Enge Beziehungen zu Berlin hatte auch der militärische Standort Spandau mit seinen verschiedenen<br />

Truppenteilen und den zahlreichen „Königlichen Instituten", den staatlichen<br />

Rüstungsbetrieben, den Garnison- und Fortifikationsbehörden. Bei der streng hierarchisch<br />

geordneten Organisation der Einheiten des Heeres und der fiskalischen Fabriken fand<br />

ständig ein lebhafter Verkehr zwischen den vorgesetzten Dienststellen in Berlin (Kriegs-<br />

379


departement bzw. Kriegsministerium, Feldzeugmeisterei, Intendanturen usw.) und den<br />

nachgeordneten Einheiten usw. in Spandau oder umgekehrt statt.<br />

*<br />

Doch Spandau tendierte nicht nur nach Berlin, Berlin seinerseits kam auch nach Spandau.<br />

Mit dem allmählichen Entstehen des städtischen Ausflugsverkehrs etwa seit der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts wurde das nähere Umland der Residenz in zunehmendem Maße von<br />

deren Bewohnern durchdrungen. Wohlhabendere Leute schufen sich in den Nachbardörfern<br />

Pankow oder Lichtenberg Sommersitze, und schon vor 1800 mieteten sich Berliner<br />

Familien in Charlottenburg, Tempelhof usw. „Sommerwohnungen", d.h. sie verbrachten<br />

in der noch ländlichen Umgegend Berlins die Sommermonate. Wieder andere wanderten<br />

durch die näheren Umgebungen. z.B. nach Wilmersdorf, um dort Schafsmilch und Schafskäse<br />

zu verzehren.<br />

Die älteste Nachricht, die darauf hindeutet, daß auch Spandau Ziel Berliner Ausflügler<br />

gewesen sein könnte, scheint eine Anzeige in der „Vossischen Zeitung'" vom 6. Juli 1754 zu<br />

enthalten: „Es wird zu wissen gegeben, daß mit dem gewöhnlichen Lustschiffe, des Sonntags<br />

früh um 7 Uhr. und des Mittags um 1 Uhr, nach Charlottenburg und dem Tiergarten<br />

und des Abends um 7 Uhr wieder zurück nach Berlin gefahren wird ... In den Wochentagen<br />

können Liebhaber dieses Schiff mietweise nach Spandau, Cöpenick. Charlottenburg,<br />

Stralau . . . haben." Man darf eine derart vereinzelte Andeutung allerdings nicht überschätzen<br />

und nun womöglich auf häufigere ..Lustfahrten" von Berlin nach Spandau schließen,<br />

das Inserat weist lediglich auf die verkehrsmäßigen Möglichkeiten für einen Besuch Berliner<br />

in Spandau hin. Über das Bestehen eines Verkehrs von Spandau nach Berlin mit dem Schiff<br />

liegen übrigens einige bruchstückhafte Andeutungen vor, die die Zusammenhänge aber<br />

keineswegs erhellen. Im Jahre 1798 schrieb das Amt Spandau die Verpachtung der „Kahnfahrt<br />

von Spandau bis Berlin und von da zurück" aus, und auch die in der Schulze'schen<br />

Chronik von Spandau mitgeteilten Etats des Amtes Spandau für 1739/40 und 1747/48<br />

enthalten unter den Pachten jeweils 25 Taler „für die Kahnfahrt".<br />

Ausführlich sind dagegen die Schilderungen im „Jahrbuch der Preußischen Monarchie",<br />

Jahrgang 1799 (wieder abgedruckt in den „Berlinischen Blättern für Geschichte und Heimatkunde",<br />

Jahrgang 1936, S. 100 ff.), die sich mit dem Treiben der Berliner Erholungssuchenden<br />

auf dem „Pichelsdorfer Werder", dem Picheiswerder befassen. Seit dieser Zeit<br />

weisen Stadtbeschreibungen und Führer immer wieder auf diese Erholungslandschaft an<br />

der Unterhavel hin. Von Picheisdorf und dem „Pichelsdorfschen Werder, im Havelländischen<br />

Kreise, bei Spandau" sagt Johann Christian Gädicke in seinem 1806 erschienenen<br />

„Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend": „Diese Gegend wird stark zum Vergnügen<br />

benutzt und für die schönste um Berlin gehalten." Ähnlich Hellings „Taschenbuch<br />

von Berlin . . ." von 1830 über Picheisberg. Picheisdorf und Picheiswerder: „Wegen der<br />

romantischen Lage des Berges, Dorfes und Werders oft Zielpunkt von Lustpartien." Auch<br />

der Turnvater Jahn war 1818 mit seiner Gefolgschaft hierher gezogen, dabei ertrank einer<br />

seiner Schutzbefohlenen im Stößensee, was dem exaltierten Mann sehr peinlich war.<br />

Seit 1840 rückt dann auch die Uferlandschaft der Oberhavel, nördlich von Spandau, in den<br />

Gesichtskreis der Berliner Ausflügler. Bei Saatwinkel, ganz abseits noch und von der<br />

.lungfernheide umschlossen, entstehen in dieser Zeit zwei Ausflugslokale, die trotz ihrer<br />

unerschlossenen Lage bei den Berlinern bald an Beliebtheit gewinnen. Den ersten Hinweis<br />

380


auf dieses neue Ausflugsziel findet sich schon in Alexander Cosmars „Neuestem Wegweiser<br />

durch Berlin" von 1840, wo erwähnt wird: „Saatwinkel, ein Vergnügungsort hinter Charlottenburg",<br />

wobei „Vergnügungsort" im Sprachgebrauch der Zeit als „Ausflugsort"<br />

zu verstehen ist.<br />

Mit dem Aufkommen der Torwagenfahrten von Berlin bzw. Charlottenburg nach Spandau<br />

seit den späten 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Besuch Spandaus und seiner<br />

Umgebungen bereits etwas erleichtert; noch bequemer wurde das Aufsuchen der Erholungsorte<br />

und -gebiete bei Spandau an der Ober- und Unterhavel bald nach Inbetriebnahme<br />

der Berlin-Hamburger Eisenbahn im Jahre 1846. Seit 1848 verkehrten nämlich allsonntäglich<br />

in der warmen Jahreszeit „Extrazüge" von Berlin nach Spandau, seit 1850 auch<br />

zu verbilligten Fahrpreisen, und 1851 wurden diese Züge bis Finkenkrug und Nauen weitergeführt.<br />

Da es zwischen Berlin und Spandau keine Zwischenstationen gab, waren die Berliner<br />

Wanderer tatsächlich binnen einer Viertelstunde in Spandau, von wo aus sie ihre Ausflugsziele<br />

an der Havel nach einem Fußweg von einer guten Stunde erreichen konnten,<br />

wenn sie es nicht vorzogen, sich in der Gondel oder im Kahn zu den gewünschten Orten<br />

rudern zu lassen. Am Westufer der Havel drangen die Berliner allerdings nicht weiter nach<br />

Süden vor. Gatow und Kladow blieben bis gegen Ende des Jahrhunderts noch außerhalb<br />

des Gesichtskreises der Hauptstädter.<br />

Eine Wanderung von Berlin nach Spandau, etwa im Jahre 1820, schildert Karl Gutzkow<br />

in seinem Erinnerungsbuch „Aus der Knabenzeit" sehr anschaulich und ausführlich. Das<br />

literarisch wertvolle Zeugnis kann jedoch nicht als Beleg für einen stärker ausgeprägten,<br />

von Berlin nach Spandau gerichteten Besucherverkehr gelten. Dafür gibt es andere Quellen.<br />

Sie betreffen die schon erwähnten Spandauer Jahr- und Pferdemärkte, die in stärkerem<br />

Maße von den Berlinern besucht wurden. Die ersten Hinweise auf diesen Markt finden wir<br />

in der „Vossischen Zeitung" vom Jahre 1820. Der englische Dampfschiffbauer und Reeder<br />

John Barnett Humphreys hatte im Sommer dieses Jahres einen ziemlich regelmäßigen Ausflugsverkehr<br />

mit seinem Dampfschiff „Courier" zwischen Berlin (Zelten) und Charlottenburg<br />

bzw. Potsdam betrieben. Für den 22. August zeigte er eine Fahrt nach Spandau an,<br />

die 7 Uhr früh begann mit dem ausdrücklichen Bemerken: „Nach Spandau zum dortigen<br />

Markt." Die Rückfahrt nach Berlin war auf 17 Uhr festgesetzt worden. Fast zur gleichen<br />

Zeit machte ein Kaffeehauswirt vom Gesundbrunnen in der Zeitung bekannt, daß er sein<br />

Konzert „des Spandauer Marktes wegen" auf einen anderen Tag verlegt habe.<br />

Der Spandauer Polizei-Bürgermeister Lauße klagte im Jahre 1828: „Die Unordnung und<br />

der Lärm mit den Charlottenburger und Berliner Personen Wagens ist nicht mehr an den<br />

Jahrmarkttagen zu ertragen und bedarf einer Abhülfe, wenn kein Unglück eintreten soll."<br />

Aus dem Jahre 1830 stammt eine Stellungnahme des Spandauer Magistrats: „Der hier<br />

statthabende Jahrmarktsverkehr erfordert wegen des durch die Nähe Berlins entstehenden<br />

außerordentlichen Zusammenflusses von Menschen aller Klassen eine gesteigerte polizeiliche<br />

Wachsamkeit." Helling vermerkt 1830 in seinem „Taschenbuch" von den Spandauer<br />

Jahrmärkten: „Diese Märkte werden stark von Berlinern besucht, es ist aber ein merkwürdiges<br />

Zusammentreffen, daß es in der Regel an den Tagen, wo in Spandau Markt ist, hier<br />

regnet." Der „vergnügte Weinhändler" Louis Drucker, Berliner Gastwirt und Spaßmacher,<br />

weilte 1840 während einiger Pferdemarkttage auch in Spandau, um dort seine Albernheiten<br />

abzuziehen, wie aus seinen Inseraten in der „Vossischen Zeitung" hervorgeht. Neben<br />

den Märkten scheinen auch die Spandauer Schützenfeste die Berliner angezogen zu haben.<br />

Wie auch in anderen Städten hatten die „Gewerbetreibenden" die Möglichkeit, auf dem<br />

381


Schützenplatz mit ,.Verkaufs-Gegenständen' - zu handeln, nur „Roulett-, Schum- und<br />

Toiletten-Spiele" schloß die Schützengilde 1850 ausdrücklich aus, wie auch der Spandauer<br />

Magistrat das Würfelspiel auf den Jahrmärkten schon früher nicht geduldet hatte.<br />

Noch eines weiteren Besucherstromes, der von Berlin nach Spandau ging, muß in diesem<br />

Zusammenhange gedacht werden. In den Jahren von 1817 bis 1874 pilgerten die Berliner<br />

Katholiken alljährlich an dem jeweiligen Sonntag nach Fronleichnam von Berlin, später<br />

von Moabit aus, durch die Jungfernheide nach Spandau, anfänglich zu dem kleinen katholischen<br />

Gotteshaus auf dem „Gewehrplan" in der Nähe des heutigen Zitadellenweges, seit<br />

1849, als die katholische Kirche am Behnitz fertiggestellt war, in die Stadt selbst, um hier<br />

am Kolk und Behnitz ihre Prozession abzuhalten. Bereits in den zwanziger Jahren sollen<br />

mehr als tausend Gläubige von Berlin nach Spandau gezogen sein, und in den vierziger<br />

Jahren hat die Zahl der Katholiken Berlins, die sich an dieser Wallfahrt nach Spandau beteiligten,<br />

bereits 2000 bis 3000 betragen. Als die Bevölkerung Berlins seit den fünfziger Jahren<br />

immer schneller und stärker anstieg, nahm auch die Zahl der Zuwanderer katholischen<br />

Glaubens, vor allem aus den östlichen Provinzen Posen und Schlesien zu. und damit erhöhte<br />

sich auch die Zahl derjenigen, die an dem Fronleichnamszug nach Spandau teilnahmen.<br />

Meist fielen nun Schützenfest und Fronleichnamsfeier zeitlich zusammen, so daß einige<br />

tausend Berliner in der engen Havelstadt zusammenströmten.<br />

Zeugnis für die Stärke dieses nach Spandau gerichteten Verkehrs geben die Anzeigen der<br />

Eisenbahnverwaltungen. Am 25. Mai 1864 teilte die Berlin-Hamburger Eisenbahn in der<br />

..Vossischen Zeitung" mit: „Am Sonntag, den 29. d.M. werden wir in Veranlassung des<br />

Fronleichnamsfestes und des in Spandau stattfindenden Schützenfestes außer dem gewöhnlichen<br />

Extrazuge nach Spandau. Finkenkrug und Nauen noch einen Extrazug von Berlin<br />

nach Spandau und einen solchen von Spandau nach Berlin zurück zu den tarifmäßigen<br />

Fahrpreisen abfertigen. Abgang des Extrazuges von Berlin Morgens 7 Uhr, Abgang des<br />

Extrazuges von Spandau Abends 11 Uhr." Auch im Jahre 1869 setzte wiederum „in Veranlassung<br />

des Fronleichnamsfestes und des hiesigen Schützenfestes" die Hamburger Eisenbahn<br />

einen Personenzug von Berlin nach Spandau ein. Die Rückfahrt nach Berlin konnte<br />

diesmal von 8 Uhr abends ab „mit den in Zwischenräumen von V2 bis 3 /4 Stunden von hier<br />

abzulassenden Extrazügen geschehen. Der letzte Extrazug geht von Spandau um 11 Uhr<br />

abends ab." In diesem Jahre soll der Schützenplatz einen Besuch von ca. 10 000 bis 12 000<br />

„Fremden" aufgewiesen haben. Die Fronleichnamsprozession fand am gleichen Tag „unter<br />

Teilnahme von Tausenden hierselbst in größter Ordnung statt." Bei dieser Wallfahrt ließ<br />

ein „gewisser Schubrink" von Berlin aus eine seiner fahrbaren Trinkhallen dem Fronleichnamszuge<br />

folgen. Im folgenden Jahre, 1870, hatten, wie der Spandauer „Anzeiger für das<br />

Havelland" meldete, die Fronleichnamsprozession und das Schützenfest „gewiß über<br />

10 000 Menschen von Berlin hierher geführt". Noch stärker scheint der Besuch Spandaus<br />

im Jahre 1872 gewesen zu sein. Der „Anzeiger" schrieb am 4. Juni: „Der Andrang der<br />

Berliner am Sonntag in Folge des Schützenfestes resp. der Berliner Fronleichnamsprozession<br />

(ungleich prunkvoller und zahlreicher als die vorigen Jahre) nach hier war ein so<br />

großer, wie er seit Jahren nicht dagewesen ist. Auf der Hamburger Bahn wurden allein<br />

14 500 Personen nach Berlin zurückbefördert ... 19 Extrazüge beförderten die Menschenmenge<br />

nach hier und bis spät in die Nacht nach Berlin zurück. Auch auf der Lehrter Eisenbahn<br />

wurden Extrazüge abgelassen."<br />

Doch sollten diese großen Wallfahrten der Berliner Katholiken nach Spandau ein jähes<br />

Ende finden. Der „Anzeiger" brachte am 21. Mai 1875 folgende Notiz: „Die seit mehreren<br />

382


Carl-Schurz-Straße um 1890 (Foto: Jürgen Grothe)<br />

Jahren am Fronleichnamstage von der katholischen Geistlichkeit angeordnete Prozession<br />

von Moabit über Charlottenburg nach Spandau wird in diesem Jahre polizeilich nicht geduldet<br />

werden . . . Inmitten einer protestantischen Bevölkerung, welche ohnehin durch die<br />

Ultramontanen in Aufregung gebracht ist, empfiehlt es sich nicht, auf öffentlichen Straßen<br />

ein neues Reizmittel zuzulassen . . ." Diese Maßnahme muß aus der Stimmung des damals<br />

ausgetragenen Kulturkampfes heraus verstanden werden. Das Spandauer Blatt kommentierte<br />

diese Meldung: „In geschäftlicher Beziehung wird diese Maßnahme für Spandau<br />

allerdings schädigend wirken." Ein Jahr später, am 20. Juni 1876, bemerkte die Zeitung<br />

wehmütig: „Der Ausfall der Fronleichnams-Prozession von Berlin, welche in früheren<br />

Jahren einen ganz riesigen Besuch unseres Schützenplatzes mit sich brachte, hat am Sonntag<br />

eine ganz bedeutende Abnahme desselben zur Folge gehabt und dürfte die Zahl der von<br />

hier anwesend Gewesenen kaum auf 1000 sich beziffern, während früher oft 10—12 000<br />

allein mit der Eisenbahn herangeschafft wurden. Den Schank- und Gastwirten in der Stadt<br />

ist hierdurch eine nicht unerhebliche Mindereinnahme geworden, und wird der Ausfall des<br />

auswärtigen Besuches für die Folge auch nicht ohne Rückwirkung auf den Gewerbebetrieb<br />

auf dem Schützenplatz bleiben." Ein Jahr später sah die Sache schon wieder anders aus.<br />

Die Zeitung meinte am 5. Juni 1877: „Daß trotz der Aufhebung der Fronleichnams-Prozession<br />

der hiesige Schützenplatz seine Anziehungskraft für einen Teil der Bewohner der<br />

Residenz Berlin nicht verloren hat, bewies der zahlreiche Besuch desselben von außerhalb<br />

am Sonntage, und es will uns bedünken, daß gedachte Aufhebung nur das Fehlen einer<br />

nicht unbeträchtlichen Menge rohen Gesindels zur Folge hat, welches, der Prozession<br />

folgend, schon im Zustande sinnloser Betrunkenheit hier ankam und zu Widerwärtigkeiten<br />

und Exzessen Veranlassung gab."<br />

383


Die Besuche, die die Berliner in Spandau machten, gleich ob sie dem Jahrmarktstreiben,<br />

dem Rummel des Schiitzenplatzes. den kirchlichen Feiern oder den Erholungslandschaften<br />

bei Spandau galten, hatten allerdings keine weitergehenden Wirkungen; die Ausflügler oder<br />

Wallfahrer, die in den Vormittagsstunden in der Havelstadt eingetroffen waren, verließen<br />

sie am Abend wieder, um nach Berlin zurückzukehren. Spandau war zwar in den Gesichtskreis<br />

der Berliner getreten, aber es blieb doch nur einer der vielen Orte des näheren oder<br />

weiteren Berliner Umlandes, die aus verschiedenen Gründen, in erster Linie aber zu<br />

Zwecken der Erholung und Zerstreuung aufgesucht wurden. Von Berlin gingen aber nicht<br />

nur die Ströme seiner Bewohner in das Umland aus, es wurden seit der zweiten Hälfte der<br />

sechziger Jahre auch neue Geschäftszweige und -formen in Berlin entwickelt, die alsbald<br />

weite Teile der näheren und weiteren Umgebung der Stadt erfassen sollten. Es kam nämlich<br />

die Terrainspekulation im Großen auf, überall erwarben unternehmenslustige und risikofreudige<br />

Geschäftsmänner ländliche Fluren von den Bauern mit dem Ziele, sie zu „kolonisieren",<br />

d.h. in gewinnträchtiges Bauland für Landhauskolonien umzuwandeln. Dieses<br />

spekulative Großgrundstücksgeschäft, das 1863 einsetzte und bis etwa 1874 in kräftigem<br />

Schwange war, erlebte nach dem siegreichen Abschluß des deutsch-französischen Krieges<br />

1871 seine Blütezeit; zahlreiche Aktiengesellschaften wurden zur Durchführung der nicht<br />

immer ausgereiften Projekte ins Leben gerufen, deren Geschäftsgebaren und -führung nicht<br />

in allen Fällen einwandfrei war. In dieser „Gründerzeit" waren die Unternehmer in jedem<br />

Fall bestrebt, ihre billig erworbenen Roggen- und Kartoffelfelder zu erschließen und dann<br />

die Bauparzellen ertragreich an baulustige Interessenten veräußern zu können. Bei ihren<br />

Grundstückskäufen sprangen die „Gründer" und ihre Gesellschaften kreuz und quer im<br />

Umland umher; die von ihnen geplanten und vielfach auch begonnenen — z.T. nach englischen<br />

Vorbildern konzipierten - Villenkolonien lagen punktförmig im weiteren Umlandc<br />

verstreut, während die stadtnahe gelegenen Terrains im Bereich des Hobrechtschen Bebauungsplanes<br />

zu Mietskasernenparzellen ausgeschlachtet wurden.<br />

Städtebauliche Erwägungen blieben bei diesen Grundstücks- und Baugeschäften außer<br />

acht, man beschränkte sich auf die Herstellung und Bepflanzung der notwendigen Erschließungsstraßen<br />

innerhalb des eigenen Bauterrains, aber der so wichtigen Frage der verkehrlichen<br />

Erschließung der geplanten Ansiedlungen, von der ja die gewinnbringende Verwertung<br />

der Grundstücke in hohem Grade abhängig war, wandte man vielfach nur ein flüchtiges<br />

Interesse zu. Man vertröstete die Erwerber von Bauparzellen häufig auf angeblich<br />

geplante Straßenbauten und Pferdebahnstrecken. Daß bei unzulänglicher Erschließung die<br />

neuen Gründungen dann lange Zeit in Kümmerformen dahinleben mußten, vermochten die<br />

Gründer entweder noch nicht zu übersehen oder sie interessierte das nicht weiter. So<br />

erstreckte sich die Berliner Bodenspekulation nach Westend (1866), Nordend (1872), Südende<br />

(1872). Ostend (1871) und noch darüberhinaus bis Hirschgarten (1871), Lichterfelde<br />

(1867), Wannsee (1863) usw. Die Wogen, die diese Terraingeschäfte erzeugten, schwappten<br />

auch in Richtung Spandau, soweit dort die Voraussetzungen gegeben waren.<br />

Spandau nahm eine Sonderstellung ein. Die verfügbaren Terrains um den Stadtkern herum<br />

mochten die geschäftstüchtigen Gründer nicht erfassen. Spandau war nämlich Festungsstadt<br />

und das vor den Befestigungsanlagen gelegene Gelände in Rayons eingeteilt, Zonen<br />

von 600 bzw. 375 m Tiefe. Im ersten Rayon durften, wenn überhaupt, nur ganz leichte und<br />

kleine Holzbuden oder -hütten, im zweiten in ihrem Umfange beschränkte Fachwerkbauten<br />

aufgeführt werden. In jedem Falle hatte sich der Eigentümer durch „Revers", der ins<br />

Grundbuch eingetragen wurde, zu verpflichten, seine Baulichkeiten auf Verlangen der<br />

384


Kommendantur zu beseitigen. Mit diesen Vorschriften sollte gewährleistet werden, daß die<br />

Verteidiger der Festung im Ernstfall von den Festungswerken aus freies Schußfeld hatten<br />

und dem herannahenden Feind auf dem „rasierten", d.h. von Bauten und Aufwuchs freigelegten<br />

Gelände jegliche Deckungsmöglichkeit genommen war. Die Lage Spandaus bot<br />

auch insofern noch eine Besonderheit, als sie an ihrer Berlin zugekehrten Ostflanke vom<br />

Eiswerder bis zumStresow durch einen über500 bis zu 1000m breiten Gürtel von militärfiskalischen<br />

Rüstungsfabriken umgeben war. Diese schornsteinstarrende Industrielandschaft,<br />

deren Betreten natürlich verboten war, wirkte zusätzlich wie ein Riegel nach Osten hin.<br />

Aber trotz dieser Erschwernisse betätigten sich auch bei Spandau die Berliner Gründer. Sie<br />

bemächtigten sich derjenigen Flächen im Osten der Stadt, die von den militärischen Belangen<br />

nicht berührt worden waren. Die ersten Vorbereitungen für eine spätere Grundstücksspekulation<br />

wurden in Haselhorst schon zeitig getroffen. Bereits im Jahre 1865 wurden die<br />

umfangreichen Trennstücke Gartenfeld und Sternfeld vom Rittergut Haselhorst abgeschrieben<br />

in der Absicht, diese Teilflächen zu parzellieren und als merkantiles Bauland zu<br />

verwerten. Tatsächlich wurden die neugebildeten Grundstücke Sternfeld und Gartenfeld<br />

1872 an „Gründer" veräußert, die auch hier in völlig unerschlossenem Gebiet die Anlage<br />

von Villenkolonien planten. Während in Gartenfeld außer den Projektzeichnungen nichts<br />

entstand, wurden in Sternfeld immerhin einige Ansätze für eine Grundstücksverwertung<br />

erreicht. Zwar blieb auch hier die von der Eigentümerin, der „Zentralbank für Bauten" vorgesehene<br />

Landhausansiedlung im Spreetal. schräg gegenüber von der verwirklichten Villenkolonie<br />

Westend, auf dem Papier stehen, aber ein großes Dampfsägewerk wurde 1874 von<br />

ihr in Sternfeld an der Spree errichtet; es mußte allerdings schon nach anderthalb Jahren<br />

wieder stillgelegt werden, weil es unwirtschaftlich war und in der Zeit der Flaute, die der<br />

Euphorie der Gründerjahre folgte, die „Zentralbank" mit ihren ohnehin unübersichtlichen<br />

Finanzierungskünsten immer mehr in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet.<br />

Erfolgreicher war der Berliner Unternehmer Haberkern, der 1875 die Insel Valentinswerder<br />

zu einer Art Villensiedlung gestaltete. Diese Insel, die in dem freien Winkel zwischen<br />

den militärischen Sperrzonen des Schießplatzes Tegel und der Festung Spandau lag, war<br />

völlig unerschlossen. Haberkern richtete daher eine Fahrgastschiffahrt zwischen Spandau<br />

und Tegel mit eigenen Dampfern ein, die natürlich in jedem Falle seine Schöpfung Valentinswerder<br />

berührten und deren Besuch ermöglichten. Schließlich erbaute sich der Berliner<br />

Julius Busse um 1873 eine große Villa am Pichelssee und im benachbarten Pichelsdorf<br />

1875 eine Brauerei, die er aber bald wieder aufgeben mußte. Die Berliner Terrainspekulation<br />

war also bis vor die Festungswälle Spandaus vorgestoßen, überall dahin, wo geschäftlich<br />

verwertbares Land außerhalb der militärischen Einschränkungen zur Verfügung stand.<br />

Daß diese Bestrebungen meist in den Anfangsstadien stecken blieben, lag nicht nur an den<br />

topographischen Schwierigkeiten, sondern auch an den ungenügenden oder undurchsichtigen<br />

Finanzierungen der Gründer, die — mit Ausnahme von Haberkern — ihre Grundstücke<br />

in der „Subhastation" (der Zwangsversteigerung) wieder verloren. Hätte eine solidere<br />

Gesellschaft - und auch solche gab es in der Gründerzeit - die verkehrliche Erschließung<br />

jenes Niemandslandes zwischen Spandau und Charlottenburg energisch in die Hände<br />

genommen, wären voraussichtlich im Osten der Havelstadt Siedlungsgebilde entstanden,<br />

die die wirtschaftliche und städtebauliche Integrierung Spandaus in den Berliner Einflußbereich<br />

schon vor einem Jahrhundert eingeleitet hätten.<br />

Sichtbarer als jene Spuren der meist erfolglos gebliebenen spekulativen Terraingeschäfte<br />

waren die Einflüsse Berlins im Bauwesen. Bis weit in die achtziger Jahre hinein hatte die<br />

385


Physiognomie Spandaus durchaus der anderer märkischer Mittelstädte wie etwa der<br />

Rathenows, Eberswaldes, Fürstenwaldes oder der von Nowawes geglichen. Die zweigeschossigen<br />

Ackerbürger- und Handwerkerhäuser in der Altstadt aus dem 17. und 18. Jahrhundert<br />

wurden zwar nach 1850 häufiger durch Neubauten ersetzt, doch diese blieben zweioder<br />

dreigeschossige Gebäude, die bei den beschränkten Grundstücksflächen meist nur in<br />

bescheidenen Ausmaßen errichtet werden konnten. Die Neubauten hier wie in den anderen<br />

märkischen Städten waren in ihrer Architektur dem klassizistischen Formenschatz verpflichtet:<br />

Kranz- und Gurtgesimse in sparsamen Abmessungen; die Fassaden waren meist<br />

mit geraden Fensterverdachungen und hin und wieder mit Putzfugung versehen. Die<br />

Arbeiterwohnhäuser in den Vorstädten waren - sofern sie nicht überhaupt den Rayonvorschriften<br />

entsprechend als zweigeschossige Fachwerkbauten mit flach geneigtem Dach<br />

erbaut werden mußten - bis um 1870 den zweigeschossigen Ackerbürgerhäusern oder gar<br />

den eingeschossigen Wohngebäuden der vorstädtischen Gehöfte nachgebildet, häufig mit<br />

großen Dachgauben. Erst als in den siebziger Jahren zahlreiche Mietshäuser entstanden,<br />

wurden die Berliner Bauformen übernommen; so erhielten um 1874 zwei kleine Eckhäuser<br />

an der Jordanstraße die damals in Berlin bei Mietshäusern an Straßenecken so typischen<br />

turmartigen Aufsätze. In der Altstadt begannen die Häuser seit dieser Zeit in die Höhe zu<br />

wachsen, die ersten viergeschossigen Gebäude entstanden. Als dann seit Mitte der achtziger<br />

Jahre in der Neustadt die ersten größeren zusammenhängenden Wohnquartiere entstanden,<br />

etwa an der Feld- und Groenerstraße oder zwischen der Schönwalder und Neuendorfer<br />

Straße längs der Lynar-, Luther- oder Neumeisterstraße usw., hielten die vier- und fünfgeschossigen<br />

Berliner Mietskasernen in Spandau Einzug mit ihren Seiten- und Querflügeln<br />

und Nebengebäuden auf den engen Höfen. Die Übertragung der Berliner Mietskaserne mit<br />

all ihren auch schon damals erkannten unsozialen und schädlichen Auswirkungen auf die<br />

Spandauer Verhältnisse konnte um so leichter erfolgen, als die in Spandau gültige Bauordnung<br />

von 1872 für das platte Land keine Handhabe bot, diese Entwicklung zu steuern. Die<br />

Überlagerung der alten eigenständigen Bauformen ging dann schnell voran.<br />

So war Spandau ausgangs des 19. Jahrhunderts eine Stadt, in der sich die Einflüsse der<br />

nahen großen Residenz in verschiedener Weise manifestieren, in den Ladengeschäften, in<br />

der Bauart der Häuser oder auch in den großstädtischen Ansprüchen entsprechenden Ausflugslokalen.<br />

Aber trotz derartiger adaptierter Formen bewahrte Spandau durchaus sein<br />

Eigenleben, es war trotz aller Ansätze und Verknüpfungen noch kein Vorort. Der Entwicklungsgang<br />

von der märkischen Provinzstadt zum Berliner Vorort, der kurz vor 1900 begann,<br />

soll in einem weiteren Aufsatz nachgezeichnet werden.<br />

386<br />

Anschrift des Verfassers: Joachim-Friedrich-Straße 2. 1000 Berlin 31


Portal in der Südwand des Palas 1969 nach frei- Portal in der Südwand des Palas<br />

gelegten Resten der Rustikaquaderung rekon- nach Veränderungen 1977<br />

struiert<br />

bauliche Veränderungen an der Spandauer Zitadelle<br />

Zur Zerstörung von Teilen der historischen Bausubstanz<br />

Von Jürgen Grothe<br />

In den letzten Wochen berichtete die Presse wiederholt, daß die Spandauer Zitadelle<br />

die „schönste Kneipe Berlins" erhalten wird. Der Abgeordnete Hermann Oxfort, der<br />

während einer Führung durch die Zitadelle das Ausmaß der Zerstörungen für den Kneipeneinbau<br />

erkannte, erhielt als Antwort auf eine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus<br />

ebenfalls den Hinweis auf die „schönste Kneipe". Grundsätzlich ist nichts gegen<br />

Kneipen einzuwenden, doch muß deshalb historische Bausubstanz, die unter Denkmalschutz<br />

steht, zerstört werden?<br />

Vielleicht muß noch einmal auf die historische, baugeschichtliche und festungsbaugeschichtliche<br />

Bedeutung der Zitadelle hingewiesen werden. Die Zitadelle ist der einzige<br />

in Deutschland erhaltene Festungsbau aus der zweiten Hälfte des 16. Jhs., der trotz der<br />

Veränderungen des 19. Jhs. ein gutes Bild einer Festung im Stil der Neuen italienischen<br />

Befestigungsmanier vermittelt. Selbst die Vorbilder in Italien sind nicht so gut erhalten.<br />

Daraus ergibt sich die Frage, ob man es sich leisten kann, einen derartig bedeutenden<br />

Bau durch den Einbau einer Kneipe in seiner Funktion zu zerstören. Bei den erfolgten<br />

387


Wanddurchbrüche<br />

in der Poterne 1977<br />

(Alle Bilder aus dem Archiv<br />

Jürgen Grothe)<br />

Mauerdurchbrüchen und geplanten Umbauten der Kasematten muß von Zerstörungen<br />

gesprochen werden. Die Zerstörungen und Veränderungen umfassen die ältesten und<br />

festungsbaugeschichtlich wichtigsten Teile: den Palas, die Bastion König und das Torhaus.<br />

Der Palas. der nach den letzten Bauuntersuchungen in der zweiten Hälfte des 14. Jhs.<br />

erbaut worden ist, besitzt im Kellergeschoß zwei Tonnengewölbe, die durch eine starke<br />

Mittelwand getrennt sind. Der südliche Raum, in späteren Jahrhunderten verändert, wird<br />

durch Einbauten völlig entstellt. Er wird in Zukunft als Lager- und als Toilettenraum<br />

dienen. An der Südseite des Palas befand sich ein Eingang, der nach der Zuschüttung des<br />

Burggrabens im 16. Jh. eingebrochen wurde und zur Anpassung an den gesamten Zitadellenstil<br />

eine Rustikaquaderung als Umrahmung erhielt. Reste der Gliederungen kamen<br />

bei Bauuntersuchungen durch Dr. Günter Stein, 1957, zum Vorschein 1 . Sachkundig wurde<br />

die Rustikaquaderung 1969 von dem mit der Zitadellenrestaurierung betrauten Architekten<br />

Joachim Hellmich rekonstruiert. Als der Südraum des Palas der Nutzung der Kneipe<br />

zugeschlagen wurde, wurde dieses Portal ohne Rücksicht auf die Rustikaquaderung und<br />

auf die historische Öffnung verbreitert.<br />

Noch umfangreicher sind die Zerstörungen in der Poterne 2 , die in den linken Flankenhof<br />

führt. Hier ist die Funktion einer Poterne (erbaut um 1560) durch einen Wanddurchbruch<br />

als Zugang zur Kneipe und einer Wandöffnung als Entlüftungsschacht weitgehend verändert<br />

worden. (Seit 1977 besitzt Berlin die einzige Poterne der Welt mit einem Nebeneingang.)<br />

Der linke Flankenhof wurde durch Mauereinbrüche verändert. In die Südwand wird<br />

eine Tür eingesetzt, die als Notausgang für die Fleischküche dienen soll, die unter der<br />

388


Alarmtreppe der Bastion König eingebaut wird. Zu diesem Zweck wird der im 19. Jh.<br />

umgestaltete Eingang zur sog. Offizierswachstube, die sich unter der Treppe befand,<br />

verändert und der Fußboden abgesenkt.<br />

Eine noch größere Veränderung wird die Kehlkasematte der Bastion König erhalten.<br />

Hier werden Zwischenwände eingezogen, um Räume für Toiletten und Abstellmöglichkeiten<br />

für Mülltonnen zu schaffen. Somit geht auch die Funktion dieser Kasematte verloren.<br />

Wie schon erwähnt, steht die Zitadelle unter Denkmalschutz. Kann man aber bei diesen<br />

umfangreichen Eingriffen in das Festungssystem noch von Denkmalschutz sprechen?<br />

Einerseits werden die Restaurierungen durch das ZIP-Programm mit 25 Millionen Mark<br />

unterstützt, andererseits wird ohne Rücksicht auf die historische Bausubstanz die Festungsarchitektur<br />

durch Einbauten und Mauerdurchbrüche verändert.<br />

Es erhebt sich die Frage, ob man es sich in Berlin, das wahrlich arm an historischen<br />

Bauten ist. leisten kann, einen Bau des 16. Jhs. derartig zu verunstalten. Die genannten Beispiele<br />

zeigen aber auch, wie wenig Verstand und Sachkenntnis der Zitadelle entgegengebracht<br />

werden, und Denkmalschutz zur Farce werden kann.<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 20, Kellerwaldweg 9<br />

1 Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 1957. S. 58.<br />

Hier Bauaufnahme der Südseite und klare Erkennung der Rustikaquaderung. Bei der Restaurierung<br />

des Gebäudes 1969 kamen Reste der Quaderung noch stärker hervor. So konnten z. B. die Türanker<br />

freigelegt werden, in denen die rekonstruierte Tür bis 1977 hing. Es ist bezeichnend für die<br />

heutige Situation in der Zitadelle, daß der Bauleiter bei einer Begehung von den freigelegten Resten<br />

nichts wußte und sie sogar bestritt.<br />

2 Poterne: Bombensicherer Durchgang für den Verkehr innerhalb von Festungswerken.<br />

Nachrichten<br />

Nachlese zur 15. Europäischen Kunstausstellung 1977<br />

„Tendenzen der zwanziger Jahre".<br />

Es war, um ein reißerisches Schlagwort von heute zu gebrauchen, eine Schau der Superlative, und<br />

das gesamte kunstinteressierte Berlin hatte sich mit ihr identifiziert. Nicht nur mit ihr. Mit den<br />

„Zwanzigern" überhaupt. Nostalgie?<br />

Wehmütige Erinnerung an Aufbruch und Wandlung von damals als Reflex auf den Ersten Weltkrieg,<br />

auf die einstige Nachkriegszeit und deren Inflation? Antwortsuchen auf die resignierende Frage, was<br />

wohl geworden wäre, wenn nicht . . .? Allgemeines Interesse an der Widerspiegelung damaligen<br />

politischen Geschehens und stille Bejahung der künstlerischen Prophetien den Entwicklungstendenzen<br />

der Technik und den farbigen Visionen vermassender Anonymität gegenüber? Verständnis für den<br />

vergleichsweise zahmen Groll von einst, mit dem politisch, ästhetisch und emotionell Staat und Ordnung<br />

in Manifesten und Pamphleten, in Plakaten und Bildern bekämpft wurde? War es in der jetzigen<br />

apokalyptischen Katastrophe von Terror und Korruption Bewunderung für die aktivierte Kunst von<br />

389


damals, die politisch, idealistisch oder zynisch, immer aber geistbetont, sich aufrührerisch und weltumstürzlerisch<br />

gegen Überlieferung und Tradition auflehnte? Oder heimliche Sehnsucht nach der<br />

pulsierenden Geschäftigkeit und Aufgeschlossenheit einer noch jungen Weltstadt, die ebenfalls<br />

nach einem verlorenen Krieg die Kraft besessen hatte, geistiges Zentrum der verschiedensten Kunstströmungen<br />

zu werden? Oder Erinnerung an das avantgardistische Theater Erwin Piscators und<br />

Bert Brechts, an die Rhythmik Strawinskys und Bartöks, an die ersten Festivals moderner Musik<br />

in Donaueschingen und Salzburg, auf deren Programmen Ernst Krenek. Paul Hindenrnith. Alban<br />

Berg und Darius Milhaud standen?<br />

Wie dem auch sei - Berlin hatte Berlin wiedergefunden, lebendig und hoffnungsfroh. Großstadt<br />

Europas, deren künstlerische und kulturelle Impulse die Illusion der ,.Goldenen Zwanziger" geprägt<br />

hatten, ehe sie der Würgegriff von Diktatur und Isolation im nächsten Jahrzehnt ersticken sollte.<br />

Ein Spätsommer der Erinnerungen mit vielen lebendigen Beziehungen in die Gegenwart hatte die<br />

Stadt intensiviert: Fast neun Wochen gesungenen und instrumentierten, gemalten und konstruierten<br />

Festtaumels unter dem Motto jener Zeit zwischen Inflation und „Schwarzem Freitag" mit 90 Kunstausstellungen,<br />

135 Festwochenveranstaltungen und 211 historischen Filmvorführungen einschließlich<br />

modischen Linksdralls — nicht nur in der Eröffnungsausstellung der neugegründeten Staatlichen<br />

Kunsthalle.<br />

So konnten sich Senat und das offizielle Berlin in vornehmer Zurückhaltung üben, und der Rummel<br />

um die diesjährige Funkausstellung die Werbung für das kulturelle Geschehen zeitweilig überlagern.<br />

Die junge Generation der neuberliner Regierungsmannschaft hatte die Freisetzung der künstlerischen<br />

Kräfte zum gleichen Teil auch der Privatinitiative überlassen. Das Mammutprogramm bestritten<br />

Theater, die Deutsche Oper, die Philharmonie, die Akademie der Künste, Museen und Galerien,<br />

Kunstämter, Universitäten. Rundfunk- und Fernsehanstalten.<br />

Doch bleiben wir bei der Europarats-Ausstellung, der dritten übrigens, die die Bundesrepublik ausgerichtet<br />

hat. Nach dem „Zeitalter des Rokoko" 1958 in München und „Karl dem Großen" 1965<br />

in Aachen war Berlin prädestiniert, mit den „Tendenzen der Zwanziger Jahre" den Sinn dieser Ausstellungen<br />

bewußt zu machen, kunst- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge Europas zu verdeutlichen.<br />

Weil es sich selbst reflektierte, konnte diese Ausstellung nach nur eineinhalb Jahren Vorarbeit<br />

gelingen und zum überwältigenden Erfolg werden. Dessen ganzes Geheimnis: Die Sache als solche<br />

rechtfertigte den Ausstellungsort, fernab jeder hohlen politischen Geste. 2360 Werke hatten die<br />

wichtigsten Museen der 19 Mitgliedstaaten des Europarates neben Kanada und New York ausgeliehen,<br />

um erstmals im „bedeutendsten kulturellen Ereignis des Jahres 1977 in Deutschland" den<br />

Stilpluralismus dieser Epoche, eben die bewußten „Tendenzen" - bisher nur einzeln untersucht<br />

und ausgestellt - in einer Fülle von Materialien auszubreiten und zu veranschaulichen (Versicherungswert<br />

etwa 250 Millionen Mark). Vier Hauptausstellungen bildeten das Gerüst.<br />

„Vom Konstruktivismus zur konkreten Kunst" hieß das Thema der neuen Nationalgalerie. Hier hatten<br />

Dieter Honisch und Ursula Prinz einen großangelegten, präzisen Überblick in Theorie und Werk<br />

von der faszinierenden Wucht des Aufbruchs in ein neues Zeitalter überall in Europa, seinen Höhen<br />

und seinem letztlichen Scheitern gegeben. Kubismus und Futurismus bildeten die Grundlage der<br />

konstruierbaren Wirklichkeit aus den Jahren von 1910 bis 1916. Picasso. Balla. Delaunay und Kandinsky<br />

heißen die großen Namen, die zu den reinen Farben und geometrischen Formen von Kasimir<br />

Malewitsch im Osten und Piet Mondrian im Westen führten. „Einheit von Kunst und Leben" wollte<br />

man von 1917 bis 1922 erreichen; die politische Wirklichkeit der russischen Revolution und das<br />

neue technische Zeitalter verschmolzen zum Symbol einer künstlerischen Utopie, die auch das Tafelbild<br />

stürzte. Tatlin und El Lissitzky seien hierfür genannt. Hollands Gruppe „de Stijl" und das Bauhaus<br />

in Deutschland gehörten dazu. Die Praxis des Alltags reduzierte jedoch die großen Ideen: Funktionelle<br />

Möbel und Lampen, grad- und klarliniges Porzellan und Eßwerkzeug blieben übrig - und Wilhelm<br />

Wagenfelds Kaffeemaschine. Strzeminski wies in seinen monochromen Bildstrukturen auch wieder<br />

den Weg zu autonomen Tafelbild.<br />

Nicht ganz glücklich, wohl der Raumnot gehorchend, war das Nebeneinander in der Akademie der<br />

Künste: „Von der futuristischen zur funktionellen Stadt - Planen und Bauen in Europa 1913 — 1933"<br />

und „Dada in Europa - Werke und Dokumente" gelöst.<br />

Das Manko aller Architekturausstellungen traf natürlicherweise auch diese: Architektur läßt sich nicht<br />

ausstellen, Architektur muß man begehen und von allen Seiten besehen können. Architektur muß<br />

man erleben. Peter Pfankuch hatte seine Ideen und Pläne nicht mehr vollenden dürfen, und Achim<br />

Wendsehuh und Martina Schneider hatten die Ausstellung in begreiflicher, aber wohl falscher Zurück-<br />

390


haltung für den Durchschnittsbesucher zu sachlich-chronologisch gehängt. Doch eindrucksvolle<br />

Höhepunkte bildeten jedesmal die Wettbewerbsentwürfe, in denen die geistige Auseinandersetzung<br />

zwischen Fortschritt und Tradition jener Geniejahre lebendig wurde. „Geniejahre" haben wir gesagt.<br />

hier traf vieles zusammen. Stahl, Beton und Glas hießen die neuen Grundstoffe für neue Möglichkeiten.<br />

Der Zusammenbruch der Wilhelminischen Ordnung hatte auch die Architekten herausgefordert,<br />

in der Novembergruppe waren sie ebenfalls zu finden. Das kommunalpolitische Entstehen<br />

„Groß-Berlins" schuf vielfältige Aufgaben, aber alle Städte der Welt wären für den optimistischen<br />

Schaffensdrang dieser jungen idealistischen Generation zu eng gewesen. So gingen gerade von<br />

Berlin die Impulse des neuen Bauenwollens. das utopische Architekturträume in funktionelle Wirklichkeit<br />

umsetzte, aus, etwa wie hundert Jahre früher das Berlin Karl Friedrich Schinkels die Architektur<br />

des damaligen Europa geformt hatte. Mit einem Unterschied: die Vielschichtigkeit der zwanziger<br />

Jahre dieses Jahrhunderts dokumentieren zum Beispiel Werkbund. Bauhaus. Gläserne Kette,<br />

Zehnerring, die Brüder Max und Bruno Taut, Letzterer das Haupt des Berliner Expressionismus,<br />

die Brüder Wassili und Hans Luckhardt. Ludwig Mies van der Rohe. Walter Gropius. Erich<br />

Mendelsohn. Hugo Häring und Ludwig Hilberseimer. In ständiger Auseinandersetzung mit der<br />

Tradition entwickelten sich unter anderen Hans Poelzig, Fritz Höger und speziell im Berliner Bereich<br />

Paul Mebes. und die Konservativen scharten sich um Künstler wie Ludwig Hoffmann. Paul Bonatz<br />

und Paul Schmitthenner. Zu den Himmelsstürmern, für die nur die imaginäre Architektur wahre<br />

Architektur bedeutete, gesellten sich die vielen hier Ungenannten, die alle vorzüglich bauten, weil sie<br />

eine solide Ausbildung genossen hatten und ihr Handwerk verstanden. Trotzdem siegte schon am<br />

Ende der zwanziger Jahre überall in Europa wieder der repräsentative Klassizismus, den Peter<br />

Behrens in den Jahren 1911 und 1912 mit der kaiserlichen deutschen Botschaft in Petersburg wiederbelebt<br />

hatte. Doch noch immer haben wir die ästhetischen und sozial-moralischen Anregungen<br />

jener Architekten in dem Städte- und Wohnhausbau von heute zu verarbeiten. Das Hochhaus hatte<br />

übrigens die neue Dimension in die Stadtplanung gebracht, deshalb führten auch die Großfotos<br />

des Hochhauswettbewerbes von Chikago den Besucher in die Dada-Halle.<br />

Hier nun wirbelte auch phonetisch die verrückteste Explosion des Ersten Weltkrieges, die in einem<br />

literarischen und musikalischen, bildnerischen und gestischen Feuerwerk ohnegleichen von 1916<br />

bis 1923 über das zerstrittene und zerrissene Europa hinweggequirlt war. umher. Dynamik, Vielseitigkeit<br />

und Absurdität dieser Kunstströmung zwischen Berlin. Hannover, Köln, Zürich und Paris<br />

mit ihrem Strahl nach Osten hatten Eberhard Roters und Hanne Bergius anhand der Werke von<br />

50 Dada-Künstlern hervorragend und mitreißend interpretiert. Fast 2000 Jahre Geschichte abendländischer<br />

Kunst und Kultur hatten den vierjährigen Völkermord mit seinen zwei Millionen Toten<br />

- etwas bis dahin in seiner Grausamkeit nicht nur der großen Materialschlachten noch nie Dagewesenes<br />

- verhindern können. Wozu also Kunst und Kultur? Dada war Enttäuschung und Empörung, Protest<br />

und Provokation, Dada war gewollt primitive Ironie. Dada-Berlin soll hier erwähnt werden:<br />

Raoul Hausmanns Assemblage „Der Geist unserer Zeit", die Dada-Nofretete. der einfache Perückenkopf<br />

mit Metermaß. Nummernkarte. Taschenuhrwerk, ausziehbarem Aluminiumbecher, Schraube.<br />

Stempelwalze mit Schatulle, Portemonnaie und Reißbrettlineal. George Grosz" Photomontagezeichnung<br />

„Der Schuldige bleibt unerkannt" und Hännah Hochs Photomontage „Schnitt mit dem<br />

Kuchenmesser durch die Weimarer Bierbauchkulturepoche". Das war der am unmittelbarsten ansprechende<br />

Teil der Ausstellung. Was Wunder also, daß sich hier die Jugend und die jungen Leute<br />

drängten? Fanden sie hier doch das Ungestüme, das Unbändige ihrer eigenen heißen Herzen wieder.<br />

Denn in diesem Ausbruch wurde deutlich, wie wenig sich eigentlich geändert hat.<br />

Und nun zum reizvollsten und publikumswirksamsten Teil der großen Schau „Die neue Wirklichkeit<br />

- Surrealismus und Neue Sachlichkeit" in der ständig überfüllten Orangerie des Schlosses<br />

Charlottenburg. Auf 400 laufenden Metern Hängefläche 194 Gemälde teilweise ätzender Gesellschaftskritik<br />

und erlebt-erfundener Wirklichkeit des traumhaft-Unbewußten, geordnet in Motiv-<br />

Gruppen wie zum Beispiel „Industrie, Technik, Verkehr". „Die Straße als Ort der Bedrohung",<br />

„Das Porträt" oder „Maler und Modell" und vieles mehr. Distanzierte fotografische Genauigkeit<br />

in der Wiedergabe versinnbildlichte hierbei oft die Strömungen des Unterbewußtseins und das<br />

Unkontrollierbare der Phantasie. Zum ersten Mal - und das machte die Faszination der von Wicland<br />

Schmied und Matthias Eberle gestalteten Ausstellung aus - konnte man große Namen neben<br />

nahezu unbekannten entdecken, die gleichberechtigt das breite Spektrum - den Zusammenhang<br />

und das Gegeneinander - der Malerei vor einem halben Jahrhundert sichtbar werden ließen. Hier<br />

fanden die Älteren die Sehnsüchte ihrer Jugend und die Ängste ihres Lebens wieder, und die Jungen<br />

391


die Parallelen und die Beziehungen zu heute. Denn die Tugenden und Schwächen der „Zwanziger"<br />

bilden noch immer die Tugenden und Schwächen der siebenziger Jahre. Deshalb die Überfüllung<br />

die Parallelen und die Beziehungen zu heute. Denn die Tugenden und Schwächen der „Zwanziger"<br />

sind noch immer die Tugenden und Schwächen der siebenziger Jahre. Deshalb die Überfüllung<br />

und daher die geduldig wartenden Schlangen vor der zeitweilig geschlossenen Orangerie auch am<br />

letzten Ausstellungstag.<br />

Weit spannte sich der Bogen der Ergänzungsausstellungen. Zum Teil spiegelte er ebenfalls die verwirrende<br />

Vielfalt dieser Epoche in interessanten intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzungen<br />

wider. Einige - auch private - Veranstalter hatten allerdings die Akzente ein ordentliches<br />

Stück nach links geschoben und vergrößert, das Ganze damit vergröbernd und vereinfachend.<br />

Manche hatten sich mit Gleichzeitigkeit begnügt. Wenige, die die Fülle des Angebotes an Geometrie<br />

und Klarheit, Schönheit und Rationalität, Verrottetheit und Pedanterie charakteristisch auffächerten,<br />

seien herausgegriffen: „Metropolen machen Mode" im Dahlemer Kunstgewerbemuseum, „Plakate<br />

der Zwanziger Jahre" aus dem Besitz der Kunstbibliothek im Foyer des Theaters der Freien Volksbühne.<br />

„Berliner Pressezeichner der Zwanziger Jahre" im Berlin-Museum, „Dresdener Sezession<br />

1919—1923" im Neuen Berliner Kunstverein, „Die Physik der Zwanziger Jahre" im Siemens-<br />

Bildungszentrum. „Die Novembergruppe" im Rathaus Wedding, „Der Berliner Alltag der Zwanziger<br />

Jahre" in der Stiftung Deutschiandhaus. „Karl Schmidt-Rottluff. Das nachgelassene Werk seit<br />

den Zwanziger Jahren - Malerei. Plastik. Kunsthandwerk" im Brücke-Museum, „Malerei und Kunsthandwerk<br />

der Zwanziger Jahre" in der Stiftung Sammlung Bröhan, „Georg Kolbe - Tanzstudien<br />

der Zwanziger Jahre" im Georg-Kolbe-Museum, „Otto Dix - Zwischen den Kriegen" im Haus am<br />

Waldsee. „Tendenzen der Zwanziger Jahre in der Europäischen Fotografie" in der Galerie Breiting,<br />

„Licht und Schatten der Zwanziger Jahre" in der Galerie Nierendorf, „Der Anteil der Frau an<br />

der Kunst der Zwanziger Jahre" bei Pels-Leusden. „Zwanzig Künstler zitieren Künstler der Zwanziger<br />

Jahre" in der Galerie November, in der Künstler von heute Erzeugnisse von damals in eigene<br />

Bild-Ideen umsetzten, „Comedian Harmonists" im Haus am Lützowplatz. „Lebensformen der<br />

Zwanziger Jahre" im Internationalen Design Zentrum und „Die Zwanziger Jahre heute" in der Hochschule<br />

der Künste. Viele von ihnen, auch der hier unerwähnten, hätten eine ausführliche Besprechung<br />

verdient.<br />

Die 27. Berliner Festwochen vom 1. September bis zum 8. Oktober 1977 erweiterten in Konzert.<br />

Oper, Tanz, Theater. Kleinkunst, Film und Literatur die Darstellung dieser Zeit zum umfassenden<br />

„Spiegel der 20er Jahre", wie der Titel des Programmkataloges lautete. Auch hierüber wäre noch<br />

vieles zu sagen gewesen.<br />

Die Kunst der zwanziger Jahre, meinten wir am Anfang, hätte als Experimentierfeld der unbegrenzten<br />

Möglichkeiten warnende Denkanstöße gegeben. Sie sei analytisch und synthetisch gewesen -<br />

ein ästhetischer Protest gegen das Unheil der Machtpolitik, ohne diese verhindern zu können. In<br />

der Unruhe von heute bezieht sie ihre Aktualität aus der Gesellschaftskritik von damals: Die alte Ordnung<br />

war zerschlagen, die eigene Vergangenheit gehaßt, das Leben nur Gegenwart, aber die Sehnsucht<br />

nach dem Guten war geblieben. Günter Wollschlaeger<br />

*<br />

Nach dieser recht ausführlichen Betrachtung von Günter Wollschlaeger müssen leider noch ein paar<br />

kritische Anmerkungen zum wohl größten Ärgernis der Ausstellung - dem Katalog - gemacht werden.<br />

Schon die ziemlich spät anlaufenden Vorbereitungen ließen erkennbar werden, daß die Verantwortlichen<br />

sich nicht der anfallenden Schwierigkeiten, die mit der Erstellung eines derartigen Katalogs<br />

auftreten, voll bewußt waren. Vielleicht waren sie auch der Meinung gewesen, diese Sache mit der<br />

„linken Hand" erledigen zu können. Und so kam dann auch, was kommen mußte: Bereits bei der<br />

offiziellen Eröffnung reichte die erste Bindequote nicht aus und war sofort vergriffen. Die dann täglich<br />

gefertigten 500, später 1500 Kataloge waren bei einem Besucherdurchschnitt von täglich 500C)<br />

auch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. So erlebten dann viele Ausstellungsbesucher<br />

diese komplexe Kunstveranstaltung als einen Ausflug ins Blaue. Es fehlte ihnen der Wegweiser, die<br />

Übersicht, das Orientierungsmaterial. Die nun praktizierte Ausgabe von Berechtigungsscheinen war<br />

eine provinzielle Notlösung, dieser Ausstellung unwürdig und ein Armutszeugnis für die Beteiligten.<br />

Hier ist auch der Hinweis, daß in Darmstadt anläßlich der Jugendstil-Ausstellung und in Stuttgart bei<br />

der Staufer-Ausstellung ähnliche Engpässe auftraten, als Entschuldigung nicht geeignet. Gerade aus<br />

392


diesem Grund hätte man sich in Berlin besser vorbereiten müssen, um nicht, wie Professor Stephan<br />

Waetzoldt, der Vorsitzende des verantwortlichen Arbeitsausschusses, erklärte, die Sensation dieser<br />

Ausstellung zu unterschätzen.<br />

An dieser Stelle erhebt sich die berechtigte Frage, warum statt eines kompetenten Kunstverlags ein<br />

kleiner Verlag, dessen Programm naturwissenschaftliche Veröffentlichungen sind, mit der Herstellung<br />

eines Kunstkatalogs betraut wurde.<br />

War bisher nur von organisatorischen Mängeln die Rede, so sollen jetzt die Unzulänglichkeiten am<br />

Konzept und an der technischen Ausführung aufgezeigt werden. Kurz: Dieser Katalog verfehlte seine<br />

Aufgabe, dem Betrachter eines Kunstgegenstandes am Objekt als Verständnishilfe zu dienen, vollkommen.<br />

Der Grund hierfür liegt hauptsächlich in der Unhandlichkeit des Bandes. Dem Verantwortlichen<br />

im Verlag hätte klar sein müssen, daß sich mehrere Kilogramm Papier nur schwer tragen<br />

und noch viel schwerer ohne stützende Unterlage durchblättern lassen. Auf Anhieb lassen sich drei<br />

andere Möglichkeiten aufzeigen, bei denen die an einen Katalog gestellten Aufgaben effektiver<br />

gelöst worden wären:<br />

1. eine zweibändige Ausgabe mit einem Text/Bildband und einem reinen Katalogband.<br />

2. eine dreibändige Ausgabe mit einem Band je Ausstellungsort.<br />

3. eine vierbändige, nach Themen gegliederte Ausgabe.<br />

Eine Aufteilung in kleinere Bucheinheiten wäre auch in beachtlichem Ausmaß der technischen Ausführung<br />

entgegengekommen. Sind der Satz, die Abbildungen und der Druck noch von annehmbarer<br />

Qualität, so liegen die Mängel bei der buchbinderischen Verarbeitung, wobei auch hier je nach Buchbinderei<br />

noch Unterschiede auftraten. So ließ sich oftmals beobachten, wie der Katalog bereits nach<br />

einmaligem Durchblättern auseinanderbrach und danach ohne Mühe als Loseblattsammlung „benutzt"<br />

werden konnte. Die Hauptursache für dieses Fiasko liegt in der falschen Laufrichtung des Papieres.<br />

Wenn dem Hersteller dieser kapitale Fehler nun schon bei der Erstauflage unterlaufen ist, so erscheint<br />

es geradezu unverständlich, warum dies auch bei den Nachauflagen so sein mußte, zumal zu diesem<br />

Zeitpunkt schon feststand, daß aus Termin- und wohl auch Preisgründen von der Fadenheftung auf die<br />

Klebebindung umgestellt werden mußte. Da der Kartonumschlag im Verhältnis zum Inhalt viel<br />

zu dünn ist. kann er dem ganzen keinen Halt geben; da hilft auch der reichliche Verbrauch von Leim<br />

nichts, der die Seiten oft bis ins Schriftbild hinein verklebt.<br />

So bleibt als Fazit nur der Wunsch, daß alle Beteiligten aus diesen Fehlern lernen - und das nicht nur<br />

zum Wohle der geplanten Preußen-Ausstellung. Claus P. Mader<br />

„Warum wurde das Georg-Kolbe-Museum nicht in die Europäische Kunstausstellung mit einbezogen?"<br />

lautete wiederholt die Frage an Freifrau von Tiesenhausen, die Leiterin des als private<br />

Stiftung unterhaltenen Hauses. Hängt es mit dem eher traditionellen Zuge in Kolbes Werk zusammen?<br />

Die Zukunft seiner Wirkungsstätte scheint gefährdet, da das der Bauhaustradition entstammende<br />

Ateliergebäude mit dem angrenzenden Gartengrundstück nicht mehr ohne Unterstützung<br />

durch den Berliner Senat bzw. den Bund unterhalten werden kann. Richten wir also unsere<br />

dringende Bitte an den Senator für Kunst, daß er diesen vollständig erhaltenen Wohnsitz eines<br />

hervorragenden Berliner Künstlers als Museum fördert und unterstützt. Rüdiger Brauer<br />

Studienfahrt ins Wendland<br />

Am 23. bis 25. September 1977 war das Hannoversche Wendland im Naturpark Elbufer-Drawehn<br />

Ziel der traditionellen Exkursion. Den erfreulichen Auftakt bildete eine Führung durch die Brauerei<br />

Wittingen, deren neuzeitliche Einrichtung ebenso ansprach wie die Liebenswürdigkeit der Gastgeber<br />

und die Deftigkeit des Imbisses. Dr. H. G. Schultze-Berndt schlug die Brücke zwischen den Gästen<br />

und der Brauerei und zwischen einem blühenden Wirtschaftsunternehmen und der Geschichte<br />

mit seinem Vortrag „Zur Historie der Bierstadt Wittingen und ihrer Brauerei". Hitzacker, „in<br />

einer lustigen Gegend an der Elbe gelegen", erwies sich als der freundliche Standort für die Fahrt,<br />

als der er erhofft worden war. Der Geschäftsführer des Naturparks Elbufer-Drawehn e.V.. Bürgermeister<br />

Oberstleutnant a. D. Walter Eschrich, getreuer Weggenosse auch an künftigen Tagen, erwartete<br />

hier bereits die Besucher aus Berlin.<br />

Als am Sonnabendmorgen. 24. September 1977. bei strahlendem Sonnenschein der Omnibus zur<br />

Fahrt durch die Rundlinge des Wendlandes bestiegen werden sollte, hatte der Omnibusunternehmer<br />

393


fatalerweise das Reisegefährt nach Hamburg beordert. Zwar konnte die anderthalbstündige Wartezeit<br />

mit einem Rundgang durch Hitzacker unter Führung von W. Fick und W. Eschrich überbrückt<br />

werden, der vorgesehene Besuch des Wendlandhofes in Lübeln mußte aber ausfallen, und der Aufenthalt<br />

bei Landesbaupfleger Professor Dr.-Ing. Erich Kulke in seinem Schulzenhof in Bussau<br />

verlief kürzer als geplant. Professor Kulke zeichnete in kurzen Strichen nicht nur ein sehr lebendiges<br />

Bild von den Rundlingen, ihrer Geschichte und Eigenart, mit seiner liebwerten Gattin war er auch<br />

ein begeisternder Führer durch sein Anwesen und ein charmanter Gastgeber bei einem Willkommenstrunk.<br />

Im Ratskeller Lüchow wartete das Mittagessen, dem sich die beiden kenntnisreichen Lichtbildervorträge<br />

von Dr. Berndt Wächter „Deutsche und Slawen im Licht der archäologischen Forschung'"<br />

und von Rektor Wilhelm Meier-Peithmann über Landschaft, Tier- und Vogelwelt im Naturpark<br />

Elbufer-Drawehn sowie über die Probleme ihres Schutzes anschlössen. Hier war es erfreulich<br />

festzustellen, wie intensiv und auf welch hohem wissenschaftlichen Niveau Fragen der Archäologie<br />

und Bodendenkmalpflege, aber auch der Ornithologie und des Landschaftsschutzes im Kreis Lüchow-<br />

Dannenberg behandelt werden. Die Göhrde als das große Waldgebiet dieser Region lockte zu<br />

einer Kaffeepause mit einem Spaziergang bei beginnender Dämmerung - vielleicht hat mancher<br />

Teilnehmer hier zum ersten Male Hirsche röhren gehört. Das Spanferkelessen im Schafstall des<br />

Hotels Heil auf dem Schafskovenberg in Ventschau war der atmosphärisch glücklich getroffene<br />

Abschluß dieses Reisetages. Menge und Güte der Spanferkelportionen konnten sich sehen lassen,<br />

und der Funke des Lagerfeuers vor dem Schafstall sprang über zu manch munterer Rede und Gegenrede.<br />

Am anderen Morgen. Sonntag. 25. September 1977, gab Bürgermeister W. Eschrich seinen Gästen<br />

noch einmal das Geleit auf der Eibuferstraße bis zum Kniepenberg, dem Gründungspunkt des<br />

Naturparks. Mit einem Blick auf die weite Landschaft des einstigen hannoverschen Amtes Neuhaus<br />

jenseits der Elbe verabschiedeten sich die Berliner. In Lauenburg auf den Höhen des anderen<br />

Eibufers hatte Bürgermeister Dieter Wollenberg seine Sonntagsruhe geopfert, um im Alten Schloß<br />

die Gäste über die bewegte Geschichte seiner Stadt und über deren heutige Probleme als Grenzort<br />

zu informieren. Letzter aktiver Teil der Studienfahrt war dann ein Besuch des Elbschiffahrtsmuseums<br />

mit einem Bummel durch die Unterstadt. Der harmonische Ablauf der Exkursion macht Mut, die<br />

Reihe dieser Ausflüge fortzusetzen. Mit dem Fahrtziel des Jahres 1978, der Stadt Goslar, werden schon<br />

eifrig Briefe gewechselt. H. C. Schultze-Berndl<br />

Am 16. Oktober 1977 ist die Serie „Die Unbeugsamen von der Spree" von Rainer Wagner in der<br />

„Berliner Morgenpost" vorläufig abgeschlossen worden. Sie soll - wegen der großen Resonanz<br />

bei der Leserschaft - 1978 wieder aufgenommen werden. Leider ist auch jene letzte Folge nicht<br />

frei von Unrichtigkeiten: Wilhelm Carstenn kam nicht als Adliger nach Berlin, sondern wurde<br />

erst nach seinen allzu großzügigen Geschenken an den Militärfiskus mit dem Titel „v. Carstenn-<br />

Lichterfelde" ausgezeichnet. Auch ging die von ihm gegründete Gesellschaft „Lichterfelder Bauverein"<br />

nicht im Jahre 1873 bankrott, sondern bestand noch 1890. freilich unter anderer Leitung.<br />

Das Schlößchen am Hindenburgdamm wurde zwar von Carstenn umgebaut und erweitert, ein Gutshaus<br />

bestand aber bereits zuvor.<br />

Es bleibt zu hoffen, daß bei einem Neubeginn der Serie die Sorgfalt erhöht wird, die ein Thema<br />

wie die Geschichte der Stadt Berlin es verdient.<br />

Die „Schriften" des Vereins<br />

... werden in den ersten Wochen des neuen Jahres mit dem Erscheinen von Band 61 fortgesetzt.<br />

Er enthält folgende zwei Arbeiten:<br />

Wolfgang Ribbe: Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen Geschichte von<br />

Berlin-Brandenburg<br />

Konrad Kettig: Goetheverehrung in Berlin. Ein Besuch von August und Ottilie<br />

v. Goethe in der preußischen Residenz 1819<br />

Insgesamt 132 Seiten mit 34 Abbildungen.<br />

Die Mitglieder erhalten den Band nach Erscheinen zugesandt, soweit der fällige Mitgliedsbeitrag für<br />

das Jahr 1977 entrichtet worden ist. Der Verkaufspreis beträgt 16,80 DM zuziigl. Porto.<br />

394


Von unseren Mitgliedern<br />

Walter Schneider-Römheld f<br />

Am 3. November 1977 verstarb unser langjähriges Mitglied Walter Schneider-Römheld. Der am<br />

5. Juni 1904 in Frankfurt am Main geborene Hesse, der im vierten Lebensjahr mit seinen Eltern<br />

nach Berlin übergesiedelt war, hat seit 1953 als Vorsitzender entscheidend das Profil des Heimatvereins<br />

Steglitz, dem er schon mit achtzehn Jahren als Mitglied und bereits vierundzwanzig Monate<br />

später als Geschäftsführer angehört hatte, geprägt. Seine persönliche Freundschaft mit dem Lichterfelder<br />

Direktor Eugen Marschner bescherte dem Heimatverein das eigene Haus in der Drakestraße<br />

64 a, in dem zielbewußt das Heimatarchiv, das bis dahin an allen möglichen Orten ein unwürdiges<br />

Lagerdasein geführt hatte, aufgebaut werden konnte. Zum Gedenken an Lucie Marschner<br />

ließ Walter Schneider-Römheld das berühmte PAbaye-Essen für jeweils fünfzig sozial schwächere<br />

Kulturschaffende Berlins Wiederaufleben. Hierin wird besonders deutlich, wie weit dieser Vorsitzende<br />

das Aufgabengebiet des Heimatvereins gefaßt hatte und wie dessen Wirken in die Gegenwart und<br />

in das Heute durch Impulse und Reflexe auch über den Steglitzer Bereich hinaus zu gestalten wußte.<br />

Schon in den zwanziger Jahren hatte er heimatkundliche Führungen aufgenommen, die er auch<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten und durch allmonatliche kunst- und kulturgeschichtliche<br />

Studienfahrten nach Westdeutschland ergänzt hatte. Auf die Liebe zur Heimat gründete sich ebenfalls<br />

sein berufliches Schaffen, wie die von ihm produzierten Kulturfilme „Sanssouci", „Das klassische<br />

Berlin" oder „Brandenburg" beweisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Dokumentation<br />

über die jüdische Gemeinde Berlins zu einem seiner bedeutendsten Streifen. Zu den Internationalen<br />

Filmfestspielen Berlin 1951 war seine schnell vergriffene Broschüre „Steglitz und der deutsche<br />

Film" mit vielen interessanten Einzelheiten aus dessen Anfängen erschienen. Nicht nur der Heimatverein,<br />

auch der Bezirk Steglitz verliert mit ihm eine kunst- und kulturinteressierte, um die Erforschung<br />

der Heimatgeschichte verdiente Persönlichkeit.<br />

*<br />

Die erstmals 1872 verliehene und 1972 wieder erneuerte „Fidicin-Medaille für Förderung der<br />

Vereinszwecke" wurde vom Vorsitzenden Prof. Hoffmann-Axthelm anläßlich der Weihnachtsfeier<br />

1977 an drei besonders verdiente Vereinsmitglieder überreicht: Herrn Dr. Hans Günter Schultze-<br />

Berndt als Schriftführer seit nunmehr zehn Jahren, Frau Ruth Koepke als vorbildlicher Schatzmeisterin<br />

und Herrn Karlheinz Grave, der seit 17 Jahren den Wiederaufbau unserer Vereinsbibliothek<br />

betreut.<br />

*<br />

Unser Mitglied, Frau Kate Haack, wurde vom Orden „Sankt Ortunat" mit der Medaille „Recherche<br />

de la Qualite" ausgezeichnet. Diese Vereinigung hat das Ziel, Menschen in aller Welt das Leben<br />

lebenswert zu machen. Genau wie der gleichzeitig geehrte Gustav Knuth hat Käte Haack die<br />

Auszeichnung als Repräsentant vornehmer Eßkultur erhalten.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche<br />

zum 70. Geburtstag Herrn Walter Preuß, Frau Lieselotte Amberger, Herrn Horst Gronau, Frau<br />

Erna Rosenberger, Frau Marga Schwarz; zum 75. Geburtstag Herrn Hans Müller. Herrn Otto<br />

Penneckendorf, Frau Elfriede Jarchow, Herrn Hans Hoppe, Herrn Günther Schwenn; zum 85. Geburtstag<br />

Frau Käthe Supke, Herrn Friedrich Pausin.<br />

395


Buchbesprechungen<br />

Robert Springer: Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen. Leipzig: J. J. Weber 1861.<br />

Faksimile-Ausgabe Bremen: Schünemann 1976. XII, 418 S., 110 Abb. im Text u. 2 Faltpläne, geb.,<br />

36 DM.<br />

Das Dreigespann Friedrich Nicolai - Samuel Spiker - Robert Springer markiert in der Berlinliteratur<br />

jenen Typus der Stadtbeschreibung, der über die historische Aktualität hinaus auch einen künstlerischen<br />

Wert beanspruchen darf. Die Ausgaben entwickelten sich rasch zu bibliophilen Raritäten;<br />

Zeugen dieser Beliebtheit - heute wie vor 50 Jahren - sind die Nachdrucke, die uns in Wort und Bild<br />

das heile, unzerstörte und jetzt weitgehend untergegangene Berlin noch einmal vorführen. Besonders<br />

der Letztgenannte kann als Experte solcher über den bloßen Sachweiser hinausgehender (und das<br />

„Innenleben" gebührend berücksichtigender) Stadttopographien gelten. Springer (1816—1885) war<br />

ursprünglich Lehrer, wurde dann freier Schriftsteller und Verfasser von historischen Romanen,<br />

Jugendschriften, Kunst- und Literaturfeuilletons und brachte auch einige „Kultur"führer über die<br />

preußische Metropole heraus. Bleibenden Ruhm erlangte er mit dem großen Ansichtenwerk ..Berlin<br />

die deutsche Kaiserstadf, vor genau 100 Jahren erstmals erschienen, dessen „photographisch treue"'<br />

Stahlstiche sowie der Text eine Kompilation früherer Arbeiten darstellen. Zu diesen gehört auch der<br />

Stadtführer von 1861. der jetzt in einer ansprechenden Faksimileausgabe vorgelegt wurde.<br />

Springer beschreibt „die sich wunderbar vergrößernde und zu einer Weltstadt gestaltende Residenz"<br />

auf der Grundlage eigener Anschauung, und dieser subjektive Habitus, oft zeitkritisch bis satirisch<br />

durchsetzt, ist bei der Darstellung eines so vielschichtigen Gebildes nicht ohne Reiz. Die geschichtliche<br />

Retrospektive ist notgedrungen knapp und verzichtet auf die Fischerdorf-Legende (im Gegensatz zur<br />

„Kaiserstadf 1877/1883). Um so ausführlicher ist der Stadtrundgang, der - damals wie heute - am<br />

Brandenburger Tor beginnt und bis in die letzte Butike mit ihren „wundersam gemischten Gerüchen"<br />

führt. Schlösser und Gärten, Museen, Denkmäler, Institute und Ministerien werden ebenso beschrieben<br />

wie das Interieur von Gerson's Bazar am Werderschen Markt oder die Raufereien beim Bockbierfest.<br />

Erstaunt liest man von der Schnelligkeit der neu organisierten Feuerwehr und von den 122<br />

Briefkästen in der Stadt, die stündlich (!) geleert wurden, doch alle Wehmut ist verflogen bei der<br />

Nachricht, daß zur Aufgabe einer telegraphischen Depesche „zwei glaubwürdige Zeugen" beizubringen<br />

waren und daß Zahnärzte „nur für die wohlhabende Klasse" existierten. Überhaupt stellt die<br />

Trennung der Stände und Klassen innerhalb der Berliner Bevölkerung für den Autor noch ein großes<br />

Problem dar, das er mit Sarkasmen überspielt. Die isolierte Stellung des Bürgertums sei äußerlich<br />

erst durch die Errichtung der Eisenbahnen, innerlich aber durch die - Einfuhr des bairischen Bieres<br />

gebessert worden. Ob gärungstechnisches Phänomen, ob Konzilianz gegenüber den Erzeugnissen<br />

unserer süddeutschen Stammesbrüder : Lassen wir es stehen als Pointe in einem ebenso grundsoliden<br />

wie ergötzlichen Buch, dem viele nur scheinbar unbekannte Seiten unserer Altvorderen an der Spree<br />

zu entlocken sind. Peter Letkemann<br />

Walter Artelt und Edith Heischkel-Artelt (Hrsg.): Christian IMentzel und der Hof des Großen Kurfürsten<br />

als Mittelpunkt weltweiter Forschung. Hildesheim: Georg Olms Verlag 1976. 176 S., brosch..<br />

50 - DM.<br />

Am 24. und 25. Juni 1975 fand in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz<br />

unter der Leitung unseres im vergangenen Jahr verstorbenen Mitgliedes Walter Artelt ein Symposium<br />

statt, dessen Vorträge nun als Doppelheft des Medizinhistorischen Journals und als separate Veröffentlichung<br />

vorliegen.<br />

Walter Artelt hatte sich schon vor mehr als 40 Jahren zum ersten Mal mit der Person des brandenburgischen<br />

Leibarztes Christian Mentzel befaßt. In seinem einführenden Bericht schildert er die Rolle,<br />

die dieser in Berlin spielte, und geht auf die Forschungen zu dessen so unterschiedlichen Werk ein.<br />

das Medizinisches und Botanisches ebenso umfaßt wie Studien zur Chemie und zur chinesischen<br />

Sprache. Letzten Anstoß zu dem Symposium gab die Ausstellung „China in Europa", die von Septem-<br />

396


er bis November 1973 im Schloß Charlottenburg stattfand und die zeigte, wieviele Wissenschaftler sich<br />

mit Christian Mentzel beschäftigten und von welch verschiedenen Seiten aus man an die Probleme<br />

heranging.<br />

Von dieser Vielfalt ist auch der vorliegende Band geprägt. Der Kunsthistoriker Enrico Schaeffer<br />

(Sao Paulo) untersucht in seinem Beitrag „Die Ausbeute der Brasilien-Expedition von Johann Moritz<br />

von Nassau und ihr Niederschlag in Kunst und Wissenschaft" die Bilder, die Albert Eckhout,<br />

Zacharias Wagener und Frans Post in Brasilien malten, deren Schicksale und die Rolle, die Christian<br />

Mentzel bei der Ordnung der 1460 im Besitz des Großen Kurfürsten befindlichen Blätter gespielt hat.<br />

Lieselotte Wiesinger (Berlin) weist in ihren Untersuchungen „Erhaltene Abbildungen verschollener<br />

Zeichnungen des 17. Jahrhunderts aus Brasilien" des „Theatrum rerum naturalium Brasiliense" - so<br />

der Titel der von Mentzel in 4 Bänden zusammengefaßten brasilianischen Gemälde - und weiterer<br />

Handschriften von der Expedition nach Brasilien, die erhaltenen Abbildungen der seit dem Krieg<br />

verschollenen Handschriften nach. Ob unter den vor kurzem in Polen gefundenen Beständen, die im<br />

Krieg von Berlin nach Kloster Grüssau ausgelagert waren, auch die hier besprochenen Handschriften<br />

sind, ist ungewiß.<br />

Der niederländische Medizinhistoriker Daniel de Moulin umreißt in seinem Artikel „Medizin und<br />

Naturwissenschaft in Brasilien zur Zeit der Verwaltung des Grafen Johann Moritz von Nassau-<br />

Siegen" den Stand der Heilkunde im 17. Jahrhundert in Südamerika und die Verbindungen von dort<br />

zu Europa. Madeleine Jarry (Paris) den Einfluß, den die Zeichnungen aus Übersee auf die Gestaltung<br />

der Wandteppiche hatten: „L'Exotisme au temps de Louis XIV: Tapisseries des Gobelins et de<br />

Beauvais." Am Ende ihres Artikels geht sie auch auf den Einfluß ein, der sich aus dem fernen<br />

Osten, aus China, bemerkbar machte. Der Beziehung Christian Mentzels zum fernen Osten gelten<br />

auch die beiden folgenden Beiträge. Der Medizinalhistoriker Rolf Winau. jetzt in Berlin, stellt in seinem<br />

Beitrag aus „Christian Mentzel. die Leopoldina und der ferne Osten" Mentzels besondere Bedeutung<br />

für die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse aus Amboina, Japan und China heraus.<br />

Mentzel sorgte nicht nur dafür, daß von einer Reihe von befreundeten Männern in fernen Osten Nachrichten<br />

nach Europa kamen, er sorgte auch für deren Veröffentlichung im Rahmen der Akademie<br />

der Naturforscher Leopoldina. Eva Kraft, Sinologin an der Staatsbibliothek, zeigt in ihrem Aufsatz<br />

„Frühe chinesische Studien in Berlin", daß Berlin mit Andreas Müller und Christian Mentzel ein<br />

frühes Zentrum der Chinaforschung in Europa war. Es gelingt ihr aufgrund eingehender Archivstudien,<br />

ein umfassendes Bild der Sinologie des 17. Jahrhunderts zu entwerfen. Die beiden letzten Beiträge<br />

beschäftigen sich mit Johann Kunckel und den von ihm hergestellten Rubingläsern. H. Günter Rau<br />

berichtet über seine Ausgrabungen auf der Pfaueninsel, auf der Kunckels Laboratorium stand;<br />

Gerhard Schulze, Chemiker an der TU, über die chemische Untersuchung einiger Gläser aus diesem<br />

Laboratorium.<br />

Der Band gibt einen guten Einblick in Wissenschaft und Kultur am Hofe des Großen Kurfürsten.<br />

Er zeigt darüber hinaus, daß interdisziplinäre Forschung, wie sie zu Mentzels Zeit noch selbstverständlich<br />

war, notwendig ist. um das komplexe Bild einer Zeit entstehen zu lassen.<br />

Walter Hoff man- Axthelm<br />

Sichelschmidt, Gustav (Hrsg.): Berlin 1900. Die Reichshauptstadt in Holzstichen der Jahrhundertwende.<br />

Berlin: Rembrandt Verlag 1977. 64 S. 60 Abb. Leinen. 28,80 DM.<br />

Nach dem bereits in den „Mitteilungen". Jg. 72 (1976), H. 3, S. 197, von P. Letkemann besprochenen<br />

Bilderalbum „Berlin vor hundert Jahren" hat der Rembrandt Verlag einen weiteren Bildband mit Holzstichen<br />

aus der Zeit um die Jahrhundertwende herausgebracht. Die Abbildungen der durch die<br />

Fortschritte der Reproduktionsverfahren von Fotografien abgelösten Handwerkstechnik üben auf<br />

den Beschauer einen besonderen Reiz aus. der durch die Textwiedergabe teils bekannter, teils vergessener<br />

zeitgenössischer Berlin-Beschreibungen noch erhöht wird. Wie in dem ersten Band handelt<br />

es sich auch hier um eine gelungene Mischung von Architekturabbildungen und Szenen aus dem täglichen<br />

Leben - von der Speisung in einer Volksküche über ein Picknick im Grunewald bis zum Luxus<br />

im Kaufhaus Rudolph Hertzog.<br />

Durch die gute Papierwahl und einen vorzüglichen Druck dürfte dieser Band technisch seinen Vorgängern<br />

noch überlegen sein. Felix Escher<br />

397


Im IV. Vierteljahr 1977<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Rosemarie Armenat, Haushaltshilfe<br />

1000 Berlin 19, Kuno-Fischer-Straße 13<br />

Tel. 3 21 88 (14 (Alice Hamecher)<br />

Lothar Beckmann. Dipl.-Volkswirt<br />

1000 Berlin 37, Beerenstraße 18<br />

Tel. 8 01 73 68 (Brauer)<br />

Heinz Bischoff, Elektromeister<br />

1000 Berlin 42, Riegerzeile 8<br />

Tel. 7 06 89 99 (Brauer)<br />

Helga Bressani, Hausfrau<br />

3280 Bad Pyrmont, Seitenweg 21<br />

Tel. (0 52 81) 53 16 (Pfarrer Hahn)<br />

Heinz Dettmann. Beamter<br />

1000 Berlin 45, Bahnhofstraße 32<br />

Tel. 7 72 82 21 (Günter Schultz)<br />

Karl-Heinz Fischer, Dokumentator<br />

1000 Berlin 19, Königin-Elisabeth-Straße 20<br />

Tel. 3 02 12 37 (Jürgen Grothe)<br />

Ingrid Friedrich. Rentnerin<br />

1000 Berlin 20, Heerstraße 406<br />

Tel. 3 637124 (Brauer)<br />

Dr. Dr. Edith Heischkel-Artelt.<br />

o. em. Universitätsprof.<br />

6000 Frankfurt/Main, Adolf-Reichwein-Str. 24<br />

Tel. (06 11) 56 34 64 (Vorsitzender)<br />

Dr. Wolfgang Hofmann, Hochschullehrer<br />

1000 Berlin 33. Menzelstraße 4a<br />

Tel. 8 25 65 65 (Dr. Letkemann)<br />

Wolfgang Klempin. Rechtsanwalt und Notar<br />

1000 Berlin 33, lhnestraße 55<br />

Tel. 8 01 45 27 (RA Gerh. Asch)<br />

Robert Kullmann, Beamter<br />

1000 Berlin 19. Kaiserdamm 9<br />

Tel. 3 21 36 06 (Solmsdorf)<br />

Voranzeige einer Veranstaltung im IL Quartal 1978<br />

Joachim-Hans Raehmel, Industriekaufmann<br />

1000 Berlin 37. Sophie-Charlotte-Straße 33<br />

Tel. 8 13 82 86 (Brauer)<br />

Günter-Heinz Restel, Beamter<br />

1000 Berlin 44, Briesestraße 33<br />

Tel. 6 86 47 67 (Günter Schultz)<br />

Gerhard Roder, Chefdekorateur<br />

1000 Berlin 33, Auerbacher Straße 2<br />

Tel. 8 91 11 76 (Brauer)<br />

Michael Rudolph, Student paed.<br />

1000 Berlin 49, Bohnstedtstraße 20<br />

Tel. 7 46 36 82 (Bettina Kriewall)<br />

Erich Starick, Rentner<br />

1000 Berlin 47, Neuköllner Straße 310<br />

Tel. 66 54 82 (RA Gerh. Asch)<br />

Jürgen Stöber, Kaufm. Angestellter<br />

1000 Berlin 13, Schuckertdamm 332<br />

Tel. 3 81 88 84 (Walter Blenn)<br />

Dr. Johannes Stumm, Polizei-Präsident a. D.<br />

1000 Berlin 33, Menzelstraße 14<br />

Tel. 8 26 32 00 (Oschilewski/Brauer)<br />

Dr. Otto Uhlitz, Senatsdirektor a.D., RA<br />

1000 Berlin 19. Westendallee 71<br />

Tel. 3 21 62 72 (Dr. Letkemann)<br />

Gerda Vetter, Grafikerin<br />

1000 Berlin 42, Wolframstraße 39<br />

Tel. 7 53 20 22 (Brauer)<br />

Dr. Erika Widera, Oberstudienrätin a.D.<br />

1000 Berlin 41, Telramundweg 15<br />

Tel. 7 71 77 71 (RA Gerh. Asch)<br />

Klaus Wiedemann, Elektromechaniker<br />

6203 Hochheim, Flörsheimer Straße 24<br />

(Brauer)<br />

An den Sonnabenden 8. April. 15. April und 6. Mai 1978 besteht die Möglichkeit für jeweils 20 Personen,<br />

das Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam zu besichtigen. Die Führung findet durch den Leiter<br />

des Archivs. Herrn Bibliotheksrat Joachim Schobeß, statt. Nach dem Mittagessen im Interhotel ist ein<br />

Spaziergang durch das Sanierungsgebiet am Brandenburger Tor zur Friedenskirche und zum Schloß<br />

Sanssouci vorgesehen.<br />

Schriftliche Anmeldung mit Angabe der genauen Teilnehmerzahl bis zum 1. März 1978 an:<br />

Herrn Joachim Schlenk, Potsdamer Straße 40,1000 Berlin 45.<br />

Die Anmeldung muß die genaue Anschrift, die Telefonnummer, den Hinweis der Anfahrt (Bus,<br />

eigener Pkw oder Mitfahrer bei. . .) und den gewünschten Termin (Ersatztermin angeben) enthalten.<br />

Die Teilnehmer an diesen Fahrten erhalten dann von Herrn Schlenk im Monat März eine Benachrichtigung<br />

mit genauen Informationen.<br />

398


Die Veröffentlichungen des Vereins<br />

Von den früheren Ausgaben des Jahrbuchs<br />

DER BÄR VON BERLIN<br />

sind folgende Bände noch erhältlich:<br />

1953, 1957/58 und 1960 je 4,80 DM; 1961 bis 1964 je 5,80 DM; 1965 (Festschrift)<br />

38,- DM; 1968 und 1969 je 9,80 DM; 1971 und 1972 je 11,80 DM;<br />

1973 bis 1975 je 12,80 DM; 1976 und 1977 je 18,50 DM.<br />

MITTEILUNGEN<br />

des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

erscheinen vierteljährlich im Umfang von 32 Seiten. Sie enthalten in der<br />

Regel mehrere Artikel mit Themen zur Berliner Geschichte (mit Abbildungen),<br />

Nachrichten zu aktuellen Anlässen und aus dem Vereinsleben,<br />

Buchbesprechungen und das Programm der laufenden Veranstaltungen<br />

des Vereins.<br />

Einzelhefte aus früheren Jahrgängen sind zum Stückpreis von 4,- DM<br />

noch erhältlich.<br />

Von der neuen Folge der<br />

Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

sind bisher erschienen:<br />

Heft 59: Johann David Müller, Notizen aus meinem Leben (1973)<br />

Preis 9,80 DM<br />

Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing, Königin Elisabeth von Preußen. (1974)<br />

Preis 11,80 DM<br />

Heft61: Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen<br />

Geschichte von Berlin-Brandenburg. (1977)<br />

Konrad Kettig, Goetheverehrung in Berlin. Ein Besuch von<br />

August und Ottilie von Goethe in der preußischen Residenz1819.<br />

(1977) Preis 16,80 DM<br />

Alle Preise zuzüglich Porto<br />

Bestellungen sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten:<br />

Albert Brauer. Blissestraße 27,1000 Berlin 31


Veranstaltungen im I. Quartal 1978<br />

1. Dienstag. 17. Januar 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger<br />

als Einführung für die Besichtigung des Märkischen Museums: „Zur Geschichte<br />

des Märkischen Museums*'. Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

2. Sonnabend. 21. Januar 1978, 10 Uhr: Besichtigung des Märkischen Museums. Am<br />

Köllnischen Park 5. Nähe S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Führung durch Herrn Direktor<br />

Dipl.-Phil. Herbert Hampe.<br />

(Antrag auf Gewährung eines Berechtigungsscheines für Berlin, Übergang Friedrichstraße<br />

für Fußgänger, in einem Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten bis zum<br />

16. Januar 1978 stellen.)<br />

3. Sonnabend. 4. Februar 1978, 10 Uhr: Wanderung durch den Winterwald in den Hellen<br />

Bergen in Gatow. Leitung: Forstoberinspektor Hans-Joachim Gillmeister. Treffpunkt:<br />

Bushaltestelle Breitehornweg, Busse: 34 und 35.<br />

4. Dienstag, 14. Februar 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Gerhard<br />

Kutzsch: „Berlin vor 50 Jahren." Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

5. Freitag, 17. Februar 1978, 18 Uhr: Traditionelles Eisbeinessen anläßlich des 113. Jahrestages<br />

der Gründung unseres Vereins. Restaurant der Hochschul-Brauerei, 1000 Berlin<br />

65, Amrumer Straße 31, Ecke Seestraße. (U-Bahnhof Amrumer Straße, Busse 16,<br />

64,65,89.)<br />

6. Dienstag, 7. März 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Arturo Walb: „Das<br />

Eisen im Berliner Stadtbild." Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Dienstag, 14. März 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Heinz Rütz: „Steinerne<br />

Zeugen auf Berliner Friedhöfen - Ein Stück Kunst- und Kulturgeschichte Berlins."<br />

Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek ist<br />

zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 27. Januar, 24. Februar und 31. März 1978 zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Bitte beachten Sie auch die Voranzeige auf Seite 398.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27. Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße<br />

13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister: Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung Claus P. Mader. 1000 Berlin 4L Bismarckstraße 12; Felix Escher.<br />

Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM<br />

jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000Berlin49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

400


~ICCL&ÖT üariin »s ^tu^wtwuvu'icK<br />

A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS^<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

74. Jahrgang Heft 2 April 1978<br />

Nach der Radierung<br />

von Otto Sager<br />

401


Gustav Stresemann 1878-1929<br />

Zum Gedenken an seinen hundertsten Geburtstag am 10. Mai 1978<br />

Von Prof. Dr. Michael Erbe<br />

Stresemann ist der einzige unter den Großen der deutschen Politik, die nicht nur in Berlin<br />

gewirkt haben, sondern auch in Berlin geboren worden sind, ja mehr noch: insofern „echte"<br />

Berliner waren, als sie einer alteingesessenen Berliner Familie entstammten.<br />

Gustav Stresemann wurde am 10. Mai 1878 im Mietshaus Köpenicker Straße Nr. 66 (Ecke<br />

Brückenstraße) - also im heutigen Bezirk Mitte - geboren. Er war das jüngste Kind des<br />

Bierwirtschaftsbesitzers Ernst Stresemann, der außerdem mit Weißbier handelte, und von<br />

dessen früh verstorbenen Frau Mathilde. Die „unfeine" Abkunft ist ihm von Honoratiorenkreisen<br />

später nicht selten vorgehalten worden, wobei man nicht ohne Ironie das Thema<br />

seiner Dissertation über die Entwicklung des Flaschenbierhandels in Berlin glossierte.<br />

Heute würde man ihn eher anerkennend als Selfmademan aus dem unteren Mittelstand<br />

bezeichnen.<br />

Wichtig für die Formung seiner politischen Ansichten war vor allem die liberale Tradition<br />

des Elternhauses. Der Großvater Stresemanns hatte 1848 aktiv an der Revolution in<br />

Berlin mitgewirkt, und auch der Vater dachte eher linksliberal und war ein Anhänger<br />

Eugen Richters. Wenn Gustav Stresemann auf dem Gipfel seiner politischen Laufbahn mit<br />

seiner eigenen Partei in Konflikt geriet, so spielen dabei sicherlich auch Vorstellungen mit,<br />

die sich im Elternhaus ausgeprägt haben, auch wenn seine lange Zeit ausgesprochen<br />

nationalliberale Orientierung diese über Jahre hinweg zu verdecken schien.<br />

Da der junge Gustav früh eine ungewöhnliche Begabung erkennen ließ, war der Vater<br />

gewillt, ihm eine bessere Schulbildung angedeihen zu lassen, als in seinen Kreisen sonst<br />

üblich war. Die nahe gelegenen Gymnasien, das Köllnische und das Leibniz-Gymnasium<br />

(in der Inselstraße bzw. am Mariannenplatz), waren allerdings überfüllt, und so wurde der<br />

junge Stresemann schließlich auf das Andreas-Realgymnasium in der Koeppenstraße<br />

geschickt, das etwas weiter entfernt lag, aber doch über die Schillingbrücke und am Schlesischen<br />

Bahnhof vorbei verhältnismäßig rasch zu erreichen war, wenn man die Lange Straße<br />

kreuzte und zum Grünen Weg (jetzt Singerstraße) hin lief. Hier legte Stresemann 1897<br />

zusammen mit sechs Klassenkameraden das Abitur ab.<br />

In seinem Abiturientenlebenslauf schreibt er, daß er nach dem Abschluß der Schulzeit „in<br />

erster Linie Literatur und Geschichte, in zweiter Philosophie und Nationalökonomie<br />

studieren" wollte 1 . Trotz ausgesprochener Vorliebe für die Geschichte und obwohl seine<br />

Lehrer durchaus damit rechneten, ihn in nicht allzuferner Zukunft als Kollegen begrüßen<br />

zu können, wandte sich Stresemann allerdings bald der Nationalökonomie zu. Die Anregungen<br />

dazu mögen neben dem in der Familie herrschenden praktischen Sinn die bedeutenden<br />

Vertreter dieses Faches gegeben haben, die damals an der Berliner Universität<br />

lehrten: Gustav Schmoller (1838- 1917), Adolph Wagner (1835-1917) und Ignaz Jastrow<br />

(1856 — 1937), wobei eine Gelehrtenpersönlichkeit wie Schmoller leicht den Weg von der<br />

Historie zur Volkswirtschaft - und umgekehrt - zu weisen vermochte. Unmittelbaer scheint<br />

Stresemann indessen in dieser Hinsicht durch einen „alten Herrn" seiner Burschenschaft<br />

„Neo-Germania" beeinflußt worden zu sein, der in der Wirtschaft tätig war. Die Burschenschaft<br />

„Neo-Germania" hat den Studenten überhaupt stark mitgeprägt. Sie gehörte<br />

402


zu jener Richtung der deutschen Burschenschaften, die sich dem langsam üblich werdenden<br />

antisemitischen Kurs und dem Überbetonen von Äußerlichkeiten wie Kneipabenden<br />

und Mensurenschlagen nicht anschloß, die diese studentische Bewegung allmählich zur<br />

Karikatur ihres einstigen Selbst entarten ließen. Stresemann wurde im zweiten Semester<br />

zum Sprecher seiner Burschenschaft gewählt und setzte u.a. durch, daß 1898 anläßlich der<br />

50-Jahr-Feier zu Ehren der Märzgefallenen eine Abordnung der „Neo-Germania" an den<br />

Gräbern der „Achtundvierziger'" im Friedrichshain einen Kranz niederlegte.<br />

Sein Studium hat Stresemann indessen nicht an der Friedrich-Wilhelms-Universität beendet,<br />

sondern in Leipzig bei dem bedeutenden Nationalökonomen Karl Bücher (1847 bis<br />

1930). Auch bei der Hinwendung zu diesem Lehrer dürfte dessen Offenheit für die Historie<br />

eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Bücher lenkte seine Studien auf Probleme des<br />

Mittelstandsgewerbes, für die Stresemann seine Berliner Lebenserfahrungen verwerten<br />

konnte. Neben der Doktorarbeit über den Flaschenbierhandel entstand so ein Aufsatz über<br />

Entstehung, Entwicklung und Bedeutung von Warenhäusern, die Bücher in die von ihm<br />

herausgegebene Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft veröffentlichte 2 .<br />

Der frischgebackene Doktor der Nationalökonomie hatte das Glück, bereits 1901 eine<br />

Stellung als Assistent in der Geschäftsleitung des „Verbandes Deutscher Schokoladenfabrikanten"<br />

zu finden. Organisatorisches Geschick und der planerische Weitblick eines<br />

geborenen „Managers" ließen ihn bald zum Promoter der Schaffung eines sächsischen<br />

Unternehmer-Dachverbandes werden, wobei er als Syndikus dieses „Verbandes Sächsischer<br />

Industrieller" in Dresden (1902 — 1918) und bald zugleich als Mitglied des Präsidiums<br />

des „Bundes der Industriellen" in Berlin rasch Karriere machte.<br />

Die Politik hatte ihn schon als Student angezogen, und mehr und mehr wandte er sich jetzt<br />

dem politischen Geschehen zu. Zunächst hatte er sich Friedrich Naumanns (1860—1919)<br />

Nationalsozialen Verein angeschlossen, folgte allerdings 1903 dem Anschluß an die Freisinnigen<br />

nicht 3 . Sein durchaus vorhandener Instinkt für die echten Machtverhältnisse<br />

brachte ihn bald zu den in Sachsen nicht einflußlosen Nationalliberalen, rhetorische Begabung<br />

und Verhandlungsgeschick ließen ihn rasch in die Spitze dieser Partei aufsteigen.<br />

1906 war er Stadtverordneter in Dresden, dann folgte eine steile, nur kurz von 1912 bis<br />

1914 unterbrochene Karriere als Reichstagsabgeordneter (1906 — 1912 und 1914 bis<br />

1918), wo er bald nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges zum zweiten Mann der<br />

nationalliberalen Fraktion nach dem Parteiführer Ernst Bassermann (1854—1917) aufrückte,<br />

dessen Nachfolger er 1917 wurde. In den Kriegsjahren hat Stresemann allerdings<br />

eine politische Richtung verfolgt, die seiner Politik als Reichskanzler und Reichsaußenminister<br />

ab 1923 diametral entgegengesetzt war und das Verständnis seiner Persönlichkeit<br />

dem Historiker bis heute zu einem schweren Problem macht. Denn Stresemann war im<br />

ersten Weltkrieg einer der Wortführer einer alldeutsch orientierten Siegfriedenspolitik und<br />

Verfechter weitgehender Annexionen zu Lasten der Feindmächte, einer der Hauptbefürworter<br />

des unbeschränkten U-Boot-Krieges und einer derjenigen, die den Sturz des<br />

Reichskanzlers Bethmann-Hollweg betrieben, durch den die unheilvolle Richtung der<br />

Politik des wilhelminischen Reiches unwiderruflich festgeschrieben wurde.<br />

Die Umorientierung fiel nach der Niederlage um so schwerer, und sie ist erst unter der<br />

Bürde der Verantwortung, die 1923 die Reichskanzlerschaft mit sich brachte, endgültig<br />

vollzogen worden. Die Vereinigung der Nationalliberalen und der Fortschrittlichen Volkspartei<br />

zu einer großen liberalen Partei, nach der Spaltung des deutschen Liberalismus im<br />

Jahre 1866 gewissermaßen eine WiderVereinigung, die das Geschick der Weimarer<br />

403


Republik vielleicht hätte positiv beeinflussen können, scheiterte im Dezember 1918 mit<br />

daran, daß man den rechtslastigen Stresemann weder ganz aus allen Parteifunktionen ausschalten,<br />

noch ihn seitens der Linksliberalen mit einem einflußreichen Amt betrauen<br />

wollte. Neben der Deutschen Demokratischen Partei, der Partei Naumanns, Max Webers,<br />

Ernst Troeltschs und Hugo Preuß', entstand so im wesentlichen als Interessenvertretung der<br />

deutschen Großindustrie die Deutsche Volkspartei, deren Führer Stresemann bis zu seinem<br />

Tode war, obgleich es ihm nach 1923 zunehmend schwerer fiel, sie auf der Linie seiner<br />

inzwischen völlig gewandelten politischen Einstellung zu halten. Seit 1903 war Stresemann<br />

mit der Tochter einer wohlhabenden Berliner Bürgerfamilie, Käte Kleefeld, verheiratet, die<br />

der Rassenfanatismus des NS-Regimes zur Emigration nötigte (aus dieser Ehe stammt der<br />

seit langem als Intendant der Berliner Philharmoniker tätige Wolfgang Stresemann). Die<br />

Familie bewohnte seit 1907 eine Wohnung in der Tauentzienstraße 12 a in Charlottenburg<br />

nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (das Grundstück ist Teil des Areals, auf dem<br />

sich jetzt das Europa-Center erhebt). Später wohnte sie im Gebäude des Auswärtigen<br />

Amtes in der Wilhelmstraße.<br />

Stresemanns nur hunderttägige Amtszeit als Reichskanzler vom August bis zum November<br />

1923 kennzeichnet mit der bedingungslosen Aufgabe des Ruhrkampfes, der Reichsexekution<br />

gegen verschiedene Länder, der Überwindung des Hitlerputsches in München<br />

und der Stabilisierung der Reichsmark die Wende zu den „besseren Jahren" der Weimarer<br />

Republik. Sein Name ist aber vor allem verknüpft mit der Neuorientierung der deutschen<br />

Außenpolitik, die sich bereits während der Amtszeit des im Juni 1922 ermordeten Außenministers<br />

Walther Rathenau abzeichnete, nämlich der Politik des Eingehens auf die Forderungen<br />

der Siegermächte des Weltkrieges, vor allem Frankreichs, mit dem Ziel, auf der<br />

Grundlage eines auf diese Weise allmählich aufgebauten gegenseitigen Vertrauens eine<br />

möglichst weitgehende Revision der für Deutschland ungünstigen Bedingungen des<br />

Versailler Vertrages zu erreichen. Es ist dies eine Grundhaltung, die von einem anderen<br />

lange Zeit in Berlin wirkenden Staatsmann in den sechziger Jahren mit dem Schlagwort<br />

„Wandel durch Annäherung" umrissen wurde: beide Male erwuchs daraus eine Änderung<br />

der Außenpolitik, beide Male war diese Änderung heftig umstritten, schienen Erfolge sich<br />

nicht im erwarteten Maße einzustellen; beide Male aber auch sind die Träger dieser Politik<br />

mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden - Stresemann erhielt ihn 1926 gemeinsam<br />

mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand - eine Ehrung, die sonst keinem<br />

aktiven deutschen Politiker zuteil geworden ist.<br />

Die Etappen der Außenpolitik Stresemanns sind bekannt: Dawesplanabkommen 1924,<br />

Locarnoverträge mit Grenzgarantien 1925, Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund<br />

und Einräumung eines ständigen Sitzes im Völkerbundsrat 1926, Unterzeichnung des<br />

Kriegsächtungspaktes 1928, Youngplanabkommen 1929. Gewinn dieser Politik waren -<br />

wenigstens zeitweise — wirtschaftliche Stabilisierung, vorzeitige Räumung der besetzten<br />

Rheinlande, Regelung des Reparationsproblems zu wenigstens halbwegs erträglichen<br />

Bedingungen und Rückkehr Deutschlands in die Völkerfamilie, Orientierung nach<br />

„Westen", soweit dies damals möglich war und angesichts des im Vergleich zu heute ganz<br />

anders gearteten Verhältnisses zum östlichen Europa deutscherseits überhaupt gewünscht<br />

wurde. Die von Stresemann getragene deutsche Außenpolitik der zwanziger Jahre und die<br />

inzwischen zur Legende gewordene Offenheit der „Weltstadt" Berlin - das ja nur in den<br />

zwanziger Jahren wirklich diesen Titel beanspruchen konnte — stehen durchaus zueinander<br />

in einer Wechselbeziehung.<br />

404


Grabstätte auf dem<br />

Luisenstädtischen<br />

Friedhof<br />

Am Südstern<br />

(Foto: Ellen Brast,<br />

1978)<br />

Der Preis, den der Außenminister im Kampf um die Durchsetzung seiner Politik - selbst in<br />

der eigenen im Grunde immer „rechts" gebliebenen Partei — zahlte, war die völlige, vorzeitige<br />

Zerrüttung seiner Gesundheit. Die dauernde Überbeanspruchung seiner Arbeitskraft<br />

führte zum körperlichen Zusammenbruch und am 3. Oktober 1929 zum tödlichen<br />

Schlaganfall. Der Leitartikel der Abendausgabe der Vossischen Zeitung von diesem Tage<br />

trug neben der Überschrift „Ein großer Deutscher" den geradezu prophetischen Untertitel<br />

„Mehr als ein Verlust: ein Unglück". Es steckt eine tiefe Symbolik darin,<br />

daß im gleichen Monat der New Yorker Börsenkrach die Weltwirtschaftskrise einläutete,<br />

die die Weimarer Republik mit in den Untergang riß. Wie früh Stresemann dem politischen<br />

Leben entrissen wurde, zeigt die Tatsache, daß es nicht wenigen Männern seiner Generation<br />

vergönnt war, ihre Erfahrungen aus der Weimarer Zeit noch der jungen Bundesrepublik<br />

Deutschland zuteil werden zu lassen; ja, deren erster Kanzler und Außenminister<br />

war sogar zwei Jahre älter als Gustav Stresemann.<br />

Umstritten, wie er im Leben war, ist Stresemann auch unter den Historikern, die sich<br />

später mit ihm beschäftigt haben 4 . Die Stresemann-Forschung hat erst in den fünfziger<br />

Jahren eingesetzt, als bekannt wurde, welchen Umfang der Nachlaß besaß, der 1945 mit<br />

den Akten des Auswärtigen Amtes in die Hände der Amerikaner und Briten gefallen war.<br />

Von den über 300 Bänden mit über 10 000 beschriebenen Seiten, die sich jetzt im Archiv<br />

des Auswärtigen Amtes in Bonn-Bad Godesberg befinden, war zuvor nur ein Bruchteil<br />

publiziert worden 5 . Was bekannt war, lenkte den Blick vor allem auf die Westpolitik<br />

405


Stresemanns, und so war es kein Wunder, daß er als Vater der westorientierten Politik<br />

der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren interpretiert und mit Briand sogar zum Vorkämpfer<br />

des Europa-Gedankens emporstilisiert wurde 6 . Als eine genauere Durchsicht der<br />

Akten ergab, daß Stresemann auch nach Osten, so mit Moskau, politisch aktiv geworden<br />

war und er — scheinbar zynisch — des öfteren betont hatte, es gehe ihm in erster Linie um<br />

die Wiedererlangung von Deutschlands Großmachtstellung, wurde dagegen das Bild des<br />

nationalistischen Revisionisten und Opportunisten, der seine Haltung im Weltkrieg nie<br />

aufgegeben habe, gezeichnet 7 . Daß wir bis heute über keine wissenschaftlichen Anforderungen<br />

genügende biographische Gesamtdarstellung verfügen und eine solche wohl auch<br />

das Stresemann-Jahr 1978 nicht bringen wird, liegt einmal an der Quellenlage und zum<br />

anderen an dem bis heute nicht überwundenen Widerstreit der Historiker.<br />

Im Grunde aber muß man beiden „Parteien" unter den Zeitgeschichtsforschern vorwerfen,<br />

daß sie Stresemann lange zu wenig aus seiner Zeit heraus verstanden haben. Die zwanziger<br />

Jahre waren für eine Verbreitung des Europa-Gedankens nach 1950 noch nicht reif, und<br />

selbst die Europa-Idee ist ja seit de Gaulle einem Wandel unterworfen worden. Stresemanns<br />

Ziel war eingestandenermaßen die Revision von Versailles und die Wiederherstellung der<br />

deutschen Großmacht. Aber dieses Ziel sollte mit friedlichen Mitteln und mit Hilfe einer<br />

Politik geduldigen Abwartens und Verhandeins erreicht werden, einer Politik, die erst im<br />

Verlauf der späten dreißiger Jahre hätte Früchte tragen können. Eine so ins Spiel der<br />

europäischen Politik wiedereingepaßte Großmacht Deutschland hätte - angesichts des sich<br />

abzeichnenden Übergewichts der Supermächte — gemeinsam mit den anderen europäischen<br />

Mächten später ein - wie immer - geeintes Europa zur gegebenen Zeit aufbauen können,<br />

ja wohl auch müssen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Welt heute anders aussähe,<br />

wäre Stresemanns Politik weiterverfolgt worden. Vor allem wäre seiner Heimatstadt<br />

das bittere Schicksal erspart geblieben, das ihr die Jahre 1933 bis 1945, 1948/49, 1953 und<br />

1961 gebracht haben.<br />

Anschrift des Verfassers: Ringstraße 23, 1000 Berlin 28<br />

1 Gustav Stresemann: Schriften, hrsg. v. Arnold Harttung, Berlin 1976, S. 1 —10, vgl. S. 8.<br />

2 Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts. Eine wirtschaftliche Studie, Berlin 1900<br />

(zugleich phil. Diss. Leipzig 1900). Die Warenhäuser, ihre Entstehung, Entwicklung und volkswirtschaftliche<br />

Bedeutung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 56 (1900), S. 696 — 733.<br />

3 Dieses Aufsagen der Gefolgschaft mag letztlich der Grund für die recht negative Beurteilung<br />

Stresemanns durch einen großen „Wahlberliner", nämlich Theodor Heuss, sein; vgl. dessen „Erinnerungen<br />

1905-1933", Ausgabe Frankfurt/M. 1965, S. 182 ff.<br />

4 Zur Stresemann-Literatur Gerhard Zwoch: Gustav-Stresemann-Bibliographie, Düsseldorf 1953<br />

und Martin Walsdorff: Bibliographie Gustav Stresemann, Düsseldorf 1972; außerdem Karl Dietrich<br />

Erdmann in Gebhardt-Grundmann: Handbuch der deutschen Geschichte, 9. April, Bd. 4/1,<br />

Stuttgart 1973, S. 247.<br />

5 Vor allem: Gustav Stresemann: Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden, hrsg. v. Henry Bernhard,<br />

Wolfgang Goetz und Paul Wiegler, Berlin 1932—1933. Zum Problem dieser Auswahl u.a.<br />

Edward H. Carr: Was ist Geschichte?, Stuttgart 1963, S. 16-19.<br />

6 Besonders deutlich bei Martin Göhring: Stresemann. Mensch - Staatsmann - Europäer, Wiesbaden<br />

1956.<br />

7 So in verschiedenen Aufsätzen besonders Hans W. Gatzke und Anneliese Thimme; vgl. deren Buch:<br />

Gustav Stresemann. Eine politische Biographie zur Geschichte der Weimarer Republik, Hannover<br />

1957.<br />

406


Herman Grimm zum 150. Geburtstag<br />

6. Januar 1828 bis 16. Juni 1901<br />

Von Hans Joachim Mey<br />

Einst Repräsentant des klassisch-romantischen Deutschlands, nach der Gründung des<br />

Reiches oft berufener Zeuge des Geistes von Weimar, überkommt uns Heutige bei der<br />

Erinnerung an den Sohn Wilhelm Grimms und den Neffen Jacobs ein Gefühl der Überraschung<br />

und Verwunderung. Dennoch: Persönlichkeit und Wirken dieses Mannes haben<br />

ihre Spuren im geistigen Leben dieser Stadt und weit über sie hinaus hinterlassen. Das in<br />

frühen Mannesjahren entstandene Hauptwerk seiner kunsthistorischen Forschungstätigkeit,<br />

„Das Leben Michelangelos", legt hiervon Zeugnis ab, Zeugnis von einer außerordentlichen<br />

künstlerischen und historiographischen Begabung. In seiner Frische und<br />

Unmittelbarkeit zieht es noch heute den Leser in seinen Bann und bestätigt damit jenes<br />

Urteil, das noch in unserem Jahrhundert ausgesprochen wurde: „Genial!"<br />

Das stille, in sich ruhende, in seiner Ausstrahlung so unverwechselbare Elternhaus, das<br />

dennoch von den politischen Entwicklungen und Wechselfällen des Vormärz keineswegs<br />

unberührt blieb, wurde für den äußeren und inneren Weg Herman Grimms bestimmend.<br />

Mit dem Erwachen des ersten, die Grenzen des häuslichen Umkreises überschreitenden<br />

Bewußtseins des Knaben, traf den Vater und Onkel mit den Göttinger Freunden und<br />

Kollegen das Los der Landesverweisung, das Schicksal der „Göttinger Sieben". In einem<br />

sehr späten Rückblick auf jene Jahre sagt Herman Grimm: „Dieses Ereignis hatte seiner<br />

Zeit eine Bedeutung, für die heute das Verständnis schwer ist. Organisierte politische<br />

Parteien im heutigen Sinne existierten damals nicht, sondern die Eidesverweigerung der<br />

Sieben dem neuen Könige von Hannover gegenüber war eine rein menschliche Handlung,<br />

zu der Jedermann aus seinem innersten nationalen Gefühl heraus Stellung nahm. Unser<br />

Haus wurde seitdem von Vielen besucht, die das Wohl des in unbestimmter Zukunft eintretenden<br />

einigen Deutschlands im Herzen trugen. Ich hörte immer wieder darüber sprechen<br />

und wurde, da auch einem Kinde fühlbare wirtschaftliche Folgen eingreifender Art<br />

mit der Dienstentlassung meines Vaters und Onkels verbunden waren, in eine selbständige<br />

Betrachtung des Geschehenden hineingenötigt: ich gewann historische Überzeugungen,<br />

ohne von Geschichte zu wissen, hatte das Gefühl, für mein Teil politische Schicksale des<br />

Vaterlandes mitzuerleben, und sah aus dem beschränkten Kreise meines Daseins auf diejenigen<br />

als Nichtwissende herab, die an den Göttinger Ereignissen und den darauffolgenden<br />

weiteren Schicksalen Jacob und Wilhelm Grimms nicht mit dem Herzen beteiligt<br />

waren."<br />

Blieben indes die Brüder Grimm durch ihre enge freundschaftliche Verbundenheit mit<br />

Clemens Brentano, Achim und Bettina von Arnim, durch nicht abreißende Anhänglichkeit<br />

an den einstigen Lehrer Savigny und die familiär-freundschaftlichen Beziehungen zu<br />

Frankfurt nie ganz ohne Zuspruch in der Verfolgung ihrer Aufgaben und Ziele, so traten<br />

sie mit den Göttinger Geschehnissen in eine Entwicklung ein, die von der breiten Anteilnahme<br />

der Öffentlichkeit gekennzeichnet war. Es überrascht daher nicht, wenn unter der<br />

in diesen Jahren beginnenden Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. auf Betreiben<br />

Bettinens, ihres Schwagers Savigny und mit Hilfe Alexander von Humboldts 1841 die<br />

Berufung der Brüder an die Akademie der Wissenschaften in Berlin erfolgte. Damit schien<br />

407


(Foto: Hess. Staatsarchiv Marburg,<br />

Original im Nachlaß Grimm)<br />

nicht nur in den Augen vieler Freunde das den Brüdern widerfahrene Unrecht zum Guten<br />

gewendet, sondern mehr noch: das Recht auf politische Integrität und Selbstbestimmung<br />

weithin sichtbar bestätigt zu sein. Auch im Hinblick auf die Gelehrtenlaufbahn Jacob und<br />

Wilhelm Grimms kam dem Eintritt in Berlin keine geringe Bedeutung zu: Hier, in unmittelbarer<br />

Verbindung mit den sich lebhaft entfaltenden Wissenschaften und einer sich mehr<br />

und mehr als Zentrum liberaler und nationaler Hoffnungen verstehenden Universität,<br />

öffnete sich ihnen eine Stätte gelehrten Wirkens, deren öffentlich-politische Bedeutung für<br />

das liberale geistige Bürgertum der ersten Jahrhunderthälfte nicht zu übersehen ist.<br />

Mit dem Eintritt der Brüder in das zu neuen Entwicklungen sich anschickende Berlin taten<br />

sich auch für den jungen Herman Grimm Verhältnisse und Dimensionen auf, die in den<br />

folgenden Jahren für seinen geistigen und künstlerischen Entwicklungsgang bestimmend<br />

wurden. Jene Jahre, in denen der junge Mensch seine Zeit und seine Welt an den Idealen<br />

mißt, deren Verwirklichung er — wenn nur für die rechte Wirksamkeit der berufenen Männer<br />

gesorgt ist - unmittelbar für die nächste Zukunft erwartet, — jene Jahre fielen für<br />

Herman Grimm in die Zeit des „Vormärz". Er atmete die Luft der Jahre vor „48", die in<br />

Berlin schon früh von den heraufsteigenden Ereignissen elektrisch aufgeladen war und die<br />

in seiner nächsten Umgebung intensiver noch als sonst zu spüren war: Im täglichen Umgang<br />

mit Bettina konnte er von ihren geistigen und politischen Aktivitäten nicht unberührt<br />

bleiben. Die Unruhe und die oft wegen ihres sozialen und politischen Engagements auftretenden<br />

Konflikte mit den Staatsorganen waren nicht dazu angetan, in Grimm das Gefühl<br />

aufkommen zu lassen, in einer heilen, von keinerlei ungelösten Problemen beunruhigten<br />

Welt zu leben. Ob es Bettina um die Erwirkung eines Gnadenakts beim König für politisch<br />

Verfolgte, um Unterstützung vom Schicksal hart getroffener Frauen, Mütter, Kinder oder<br />

Männer ging, ob es das Ziel ihrer Anstrengungen war, fremde nationale Gruppen vor dem<br />

oft rücksichtslosen Zugriff staatlicher Institutionen zu schützen: immer erfuhr auch Herman<br />

408


Grimm mit aller Schärfe die Frage nach dem Menschen und seinen elementaren Lebensrechten,<br />

wenn er Bettina zusammen mit deren jüngster Tochter Giesela beim Durchfechten<br />

zahlreicher Bataillen am Hof und mit den Behörden zur Seite stand. So erstaunt es nicht,<br />

wenn wir ihn als jungen, frisch immatrikulierten Studenten der Rechte in Bonn die Berliner<br />

Ereignisse von 1848 mit gespannten Erwartungen verfolgen sehen, zu einer Zeit, in der<br />

sein Onkel Jacob - in die Nationalversammlung berufen - in der Frankfurter Paulskirche<br />

an den Ereignissen der Zeit Teil hat.<br />

Nicht weniger bedeutsam wurde für Grimm in diesen Jahren die Persönlichkeit Alexander<br />

von Humboldts: Die herausragende Stellung dieses Mannes am Hofe und in der Berliner<br />

Gesellschaft konnte nicht darüber täuschen, daß man seinem liberalen, fortschrittlichen<br />

Denken, seinen Bestrebungen, Empfehlungen und seinem Umgang von Seiten des Staates<br />

nicht ohne Argwohn begegnete. Doch gerade jenes liberale Denken, jene staunenswerte<br />

Welt- und Lebensoffenheit Humboldts waren es, die Herman Grimm im Verkehr mit diesem<br />

Mann unmittelbar erlebte und die ihn später mit ihm zu einer für Berlin bedeutsamen<br />

kunstpolitischen Unternehmung zusammenführen sollte: der ersten Werkausstellung für<br />

den Maler Peter Cornelius.<br />

In den Jahren nach 1848 läßt Herman Grimm im Cotta'schen Morgenblatt neben Berichten<br />

aus dem Berliner Kulturleben auch die Früchte seiner lyrischen und novellistischen Arbeiten<br />

erscheinen. Auf die vom Publikum und der Kritik mit kühler Zurückhaltung aufgenommene<br />

Aufführung seines „Demetrius" folgt die sich allgemeiner Zustimmung erfreuende<br />

Sammlung seiner Novellen. Die schönste unter ihnen, „Der Landschaftsmaler", noch<br />

vom Geist Arnimscher Romantik durchweht, erscheint als unmittelbarer Ausdruck des<br />

Erlebens jener Jahre, das durch den Freundschaftsbund mit Giesela von Arnim, die 1859<br />

seine Frau wird, und dem Geiger Joseph Joachim geprägt ist.<br />

Indes ist dies bereits die Zeit, in der Herman Grimm die Hinwendung zur eigenen Aufgabe<br />

vollzieht: Als bedeutendste Frucht des Arbeitsernstes dieser Jahre erscheint 1860 -<br />

drei Jahre nach seiner entscheidenden Italienreise - der erste Band seines „Michelangelo".<br />

Mit ihm tritt er als ernstzunehmender Historiker und Interpret der neueren europäischen<br />

Kunst vor die Öffentlichkeit - ein Ereignis, das in der gebildeten Welt der Jahrhundertmitte<br />

keine geringe Beachtung findet. In mühevoller, auf sich selbst gestellter Arbeit an den<br />

noch schwer auffindbaren und zugänglichen Quellen zur Künstlergeschichte gelang es<br />

ihm, ein monumentales Gemälde der politischen, geistigen und künstlerischen Ereignisse<br />

und Bewegungen jenes Jahrhunderts zu entwerfen, in dessen Mittelpunkt beherrschend<br />

der Künstler und Dichter Michelangelo steht. Mit diesem Werk wurde für jede künftige<br />

Michelangelo-Darstellung der Maßstab gesetzt. Es hat sich neben der im gleichen Jahr<br />

erscheinenden „Kultur der Renaissance in Italien" Jacob Burckhardts überzeugend<br />

behauptet.<br />

Bereits in der Zeit vor Erscheinen des „Michelangelo" hatte sich Herman Grimm, angeregt<br />

durch die Begegnung mit den Schriften des amerikanischen Philosophen und Dichters<br />

Ralph Waldo Emerson, dessen Goethe- und Shakespeare-Essays er übersetzte, der literarischen<br />

Form des Essays zugewandt, als dessen namhaftester Begründer in Deutschland er<br />

heute angesehen wird. Grimms Arbeiten stehen im Zeichen einer umfassenden Rezeption<br />

des europäischen Kulturerbes, aus deren Verflechtung und gegenseitiger Wechselwirkung<br />

wiederum die geistige und künstlerische Arbeit der eigenen Nation, die für ihn im Werk<br />

Goethes ihren bleibenden Ausdruck gefunden hat, zur Entfaltung gekommen ist. An den<br />

Gestalten von Lessing, Herder, Goethe und Schiller, den Brüdern Humboldt und den<br />

409


Brüdern Grimm, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Schleiermacher, aber auch von<br />

Schinkel, Schadow und Rauch gewinnen seine Gedanken über den inneren Gang der<br />

Geschichte eindringliche Anschaulichkeit und Überzeugungskraft. In ihnen sucht er der<br />

Öffentlichkeit ein tiefgreifendes Verstehen für die Werke der geistigen Kultur der Vergangenheit<br />

und Gegenwart zu vermitteln. Seiner Bindung an Berlin kommt bei diesem Bemühen<br />

besondere Bedeutung zu: Hier, inmitten einer sich wandelnden Gesellschaft, gilt es<br />

stärker als anderenorts das Bewußtsein für den fortwirkenden Anspruch einer. Überlieferung<br />

wachzuhalten, auf die nach seiner Überzeugung die entscheidenden politischen Wandlungen<br />

der Zeit zurückzuführen sind: Die allen Daseinsprüfungen der Nation standhaltende<br />

Geistesarbeit der vorangegangenen Generationen.<br />

So überrascht es nicht, daß für ihn Berlin der Ort einer Aufgabe wird, die ihren Niederschlag<br />

in dem jahrelangen Bemühen findet, das er auf die geistige Anerkennung zweier<br />

Künstler und der Würdigung ihres Werkes durch die Öffentlichkeit wendet: Karl Friedrich<br />

Schinkel und Peter Cornelius.<br />

Zwei Momente bestimmten für Grimm die Bedeutung Schinkels: das der inneren Verarbeitung<br />

und Anverwandlung der kaum übersehbaren europäischen Kulturleistungen — eine<br />

Tatsache, durch die ihm sein Rang innerhalb der neueren Kunstentwicklung zugewiesen<br />

wird -, und das seiner städtebaulichen Konzeptionen, die sich mit den europäischen Vorbildern<br />

in Rom, Wien und Paris messen durften und auch unter den gewandelten Bedingungen<br />

der Zeit Gültigkeit und Anspruch auf kontinuierliche Fortentwicklung nicht verloren<br />

hatten. Wiederholt weist Grimm auf das keineswegs ausgeschöpfte, ideenreiche Werk<br />

Schinkels hin. Er selbst empfing durch ihn einen der entscheidenden Anstöße für die Hinwendung<br />

zur Kunstgeschichte. Noch im Jahre 1900, ein Jahr vor seinem Tode, schrieb er:<br />

„Es klingt in mir die freudige Überraschung noch nach, mit der ich in Schinkels hinterlassenen<br />

Schriften dem Satz begegnete, es seien Kunstwerke die feinsten historischen Quellen."<br />

An Schinkels Persönlichkeit und seinem Werk wurde ihm bewußt, in welch hohem<br />

Maße die Kunsttätigkeit der neuesten Zeit und ihr Verstehen nicht ohne die geistige<br />

Rezeption der Vergangenheit und ohne die Reflexion ihrer seelisch-geistigen Beweggründe<br />

zu denken ist.<br />

In ähnlicher Weise suchte Grimm dem Werk des lange Zeit in Italien lebenden, einst den<br />

„Nazarenern'" nahestehenden Peter Cornelius in Berlin und Deutschland zur Geltung zu<br />

verhelfen. Nicht jene von Goethe abgelehnte Kunstrichtung der in Rom lebenden Künstlergemeinschaft<br />

war es, auf die es Grimm bei dem Verständnis und der Würdigung des Schaffens<br />

von Cornelius ankam, sondern darauf, die überragende zeichnerische Begabung aufzuzeigen,<br />

mit der dieser sich bis hin zu den Kompositionen seiner Fresken in München<br />

und seiner Entwürfe zum Campo santo in Berlin als ein bedeutendes Glied der Kunsttätigkeit<br />

in Deutschland erwies. Daß dieser Künstler dennoch nicht die Würdigung durch die<br />

Öffentlichkeit fand, auf die er seiner Ansicht nach einen Anspruch hatte, war für Grimm<br />

eine enttäuschende Erfahrung.<br />

Das Jahr 1871 brachte Grimms Berufung auf den neueingerichteten Lehrstuhl für Neuere<br />

Kunstgeschichte in Berlin. Sie kam seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen entgegen,<br />

die letztlich davon bestimmt waren, diesem Gebiet geistiger und wissenschaftlicher<br />

Tätigkeit auch innerhalb der Universität ihren legitimen Platz zu sichern. Sein Wirken auf<br />

diesem Lehrstuhl war denn auch von eindrucksvollem und anhaltendem Erfolg: Der unter<br />

seiner Ägide nicht ohne Einsatz eigener Mittel geschaffene Institutsapparat nahm mit der<br />

Fülle des hier gesammelten bilddokumentarischen Materials zur Geschichte der neueren<br />

410


Kunst eine herausragende Stellung ein, so daß mit Grimms Ausscheiden Wöljflin im Jahre<br />

1901 einen Lehrstuhl übernehmen konnte, der ihm ausgezeichnete Arbeitsmöglichkeiten<br />

bot. Daß Herman Grimm in seinen Vorlesungen bereits früh den Bildwerfer, das sog.<br />

Skioptikon, zur Veranschaulichung der behandelten Kunstwerke verwandte - nicht ohne<br />

sich hierfür manchen Vorbehalt von Kollegen einzuhandeln - gab seinen Lehrveranstaltungen<br />

einen aufgeschlossenen und modernen Zug.<br />

Sowohl in diesen organisatorisch-technischen Fragen als auch in solchen nach Inhalt und<br />

Sinn dieser Tätigkeit nahm Grimm einen eigenen, vom beruflichen Selbstverständnis der<br />

Kollegen oft abweichenden Standpunkt ein. Dies resultierte aus der Spannung, die innerhalb<br />

der Universität durch den doppelten Auftrag von Lehre und Forschung wirksam ist.<br />

Indem Grimm für sich die Aufgabe vornehmlich darin sah, in den Vorlesungen einem<br />

großen, keineswegs homogenen Publikum mit den Einsichten in den Gang und die Zusammenhänge<br />

der Kunst eine diesem Phänomen angemessene Urteilsfähigkeit zu vermitteln,<br />

erhielt notwendig die Lehre ein stärkeres Gewicht. Das Moment der Forschung, zu der er<br />

mit seinem „Michelangelo" einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, galt ihm nicht weniger<br />

berechtigt, — als Aufgabe und Ziel jedoch vornehmlich auf den Kreis Jener begrenzt, deren<br />

persönliche und berufliche Intentionen ein kritisches und noch intensiveres Durchdringen<br />

der Materie fordern.<br />

In diesem Sinne führte Grimm 1874/75 seine berühmten Goethe-Vorlesungen durch.<br />

Auch in ihnen wandte er sich an ein großes Publikum. Sie setzten frühere, sich über Jahrzehnte<br />

erstreckende Arbeiten fort und führten zur ersten deutschen Gesamtwürdigung<br />

Goethes und seiner Zeit. Nicht nur in Grimms Persönlichkeit und Herkunft, auch in seiner<br />

ausgebreiteten, die Fülle dichterischer und gelehrter Literatur in Deutschland umfassenden<br />

Kenntnis lagen die Voraussetzungen, die eine Darstellung der Goetheschen Gesamterscheinung<br />

und der mit ihr verbundenen geistigen Strömungen ermöglichten. Mit diesen<br />

Vorlesungen war zugleich der Versuch unternommen für die neuere deutsche Entwicklung<br />

eine ähnlich grundlegende Darstellung, in deren Mittelpunkt Goethe stand, zu schaffen,<br />

wie Grimm sie für Italien bereits mit seinem „Michelangelo" unternommen hatte und<br />

später in seinem Raphael-Werk fortsetzte.<br />

Welchen Einfluß die Goethe-Vorlesungen, die 1877 zum erstenmal unter dem Titel<br />

„Goethes Leben" erschienen, auf das Goethebild des ausgehenden und beginnenden<br />

neuen Jahrhunderts ausübten, vermag die Tatsache zu veranschaulichen, daß die Erscheinung<br />

des Dichters in dem von Grimm geschaffenen Bild einer fast mythisch anmutenden<br />

Wandlung des Dichters fortlebte, die dieser auf seiner ersten Italienreise an sich erfuhr.<br />

Hatte er in diesem Bilde auch einem seiner ersten und tiefsten Eindrücke Goethescher<br />

Existenz neue Gestalt gegeben - darin übrigens den von Wilhelm von Humboldt in seinem<br />

Aufsatz „Goethes zweiter römischer Aufenthalt" fortführend -, erst mit dem 1877 erschienenen<br />

Werk war dieses Bild des Weimarer Dichters in die Erinnerung und in das Bewußtsein<br />

der Öffentlichkeit gehoben, um darin bis weit in unser Jahrhundert lebendig fortzuwirken.<br />

In memoriam Dr. Ottokar Schambach, Darmstadt<br />

Anschrift des Verfassers: Cimbernstraße 3,1000 Berlin 38<br />

411


Detail der Wandverkleidung des Bahnhofs<br />

(Darstellungen von reproduzierten Bühnenbilddarstellungen zu Opern von Richard Wagner)<br />

Neugestaltung des U-Bahnhofs Richard-Wagner-Platz<br />

Von Dipl.-Ing. Gerhard Rümmler<br />

Da in den weitverzweigten U-Bahnnetzen der Großstädte, wie London, Paris und nicht<br />

zuletzt in Berlin, die Menschen einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit während des Berufsverkehrs<br />

in der U-Bahn verbringen, gewinnt der ästhetische Anspruch immer mehr an Bedeutung.<br />

Die Gestalter gingen vornehmlich in den 50er Jahren bei dem Entwurf von U-Bahnhalteplätzen<br />

davon aus, die U-Bahnhöfe nur auf die Zweckmäßigkeit abzustimmen, das heißt,<br />

etwa für eine Verkleidung der Bahnhofswände und der statisch notwendigen Stützen mit<br />

keramischem Material zu sorgen, um leichte Abwaschbarkeit zu gewährleisten. So setzten<br />

diese Bahnhöfe Assoziationen zu großen Badezimmern frei. Erst in der zweiten Hälfte der<br />

60er Jahre begann der große Gestaltungsprozeß hin zu der Unverwechselbarkeit des<br />

Ortes U-Bahnhof.<br />

Attraktivität wurde immer mehr gefragt, und hier seien nur Beispiele wie Bayerischer Platz,<br />

Fehrbelliner Platz, Zwickauer Damm u.a. genannt. Die dort angewandten Gestaltungskriterien<br />

wurden auch bei dem neuen Streckenabschnitt der Linie 7 von Fehrbelliner Platz<br />

bis Richard-Wagner-Platz fortgesetzt.<br />

412


Der Haltepunkt Richard-Wagner-Platz wird als vorläufig nördlichster Haltepunkt der<br />

Linie 7 mit dem Streckenabschnitt ab Fehrbelliner Platz und den ebenfalls neuen Bahnhöfen<br />

Konstanzer Straße, Adenauerplatz, Wilmersdorfer Straße und Bismarckstraße dem<br />

Betrieb am 28. April 1978 übergeben. Damit erhält der Richard-Wagner-Platz oder, wie<br />

er früher hieß, Wilhelm-Platz einen neuen Anschluß an das U-Bahnnetz. Der seit 1906<br />

bestehende alte U-Bahnhof wurde mit der Beendigung des Betriebes am 1. Mai 1970<br />

stillgelegt und der Pendelverkehr vom U-Bahnhof Deutsche Oper bis Richard-Wagner-<br />

Platz eingestellt.<br />

Dieser kurze Streckenabschnitt war wie die gesamte Linie von Ruhleben bis Schlesisches<br />

Tor im Kleinprofil gebaut worden und konnte somit für Zwecke und Funktion der Linie 7,<br />

die im Großprofil ausgeführt wird, nicht mehr genutzt werden. Somit hatte auch der<br />

frühere Haltepunkt seine Funktion verloren und wurde im Zuge des Neubaues des Strekkenabschnittes<br />

aufgelöst und abgebrochen. Die aus der Zeit, also 1906, stammenden<br />

eisernen Stützen sind sorgsam geborgen worden und sollen an anderer Stelle, und zwar in<br />

einem der Bahnhöfe im Bereich der Altstadt Spandau zwischen Haltepunkt Juliusturm<br />

und Rathaus Spandau, so die Vorstellung des Verfassers, Verwendung finden.<br />

Der neue Tunnelabschnitt, der dem Verlauf der Wilmersdorfer Straße folgt, schwenkt von<br />

dort in Schildvortrieb unter dem Quartier zur Richard-Wagner-Straße ab, folgt ihr ein<br />

kurzes Stück und endet, wie bereits erwähnt, vorläufig am Richard-Wagner-Platz.<br />

Bei dem U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz galt es, mit den Mitteln der Gestaltung zu dem<br />

Namen des Haltepunktes eine Beziehung herzustellen. Zum einen konnte dies die Farbkonstellation,<br />

zum zweiten die Architektur der Decke, der Wände und der Stützen und<br />

zum dritten die additive Verwendung gleichgestaltiger, aber thematisch verschieden<br />

aussagender Bildelemente sein.<br />

Die Entwicklung der Architektur des Bahnhofes, der leeren und rohen Tunnelröhre, bezog<br />

sich auf die relativ große Höhe des Rohkörpers. In dem Rohling wurde über den senkrecht<br />

zu den Bahnsteigkanten stehenden, mit statisch notwendigem rechteckigem Querschnitt<br />

versehenen Stützen eine große fischbauchähnliche Form eingehängt, aus der große Arme<br />

auskragen, die an den Vorderseiten runde hohe Tonnenformen halten, in denen die<br />

Beleuchtung der Bahnsteige liegt. Diese Kragarme stoßen in die über den Gleisen gegenläufigen<br />

und höher liegenden Deckenteile ein. Die Bahnhofswände sind mit starkfarbiger<br />

Grobkeramik belegt, aus deren Formaten 11,5 cm X 24 cm formal tunnelhohe Klammerelemente<br />

entwickelt wurden, die jeweils einen Stahlrahmen umfassen, in dem reproduzierte<br />

Entwürfe von Bühnenbildern zu Opern von Richard Wagner, im Unterdruckverfahren<br />

ausgeführt, eingelegt worden sind. Die Wände und Stützen sind mit Grobkeramik in<br />

starken gelben und blauen Farben verkleidet. Dies in Anlehnung und Assoziation zu<br />

Farbhaltungen der Zeit, in der das Rathaus Charlottenburg, also zwischen 1900 und<br />

1910, erbaut wurde, d.h. goldene, hier gelbe, blaue und lichte orangene Farbtönungen.<br />

Das Blau der Stützen, das ornamental in das Gelb einläuft, kehrt in den tieferliegenden<br />

Deckenteilen und den Auslegern wieder. Die höher liegenden Deckenbereiche über den<br />

Gleisen sind mit einem lichten Orangerot behandelt, das in die Umrahmungen der reproduzierten<br />

Bühnenbildentwürfe einläuft.<br />

Um dem wartenden Fahrgast die Möglichkeit zu geben, sich mit dem dargestellten Themenkreis<br />

zu beschäftigen, sind in die Mittelstützen kleine Hinweistafeln mit Erläuterungen zu<br />

den jeweiligen Bilddarstellungen eingelegt worden.<br />

413


Kaiser Heinrich II., der Heilige König Ludwig IV., der Bayer<br />

Mosaiken-Wandfläche in der kleinen unterirdischen Verteilerhalle<br />

Ein ganz besonders glücklicher Umstand für den Architekten ließ die Beziehung der<br />

Ausgestaltung zum Namen des Bahnhofs noch in der Attraktivität steigern:<br />

Dem Verfasser gelang es mit dankenswerter Unterstützung des Wirtschafters und des<br />

damaligen Abteilungsleiters der Abteilung Tiefbau beim Senator für Bau- und Wohnungswesen<br />

und jetzigen Senatsdirektors Lekutat, die aus dem ehem. Vergnügungsetablissement<br />

und Hotel „Bayerischer Hof" geretteten Mosaiken in der großen unterirdischen<br />

Verteilerhalle unter der Kreuzung Otto-Suhr-Allee und der Richard-Wagner-Straße, einzubauen.<br />

In dem in der Potsdamer Straße 24 gelegenen, 1903 von dem Architekten Walther erbauten<br />

Komplex befand sich ein großer Bankettsaal, der Minnesängersaal, über dessen<br />

quadratischem Grundriß eine kreisförmige Decke angebracht war, die in acht Segmentteilen<br />

in romanisierender Darstellung Figuren aus dem deutschen Mittelalter enthielt.<br />

Diese figuralen Darstellungen vornehmlich aus dem Umkreis der Wagneroper „Tannhäuser"<br />

— Hermann von Thüringen, Reinmar von Zweter, Elisabeth von Thüringen, Wolfram<br />

von Eschenbach, Tannhäuser, Ludwig von Bayern und Walther von der Vogelweide - haben<br />

durch ihren Einbau hier nun einen direkten Bezug zum Namen des Bahnhofes. In der kleinen<br />

unterirdischen Verteilerhalle in der Richard-Wagner-Straße sind Mosaiken mit den<br />

Darstellungen Kaiser Heinrichs II. und König Ludwigs des Bayern, ebenfalls restauriert,<br />

414


angebracht worden. Da der Bayernhof in der Potsdamer Straße in der Trasse der späteren<br />

Stadtautobahn lag und durch Kriegseinwirkungen sowieso stark zerstört war, wurde das<br />

Gebäude in der Zwischenzeit gesprengt. Vorher ist die gesamte Decke entspechend der<br />

Aufteilung in acht Segmente zerlegt und rechtzeitig vor der Sprengung ausgebaut<br />

worden, um diese in der unterirdischen Verteilerhalle an besonderer Stelle anzubringen.<br />

Damit konnte ein für die Berliner Landschaft der Gebrauchskunst um 1910 wichtiges<br />

Dokument gerettet und erhalten werden. Es war dem Verfasser um so wichtiger, diese<br />

Arbeiten zu bewahren, da das Mosaik aus der Fabrik Wagner stammt, deren vom Architekten<br />

Schwechten dem romanischen Stil nachempfundenes Fabrikationsgebäude in Berlin-<br />

Rudow dem Unverstand und der Spitzhacke bereits zum Opfer gefallen ist. Die Figurenteile<br />

wurden sorgfältig unter Verwendung ebenfalls geretteter Mosaiksteine restauriert<br />

und bieten sich in alter Schönheit dem Fahrgast und somit dem Bürger dieser Stadt zur<br />

ständigen Freude an.<br />

In diese Gesamtvorstellung eingebettet ist die Verwendung eines ehemaligen Zugangsportales<br />

aus dem Jahre 1906. Es wurde nach Stillegung des ehemaligen Bahnhofes Richard-<br />

Wagner-Platz am 1. Mai 1970 ausgebaut und gegenüber dem Rathaus Charlottenburg nach<br />

Restaurierung wiedererrichtet. So konnte nach der städtebaulichen Zerstörung des<br />

Richard-Wagner-Platzes noch ein kleiner Zusammenhalt eines zeitgerechten Architekturmöbels<br />

des frühen Jahrhunderts mit dem Rathausbau Charlottenburg hergestellt werden.<br />

Anschrift des Verfassers: Elsflether Weg 27, 1000 Berlin 20<br />

Die hier gezeigten Mosaiken stammen aus dem Minnesängersaal im Bayerischen Hof, der 1903 durch<br />

den Architekten Walther in der Potsdamer Straße 24 erbaut wurde. Die Mosaiken fanden jetzt durch<br />

den Architekten Gerhard Rümmler eine neue Verwendung im U-Bahnhof Richard-Wagner-Platz.<br />

Alle Fotos stammen aus dem Archiv des Verfassers.<br />

415


Mosaiken -<br />

Wandfläche<br />

in der großen<br />

unterirdischen<br />

Verteilerhalle<br />

(In der Halle<br />

sind alle 8<br />

Mosaiken, 1 — 8,<br />

nebeneinander<br />

angebracht.)<br />

416<br />

Abb. 1: Hermann von Thüringen Abb. 2: Reinmar von Zweter<br />

Abb. 5: Rudolf von Habsburg Abb. 6: Tannhäuser


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Abb. 3: Elisabeth von Thüringen<br />

Abb. 7: Ludwig von Bayern<br />

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Abb. 4: Wolfram von Eschenbach<br />

Abb. 8: Walther von der Vogel weide<br />

417


Nachrichten<br />

Rund um den Tiergarten<br />

Im Landesarchiv Berlin wurde die Ausstellung „Rund um den Tiergarten" eröffnet, die in 15 Vitrinen<br />

Aktenblätter, Drucksachen, Bilder, Karten und Pläne über die Geschichte eines Kerngebietes der<br />

Hauptstadt im 19. und 20. Jahrhundert zeigt. Nur wenige historisch versierte Berliner werden noch<br />

wissen, daß das Palais Raczynski an der Stelle des heutigen Reichstags stand oder daß die Siegessäule<br />

einmal anders ausgesehen hat als heute. Den Geschicken der „Zelten" und des Kroll-Etablissements<br />

wird nachgegangen; seltene Pläne und Ansichten von der Peripherie des schönen Wald-,<br />

späteren Parkgeländes zeigen das Schloß Bellevue, die Porzellanmanufaktur, den Zoologischen<br />

Garten, die Villen und großbürgerlichen Palais am Südrand. Mit Hilfe der INTERBAU 1957 wurde<br />

das Hansaviertel neu gestaltet. Autographen prominenter Anwohner des Tiergartens und viele bunte<br />

Postkartengrüße, wie sie zu Kaisers Zeiten „in" waren und von reisestolzen Verwandten und Bekannten<br />

in die „Provinz" geschickt wurden, beschließen die kleine, aber eindrucksvolle Schau im Landesarchiv<br />

Berlin, Kalckreuth-, Ecke Kleiststraße, gegenüber der URANIA. (Öffnungszeiten: Montag bis<br />

Freitag von 9 bis 15 Uhr, Eintritt frei.)<br />

Edvard Munch<br />

Der Lebensfries in Max Reinhardts Kammerspielen<br />

Ausstellung in der Nationalgalerie vom 24. Februar bis 16. April 1978<br />

Von Peter Krieger<br />

Seit 1892 war Edvard Munch mit Berlin eng verbunden. Damals führte seine 1. Ausstellung in der<br />

Stadt zur Spaltung des Vereins Berliner Künstler. Es bildete sich ein Kreis von skandinavischen und<br />

deutschen Literaten und Künstlern um Strindberg, Munch, Przybyszewski, Richard Dehmel, Arno<br />

Holz und Walther Leistikow. Man traf sich meist in dem Lokal Ecke Neue Wilhelm- und Friedrichstraße,<br />

das Strindberg „Zum Schwarzen Ferkel" getauft hatte. Bis 1895 blieb Munch in der deutschen<br />

Hauptstadt und fand in Julius Meier-Graefe, Harry Graf Kessler und Walther Rathenau, der 1893<br />

als erster in Berlin ein Bild des Norwegers erwarb, Förderer und Freunde. In engen Hotelzimmern<br />

entstanden viele Hauptwerke, die Munch später zum Zyklus seines „Lebensfrieses" zusammenfassen<br />

sollte.<br />

Julius Meier-Graefe gab 1895 in Berlin die avantgardistische Zeitschrift „Pan" heraus. In dieser Zeitschrift<br />

von europäischem Rang wurden die neuesten Strömungen in Literatur und Bildender Kunst<br />

vorgestellt. Man traf dort auf die Namen Strindberg, Nietzsche, Hamsun, Mallarme, Rodin, Whistler<br />

oder Liebermann. Dagny Juell, die Frau des polnischen Dichters Przybyszewski, Muse und Sphinx<br />

des Kreises um Strindberg, war es, die der Zeitschrift den Namen gab. In jenen Berliner Jahren seines<br />

künstlerischen Durchbruchs gewann auch Munchs Idee Gestalt, einen umfassenden Zyklus von den<br />

Freuden und Leiden des Menschen zu schaffen. Einen Raum mit seinem solchen „Lebensfries" auszugestalten,<br />

war Munchs Ziel. Solange der Raum fehlte, zeigte er seine Staffeleibilder, die er dem<br />

Fries zurechnete, unter wechselnden Titeln auf Ausstellungen, nicht nur in Berlin, Christiania oder<br />

Paris. 1896/97 ging Munch erneut nach Paris, wo er engen Kontakt gewann zum Symbolistenkreis um<br />

Mallarme und zum avantgardistischen „Theätre de l'Oeuvre", für das er Programmhefte zu Ibsen-<br />

Aufführungen entwarf.<br />

Im November 1901 begann der zweite längere Aufenthalt in Berlin, wo er nun jahrelang meist die<br />

Winter verbrachte. Hier konnte er 1902 seinen gesamten „Lebensfries" mit 22 Gemälden in der<br />

Vorhalle der Berliner Sezession, Kantstraße, zeigen. Den ersten Auftrag, einen Fries für einen<br />

bestimmten Raum zu malen, erhielt Munch 1904 von seinem Lübecker Mäzen, dem Augenarzt<br />

418


Dr. Max Linde. Doch lehnte Linde aus verschiedenen Gründen den für das Kinderzimmer bestimmten<br />

Fries ab, entschädigte Munch aber durch Ankauf eines Bildes zu der für den ganzen Fries vereinbarten<br />

Summe. Zwei Jahre später entstand der Kontakt zu Max Reinhardts Deutschem Theater.<br />

Reinhardt, der auf die künstlerische Gestaltung des Bühnenbildes größten Wert legte, bat Munch um<br />

Entwürfe zu Ibsens „Gespenstern". Im Todesjahr des Dichters war dies die Eröffnungsvorstellung<br />

der neuerbauten „Kammerspiele" am 8. November 1906. Anschließend entstanden noch Entwürfe<br />

zu einer „Hedda Gabler"-Inszenierung. Aus dieser Zusammenarbeit mit Reinhardt ergab sich der<br />

Auftrag, für das Foyer des neuen Theaters einen Fries zu malen.<br />

Von den 12 Gemälden des Frieses konnten 8 aus der Sammlung Moltzau stammende Werke 1966 für<br />

die Nationalgalerie erworben werden, die innerhalb des Bestandes ein entscheidendes Bindeglied<br />

zwischen der Kunst des 19. und der des 20. Jahrhunderts bilden. Auch dieser Fries hatte, wie der<br />

Linde-Fries, ein merkwürdiges Schicksal. Das Foyer, ungünstig gelegen, wurde nur zu kleinen Feiern<br />

der Schauspieler nach Premieren benutzt. So blieb dieses Hauptwerk Munchs fast unbekannt und<br />

dem Publikum verschlossen. Schließlich wurde der Fries bei einem Umbau 1912 aufgelöst und die<br />

Bilder in Privatbesitz verstreut.<br />

Die Ausstellung in der Nationalgalerie will Materialien zu diesem Fries zusammenfassen. Mit Ausnahme<br />

eines Bildes aus dem Museum Folkwang, Essen, kommen sämtliche Leihgaben aus dem Osloer<br />

Munch-Museum. Neben großformatigen Vorstudien zum Reinhardt-Fries in Tempera und Aquarell<br />

und einem Hauptbild aus dem Linde-Fries von 1904 sind zahlreiche druckgraphische Blätter zu<br />

sehen, die mit den Themen des Reinhardt-Frieses in Zusammenhang stehen. Außerdem wird die<br />

Folge der Bilder zu Ibsens „Gespenstern" gezeigt, die, weit über die üblichen Dekorationsentwürfe<br />

hinaus, Situationen des Stückes festhalten. Daneben Entwürfe zu „Hedda Gabler" sowie das monumentale<br />

Ibsen-Porträt von 1906. Die für Munchs Entwicklung so wesentliche und erstaunlich fruchtbare<br />

Phase zwischen 1905 und 1907, in deren Zentrum der Lebensfries für Max Reinhardt stand, wird<br />

noch mit weiteren wichtigen Beispielen beleuchtet:<br />

In den Selbstbildnissen, darunter das berühmte „Selbstbildnis mit Weinflasche", sowie in den Porträts<br />

der deutschen Freunde: Albert Kollmann, Gustav Schiefler, Harry Graf Kessler, Walther Leistikow<br />

zeigt sich der tieflotende Psychologe.<br />

Eine Folge von Gemälden und Graphiken, wie „Marats Tod" oder „Amor und Psyche", erhellt<br />

Aspekte in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Parallelen und Variationen zu den im<br />

Reinhardt-Fries angeschlagenen Themen bieten. Schließlich soll mit einigen Beispielen Munch<br />

auch als Beobachter der Berliner Atmosphäre um die Jahrhundertwende gezeigt werden.<br />

Fotos, zum Teil Aufnahmen, die Munch selbst machte, Skizzen, Notizbücher und Bücher aus Munchs<br />

Bibliothek begleiten und kommentieren die ausgestellten Werke.<br />

(Aus: Berliner Museen. Berichte aus den Staatl. Museen Preuß. Kulturbesitz, 3. Folge, Nr. 12/1978.)<br />

*<br />

Manches Mitglied hat es schon bedauert, daß es im Verein zur Passivität verurteilt war, weil eben der<br />

Kreis der Vortragenden, Autoren und geschäftsführenden Vorstandsmitglieder von der Sache her<br />

beschränkt ist. Um derartige Unlustgefühle abzubauen, die man mit dem Modewort „Frustrationen"<br />

nennt, sei hier auf die Möglichkeit hingewiesen, freitags zwischen 16.30 und 19.00 Uhr in der Vereinsbibliothek<br />

im Rathaus Charlottenburg nützliche Arbeit zu leisten. Wer selbst zeitlich nicht in der<br />

Lage ist oder beim Umgang mit Büchern zwei linke Hände hat, könnte vielleicht seinen Ehegatten für<br />

dieses Ehrenamt interessieren. Hie bibliotheca, hie salta! SchB.<br />

*<br />

Der Fotografische Auskunftsdienst von Europa Nostra, der Internationalen Föderation der Vereinigung<br />

zum Schutz des kulturellen und natürlichen Erbes Europas, hat als erste einer Reihe von Diapositivserien<br />

48 Diapositive mit Kurzbeschreibungen zum Thema „Europas architektonisches Erbe in<br />

Gefahr" herausgebracht. Weitere Serien über architektonische Restaurierung, Schaffung von Fußgängerzonen,<br />

Neubauten in alten Städten usw. sind in Vorbereitung. Sie werden abgegeben zum<br />

Preis von £12 einschließlich Porto vom Fotografischen Auskunftsdienst Europa Nostra, 17 Carlton<br />

House Terrace, London SW 1Y5AW, Großbritannien. SchB.<br />

419


Von unseren Mitgliedern<br />

Zum Tode von Alfred Braun<br />

Alfred Braun<br />

am 85. Geburtstag, 1973<br />

Wieder hat uns eines unserer bekanntesten und profiliertesten Mitglieder für immer verlassen: am<br />

3. Januar 1978 starb Alfred Braun, fast neunzigjährig, hier in der Stadt seiner Geburt (3. Mai 1888)<br />

und seines unvergessenen Wirkens. Uns Alten seit 1923 bekannt als erster Sprecher der „Berliner<br />

Funkstunde" im Voxhaus am Potsdamer Platz, als der er das Neuland Funkreportage zunächst<br />

improvisierend, ja es recht eigentlich erfindend betreten und damit beispielgebend geprägt hat, der<br />

jungen Generation bekannt als „Spreekieker" im Sender Freies Berlin, als der er, der fast Erblindete,<br />

dank eines stupenden Gedächtnisses mit sonor-klangvollem Organ bis in die jüngste Zeit Altes und<br />

Neues in seiner Stadt zu kommentieren wußte. Auch unserem Verein für die Geschichte Berlins hat<br />

er - immer bereit - mit seinem reichen Talent genußvoll-besinnliche Stunden bereitet.<br />

Was war er, was konnte er nicht alles! Von Hause aus Schauspieler, war er neben seinem viel verlangenden<br />

Beruf auch erfolgreicher Buchautor und Filmregisseur - als echte Komödiantennatur immer<br />

agierend, immer getrieben, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. So konnte es nicht ausbleiben,<br />

daß er in den von unserer Generation durchlebten stürmischen Zeiten politisch kräftig gebeutelt<br />

wurde, bei seiner ungewöhnlichen Popularität wechselweise hier angefeindet, dort ausgenutzt, aber<br />

dank seiner glücklichen Veranlagung alles überstehend, gefragt und schaffend bis zuletzt.<br />

Nun also ging dieses unglaublich inhaltsreiche Leben still und gnädig zu Ende, und „völlig vollendet<br />

ruhet der Greis, der Sterblichen ewiges Opfer". Hoffmann-Axtheim<br />

420


Foto: Archiv des Vereins<br />

für die Geschichte Berlins<br />

Aufnahme: R. Mücke<br />

Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm 70 Jahre<br />

Der Lebensweg unseres Vorsitzenden, Professor Dr. med. Dr. med. dent. Walter Hoffmann-Axthelm,<br />

der am 29. April auf sieben Jahrzehnte zurückblicken kann, könnte exemplarisch genannt werden,<br />

kann selbst ein Stück Geschichte sein. Seine Vita verzeichnet drei Berufe (praktischer Zahnarzt in<br />

Perleberg, Kieferchirurg und Facharzt in Berlin und Hamburg sowie Medizinhistoriker an der Freien<br />

Universität Berlin), zwei Promotionen, zwei Habilitationen und kurioserweise auch zwei Ernennungen<br />

zum Professor. Sie spiegeln damit den mehrfachen Neubeginn eines Mannes, an dem sich das<br />

Schicksal unseres Volkes augenfällig vollzog, sie sind aber auch Ausdruck des Willens einer Persönlichkeit,<br />

sich zu behaupten und vor sich selbst bestehen zu können.<br />

Walter Hoffmann-Axthelm wurde am 29. April 1908 in Berlin-Friedenau geboren, wo er 1927 das<br />

Abitur bestand. Vier Jahre später erhielt er nach dem Studium in Berlin und in Freiburg die zahnärztliche<br />

Approbation und promovierte in Berlin zum Dr. med. dent. Nach der zweijährigen Assistentenzeit<br />

ließ er sich in Perleberg nieder. Nachdem er von 1939 an Lazarettdienst geleistet hatte,<br />

betreute er nach Kriegsende in Hamburg Gesichtsverletzte, wurde von der Hamburger Gesundheitsverwaltung<br />

auch als Assistent eingestellt, kehrte aber 1948 zu seiner inzwischen gleichfalls approbierten<br />

Frau, zu den vier Kindern und zwei Großmüttern nach Perleberg zurück. Nach zweijähriger<br />

Praxistätigkeit wurde er als Oberarzt und Lehrbeauftragter an die Chirurgische Abteilung der<br />

Universitätsklinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Charite berufen, wo er<br />

sein vollmedizinisches Studium beenden und sich 1954 für das Fach „Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde"<br />

habilitieren konnte. 1961 krönte er seine erste wissenschaftliche Laufbahn mit der Ernennung<br />

zum planmäßigen Extraordinarius. Als ihn der Mauerbau 1961 gezwungen hatte, aus dem<br />

Lehrkörper der Humboldt-Universität auszuscheiden, setzte er seine Tätigkeit an der Klinik für<br />

Kiefer- und Gesichtschirurgie der Medizinischen Akademie Düsseldorf fort.<br />

Mit dem Eintritt als Wissenschaftlicher Assistent in das Institut für Geschichte der Medizin der FU<br />

Berlin am 1. Januar 1964 begann seine zweite „Ochsentour" als Hochschullehrer, die ihn über die<br />

Positionen eines Oberassistenten und Akademischen Rats, über die Habilitation für das Fach<br />

„Geschichte der Medizin" und die abermalige Ernennung zum Professor 1974 in die Stellung des<br />

421


geschäftsführenden Direktors des Instituts für Geschichte der Medizin der FU Berlin führte. Dieser<br />

Neubeginn ließ sein altes Steckenpferd, die Geschichte insbesondere seines Faches, nunmehr zu<br />

seinem Hauptberuf werden. Obwohl seit 1974 im Ruhestand, wurde sein Arbeitsverhältnis immer<br />

wieder verlängert; immer noch auf seinen Nachfolger wartend, erfüllt er seine Aufgaben in Lehre und<br />

Forschung in unvermindertem Umfang als Lehrbeauftragter, damit das Wort demonstrierend, daß<br />

auch beim Staat keine Grenze so sehr zum Schmuggel verführt wie die Altersgrenze.<br />

92 klinische und medizinhistorische Arbeiten zeugen ebenso wie die fünf Bücher aus seiner Feder von<br />

seinem eminenten Fleiß. Das 1958 erschienene „Lexikon der Zahnmedizin" wurde inzwischen siebenmal<br />

aufgelegt, eine Übersetzung in die englische und japanische Sprache wird vorbereitet, gleichfalls<br />

eine Übertragung seiner „Geschichte der Zahnheilkunde" ins Englische. Gegenwärtig arbeitet er an<br />

einem weiteren Werk.<br />

Dies alles sollte man wissen, um zu ermessen, welche Bürde es für ihn bedeutete, 1967 den Vorsitz des<br />

Vereins für die Geschichte Berlins zu übernehmen. Hier hat er größten Wert vor allem auf die<br />

literarische Erschließung der Historie unserer Stadt gelegt, ist selbst mit einer Reihe von Aufsätzen<br />

hervorgetreten, war Redakteur der „Mitteilungen" und Mitherausgeber des Jahrbuchs, hat vor allem<br />

auch die Grünen Hefte wieder neu aufleben lassen und Mäzene gefunden, die diese Edition ermöglichten.<br />

Bei kaum einer Veranstaltung hat er gefehlt, die Interessen des Vereins auch gegenüber den<br />

Behörden und in anderen Gremien vertreten. Dabei verfügt er, stets von Korrekturfahnen gejagt,<br />

nicht über ein Übermaß an freier Zeit, ist im Grunde seines Herzens auch kein Vereinsmeier und<br />

schon gar keine Stimmungskanone. Die Mitglieder mögen ihren „Professor" und warten beinahe schon<br />

darauf, daß er bei der Begrüßung vergißt, die Anwesenheit von Ehrenmitgliedern gebührend hervorzuheben.<br />

Aber selbst seine kleinen Schwächen sind so liebenswert wie der ganze Mensch, und wer ihn<br />

neben dem Schriftführer einherschreiten sieht, wird mit einem Schmunzeln an die klassischen Gestalten<br />

des Don Quichote und Sancho Pansa erinnert.<br />

Wer will es ihm verargen, daß er seine Vorstandschaft in unserem Verein nur noch bis zur Mitgliederversammlung<br />

dieses Jahres bemessen hat? Der Dank der Mitglieder ist ihm gewiß, und ein otium cum<br />

dignitate hat er sich wahrlich verdient. Daß für ihn Muße aber nicht gleichbedeutend ist mit Müßiggang<br />

versteht sich von selbst. Von den Lasten des Berufs und der Ehrenämter befreit (fast ein Jahrzehnt<br />

wirkte er auch als Kirchenältester der Kaiser-Friedrich-Gedächtnisgemeinde), will er sich nun<br />

endlich seiner speziellen Liebhaberei, der Numismatik des deutschen Mittelalters, widmen. Ist es da<br />

verwegen, ihm an der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt zuzurufen „Zu neuen Ufern lockt ein<br />

neuer Tag"? H. G. Schultze-Berndt<br />

Erich Borkenhagen 75 Jahre<br />

Am 4. März waren 75 Jahre vergangen, seit unser langjähriger stellvertretender Schriftführer, Chefredakteur<br />

i.R. Erich Borkenhagen, das Licht der Welt erblickte. Seinen Geburtstag feierte er in einem<br />

Kreis honoriger Gäste an seinem Ruhesitz in der Lüneburger Heide, Uhlenflucht 12, 3105 Faßberg.<br />

Vielleicht ist der Ausdruck „Ruhesitz" nicht ganz richtig gewählt, wenn man bedenkt, wie rührig und<br />

rüstig der Jubilar immer noch seinen Aufgaben als Journalist nachkommt, wie er ständig mit einer<br />

Vielzahl schriftstellerischer Arbeiten beschäftigt ist und noch mehr Pläne hat, und wie schließlich die<br />

Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. ihren Schwung und ihre<br />

umfangreiche Tätigkeit Erich Borkenhagen verdankt. Bei seinen gar nicht so seltenen Besuchen in<br />

Berlin an der Stätte seines einstigen Wirkens kann man mit Freude feststellen, daß der Jubilar innerlich<br />

und äußerlich der alte geblieben ist, vielseitig interessiert und in seinem Tatendrang ungebrochen. Daß<br />

er sich gerade der guten Luft wegen in seiner niedersächsischen Wahlheimat wohl fühlt, sei ihm von<br />

Herzen gegönnt. Daß er unlängst die Reihe seiner Auszeichnungen vom Bundesverdienstkreuz über<br />

die Goldene Delbrück-Denkmünze bis zu einer Ehrung des Deutschen Brauerei-Museums verlängern<br />

konnte, wird ihm niemand neiden.<br />

Weil sich die Mitgliederschaft des Vereins für die Geschichte Berlins so wesentlich verjüngt hat, sei<br />

hier ausdrücklich noch einmal auf die Verdienste verwiesen, die sich Erich Borkenhagen in langen<br />

Jahren der Vorstandstätigkeit um den Verein erworben hat. Herzliche Grüße gehen auch von dieser<br />

Stelle zum Jubilar und zu seiner liebwerten Gattin. H. G. Schultze-Berndt<br />

422


Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum<br />

70. Geburtstag Frau Gudrun Meilin, Herrn Prof. Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm, Erna Becker,<br />

Herta Canon; zum 75. Geburtstag Frau Charlotte Bormann, Herrn Hans Wolff-Grohmann, Frau<br />

Margarete Hoffmann, Herrn Gerhard Krienke, Frau Dore Müller, Jenny Beckert; zum 80. Geburtstag<br />

Frau Ella Klitzke, Herrn Prof. Dr. Adolf Jannasch, Herrn Dr. Alfred Wtorczyk, Frau Maria<br />

Thiemicke.<br />

Buchbesprechungen<br />

Peter H. Rohrlach (Bearb.): Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Teil V: Zauch-Belzig. Weimar:<br />

Böhlaul977. 527 S., 1 Karte, Ln., 36 M. (Veröff. d. Staatsarchivs Potsdam, Bd. 14.)<br />

Gründlich werden auch in diesem Band nach dem bewährten Schema (vgl. dazu die Besprechung<br />

des Bandes „Teltow" in den „Mitteilungen" Jg. 73, 1977, Nr. 2, S. 295) die wichtigsten Daten zur<br />

Geschichte der einzelnen Siedlungen - zu denen die einst so beliebten Ausflugsorte Caputh, Ferch,<br />

Seddin, Treuenbrietzen und Rabenstein gehören - aufgeführt. Da hier zum ersten Mal in der nun<br />

schon stattlichen Reihe der Ortslexika ein außerhalb der ehemaligen Kurmark gelegener Bereich,<br />

der Beiziger Anteil des bis 1952 bestehenden Kreises Zauch-Belzig, mitbehandelt wird, stellten sich<br />

bei der Auswertung des unterschiedlichen Quellenmaterials brandenburgischer und sächsischer Herkunft<br />

einige Probleme. Sie sind von dem Bearbeiter, der hier seinen ersten Band in dieser Reihe vorstellt,<br />

überzeugend gelöst worden. Auch Verbesserungen sind zu notieren: So werden die Siedlungsformen<br />

der Städte ausführlicher behandelt, desgleichen die kirchliche Verfassung. Damit ist dieses<br />

für jeden Landesgeschichtler unentbehrliche Nachschlagewerk noch reichhaltiger geworden.<br />

Felix Escher<br />

Sigurd Hilkenbach, Wolfgang Krämer, Claude Jeaninaire: Berliner Straßenbahngeschichte II. Ein<br />

Bericht über die Entwicklung der Straßenbahn in Berlin nach 1920. Villigen/Schweiz: Verlag Eisenbahn<br />

1977. 216 S. mit 376 Abb., geb. 49 DM.<br />

Das Autoren-Trio Hilkenbach, Kramer und Jeanmaire hat dem ersten Band der 1973 erschienenen<br />

„Geschichte der Berliner Straßenbahnen" einen zweiten im selben Verlag folgen lassen. Das neue<br />

Werk berichtet - gleich seinem Vorläufer - mittels einer langen Reihe fotografischer Reproduktionen<br />

über die mehr als fünfzigjährige Entwicklungsepoche des Berliner Straßenbahnwesens seit der Eingemeindung<br />

der Berliner Vororte im Jahre 1920 bis in die Gegenwart. Mit wahrhaft eindrucksvoller<br />

Akribie haben die Autoren und ihre Helfer aus der rührigen Gilde der Berliner Nahverkehrsfreunde<br />

das oft schwer zu beschaffende Bildmaterial zusammengetragen und ausgewertet.<br />

Wie ersichtlich, wurden einzelne „Oldtimer" mit offenen Plattformen, die teilweise aus den fernen<br />

Tagen des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts stammten, noch bis zur Mitte der dreißiger Jahre<br />

zur Personenbeförderung eingesetzt. Breiten Raum nimmt die Beschreibung von Spezialfahrzeugen<br />

ein. Fast hundert Fotos führen uns Arbeits-, Kran-, Meß-, Post-, Salz-, Saug-, Schleif- und Turmwagen<br />

vor sowie Güterkipploren, Schneepflüge, Sandtrockner, Drehschemel-Schienentransporter, Unkrautvertilger<br />

und Rangierloks bis hin zur fahrbaren Leihbibliothek und den rollenden Konsum-Verkaufsstellen<br />

kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Leser wird über den Zugang von Fremdfahrzeugen<br />

und die Übergabe Berliner Wagen an ortsfremde Betriebe ebenso orientiert wie über<br />

den Verbleib der Betriebsmittel oder deren Verschrottung. Das sehr genaue Eingehen auf die wechselvolle<br />

Numeration der einzelnen Wagen auch in diesem zweiten Band ist kein Fach-Chinesisch für<br />

Fahrkurbel-Neurotiker, sondern wertvolles Hinweismaterial für die Entwicklung der Schienenfahrzeuge<br />

in Berlin.<br />

423


Es wird des Spree- und des Lindentunnels gedacht, beide über drei Jahrzehnte hindurch im Betrieb.<br />

Sehr informativ ist die lange Liste sämtlicher Berliner Straßenbahnhöfe - eine Vielzahl von ihnen<br />

erscheint im Bild — mit genauen Angaben des Zeitraums ihrer Benutzung. Eine Anzahl weiterer<br />

Fotos zeigt kriegsbedingte Zerstörungen am Wagenpark und Szenen aus der Epoche des Neubeginns<br />

am 20. Mai 1945. dem Tag. an dem ein bescheidener Linienbetrieb auf Kurzstrecken inmitten von<br />

Trümmerbergen und verödet starrender Ruinen wiederaufgenommen wurde. Bezeichnend für diese<br />

Zeit ist das Foto 222, das die im Freien sitzenden Schriftmaler beim Beschriften von Richtungsschildern<br />

auch mit kyrillischen Buchstaben zeigt . . . Bildreportagen von Schlußfahrten vor Linieneinstellungen<br />

und vom Troß zukünftiger Museumsfahrzeuge bei der endgültig letzten Fahrt der Straßenbahn<br />

in West-Berlin 1967 schließen die Berichterstattung über die Atmosphäre, die dem Berliner Straßenbild<br />

mehr als hundert Jahre hindurch sein typisches Gepräge verliehen hat. Den Abschluß des Buches<br />

bildet ein Anhang, in dem der Schweizer Verlag Eisenbahn seine ständig wachsende Leserschaft auf<br />

fast ein halbes Hundert weiterer verkehrstechnischer Schriften hinweist, die sich mit der einschlägigen<br />

Thematik im In- und Ausland befaßt.<br />

Für Papierqualität, klare Drucktypen und Ausstattung des Buches ist dem Verlag zu danken. Die<br />

Bildschärfe der Fotos ist beachtlich. Ebenso ist es der Buchpreis, der auf Anhieb ehrfurchtsvoll tiefes<br />

Durchatmen bewirkt. Die Beantwortung der Frage, ob die Numerierung der Fotos die der Buchseiten<br />

entbehrlich macht, möchte ich offenlassen. Die Nahverkehrsliteratur ist durch diese verdienstvolle<br />

Teamarbeit um eine wertvolle Neuerscheinung bereichert worden. Hans Schiller<br />

Gerhard Engelmann: Heinrich Berghaus. Der Kartograph von Potsdam. Halle/Saale: Deutsche<br />

Akademie der Naturforscher Leopoldina. 411 S., 25 Abb., 2 Tafeln, brosch., 53,40 Mark. (Acta<br />

historica Leopoldina Nr. 10.)<br />

Heinrich Berghaus (1797—1883) dürfte den meisten landesgeschichtlich Interessierten vor allem<br />

als Verfasser eines dreibändigen, 1854—1856 erschienenen „Landbuchs der Mark Brandenburg und<br />

des Markgrafthums Niederlausitz" bekannt sein; 1970 wurde es vom Zentralantiquariat Leipzig nachgedruckt.<br />

Doch stellt diese stattliche Arbeit nur einen kleinen Teil der umfangreichen Lebensarbeit<br />

des aus Westfalen stammenden Geographen, Kartographen und Topographen dar.<br />

In der vorliegenden Arbeit wird mit viel Liebe zum Detail die gesamte wissenschaftliche Leistung<br />

jenes Mannes vorgestellt, der den größten Teil seines Lebens in Potsdam und Berlin ansässig war. Wie<br />

Engelmann eindringlich nachweist, hat Berghaus als Zeitgenosse Humboldts einen nicht unbedeutenden<br />

Anteil an dem Aufstieg der deutschen Kartographie und Geographie zu ihrer Spitzenstellung<br />

gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Hohe öffentliche Auszeichnungen blieben ihm, der sich häufig in<br />

drückenden familiären und wirtschaftlichen Verhältnissen befand, jedoch versagt. Die Gründe<br />

dafür lagen nicht zuletzt in seiner Persönlichkeit.<br />

Mit dieser Biographie wird zugleich ein Abschnitt europäischer Wissenschaftsgeschichte deutlich.<br />

Dies ist vor allem auch dem umfangreichen Anhang mit dem ausführlichen Anmerkungsapparat, der<br />

Bibliographie von Heinrich Berghaus und dem Quellen-, Literatur- und Personenverzeichnis zu verdanken.<br />

Felix Escher<br />

Max Mechow: Frohnau - die Berliner Gartenstadt. Berlin: Verlag Bruno Hessling GmbH 1977.<br />

96 S., brosch., 19,80 DM. (Berliner Kaleidoskop. Band 24.)<br />

Kurt Pomplun hatte eine seiner Betrachtungen auch Frohnau gewidmet, und das Bedauern, das man<br />

bei der Lektüre empfand, daß sich nämlich über diese Gartenstadt immer noch mehr sagen ließe,<br />

erstreckt sich auch auf den hier vorliegenden Band. Mit Liebe zur Sache und mit Forschersinn ist der<br />

Verfasser vor allem der Gründungsgeschichte Frohnaus nachgegangen, ohne beim heutigen Stand<br />

der Quellen und Erkenntnisse letzte Aufschlüsse geben zu können. Die im Grunde noch überschaubare,<br />

genau 1910 einsetzende Historie Frohnaus wird chronologisch aufgezeigt, die vorhandene<br />

Literatur wird aufgearbeitet. Alteingesessene werden befragt. So ist ein in sich abgerundeter Band entstanden,<br />

in dem man auch Parallelen zur jüngsten Vergangenheit oder zur nächsten Zukunft findet,<br />

etwa im Hinblick auf einen Autobahnbau schon vor 1914. In den dreißiger Jahren hat der Krieg dann<br />

derartige Autobahnpläne verhindert. Seinerzeit hatten es die Eigentumsverhältnisse bewirkt, daß<br />

424


Frohnau von zwei Seiten vom Wald umgeben und damit vom Verkehr abgeriegelt worden war. heute<br />

hat die Mauer diese Funktion übernommen und eine Scheinidylle geschaffen.<br />

Kann man dem Autor ein wohlgefälliges Werk bescheinigen, so müßte man den Verlag rügen, weil<br />

er es versäumt hat, dem Buch einen Lageplan oder eine Landkarte beizugeben, in der die im Text<br />

erwähnten und auch anderen sehenswerten Landhäuser eingezeichnet sind. Die Abbildungen haben<br />

ein recht kleines Format; auch hier wäre es ratsam gewesen, bei den Häusern neben der Straße auch<br />

die Hausnummer abzudrucken. Schließlich soll ein solches Buch nicht in Schränken stehen, sondern<br />

will in die Hand genommen werden. Dann wird aber eine Sammlung loser Blätter schon bald der<br />

Lohn fleißigen Lesens sein. „Nirgendwo stehen so viele Bücherregale wie in Frohnau, nirgendwo gibt<br />

es so viele Musikinstrumente" (H. Erman).<br />

M. Mechow hat seine Aufzählung der in Frohnau wohnhaft gewesenen Gelehrten selbst als unvollständig<br />

und nicht gerecht bezeichnet. Bei den Gärungswissenschaftlern wären in der Tat neben B.<br />

(nicht W.) Drews und H. Gesell ganz gewiß Paul Kolbach und K. Silbereisen zu erwähnen.<br />

„Die Sommerreise erspart, wer (in Frohnau) in frischer Waldluft auf eigener Scholle wohnt" - oder,<br />

wie es der Frohnauer Lokalpoet W. Wolff 1936 dichtete: „Ein ehrlich Stückchen deutschen Grund, /<br />

Erkämpft in sau'ren Jahren / Von Mann und Weib im tapfren Bund / Durch Schaffen und durch<br />

Sparen." Etwas von jenen Gefühlen vermittelt M. Mechows Buch. War es schon immer etwas Besonderes,<br />

ein Spandauer zu sein, so ließe sich dies auch von den Frohnauern sagen. H. G. Schultze-Berndt<br />

r>


in einem Nachtrag von 47 Seiten Länge die Geschichte des in der bisherigen Form nicht mehr weiter<br />

geführten Instituts für Zuckerindustrie Berlin (1867 bis 1977) behandelt wird. Niemand vermutet<br />

unter diesem Titel eine derartige Geschichte des Instituts, der besser ein eigenes (schmales) Heft<br />

hätte gewidmet werden sollen.<br />

Die Geschichte dieses ältesten Zuckerinstituts, das zugleich als das älteste wissenschaftliche Industrieinstitut<br />

der Erde im Lebensmittelbereich gilt, ist aufs engste mit der Geschichte Berlins und mit den<br />

Namen der großen Chemiker Andreas Sigismund Marggraf (1709 bis 1782), der in Berlin die<br />

Saccharose in Rüben entdeckte, und seines Schülers Franz Carl Achard (1753 bis 1821) verknüpft,<br />

der Zuckerrüben systematisch züchtete und den ersten Rübenzucker gewann. 1903 wurde für das<br />

Institut am Wedding in der Amrumer Straße 32 ein Neubau errichtet, dessen Abriß trotz der Bestrebungen<br />

von Denkmalschützern nunmehr beschlossene Sache geworden zu sein scheint. Die Nachkriegshistorie<br />

des Instituts hat stets unter der Tatsache gelitten, daß die westdeutsche Zuckerindustrie<br />

in Braunschweig ein neues Institut für Zuckertechnik errichtet und dann versäumt hat, die beiden<br />

bestehenden Institute zu fusionieren, wie dies etwa die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in<br />

Berlin mit dem Brauerei-Hochschulverein e.V. in Köln getan hat. Die lesenswerte Darstellung<br />

gerät zuweilen in die Gefahr, personelle Tatbestände und menschliche Schwächen überzubewerten.<br />

Daß dieser beachtlichen Serie historischer Beiträge ein solches Ende beschert wurde und auch die<br />

Zukunft des Zucker-Museums ungewiß bleibt, hätten beide nicht verdient. H. G. Schultze-Berndt<br />

Deutscher Evangelischer Kirchentag - Berlin 1977. Dokumente. Hrsg. im Auftrag des Präsidiums<br />

des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Stuttgart/Berlin: Kreuz-Verlag 1977. 670 S., geb.,<br />

89 DM.<br />

Im Buchtitel und in der Verlagsangabe lesen wir zweimal Berlin, trotzdem fragen wir uns, ob der<br />

Kirchentag 1977 ein für die Geschichte Berlins wesentliches Ereignis war.<br />

Mit seiner Losung „Einer trage des anderen Last" wollte er ebenso den einzelnen ansprechen wie<br />

politische Anstöße geben. Er wollte erreichen, daß die Bürger es den Politikern möglich machen, ja<br />

sie dazu nötigen, im eigenen Land und weltweit Solidarität zu praktizieren. Die Absicht hat also durchaus<br />

historische Dimension. Wenn es gelingt, sie zu verwirklichen, steht das Buch vom Kirchentag 1977<br />

in Berlin mit Recht in der Bücherei des Vereins für die Geschichte Berlins. Das Buch enthält alle<br />

wesentlichen Reden und Resolutionen in vollem Wortlaut. G. Krauß<br />

Märkisches Viertel Berlin. MV Plandokumentation. Berlin: Kiepert 1972. 20 S., 160 Pläne, 6 S. farbige<br />

Abb.. Pappbd. m. Buchschraubenbindung, 96 DM.<br />

Hans Bändel, Dittmar Machule (Hrsg.): Die Gropiusstadt. Der städtebauliche Planungs- und Entscheidungsvorgang.<br />

Berlin: Kiepert 1974. 178 S. m. 78 Abb., Pappbd., 68 DM.<br />

Die beiden vorliegenden Dokumentationen über die größten Wohnsiedlungen der Nachkriegszeit in<br />

Berlin (West) unterscheiden sich sowohl in der Form wie auch im Inhalt. Während im Band über das<br />

Märkische Viertel die architektonischen Lösungsversuche in ihrer Vielfalt durch die Reproduktion<br />

von Aufrissen und Grundrißbeispielen bis hin zu Abbildungen der farbigen Gestaltung von Fassaden<br />

dargestellt werden, steht im Band über die Gropiusstadt der Entwicklungsprozeß der Gesamtkonzeption<br />

des Stadtteils von den Anfängen in den späten 50er Jahren bis 1974 im Mittelpunkt. Die von<br />

Bändel und Machule ausgewählten Aktenstücke der am Planungsvorgang maßgeblich beteiligten<br />

Stellen geben ein anschauliches Bild von dem Kampf, den Walter Gropius und das mit ihm zusammenarbeitende<br />

TAC (The Architects Collaborative) mit den an der Planung beteiligten Senatsdienststellen,<br />

Berliner Kontaktarchitekten und den Wohnungsbaugesellschaften um die Rettung einer<br />

großen Planungskonzeption geführt hat - ein Kampf, in dem Gropius mehr Niederlagen als Siege<br />

erfechten konnte. Es ist ein großes Verdienst der beteiligten Behörden, ihre Archive zur Erstellung<br />

dieser Dokumentation geöffnet zu haben, die beispielhaft den Kampf zwischen Städtebauer, Bürokratie<br />

und Geldgeber aufzeigt. Felix Escher<br />

426


So schön ist Berlin - Aus der Luft und in Farbe. lOmal Berlin. Fotos Günther Krüger. Berliner<br />

Morgenpost. Mappe 1 und Mappe 2. Format DIN A4, je 10,80 DM.<br />

//^•tf&weils zehn ungewöhnliche Motive aus einer ungewöhnlichen Stadt verheißen die Exklusivaufnahmen<br />

der Berliner Morgenpost. Zwar kennen viele Berliner ihre Heimatstadt auch aus der Vogelperspektive,<br />

aber nur im Bereich der Einflugschneisen und aus den von Start und Landung her<br />

bedingten Höhen. Rundflüge, wie sie bei vielen kleineren Städten freundliches Sonntagsvergnügen<br />

sind, verbieten sich hier. Man muß schon ein Berufsfotograf mit guten Beziehungen sein, um diese<br />

Freude vom Hubschrauber aus zu erleben. Die dabei entstandenen Fotos sind in jeder Beziehung<br />

bestechend, sie ergänzen das Bild, das man von seiner Stadt hat. H. G. Schultze-Berndt<br />

Franz Berndal: Berliner Balladen und andere mit einem Scherenschnitt von Manfred Breuer. Saar-<br />

/./brücken: Blitzdruck-Verlag Ulrich Struth, o. J. Brosch., fotomech. vervielfältigt, 56 S., 8 DM. (Zu<br />

^ erhalten über Franz Berndal, Kreuznacher Straße 68III, 1000 Berlin 33.)<br />

Unser Vereinsmitglied Franz Berndal, Inhaber zahlreicher Preise, Autor mehrerer Anthologien und<br />

beliebter Vortragender, legt hier sein 14. Buch nach dem Zweiten Weltkrieg vor.<br />

Die Themen zu den Balladen schöpfte er nach eigenen Worten aus seinen Vorträgen „in Erinnerung<br />

an unvergängliche Zeitepochen von Alt-Berlin". So ist es kein Wunder, daß Berliner und Wahlberliner<br />

Persönlichkeiten Helden seiner Balladen sind, von Theodor Fontane, Adalbert Matkowsky, E. Th. A.<br />

Hoffmann, Ludwig Devrient, Ludwig Wüllner über Otto Reutter, Rotraut Richter bis zu Arthur<br />

Fleischer. In seiner Sprache weiß der Autor den Balladenton aus vergangenen Zeiten zu treffen - der<br />

Vortragskünstler erweist sich aus dem reichen Gebrauch von Interpunktionszeichen. Diesen Band<br />

möchte man nicht nur der älteren Generation empfehlen. H. G. Schultze-Berndt<br />

Eingegangene Bücher<br />

(Besprechung vorbehalten)<br />

\>- Albertz, Heinrich: Dagegen gelebt — von den Schwierigkeiten ein politischer Christ zu sein. Reinbek:<br />

Rohwolt 1976. 124 S.<br />

Berend, Alice: Spreemann & Co. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1976. 287 S.<br />

Behrend, Horst: St. Peter und Paul auf Nikolskoe. Berlin: Christi. Zeitschriftenverlag 1976.<br />

v<br />

63 S. mit Abb.<br />

Benckert, Michael: Brüderlich verbunden. Bischöfe in Berlin. Frankfurt: Lembeck 1977. 146 S.<br />

Brauner, „Atze": Mich gibt's nur einmal. Rückblende eines Lebens. München/Berlin: Herbig 1976.<br />

267 S. mit Abb.<br />

DDR-Handbuch. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Wiss. Leitung: Peter<br />

Christian Ludz, unter Mitwirkung von Johannes Kuppe. Köln: Verl. Wissenschaft und Politik<br />

1975. 992 S. mit 111.<br />

Döblin, Alfred: Ein Kerl muß eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921-1924. 2. Aufl.<br />

Freiburg/Olten: Walter 1976.283 S.<br />

du Bois-Reymond, Manuela, und Burkhardt Soll: Neuköllner Schulbuch. 2 Bände. Frankfurt a.M.:<br />

tj.<br />

Suhrkamp 1974. Zus. 656 S. (Edition Suhrkamp, 681.)<br />

Fontane, Theodor: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859-1898. Hrsg. v. K. Schreinert und<br />

" G. Hay. Stuttgart: Klett 1972. 587 S.<br />

Fontane, Theodor: Sämtliche Werke. Hrsg. v. K. Schreinert u. H. Kunisch. München: Nymphenburger<br />

Verlagsanstalt 1975.<br />

Fragmente und frühe Erzählungen. 1194 S.<br />

Literarische Essaysund Studien. Zweiter Teil. 1031 S.<br />

Fontane, Theodor: Hrsg. von Wolfgang Preisendanz. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1973. 490 S.<br />

(Wege der Forschung, Bd. 381.)<br />

427


Graeser, Erdmann: Der blaue Amtsrichter. - Ders.: Das falsche Gebiß. Humoristische Erzählungen<br />

aus der Romanfolge Lemkes sei. Wwe. Mit Zeichnungen von Hans Kossatz. Berlin: Rembrandt<br />

1976 u. 1977.155 u. 142 S.<br />

Grieben-Reiseführer Berlin/Potsdam. München: Grieben 1977. 104 S.<br />

Grisebach, Hanna: Potsdamer Tagebuch. Mit einem Nachwort von Hilde Domin. Heidelberg: Lambert<br />

Schneider 1974. 95 S.<br />

Havemann, Robert: Berliner Schriften. Hrsg. von Andreas W. Mytze. 2. Aufl. Berlin: Verl. Europäische<br />

Ideen 1976. 122 S. mit Abb.<br />

Hennig, Ottfried: Die Bundespräsenz in West-Berlin. Entwicklung und Rechtscharakter. Köln: Verl.<br />

Wissenschaft und Politik 1976. 367 S.<br />

Kardorff, Ursula v.: Berliner Aufzeichnungen 1942—1945. München: Nymphenburger Verlagsanstalt<br />

1976. 336 S. mit Abb.<br />

König, Rolf: Det is knorke. Berliner Witze, Typen und Originale. Berlin: Rembrandt 1975. 127 S.<br />

mit Abb.<br />

Kupferberg, Herbert: Die Mendelssohns. Tübingen. Wunderlich 1972. 303 S.<br />

Maass, Joachim: Kleist. Die Geschichte seines Lebens. Bern/München: Scherz 1977. 416 S. mit<br />

Abb.<br />

Mehring, Walter: Die Linden lang, Galopp. Galopp! Songs, Balladen und Chansons. Berlin (Ost):<br />

Henschel 1976. 187 S.<br />

Möller, Horst: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich<br />

Nicolai. Berlin: Colloquium 1974. 629 S. (Einzelveröff. d. Histor. Kommission zu Berlin, Bd. 15.)<br />

Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart: Metzler 1975.<br />

569 S.


Im I. Vierteljahr 1978<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Ursula Blank, Bibliothekarin<br />

1000 Berlin 42, Äneasstraße 21<br />

Tel. 7 05 83 90 (H. P. Freytag)<br />

Dr. Viktor Büber, Arzt<br />

1000 Berlin 42, Wilhelm-Hauff-Straße 21<br />

Tel. 8 52 80 92 (Vorsitzender)<br />

Herbert Düring, Ingenieur<br />

1000 Berlin 19, Dernburgstraße 39<br />

Tel. 3 21 83 80 (Meyer)<br />

Kurt Eichblatt. Studiendirektor i. R.<br />

1000 Berlin 33, Wangerooger Steig 7<br />

Tel. 8 24 51 75<br />

Prof. Dr. Michael Erbe, Hochschullehrer FU<br />

1000 Berlin 28, Ringstraße 23<br />

Tel. 4 04 49 56 (F. Escher)<br />

Johannes Eyfferth, Buchhaltungsleiter i. R.<br />

3430 Witzenhausen, Felsenweg 5<br />

Tel. (0 55 42) 13 03 (Brauer)<br />

Hellmut Georg, Handelsvertreter<br />

1000 Berlin 31, Emser Straße 16<br />

Tel. 87 61 40 (Brauer)<br />

Wanda Georg, Hauswirtschaftsleiterin<br />

1000 Berlin 31, Emser Straße 16<br />

Tel. 87 61 40 (Brauer)<br />

Norbert Goderski, Sozialamtmann<br />

1000 Berlin 33, Wetzlarer Straße 8<br />

Tel. 8 21 57 67 (Brauer)<br />

Klaus Hänel, Student<br />

1000 Berlin 61, Monumentenstraße 26<br />

Tel. 7 85 84 64 (R. Koepke)<br />

Gerda Heckmann, Hausfrau<br />

1000 Berlin 31, Rudolstädter Straße 94<br />

Tel. 8 23 41 76 (Bibliothek)<br />

Hans Heckmann, Ingenieur<br />

1000 Berlin 31, Rudolstädter Straße 94<br />

Tel. 8 23 41 76 (Bibliothek)<br />

Erika Knönagel, Sekretärin<br />

1000 Berlin 10, Lohmeyerstraße 6<br />

Tel. 3 42 77 23 (Dorothea Krahn)<br />

Jutta Leube, Oberregierungsrätin<br />

1000 Berlin 33, Breite Straße 44<br />

Tel. 8 25 74 70 (Brauer)<br />

Heinz Montag, Zahnarzt<br />

1000 Berlin 20, Steinmeisterweg 17 A<br />

Tel. 3 61 81 74 (E. Montag)<br />

Dr. Joachim Neß, Beamter<br />

1000 Berlin 46, Brucknerstraße 10<br />

Tel. 7 71 52 30 (W. Klempin)<br />

Frank Rose, Bibliothekar<br />

1000 Berlin 27, Alt-Heiligensee 63<br />

(Sterry)<br />

Hans-Joachim Scheil, Handelsvertreter<br />

4530 Ibbenbüren/Westf., Rählege 21/23<br />

(Brauer)<br />

Manfred Schneider, Abteilungspräsident<br />

1000 Berlin 19, Kranzallee 7 b<br />

Tel. 3 04 31 88 (Schriftführer)<br />

Ingrid Schultze. Buchbindermeisterin i. R.<br />

1000 Berlin 33, Habelschwerdter Allee 10<br />

Tel. 8 32 60 80 (Frau Kaeber)<br />

Annemarie Wockenfuß, Gewerbelehrerin i. R.<br />

1000 Berlin 62, Freiherr-vom-Stein-Straße 5<br />

Tel. 8 54 65 57 (Frau P. Struckmann)<br />

Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin" wird im Spätsommer erscheinen. Die Mitglieder erhalten dann<br />

den Band zugeschickt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das laufende Jahr (z.Z. 36 DM)<br />

entrichtet haben. Der Ladenpreis wird bei ca. 20 DM liegen.<br />

An den Sonnabenden 8. April, 15. April und 6. Mai 1978 finden für die bereits gemeldeten Teilnehmer<br />

die Exkursionen nach Potsdam statt. Nach der Besichtigung des Theodor-Fontane-Archivs ist ein<br />

Spaziergang durch die Fußgängerzone am Brandenburger Tor zur Friedenskirche, zum Schloß<br />

Sanssouci und durch den in diesem Winter zurückgeschnittenen Park Charlottenhof vorgesehen. Den<br />

Teilnehmern ist bereits das genaue Programm zugegangen.<br />

429


Gleichzeitig soll hier eine weitere Exkursion angezeigt werden.<br />

Sonnabend, den 3. Juni 1978, nach Rheinsberg.<br />

Unter der Leitung von Herrn Joachim Schlenk.<br />

Dienstag, 23. Mai 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger als Einführung<br />

für die Fahrt nach Rheinsberg im Rathaus Charlottenburg.<br />

Interessierte Mitglieder müssen sich schriftlich mit genauer Anschrift und Angabe der Telefonnummer<br />

bis zum 30. April 1978 anmelden bei:<br />

Herrn Joachim Schlenk, Potsdamer Straße 40,1000 Berlin 45.<br />

Voranzeige der Studienfahrt 1978 nach Goslar<br />

Vorsorglich sei heute schon darauf hingewiesen, daß die diesjährige Exkursion auf Anregung der Kurund<br />

Fremdenverkehrsgesellschaft Goslar vom 1. bis 3. September 1978 nach Goslar führt, um den<br />

Teilnehmern die Gelegenheit zu geben, das diesjährige Goslarer Altstadtfest zu besuchen. Es ist<br />

vorgesehen, am Freitagnachmittag in den Lehrstollen im Rammeisberg einzufahren. Der ganze Sonnabend<br />

wird von der Besichtigung Goslars in Anspruch genommen. Am Sonntagvormittag schließt<br />

eine Fahrt in den Oberharz das Programm ab; es werden Gräben, Teiche und Talsperren der dortigen<br />

Wasserwirtschaft besichtigt, die im 16. Jahrhundert vom Bergbau ins Leben gerufen worden ist und<br />

erst in unseren Tagen anderen Zwecken nutzbar gemacht wurde.<br />

Um die heikle Frage der Bettenzahl möglichst frühzeitig zu klären, werden Interesseriten an dieser<br />

Studienreise gebeten, unverbindlich eine Postkarte an den Schriftführer, Dr. H. G. Schultze-Berndt.<br />

Seestraße 13. 1000 Berlin 65, zu senden und dort ihre Zimmerwünsche anzugeben. Das genaue Programm<br />

wird im nächsten Heft der „Mitteilungen" veröffentlicht; die daraufhin erbetenen festen<br />

Anmeldungen sind dann entscheidend für die Teilnahme an der Exkursion. H. G. Schultze-Berndt<br />

Tagesordnung der Ordentlichen Mitgliederversammlung<br />

1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichts, des Kassenberichts und des Bibliotheksberichts<br />

2. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer<br />

3. Aussprache<br />

4. Entlastung des Vorstandes<br />

5. Ersatzwahl für den Vorstand<br />

6. Wahl von zwei Kassenprüfern und von zwei Bibliotheksprüfern<br />

7. Ernennung von Ehrenmitgliedern<br />

8. Verschiedenes<br />

Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind spätestens am 16. April 1978 der Geschäftsstelle einzureichen.<br />

Anschließend zeigt unser Mitglied Karl-Heinz Kretschmer seine Filme von der Studienfahrt 1977 ins<br />

Hannoversche Wendland.<br />

Um sehr pünktliches Erscheinen wird gebeten.<br />

430


Die Veröffentlichungen des Vereins<br />

Von den früheren Ausgaben des Jahrbuchs<br />

DER BÄR VON BERLIN<br />

sind folgende Bände noch erhältlich:<br />

1953, 1957/58 und 1960 je 4,80 DM; 1961 bis 1964 je 5,80 DM; 1965 (Festschrift)<br />

38- DM; 1968 und 1969 je 9,80 DM; 1971 und 1972 je 11,80 DM;<br />

1973 bis 1975 je 12,80 DM; 1976 und 1977 je 18,50 DM.<br />

MITTEILUNGEN<br />

des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

erscheinen vierteljährlich im Umfang von 32 Seiten. Sie enthalten in der<br />

Regel mehrere Artikel mit Themen zur Berliner Geschichte (mit Abbildungen),<br />

Nachrichten zu aktuellen Anlässen und aus dem Vereinsleben,<br />

Buchbesprechungen und das Programm der laufenden Veranstaltungen<br />

des Vereins.<br />

Einzelhefte aus früheren Jahrgängen sind zum Stückpreis von 4,- DM<br />

noch erhältlich.<br />

Von der neuen Folge der<br />

Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

sind bisher erschienen:<br />

Heft 59: Johann David Müller, Notizen aus meinem Leben (1973)<br />

Preis 9,80 DM<br />

Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing, Königin Elisabeth von Preußen. (1974)<br />

Preis 11,80 DM<br />

Heft 61: Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen<br />

Geschichte von Berlin-Brandenburg. (1977)<br />

Konrad Kettig, Goetheverehrung in Berlin. Ein Besuch von<br />

August und Ottilie von Goethe in der preußischen Residenz 1819.<br />

(1977) Preis 16,80 DM<br />

Alle Preise zuzüglich Porto<br />

Bestellungen sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten:<br />

Albert Brauer, Blissestraße 27,1000 Berlin 31<br />

431


Veranstaltungen im II. Quartal 1978<br />

1. Dienstag, 18. April 1978, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Johann Schöbeck:<br />

„Altberliner Reminiszenzen". Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

2. Sonnabend, 29. April 1978, 15 Uhr: Besuch des Dominikanerklosters St. Paulus,<br />

Berlin 21, Oldenburger Straße 46. Führung: Pater Burkhard O.P. Busse: 23, 24, 70, 72<br />

und 89.<br />

3. Mittwoch. 10. Mai 1978, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Bürgersaal<br />

des Rathauses Charlottenburg.<br />

Die Tagesordnung ist auf Seite 430 ausgedruckt.<br />

4. Freitag, 12. Mai 1978, 17 Uhr: Besuch des Ateliers des Bildhauers Professor Bernhard<br />

Heiliger, Berlin 33, Käuzchensteig 12. Führung: Professor Bernhard Heiliger. Bus: 60.<br />

5. Sonnabend, 17. Juni 1978, 10 Uhr: Führung durch Herrn Felix Escher: „Entwicklung<br />

eines vorstädtischen Bereiches - Tempelhof". Treffpunkt: Reinhardtstraße Ecke Alt-<br />

Tempelhof. (U-Bahnhof Alt-Tempelhof.)<br />

6. Dienstag, 27. Juni 1978, 17 Uhr: Führung von Herrn Dr. Peter Letkemann durch die<br />

Ausstellung im Geheimen Staatsarchiv: „Der Berliner Kongreß 1878". Berlin 33,<br />

Archivstraße 12. Busse: 1 und 68, U-Bahn: Dahlem-Dorf.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek ist<br />

zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Veranstaltungen geselliges<br />

Beisammensein im Ratskeller.<br />

Freitag, 28. April, 26. Mai und 30. Juni, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek<br />

ab 17 Uhr.<br />

Bitte beachten Sie auch die Voranzeigen auf den Seiten 429 und 430.<br />

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. W. Hoffmann-Axthelm. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31,<br />

Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65. Seestraße<br />

13, Ruf 45 3011. Schatzmeister: Ruth Koepke. 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf<br />

6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto<br />

Nr. 038 180 1200 bei der Berliner Bank, 1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung Claus P. Mader, 1000 Berlin 41, Bismarckstraße 12; Felix Escher.<br />

Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM<br />

jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

432


**«***,* .ZI A20 377F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

74. Jahrgang Heft 3 Juli 1978<br />

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Das Siegesdenkmal auf dem Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik<br />

433


Ein hundertjähriges Buch und seine Vettern<br />

Zu Robert Springers „BERLIN UND DIE DEUTSCHE KAISERSTADT"<br />

Von Hans-Werner Klünner<br />

Vor 45 Jahren brachten unsere „Mitteilungen" im 50. Jahrgang (1933), Heft 3, Seite 86 f.,<br />

eine kleine Abhandlung von Dr. Erich Fabian unter dem Titel „Zentenarfeier eines Prachtwerkes",<br />

über einen damals Hundertjährigen, nämlich Samuel Heinrich Spikers „Berlin und<br />

seine Umgebungen im 19. Jahrhundert". Felix Hasselberg wies später im Beiblatt Nr. 1/<br />

1937 nochmals auf das Jubiläum dieses „Klassikers" unter den illustrierten Berlin-Büchern<br />

hin. Der „Spiker", damals schon selten und teuer - die Originalausgabe wurde zwischen<br />

90 und 150 RM gehandelt - ist heute im Original noch seltener und für Normalverbraucher<br />

von Berolinensien unerschwinglich geworden; in der Mai-Auktion 1977 bei<br />

Bassenge erbrachte das vollständige Exemplar (mit 104 Stichen auf 52 Tafeln) 9000 DM.<br />

Die Hälfte dieses Preises erzielte auf der gleichen Auktion der Hundertjährige, dem diese<br />

Zeilen gewidmet sind. Um die Jahreswende 1877/78 erschien - erstmals nach der Reichsgründung<br />

von 1871 als Schilderung der neuen Reichshauptstadt - das Buch: „BERLIN DIE<br />

DEUTSCHE KAISERSTADT nebst POTSDAM UND CHARLOTTENBURG in PHOTO­<br />

GRAPHISCH TREUEN STAHLSTICHEN. Mit historisch topographischem Text von<br />

ROBERT SPRINGER. DARMSTADT 1877. VERLAG VON FRIEDRICH LANGE." So der<br />

gestochene Titel, der darauf folgende gesetzte Titel lautet etwas anders: „Berlin die deutsche<br />

Kaiserstadt nebst Potsdam und Charlottenburg mit ihren schönsten Bauwerken und<br />

hervorragendsten Monumenten. Eine malerische Wanderung in Buch und Bild für Einheimische<br />

und Fremde von Robert Springer. Mit 48 photographisch treu ausgeführten<br />

Original-Stahlstichen. Darmstadt 1878. Verlag von Friedrich Lange." Eine zweite Auflage<br />

des Werkes erschien Ende 1881, nach damaliger Sitte vordatiert auf 1882, im Verlag von<br />

H. Bokelmann in Frankfurt am Main. (1969 veranstaltete die Verlagsbuchhandlung Haude<br />

& Spener in Berlin einen Neudruck nach der ersten Auflage, in dem allerdings ein Stahlstich<br />

weniger als im Original enthalten ist.) Neben der Buchausgabe, die es auch als großformatige<br />

Prachtausgabe auf Japanpapier gedruckt gab, wurden die Stahlstiche auch einzeln verkauft.<br />

Noch vor dem Krieg konnte man sie billig bei den Bücherkarren rings um die Universität<br />

erwerben. Das ganze Buch war damals häufig zum Preis zwischen zehn und zwanzig<br />

Mark zu haben. Noch 1958 bot ein Berliner Antiquariat die 2. Auflage für 25 DM an.<br />

Die in den letzten Jahren lawinenartig angeschwollene Nachfrage nach Berlin-Stichen ließ<br />

denn auch den Neudruck des früher so wenig wert erachteten Buches möglich werden.<br />

Unsere Vereinsbibliothek zum Beispiel besaß den Band (nach Ausweis der gedruckten<br />

Bücherverzeichnisse) vor dem ersten Weltkrieg nicht.<br />

Das Interesse an den Stahlstichen hat den Verfasser des Textes völlig in den Hintergrund<br />

treten lassen, obwohl dieser zu seiner Zeit in Berlin kein Unbekannter war. Der „Allgemeinen<br />

Deutschen Biographie", Bd. 35 (1893), Seite 319 ff., können wir über ihn zusammengefaßt<br />

etwa folgendes entnehmen: Robert Springer, geboren am 23. November 1816 zu<br />

Berlin als Sohn eines Juweliers, besuchte 1835 bis 1838 das Berliner Stadtschullehrer-<br />

Seminar und war anschließend Lehrer an einer höheren Mädchenschule. Seit 1840 freier<br />

Schriftsteller, lebte er nach mehrjährigen Aufenthalten in Paris, Rom, Wien und Leipzig<br />

von 1853 an ständig in Berlin, wo er als Mitarbeiter im Feuilleton großer Tageszeitungen<br />

434


u CWürbs photo§:<br />

itraa Ha:K©a1>i3i:]Ka]Ra:i£i^ TX araruicass,<br />

J.KKolb siulp.' -_<br />

435


und Zeitschriften auf dem Gebiet der Kunst- und Literaturgeschichte, sowie der kultur- und<br />

lokalgeschichtlichen Skizze tätig war. Er starb in Berlin am 21. Oktober 1885.<br />

Springer war Verfasser einer längeren Reihe damals beliebter Jugendschriften, die er unter<br />

dem Pseudonym „Adam Stein" veröffentlichte, sowie von Romanen historischen oder<br />

historisch-politischen Charakters, die er unter seinem bürgerlichen Namen herausgab.<br />

Sehr intensiv befaßte er sich mit der Geschichte der klassischen Weimarer Epoche. Diese<br />

Arbeiten Springers sind heute vergessen, während seine lokalgeschichtlichen und lokalpsychologischen<br />

Studien noch unser Interesse beanspruchen können. Neben einzelnen<br />

Abhandlungen in den Zeitschriften „Gartenlaube" und „Über Land und Meer", die zum<br />

Teil in seine Bücher übernommen wurden, seien hier genannt: „Berlins Straßen, Kneipen<br />

und Klubs im Jahre 1848" (Berlin 1850); „Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre<br />

Umgebungen" (Leipzig 1861); siehe hierzu die Rezension des Neudrucks durch Peter<br />

Letkemann in den „Mitteilungen", 74. Jg. (1978), Heft 1, Seite 396; „Berlin wird Weltstadt.<br />

Ernste und heitere Kulturbilder" (Berlin 1868); „Berliner Prospekte und Physiognomien"<br />

(Berlin 1870) und die Novelle „Banquier und Schriftsteller. Ein Lebensbild aus<br />

der Berliner Gesellschaft" (Berlin 1877), die unter Verwendung von Motiven, Persönlichkeiten<br />

und Schauplätzen der Wirklichkeit geschrieben ist. Diese Novelle ist eine Art<br />

Schlüsselroman und könnte vielleicht als einer der ältesten Ansätze zu einem realistischen<br />

„Berliner Roman" gesehen werden.<br />

Der Text von „Berlin — die deutsche Kaiserstadt" war in Springers Schaffen auch nur ein<br />

Nebenprodukt, er hat ihn wahrscheinlich ohne Kenntnis der vorgesehenen Illustrationen<br />

verfaßt. Die Stahlstiche wurden dann recht und schlecht - weitab von Berlin und ohne<br />

Kenntnis der Örtlichkeit - dem Text eingefügt. Er ist im Ganzen genommen eine Kompilation,<br />

in der wir neben einer geschichtlichen Einleitung, unter dem Motto „Vom Fischerdorf<br />

bis zur Kaiserstadt" an Adolf Streckfuß' „Vom Fischerdorf zur Weltstadt" anklingend,<br />

mehrere Texte aus seinen früheren Büchern finden, die mit verbindenden Abschnitten den<br />

Leser durch die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten und Errungenschaften führen. Wenn<br />

auch hier das Wort von Springers Biographen Ludwig Fränkel zutrifft, daß sein „Darstellungsvermögen<br />

sich nirgends zu künstlerischer Höhe aufschwingt", so ist der Text doch für<br />

die Zustände im Berlin der Zeit nach den Gründerjahren - 1871 bis 1875 - durchaus<br />

informativ.<br />

Ganz anders ist es mit den Stahlstichen! Der Verlag Friedrich Lange in Darmstadt war<br />

Nachfolger der Firma von Gustav Georg Lange, dem seinerzeit führenden Unternehmen<br />

auf dem Gebiet der Ansichtenwerke und der Verbreitung des Stahlstiches in Deutschland.<br />

Dieser Verlag hatte in seinem Buch „Berlin und seine nächsten Umgebungen in malerischen<br />

Originalansichten. Historisch-topographisch beschrieben von Ludwig Rellstab" (erste<br />

Auflage 1852, zweite Auflage 1855) sowie in dem gleichfalls 1852 erschienenen zehnten<br />

Band der Reihe „Original-Ansichten von Deutschland nach der Natur aufgenommen von<br />

Ludwig Rohbock, Carl Würbs u.a., in Stahl gestochen von deutschen Künstlern mit einem<br />

historisch-topographischen Text", bereits eine ganze Anzahl von Ansichten aus Berlin und<br />

seiner Umgebung veröffentlicht. Nun, nach zwanzig Jahren, finden wir viele davon im<br />

„Springer" wieder, allerdings mit zeitgemäß veränderter Staffage: die Bäume sind höher,<br />

die Gebüsche sind dichter, weitaus mehr Menschen beleben die Szenerie und der elegante<br />

Pferdeomnibus fehlt nicht. Zeichner und Stecher sind zwar dieselben geblieben, aber es<br />

heißt nicht mehr: Gez. von L. Rohbock bzw. C. Würbs, sondern: L. Rohbock Photogr.<br />

Das „Photogr." ist eine Konzession an den Publikumsgeschmack, der im Zeitalter der sich<br />

436


ausbreitenden Fotografie großen Wert auf fotografisch getreue Wiedergabe der Ansichten<br />

legte.<br />

Die Auswahl der Bilder war also vom Fundus des Verlages abhängig und paßt daher vielfach<br />

nicht zum Text. Neben den älteren, nur in der Staffage modernisierten Motiven, die in<br />

der Hauptsache die bekannten Prachtbauten zwischen Brandenburger Tor und Schloß<br />

zeigen, finden wir als Darstellung der Gegenwart - die Zeit nach 1871 - nur etwa ein<br />

Dutzend Ansichten, zum Beispiel das Rathaus, die Nationalgalerie, die Synagoge, die<br />

„Kaiserpassage" Friedrichstraße —Unter den Linden, die Englische Botschaft in der<br />

Wilhelmstraße (das vormalige Palais Strousberg), die Siegessäule, die Börse, den Zoologischen<br />

Garten und das Reichstagsgebäude. Das letztere, mit dem Titel „Das deutsche<br />

Reichstagsgebäude in Berlin. Nach seiner Vollendung" ist freilich ein Kuriosum: Der Text<br />

im Buch beschreibt nämlich kurz das provisorische Reichstagshaus in der Leipziger Straße 4,<br />

welches durch einen nach Hitzigs und Gropius' Plänen ausgeführten Umbau des ehemaligen<br />

Hauptgebäudes der Königlichen Porzellanmanufaktur entstanden war. Dieses Provisorium<br />

wurde bis zur Fertigstellung des Wallot-Baues am heutigen Platz der Republik im<br />

Jahre 1894 benutzt. Der Stahlstich jedoch zeigt - ohne einen erläuternden Hinweis im<br />

Text - den aus dem ersten Reichstagswettbewerb von 1872 stammenden und mit dem<br />

ersten Preis ausgezeichneten Entwurf des Deutsch-Russen Ludwig Bohnstedt, der wegen<br />

der ungeklärten Platzfrage damals nicht ausgeführt wurde. Für die Jahre 1877/78 ganz und<br />

gar unrichtig ist auch die Wiedergabe der Nikolaikirche in Berlin. Als das Buch erschien,<br />

war gerade die durchgreifende Restaurierung der Kirche beendet, die ihr den uns noch<br />

bekannten Doppelturm brachte, während der Stich noch die alte eintürmige Front zeigt.<br />

Mögen diese Ungereimtheiten für die Ausgabe von 1877/78 noch hingehen, so führt die in<br />

Illustration und Text völlig unveränderte zweite Auflage den Leser völlig in die Irre. Inzwischen<br />

waren in Berlin so viele Veränderungen geschehen, daß das Buch total überholt war.<br />

Es ist allerdings anzunehmen, daß die zweite Auflage ein Teildruck der ersten ist, dem man<br />

wegen des Verlagswechsels nur ein neues Titelblatt gab. Zu beachten ist, daß das Buch auf<br />

dem typographischen Titel nur noch „Die deutsche Kaiserstadt" heißt, während der vorgeklebte<br />

gestochene Titel den alten Wortlaut „Berlin die deutsche Kaiserstadt" führt. Auch<br />

auf der Einbanddecke ist das Wort „Berlin" verschwunden. Was mag der Grund für diese<br />

merkwürdige Neuauflage gewesen sein?<br />

Der Verlag von Otto Spamer, Berlin und Leipzig, hatte im Juli 1881, vordatiert auf 1882,<br />

ein illustriertes Berlin-Buch auf den Markt gebracht unter dem Titel: „Die deutsche Kaiserstadt<br />

Berlin. Stadtgeschichten, Sehens- und Wissenswerthes aus der Reichshauptstadt und<br />

deren Umgebung. Von Ernst Friedel, Stadtrath von Berlin und Dirigent des Märkischen<br />

Provinzialmuseums." Mit 110 Holzschnitten, drei Tonbildern, einer Vogelschauansicht und<br />

einem Stadtplan, war es reich ausgestattet und mit dem Preis von 4 Mark auch ziemlich<br />

wohlfeil. Zur gleichen Zeit erschien es als Band 9 des Sammelwerks „Deutsches Land und<br />

Volk", erweitert durch einen von Oskar Schwebel verfaßten Teil über die Mark, mit dem<br />

Titel „Bilder aus der Mark Brandenburg, vornehmlich der Reichshauptstadt".<br />

Stadtrat Ernst Friedel, von 1884 bis 1891 auch 1. Vorsitzender unseres Vereins, war der<br />

berufene Mann für dieses Buch, dessen Abfassung dem Magistrat sehr gelegen kam, weil<br />

die Stadt Berlin sich vom Reichskanzler Bismarck auf das heftigste angegriffen sah. Der<br />

Kanzler hatte nämlich in der Reichstagsrede am 4. März 1881 der Berliner Stadtverwaltung<br />

gedroht, den Sitz des Reichstages und der Regierung in eine andere Stadt der Monarchie<br />

zu verlegen. Der Anlaß dazu war ein Streit mit dem Magistrat über die Höhe der Miet-<br />

437


Anzeige aus: Illustrirte Berliner Wochenschrift „Der Bär", Eine Chronik für's Haus. Berlin, 16. Juli<br />

1881<br />

Steuer, welche der Kanzler für ungerechtfertigt hielt. Den tieferen Grund für diese spektakuläre<br />

Äußerung bildet aber der Groll Bismarcks über die politische Haltung der Berliner<br />

Stadtverordnetenmehrheit, den von ihm so genannten „Fortschrittsring". Nicht zuletzt dem<br />

Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich III., war es zu verdanken,<br />

daß die Bismarckschen Verlegungspläne nicht weiterverfolgt wurden.<br />

Möglicherweise ist also das Friedeische Kaiserstadt-Buch der Grund für die Neuauflage des<br />

„Springer" gewesen. Vielleicht sollte sie auch Rechte am Titel sichern, denn die Übereinstimmung<br />

mit den Konkurrenten war zu augenfällig. Doch das Durcheinander sollte noch<br />

größer werden, die Kaiserstadt-Mode eine neue Blüte treiben, als im Dezember 1882 das<br />

Lieferungswerk „Die deutsche Kaiserstadt Berlin und ihre Umgebung. Geschildert von<br />

Max Ring. Verlag von Heinrich Schmidt & Carl Günther. Leipzig 1883" zu erscheinen<br />

begann. Die aufwendige Publikation mit insgesamt 313 Abbildungen umfaßte 30 Hefte<br />

zum Preise von je einer Mark. Auch hier waren die Illustrationen nur zum Teil neu angefertigt,<br />

viele waren schon früher in verschiedenen Zeitschriften, wie „Bär", „Gartenlaube",<br />

„Über Land und Meer" usw., gebracht worden; auch unser Verein hatte eine Anzahl<br />

Druckstöcke dazu hergeliehen. Im Frühjahr 1884 lag das Werk abgeschlossen vor. Sein<br />

Verfasser, Dr. med. Max Ring (1817 bis 1901), war ein im Berlin-Feuilleton geübter<br />

Schriftsteller und seit Anfang der 50er Jahre auf diesem Gebiet tätig. Interessant ist<br />

Theodor Fontanes Urteil über ihn, das wohl auch heute nicht revidiert zu werden braucht:<br />

„Die Sachen von der Marlitt, von Max Ring, von Brachvogel, Personen, die ich gar nicht<br />

als Schriftsteller gelten lasse, erleben nicht nur zahlreiche Auflagen, sondern werden<br />

womöglich ins Vorder- und Hinterindische übersetzt; um mich kümmert sich keine<br />

Katze" (aus einem Brief an seine Frau Emilievom 15. Juni 1879).<br />

438


Anzeige aus:<br />

Drittes Beiblatt zur<br />

Illustrirten<br />

Berliner Wochenschrift<br />

„Der Bär".<br />

Berlin, 23. Dezember 1882<br />

von<br />

.• Mit30ÖJllustralionen.<br />

M%(£2 l.f1lm-k.<br />

Am Schluß unserer Plauderei über das merkwürdige Kaiserstadt-Trio - August Trinius'<br />

im Herbst 1888 erschienenes Buch „Die Umgebungen der Kaiserstadt Berlin in Wort und<br />

Bild" behandelt hauptsächlich die damals nicht zu Berlin gehörenden Teile der Mark<br />

Brandenburg und bleibt hier unberücksichtigt - soll noch darauf hingewiesen werden, daß<br />

der uns so geläufige Begriff „Reichshauptstadt" damals amtlich nicht gebraucht wurde und<br />

erst langsam im Vordringen war. Berlin hieß offiziell die „Königliche Haupt- und Residenzstadt",<br />

Reichshauptstadt wurde es amtlich erst am 1. Dezember 1936 mit dem „Gesetz<br />

über die Verfassung und Verwaltung der Reichshauptstadt Berlin". Die Bezeichnung als<br />

„Kaiserstadt" zeigte in den Jahren nach der Reichsgründung den allgemeinen Stolz auf das<br />

neue Reich und den besonderen Stolz der Berliner über die Rangerhöhung der preußischen<br />

Metropole zu einer der alten Kaiserstadt Wien ebenbürtigen Residenz des neuen<br />

deutschen Kaisers.<br />

Alle Abbildungen aus dem Archiv des Verfassers.<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 42, Felixstraße. 13<br />

439


Die Hauptstadt und die Havelstadt<br />

Berlin und Spandau in ihren wechselseitigen Beziehungen<br />

(Fortsetzung und Schluß aus Heft 1/1978)<br />

Von Arne Hengsbach<br />

Nach dem großen „Krach", der die Gründerzeit beendet hatte, war im Berliner Grundstücksgeschäft<br />

eine Flaute eingetreten, der dann in den neunziger Jahren wieder eine Belebung<br />

des Grundstücksmarktes folgte. Der nun einsetzende Aufschwung der Grundstücksund<br />

Bauspekulation konnte um so erfolgreicher verlaufen, als sie durch die inzwischen<br />

getroffenen Verbesserungen im Eisenbahnverkehr, die Einrichtung der Vorortzüge und die<br />

Einführung verbilligter Vororttarife gefördert wurde. Für die Gründer jähre um 1870<br />

waren die von Aktiengesellschaften ins Leben gerufenen Landhaus- und „Cottage"-<br />

Siedlungen sowie Mietskasernenquartiere verschiedener Prägung typisch gewesen. Die<br />

Gründerzeit hatte überall Wohnraum geschaffen. Auch jetzt widmete das Grundstücksgeschäft<br />

wiederum einen großen Teil seiner Bestrebungen der Anlage von Wohnsiedlungen;<br />

daneben aber erhielt die Grundstücksbewegung neue Antriebe durch die Standortveränderungen<br />

der Berliner Industrie.<br />

Diese fand an ihren Stammsitzen, etwa in der Chausseestraße nahe beim Stettiner Bahnhof<br />

oder in der Luisenstadt, keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr. Überall von hochgeschossiger<br />

Bebauung umgeben waren die Firmen gezwungen, in einer Enge, die als immer drangvoller<br />

empfunden wurde, zu produzieren. Sie suchten daher mehr oder weniger umfangreiche<br />

Grundstückskomplexe im näheren und weiteren Umland der Reichshauptstadt, wo eine<br />

Vergrößerung der Werkanlagen auch für eine längere Zeit durchführbar schien. Dabei<br />

spielten die Schwierigkeiten, die eine mangelhafte Erschließung derartiger entfernt gelegener<br />

Terrains mit sich brachten, häufig eine zweitrangige Rolle. Wichtig war, daß ein<br />

Eisenbahn- oder Wasseranschluß gleich oder in absehbarer Zeit hergestellt werden konnte.<br />

Den Arbeitern konnte nach der damaligen Einstellung die Unbequemlichkeit eines langen<br />

Weges zwischen Wohnung und Arbeitsstätte durchaus zugemutet werden. Außerdem<br />

sorgte eine rührige Bauspekulation oft dafür, daß in der Nähe abgelegener Fabriken auch<br />

Wohnhäuser für die dort Beschäftigten errichtet wurden. Bei einer wohlwollenden Handhabung<br />

der Ausnahme vom ortsgesetzlichen Bauverbot an unfertigen Straßen nach § 12 des<br />

Fluchtliniengesetzes von 1875 war die Schaffung solcher abgelegenen Wohnquartiere<br />

durchaus möglich.<br />

Nun, ein Vierteljahrhundert nach der Gründerzeit, schwappten die Wellen des Berliner<br />

Grundstücks- und Baugeschäfts abermals bis nach Spandau hin, und diesmal wurde die<br />

Havelstadt mit ihrer Umgebung auf die Dauer in den Bereich des Berliner Terraingeschäftes<br />

einbezogen. Das konnte um so leichter geschehen, als jetzt, um 1900, die Aufhebung der<br />

Spandauer Festung und damit auch die der Baubeschränkungen und -verböte aufgrund der<br />

Rayonvorschriften in absehbarer Zeit zu erhoffen stand. Im einzelnen wirkte die oben<br />

skizzierte Entwicklung in und bei Spandau sich so aus:<br />

Im Jahre 1896 kaufte die Firma Schwartzkopff in Staaken, also noch jenseits von Spandau,<br />

ein großes Areal Ackerland an, um hier eine Fabrikanlage zu errichten. Von diesem Vorhaben<br />

kam das Unternehmen allerdings wieder ab; es siedelte sich 1899 nicht in Staaken,<br />

sondern in Wildau bei Königswusterhausen an. Auf dem Staakener Terrain der Firma<br />

440


sollte dann 1914 die Gartenstadt Staaken entstehen. Zwei Jahre später, 1898, ließ sich im<br />

äußersten Westen des Spandauer Weichbildes unweit der Staakener Grenze die Firma<br />

Orenstein & Koppel nieder, um hier eine Fabrik für Eisenbahnbedarf zu errichten. Im<br />

Osten Spandaus, in Paulstern und Sternfeld, richtete 1888— 1891 die alte chemische.Fabrik<br />

von A. Motard aus der Gitschiner Straße ihre Stearin- und Oleinfabrikation ein. Noch weiter<br />

östlich, in den einsamen Wiesen an der Spree und am Nonnendamm, unfern der Charlottenburger<br />

Grenze, erwarb die Firma Siemens seit 1897 Terrains, da ihre Grundstücke an<br />

der Markgrafenstraße und am Salzufer eine Erweiterung der Fertigungen nicht mehr<br />

zuließen. Das an der Unterspree neu erbaute Kabelwerk nahm 1899 seinen Betrieb auf, ein<br />

Jahr später beschäftigte es bereits 1200 Personen.<br />

Zu diesen Gründungen, die der Initiative der betroffenen Firmen entsprungen waren,<br />

gesellte sich die bewußt geplante Industrieansiedlung auf kommerzieller Grundlage. Die<br />

Berliner „Grundrentengesellschaft" erwarb im Jahre 1900 ein über 600 000 m 2 großes<br />

Wiesengelände in der „Maselake" bei Hakenfelde und erschloß dieses Terrain für industrielle<br />

Zwecke. In den Straßen, die das künftige Industriegelände durchziehen sollten,<br />

wurden die Gleise einer Güteranschlußbahn verlegt und für den Schiffsverkehr ein Stichkanal<br />

angelegt. Zwar ist in der Folgezeit die Veräußerung von Teilflächen des Geländes an<br />

Interessenten zunächst schleppend und unbefriedigend verlaufen, darüber darf aber nicht<br />

außer acht gelassen werden, daß dieses Vorhaben der Grundrentengesellschaft eines der<br />

frühesten Groß-Terraingeschäfte war, die nicht Wohnsiedlungen, sondern Industriegebiete<br />

schaffen wollten.<br />

Die allgemeine Terrainspekulation ohne spezielle Zielsetzungen sicherte sich ebenfalls seit<br />

den neunziger Jahren Grundstückskomplexe. Der Kaufmann Nathan Bernstein hatte bereits<br />

1893 das „Gut Bocksfelde" an der Scharfen Lanke erworben, um es zu gegebener Zeit<br />

parzellieren und mit Gewinn veräußern zu können. Derartige Spekulationskäufe am Ufer<br />

der Unterhavel zwischen Spandau und Weinmeisterhorn wurden in jenen Jahren wiederholt<br />

getätigt; u.a. hatte auch der bekannte Berliner Baurat Kyllmann im Spandauer Süden<br />

Grundstücksinteressen. Im Vorfeld der noch vorhandenen Festungswerke, im Bereich des<br />

östlichen Abschnittes der Falkenseer Chaussee und nördlich der Seegefelder Straße begann<br />

um 1900 der Grundstücksumsatz für künftige spekulative Absichten ebenfalls immer reger<br />

zu werden.<br />

Die zahlreichen zu künftiger Verwertung erworbenen bisherigen Acker- und Wiesenflächen<br />

wurden, damit sie wenigstens bis zur Beanspruchung geringe Erträgnisse brachten, seit<br />

etwa 1900 in zunehmendem Maße zur Nutzung an Kleingartenkolonien verpachtet. Damit<br />

wurde abermals eine Berliner Einrichtung in Spandau übernommen, und so gewann die<br />

Physiognomie Spandaus immer mehr die Züge einer Berliner Vorortgemeinde.<br />

Als die ersten privaten Industriebetriebe kurz vor der Jahrhundertwende nach Spandau<br />

überzusiedeln begannen, war die Havelstadt schon lange eine ausgesprochene Industriestadt,<br />

allerdings von ganz besonderer Art. Durch die Konzentrierung der militärfiskalischen<br />

Rüstungsfabriken in Spandau, die schon vor Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte<br />

und eigentlich bis 1919 nie zum Abschluß gekommen ist, war Spandau eine ausgedehnte<br />

Fabrikstadt geworden. Der alten Ackerbürger- und Handwerkerstadt mit einem bescheidenen<br />

geschäftlichen Leben war die neue Funktion der „Waffenschmiede" des preußischen<br />

und deutschen Heeres aufgepfropft worden. Gerade die im 19. Jahrhundert so krassen<br />

sozialpolitischen Probleme einer Industrie- und Arbeiterstadt konnte die Stadt kaum übersehen,<br />

geschweige denn lösen. Die staatlichen Waffen- und Munitionsfabriken durften nicht<br />

441


zu den Kommunalsteuern herangezogen werden. Viel schwerer aber als die Steuerausfälle<br />

gerade von denjenigen Institutionen, die die Industrieagglomeration in Spandau geschaffen<br />

hatten, wog, daß die Heeresbetriebe das Wirtschaftsleben der Stadt vollkommen beherrschten<br />

und diese gänzlich von ihnen abhängig war. Spandau war bis 1900 völlig den<br />

Schwankungen unterworfen, die durch die Zyklen der Vollbeschäftigung und der Arbeitseinschränkungen<br />

bei den militärfiskalischen Betrieben ausgelöst wurden.<br />

Nach dem deutsch-französischen Kriege z.B. hatten die Spandauer „Institute" von 1871 bis<br />

1875 Hochkonjunktur: die im Kriege verschlissenen Bestände an Waffen und Gerät mußten<br />

durch Neufertigungen ergänzt, die Arsenale wieder aufgefüllt werden. Hunderte von Arbeitern,<br />

die von den Instituten eingestellt worden waren, zogen mit ihren Familien nach<br />

Spandau. Diese zuströmenden Massen trieben in der Stadt, die auf einen derartigen Zuzug<br />

nicht vorbereitet war, zunächst die Mieten in die Höhe und verursachten eine krasse<br />

Wohnungsnot, bis dann die Bautätigkeit in Gang kam. Nachdem aber die von den Feldzeugdienststellen<br />

in Auftrag gegebenen Fertigungen abgewickelt waren, schränkten die<br />

Institute ihre Arbeit stark ein, und viele Hunderte Arbeiter wurden entlassen. Die Zahl der<br />

in den militärfiskalischen Spandauer Fabriken beschäftigten Arbeiter sank von 4700 im<br />

Jahre 1875 auf 2700 im Jahre 1883. Natürlich lag bei einer derartigen Situation, bei der<br />

wenigstens 20 % der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung ohne Beschäftigung war oder<br />

kaum das Existenzminimum verdiente, auch das örtliche Geschäftsleben darnieder. Außerdem<br />

herrschte nun ein Überangebot an leerstehenden Wohnungen, die auch bei starker<br />

Mietermäßigung nicht zu vermieten waren, so daß auch die damals kommunalpolitisch so<br />

bedeutsame Schicht der Hauseigentümer unter der Rezession litt. Die freigesetzten Arbeitskräfte<br />

konnten am Ort selbst nur in den seltensten Fällen eine neue Stellung finden, da im<br />

zivilen Sektor die Handwerksmeister, die Ackerbürger und die Geschäftsleute kaum<br />

Arbeitsplätze anzubieten hatten. Die Betroffenen konnten noch von Glück sagen, wenn sie<br />

als Erdarbeiter beim hiesigen Festungsbau oder bei den Eisenbahnen eine schlecht bezahlte<br />

Stelle fanden. Die arbeitslos gewordenen Familienväter versuchten, in Berlin Arbeit zu<br />

bekommen oder sich als Landarbeiter zu verdingen, oder aber sie wanderten, wie es<br />

1882/83 häufig geschah, nach den USA aus.<br />

Im Jahre 1884 begannen die Institute wieder mit der Herstellung neuer Waffen, u.a. wurde<br />

die Einführung eines neuen Karabiners vorbereitet, und damit wuchs auch wieder die Zahl<br />

der Neueinstellungen. 1890 waren etwa 12 000 Arbeiter bei den militärfiskalischen Fabriken<br />

in Spandau beschäftigt. Ähnlich wie 1871 lösten die vielen Einstellungen, die die<br />

Institute nun vornahmen, wiederum einen lebhaften Zuzug nach Spandau aus. Abermals<br />

trat, ehe die Wohnbautätigkeit auf den Zustrom reagierte, Wohnungsnot auf mit allen ihren<br />

unerquicklichen Erscheinungen wie Mietwucher. Schlafstellenunwesen usw. Auch dieser<br />

Boom ging vorüber, und 1896 wurden in den Instituten nur noch 7600 Arbeiter gezählt,<br />

während es ein Jahr zuvor noch 10 100 waren. Die Folgen waren, wenn auch nicht mehr<br />

ganz so kraß wie in den früheren achtziger Jahren, wiederum Arbeitslosigkeit, stagnierendes<br />

Geschäftsleben, viele leerstehende Wohnungen, in ihrer Existenz bedrohte Hauseigentümer<br />

usw.<br />

Als sich nun in den späten neunziger Jahren abzeichnete, daß Spandau in den Gesichtskreis<br />

der Berliner Industrie getreten war, hofften die Spandauer Kommunalpolitiker, vor allem<br />

der energische und weitblickende Oberbürgermeister Friedrich Koeltze, daß man sich bei<br />

einem Zuzug privater Industrieunternehmen aus der allzu starken Abhängigkeit der Stadt<br />

von den Konjunkturwellen der militärfiskalischen Institute werde lösen können. Die<br />

442


Carl-Schurz-Straße um 1890 (Foto: Jürgen Grothe)<br />

Monostruktur der Institute könne abgebaut werden, wenn die staatliche durch eine private<br />

Industrie ergänzt würde. Dann stand zu erwarten, daß die starken Spannungen, denen der<br />

Spandauer Arbeitsmarkt infolge der überproportional starken Einstellungen und Entlassungen<br />

von Seiten der Institute ausgesetzt war, gemildert werden könnten. Je nach den<br />

jeweiligen konjunkturellen Verhältnissen wären nun entweder die militärischen oder die<br />

privaten Betriebe in der Lage, freie Stellen für Arbeitsuchende anzubieten. Die Niederlassung<br />

privater Industriefirmen versprach aber nicht nur einen differenzierteren und ausgeglichenen<br />

Arbeitsmarkt zu bringen, darüber hinaus ergaben sich noch andere Vorteile:<br />

443


Die Firmen konnten zu den Kommunalsteuern herangezogen werden und brachten damit<br />

zusätzliche Einnahmen für den Haushalt der Stadt, der bei dem geringen Steueraufkommen<br />

von der Arbeiterbevölkerung immer knapp bemessen war. So standen Magistrat und<br />

Stadtverordnetenversammlung der Industrieansiedlung positiv gegenüber. In den Jahren<br />

um und nach der Jahrhundertwende diskutierte man umfangreiche Verkehrsplanungen. Ein<br />

Netz von Güteranschlußbahnen sollte die seinerzeit oft noch landwirtschaftlich genutzten<br />

Außenzonen der Stadt durchziehen, um künftige Industriegelände verkehrlich zu erschließen.<br />

In jenen noch autolosen Zeiten spielte bei der Wahl eines neuen Standortes die Frage,<br />

ob Güteran- bzw. -abtransport auf der Schiene möglich war, oft eine ausschlaggebende<br />

Rolle. Tatsächlich wurde ein Teil jener in allen Himmelsrichtungen projektierten Güterbahnen<br />

auch ausgeführt.<br />

In zunehmendem Maße wurde den Spandauer Kommunalpolitikern die Niederlassung der<br />

Firma Siemens & Halske im äußersten Osten der Stadt wichtig. Das 1899 dem Betrieb übergebene<br />

Kabelwerk „Westend" war auf Spandauer Gemeindegebiet entstanden, und zwar<br />

auf einer Exklave, einem zum Stadtkreis gehörigen, ringsum von Gebieten anderer<br />

Gemeindezugehörigkeit umgebenen Gelände in den Spreewiesen. Das Spandauer Wiesenland,<br />

weitab vom geschlossenen Weichbild, lag gänzlich abgeschieden, war unbewohnt und<br />

unerschlossen und den wenigsten bekannt. Die Exklave grenzte im Osten zwar an Charlottenburg,<br />

aber die stille Grenze am Nonnendamm und Nonnengraben in den Nonnenwiesen<br />

hatte in den knapp zwei Jahrhunderten ihres Bestehens kaum jemals die geringste Auseinandersetzung<br />

zwischen beiden Nachbarstädten ausgelöst.<br />

Da Siemens bald erkennen ließ, daß noch weitere Werkbauten in der Nachbarschaft seines<br />

neuen Kabelwerks entstehen sollten, wurde das bisher unbeachtete Wiesengelände für<br />

Spandau mehr und mehr zu einem wertvollen Besitz. Der finanzkräftige Investor Siemens,<br />

der seit 1904 Fabrikbau auf Fabrikbau in der Enklave und bald auch in den westlich<br />

angrenzenden Gutsbezirken Tegel-Forst und Sternfeld zu errichten begann, wurde der<br />

größte und wichtigste Steuerzahler Spandaus. Die Stadt überließ es der Firma Siemens, die<br />

städtebaulichen und verkehrlichen Planungen in dem ganz unerschlossenen Gebiet selbst<br />

aufzustellen und die für den jungen Industriestandort sowie für die von Anfang an vorgesehene<br />

Wohnsiedlung neben den Fabriken notwendigen Verkehrs- und Straßenanlagen<br />

selbst zu schaffen. Mit diesem Laissez-faire geriet die Havelstadt aber bald in Gegensatz zu<br />

Charlottenburg. Der Nachbarstadt war der entstehende Industrieort vor seiner Westgrenze<br />

unerfreulich, und sie versuchte nun, die ihr mißliebige Ansiedlung der Siemenswerke, wenn<br />

sie auch nicht mehr ganz zu verhindern war, mindestens unter ihren Einfluß zu bringen<br />

und ihre weitere Ausdehnung zu beeinflussen. Das beste Mittel, eine Entwicklung in diesem<br />

Sinne herbeizuführen, war, die Spandauer Exklave mitsamt den Siemenswerken sowie<br />

angrenzende Gebietsteile der Kreise Osthavelland und Niederbarnim zur Abrundung des<br />

Charlottenburger Gemeindegebietes im Westen einzugemeinden.<br />

Dieses Vorhaben war gar nicht so abwegig, denn während südlich der Spree die Stadt<br />

Charlottenburg sich bis an den Spandauer Bock heranschob, sprang die Weichbildgrenze<br />

nördlich des Flusses weit nach Osten, bis in die Nonnenwiesen hinein, zurück. Mit einer<br />

derartigen Eingemeindung hätte Charlottenburg nicht nur sein Weichbild für eine künftige<br />

Ausdehnung der Stadt erweitert, sondern auch die von ihm für erforderlich gehaltenen<br />

Straßen-, Verkehrs- und Grünplanungen durchsetzen können. Die Projekte der Firma<br />

Siemens konnten dann im Falle einer Eingemeindung durch Feststellung von Fluchtlinienplänen<br />

oder baurechtlichen Vorschriften über die Nutzung des Geländes eingeschränkt<br />

444


Carl-Schurz-Straße mit Stadtmauer und Postamt 1902 (Foto: Jürgen Grothe)<br />

oder aufgehoben werden.<br />

Ärgerlich schien es Charlottenburg auch, da 3 alles, was es auf seinem Stadtteil „Am<br />

Nonnendamm" mit 147 ha Flächengröße nur 8 bebauten Grundstücken im Jahre 1900 an<br />

Verbesserungen städtebaulicher Art ausgeführt hätte, weniger dem eigenen, fast noch<br />

unbewohnten Stadtgebiet, sondern vor allem der angrenzenden Spandauer Exklave mit<br />

den Siemensfabriken zugute gekommen wäre. Um zu vermeiden, daß Charlottenburger<br />

Haushaltsmittel indirekt auch den Spandauern bessere Verkehrsverhältnisse gebracht<br />

hätten, wurde z.B. alles unterlassen, was dazu beitragen konnte, die mangelhafte Straßenverbindung<br />

zwischen der Spandauer Exklave und Charlottenburg zu verbessern. Im übrigen<br />

wären Charlottenburgs groß angelegte und aufwendige städtebauliche Projekte am<br />

Kaiserdamm und in Neu-Westend beeinträchtigt worden, wenn gleichzeitig auch noch das<br />

umfangreiche Gelände am Nonnendamm aufgeschlossen und kanalisiert worden wäre.<br />

Soviel Geld besaß selbst das „reiche" Charlottenburg nicht.<br />

Spandau, das seine Exklave mit den für den kommunalen Etat so kostbaren Siemenswerken<br />

gegen die Begehrlichkeit Charlottenburgs verteidigte und außerdem seinerseits die<br />

Gebiete von Osthavelland und Niederbarnim, die sich zwischen Exklave und dem geschlossenen<br />

Stadtgebiet erstreckten, eingemeinden wollte, blieb schließlich in dem kommunalen<br />

Eingemeindungsstreit mit Charlottenburg, der vor allem vor den staatlichen Aufsichtsbehörden<br />

ausgetragen wurde, Sieger. Im Gegensatz zu Charlottenburg, das für die Aufschließung<br />

seines Westgeländes in den Nonnenwiesen überhaupt nichts tat, war Spandau<br />

sehr rührig. Es legte 1905 im Zuge des „Nonnendammes" (heute Nonnendammallee), der<br />

445


ein unbefestigter Landweg war, eine wenn auch nur behelfsmäßig befestigte Straße an, und<br />

zwar auf den fremden Gemeindegebieten von Haselhorst und Sternfeld, um zu demonstrieren,<br />

daß es sehr wohl in der Lage sei, für seine Exklave zu sorgen. Die 1908 von der<br />

Firma Siemens erbaute und bald danach von der Stadt Spandau übernommene Straßenbahn<br />

zwischen der Altstadt, Haselhorst und der neuen Siemensstadt sollte ebenfalls beweisen,<br />

daß von Spandau alles getan würde, um geregelte Kommunalverhältnisse zu schaffen.<br />

Um zunächst einmal eine durch Kommunalgrenzen ungestörte Entwicklung der Siemenswerke<br />

und der an diese angeschlossene Wohnsiedlung zu gewährleisten - ein Fabrikbau<br />

wie das Automobilwerk erstreckte sich z.B. in zwei Kreisgebiete -, wurde 1908 ein zusammenhängendes<br />

Gebiet zwischen Spree und Spandauer Schiffahrtskanal sowie zwischen<br />

Haselhorst und Charlottenburg nach Spandau eingemeindet. Zwei Jahre später wurde<br />

durch die Eingemeindung Haselhorsts und anderer Gebiete die Lücke zwischen Spandau<br />

und der jungen Siedlung im Osten, die einige Jahre später den Namen „Siemensstadt"<br />

tragen sollte, geschlossen; eine breite Landbrücke war zur bisherigen Exklave hergestellt<br />

worden. Nun hatte die Spandauer Ostgrenze mit Charlottenburg zwischen Mäckeritzbrücke<br />

und Spree eine Länge von rd. 2,5 km, dazu kamen noch einmal knapp 3 km gemeinsame<br />

Grenze am Südufer der Spree von den Nonnenwiesen hin bis fast nach Ruhleben.<br />

Mit seinem Vordringen nach Osten und der Bildung neuer kilometerlanger Grenzen mit<br />

Charlottenburg kam die Havelstadt zwangsläufig in nähere Berührung mit ihrer Nachbarstadt.<br />

Die neue, in stetem Wachstum begriffene „Siemensstadt" bedurfte einer Grenzregulierung,<br />

denn am Nonnendamm, der einzigen Verbindungsstraße nach Charlottenburg<br />

und damit auch Berlin, verlief der Grenzzug so ungünstig, daß der Ausbau der Straße und<br />

danach die Veranlagung der Anlieger zu den Straßenherstellungskosten nach dem Fluchtliniengesetz<br />

äußerst kompliziert geworden wäre. Charlottenburg strebte umfangreiche<br />

Grenzbereinigungen an, weil es den Spreebogen unterhalb Fürstenbrunn, bei Sternfeld,<br />

begradigen wollte und für dieses Vorhaben auch schon mit Grunderwerb begonnen hatte.<br />

Hier hätte Spandau große Flächen an Charlottenburg abtreten müssen, da das neue Flußbett<br />

nach Norden verschoben werden sollte. Ob die Projekte Charlottenburgs, an der<br />

begradigten Spree auch noch einen großen Hafen anzulegen, ernsthaft verfolgt wurden,<br />

mag dahingestellt bleiben; jedenfalls taktierte Charlottenburg in seinen Verhandlungen<br />

mit diesen Planungen. Spandau seinerseits strebte die Eingemeindung der „Lietzower<br />

Wiesen", einer Charlottenburger Exklave an der Unterspree, westlich des Kraftwerks<br />

Reuter, heute die Gegend am „Großen Spreering", in sein Weichbild an. Das kommunale<br />

Charlottenburger Wasserwerk lag westlich vom Rohrdamm auf Spandauer Gebiet, und die<br />

Druckrohre der Charlottenburger Kanalisation liefen durch das Spandauer Gebiet bis zu<br />

den Gatower Rieselfeldern. Im Jahre 1907 stoppte Charlottenburg die Bauten Spandaus<br />

am Südhafen so lange, bis Spandau der Nachbarstadt für die Umlegung der Druckrohre<br />

günstige Bedingungen eingeräumt hatte.<br />

Neben Grenzangelegenheiten und Leitungsrechten war die städtebauliche Planung zwischen<br />

beiden Städten abzustimmen, z.B. die Führung einiger Süd-Nord-Straßen, die von<br />

Nord-Westend her über die Spree in das Spandauer Gebiet hinein geführt werden sollten.<br />

Auch die Schnellbahnplanungen, die vorsahen, die Havelstadt in einer großen Schleife an<br />

die bereits bestehenden Hoch- und Untergrundbahnen anzubinden, die von Westend ausgehend<br />

über Ruhleben, Spandau-Rathaus, Hohenzollernring, Hakenfelde, Haselhorst,<br />

Siemensstadt, Charlottenburg-Nord bis zum Richard-Wagner-Platz — der schon vorhandenen<br />

U-Bahn-Endstation - gehen sollte, mußte von beiden Städten behandelt werden.<br />

446


Jahrelang dauerten dann die Verhandlungen zwischen der Firma Siemens und der Charlottenburger<br />

Verwaltung, bis endlich die Verkehrserschließung Siemensstadts und seine<br />

Anbindung an das Charlottenburger und damit an das Berliner Straßennetz durch den Bau<br />

des Siemensdammes - auf Kosten der Firma - 1914 ausgeführt werden konnte. Die zwischen<br />

Spandau und Charlottenburg gepflogenen Unterhandlungen über die Grenz- und<br />

sonstigen Fragen, die 1909 begannen, verliefen zähflüssig und schleppend und blieben<br />

ohne Resultate.<br />

Nicht nur nördlich der Spree, auch südlich gab es zwischen Spandau und Charlottenburg<br />

konkurrierende Interessen. Bereits im Jahre 1903, als die Aufteilung der bisher landwirtschaftlich<br />

genutzten Domäne Ruhleben beschlossene Sache war, wurde die kommunale<br />

Zukunft des Gutsbezirks erörtert; dabei wurden Überlegungen angestellt, Ruhleben entweder<br />

nach Charlottenburg oder Spandau einzugemeinden oder aber aus dem Gutsbezirk<br />

eine selbständige Landgemeinde zu bilden. Spandau hatte vom Chausseebaufiskus vorsorglich<br />

auch außerhalb des Spandauer Gemeindegebietes die Charlottenburger Chaussee<br />

bis zum Spandauer Bock erworben. Der östliche Restabschnitt lag bereits auf Charlottenburger<br />

Gebiet. Auch die Spandauer Straßenbahn wurde 1906 bis zum Spandauer Bock<br />

geführt, wo die Möglichkeit des Überganges auf die Linie „R" der Berliner Straßenbahn<br />

gegeben war. Ein Teil des Ruhlebener Geländes war an das Spandauer Wasserleitungs-,<br />

Kanalisations- und Elektrizitätsnetz angeschlossen. Da Ruhleben am Übergang der Ruhlebener<br />

Straße in die Charlottenburger Chaussee das Spandauer Weichbild recht ungünstig<br />

zerschnitt, war Spandau auch an einer Einverleibung dieses Geländes gelegen. Die Kasernen<br />

und sonstigen militärischen Institutionen in Ruhleben gehörten ohnehin zum Spandauer<br />

Standortbereich. Andererseits war aber auch Charlottenburg an der Einbeziehung<br />

Ruhlebens in seinen Stadtkreis interessiert.<br />

So war innerhalb eines knappen Jahrzehnts ein Geflecht von Beziehungen zwischen<br />

Spandau und Charlottenburg entstanden, bei dem die gegenläufigen Interessen überwogen.<br />

Spandau hatte sich nach Osten, in Richtung Charlottenburg —Berlin, erstreckt und geöffnet.<br />

Bezeichnend ist, daß die beiden Straßenbahnen, die nach dem Ausbau des innerstädtischen<br />

Netzes 1906 und 1908 noch entstanden, nach Osten bis an die Charlottenburger<br />

Grenze am Spandauer Bock und in Siemensstadt führten. Noch viel mehr aber tendierte die<br />

Firma Siemens nach Osten, nach Berlin hin. Die Firma hatte sich zwar auf Spandauer<br />

Gebiet niedergelassen, weil ihr dort die notwendige Planungs- und Handlungsfreiheit<br />

gelassen wurde, aber die guten Beziehungen zwischen der Geschäfts-, genauer der Bauleitung<br />

der Firma und der Spandauer Stadtverwaltung mußten sich zwangsläufig beschränken<br />

auf die Fragen des neuen Industriestandortes und seiner Infrastruktur und damit zweitrangig<br />

bleiben. Die großen Siemenskunden wie Post-, Bahn- und Militärverwaltungen, die<br />

Fernmeldegeräte, elektrische Bahnausrüstungen, Signaleinrichtungen usw. abnahmen,<br />

hatten ihren Sitz in Berlin. Hier waren auch die Banken, Verbände, Institute, mit denen<br />

Siemens in Verbindung stand, ansässig, und schließlich pendelte die Belegschaft alltäglich<br />

aus Berlin, Charlottenburg und anderen Vororten nach Siemensstadt zur Arbeit ein. Die<br />

Zahl der Siemensmitarbeiter, die in der neuen Wohnstadt neben den Werken oder in<br />

Spandau wohnten, mochte 10 bis 15 v.H. der Gesamtzahl der in den Siemensstädter Werken<br />

Beschäftigten betragen. Siemens war eine Berliner Firma, die sich im Osten Spandaus<br />

angesiedelt hatte, aber kein Spandauer Unternehmen.<br />

Mit dieser „Ostpolitik" Spandaus aber war zugleich die Axt an die Wurzel der Selbständigkeit<br />

Spandaus gelegt. Es setzte eine Entwicklung ein, die schon bald dazu führte, daß die<br />

447


Havelstadt sehr gegen ihren eigenen Willen in ihrer Selbständigkeit zunehmend eingeschränkt<br />

und schließlich ihrer ganz entkleidet werden sollte.<br />

Als die Einrichtung des Zweckverbandes Groß-Berlin in der Vorbereitung war, wirkte die<br />

Stadt Charlottenburg bei den ministeriellen Stellen, die das Gesetz bearbeiteten, darauf<br />

hin, daß auch Spandau in das künftige Verbandsgebiet einbezogen werde. Charlottenburg<br />

stellte einen Teil der oben bereits aufgeführten „Berührungspunkte des Spandauer und<br />

Charlottenburger Wirtschaftsgebietes" zusammen, also städtebauliche Fragen usw., die<br />

beide Städte betrafen und einer gemeinsamen Abstimmung bedurften, und kam zu dem<br />

Schluß, daß diese Verflechtungen eine Aufnahme Spandaus in den Zweckverband rechtfertigten.<br />

Den Gegenargumenten Spandaus, es habe zu Berlin und seinen Vororten keine<br />

wirtschaftlichen und städtebaulichen Beziehungen, stehe vielmehr in enger Verbindung mit<br />

dem westlich seiner Grenzen gelegenen Kreis Osthavelland, mußte die rechte Überzeugungskraft<br />

fehlen, wenn die Materialien, die Charlottenburg aufbereitet hatte, dagegen<br />

gehalten wurden. Für einen Teil des Osthavellandes behielt Spandau seine zentralörtlichen<br />

Funktionen, das war unbestritten. Aber durch seine Expansion nach Osten, die zu einem<br />

großen Teil durch die Niederlassung der Firma Siemens auf den Spreewiesen der Exklave<br />

ausgelöst worden war, begab es sich tatsächlich in immer engere, meist kontroverse Beziehungen<br />

zu Charlottenburg, das seinerseits ja unzweideutig zum Berliner Bereich gehörte.<br />

In der Eingemeindungsfrage war seinerzeit Spandau Sieger geblieben, in der Zweckverbandsfrage<br />

setzte sich Charlottenburg durch: Spandau wurde entsprechend den Vorschlägen<br />

Charlottenburgs in den Zweckverband Groß-Berlin einbezogen.<br />

Die ambivalente Haltung der Spandauer Körperschaften in der Ära des Oberbürgermeisters<br />

Koeltze zeigte sich deutlich in den verkehrspolitischen Bestrebungen der Havelstadt,<br />

die eindeutig auf den Osten, nach Berlin zielten, während Projekte, die eine stärkere<br />

Verbindung Spandaus mit den angrenzenden Kreisgebieten zum Gegenstand hatten, aus<br />

dem Stadium der Vorplanungen nicht herauskamen. Die Absicht, eine Kleinbahn von<br />

Spandau nach Kladow zu führen und damit eine Anbindung des westlichen Havelufers an<br />

die Stadt zu schaffen, wurde nicht ernsthaft weiter verfolgt. Auch der Plan einer Straßenbahn<br />

von Spandau nach Staaken wurde bestenfalls halbherzig bearbeitet. Spandau mochte<br />

zwar einerseits auf seine historischen Beziehungen zum anstoßenden Kreisgebiet nicht verzichten,<br />

ohne sich dabei allzusehr engagieren zu müssen, andererseits aber die Folgen, die<br />

sich aus seiner räumlichen Annäherung an Charlottenburg ergaben, nicht tragen.<br />

Trotz der Randlage Spandaus im Einzugsgebiet Berlins hatte es mancherlei Berührungen<br />

und Beeinflussungen gegeben. Aber derartige Ausstrahlungen, die von Berlin ausgingen<br />

und sich in der Physiognomie der Stadt oder in ihrem Geschäftsleben präsentierten, hatten<br />

die Einbeziehung Spandaus in den Zweckverband im Jahre 1912 und acht Jahre später in<br />

die Einheitsgemeinde Berlin nicht vermocht; dazu war trotz der Überlagerungen, die<br />

Berlin verursachte, die Eigenständigkeit der alten Havelstadt zu groß. Ausschlaggebend<br />

für das Aufgehen Spandaus im Zweckverband und später in Berlin war die Koeltzesche<br />

„Ostpolitik", zu einem Teil durch die Niederlassung der Firma Siemens ausgelöst,<br />

die die Stadt in den Gegensatz zu Charlottenburg und — ungewollt — zu einer engeren<br />

Verbindung mit dieser Nachbarstadt gebracht hatte. Die Einbeziehung Spandaus<br />

in höhere kommunale Ordnungen und Gebilde löste schließlich in einem langwierigen<br />

Prozeß die kommunalen Widersprüche auf.<br />

448<br />

Anschrift des Verfasser: 1000 Berlin 31, Joachim-Friedrich-Straße 2


„Ein ganz widerwärtiger Ort"<br />

Jacob Burckhardt (1818 bis 1897) über Berlin<br />

Von Friedrich-Wilhelm Wentzel<br />

„Auch ist Berlin ein ganz widerwärtiger Ort; eine langweilige, große Stadt in einer unabsehbaren,<br />

sandigen Ebene", schrieb der junge Studiosus Jacob Burckhardt, der beim großen<br />

Leopold Ranke in Berlin seit vier Monaten Geschichte studierte, am 22. März 1840 an<br />

Dorothea Hartmann-Brodtbeck nach Basel, seiner Heimatstadt.<br />

„Berlin ist sehr groß, und man kann sich leicht verlaufen, so daß man weder Weg noch<br />

Steg weiß und fragen muß", fährt er fort. „Ich wohne in dem neuern Theile der Stadt, welchen<br />

man die Friedrichsstadt nennt, weil ihn der alte Fritz gebaut hat. In dieser Friedrichsstadt<br />

sind lauter gerade Straßen; die Straße, wo ich wohne, geht von einem schönen Thor bis<br />

zum königlichen Schloß und ist 20 Minuten lang; sie ist die breiteste und schönste Straße<br />

Berlins und enthält vier Reihen Linden, weshalb man es 'unter den Linden' nennt. Du<br />

wirst denken, ich mache es mir bequem, indem ich die schönste Straße auswähle, aber ich<br />

wohne eben nicht vorne heraus, sondern im zweiten Hofe, wo man die Zimmer nicht<br />

theurer bezahlt als in anderen Gassen." 1<br />

Dem Sohn aus führendem Geschlecht der reichen Handelsstadt Basel sind einige soziale<br />

Umstände im sehr viel ärmeren Berlin aufgefallen, über die er ebenfalls berichtet:<br />

„Die vordem Zimmer haben zwei Grafen und eine Gräfin entlehnt, die jedes eine besondere<br />

Parthei ausmachen; die Leute schränken sich sehr ein mit dem Platz, und deßhalb<br />

kann man nicht wie bei uns eine Menge von alten Möbeln haben, sondern was man gerade<br />

nicht brauchen kann, das bekömmt der Jude. Die vornehmsten Leute, die drei oder vier<br />

Kinder haben, begnügen sich mit sechs oder acht Stuben, und es giebt Fürsten und Grafen<br />

hier, die nur über 3 Zimmer gebieten. Du kannst leicht denken, was hier für eine Armuth<br />

herrschen muß; es ist ganz unglaublich, wie elend sich hier manche Leute durchhelfen<br />

müssen. Es giebt Zimmer, wo zwei, ja selbst vier Partheien wohnen; dann spannt man Seile<br />

übers Kreuz, damit jeder weiß, in welchen Winkel er gehört Dabei giebt es 20 000<br />

Menschen hier, welche Diebe sind; darunter etwa 3000, die nur vom Diebstahl leben und<br />

von nichts anderem, so daß man in keinem Hause wohnen kann, wo nicht ein Dieb wäre.<br />

Auch in dem Hause, das ich bewohne, gerade neben meinem Zimmer, sind vor vierzehn<br />

Tagen fünf silberne Kaffeelöffel gestohlen worden; man weiß, wer die Diebin ist, sie wohnt<br />

noch dazu in unserem Hause, aber man kann ihr nichts zu Leide thun, weil man ihr nichts<br />

beweisen kann . . ."<br />

Auch das Essen gefällt dem jungen Studiosus nicht, und das Wetter scheint es in diesem<br />

Vorfrühlingsmonat des Jahres 1840 besonders schlecht mit ihm gemeint zu haben:<br />

„Das Essen ist sehr schlecht im Vergleich mit dem, was man in Basel hat; zum Glück hat<br />

man hier nicht so viel Appetit, und es giebt Tage, wo man wirklich nichts den Hals hinunter<br />

bringt ... Im Sommer werde ich bloß Morgens und Mittags etwas genießen und den Thee<br />

Thee sein lassen. Wenn man sich hier nicht sehr in Acht nähme, so würde man beständig<br />

unwohl sein.<br />

Dazu kommt noch, daß das Wetter abscheulich ist. Den Winter hindurch war es einmal<br />

19 Grad kalt und drei Tage darauf sieben Grad Wärme, und so wechselte es immer ab . . .<br />

Den ganzen März hindurch schneite es alle paar Tage und fror fast jeden Morgen; Nach-<br />

449


Jacob Burckhardt in Berlin<br />

mittags aber ist immer ein Koth zum Umkommen. Fast den ganzen Monat war kein Stückchen<br />

blauen Himmels zu sehen. Auch jetzt liegt überall tiefer Schnee und die Gassen sind<br />

so pflotzig, daß man ohne Überschuhe gewiß immer mit ganz durchnäßten Schuhen und<br />

Strümpfen nach Hause käme .. ."<br />

Zum versöhnlichen Schluß gibt es dann aber doch noch einiges Positive - nämlich vom<br />

geistigen und kulturellen Leben der ,gräßlichen Stadt' zu berichten:<br />

„Gleichwohl läßt es sich hier recht angenehm leben, auch wenn man kein überflüssiges<br />

Geld hat. Für's erste habe ich wenigstens genug zu thun und dann sind hier einige sehr<br />

schöne Anstalten, die ich oft besuche, besonders das Museum, wo über 900 der schönsten<br />

Gemälde, fernere über hundert alte Bildsäulen und sonst noch ganz unendlich viel Merkwürdigkeiten<br />

zu sehen sind. Dann ist das Theater, das ich bisweilen besuche, sehr schön mit<br />

vortrefflichen Sängern und Schauspielern versehen. Du kannst Dir denken, was man da-<br />

450


Berlin, im Tiergarten. Sommer 1840, Zeichnung von Jacob Burckhardt<br />

selbst für Wind macht, wenn ich Dir sage, daß unlängst, als man ein deutsches Fest vorstellte,<br />

vierhundert Wachskerzen auf der Bühne brannten ..."<br />

Gewiß hat der junge Burckhardt nicht von Wasser und Brot leben müssen, doch diesen<br />

beiden widmet er im gleichen Brief noch einmal ein paar Zeilen:<br />

„Das Brot hier ist völlig ungesalzen, man kann es am Anfang nicht essen; nach und nach<br />

aber gewöhnt man sich daran, und jetzt merke ich es kaum. Das Wasser ist lauter Sodbrunnenwasser;<br />

in ganz Berlin ist nicht ein einziger laufender Brunnen; weil diese Stadt<br />

ganz in einer sandigen Ebene liegt. Dagegen hat fast jedes Haus und jede Gasse ihren Zugbrunnen;<br />

glücklicherweise liefert der in unserem Hause ziemlich gutes Wasser. In einigen<br />

Gegenden von Berlin hat das Wasser einen Sumpfgeschmack."<br />

Schließlich noch ein Blick in die Berliner Umgebung:<br />

„Wenn man nun aus der Stadt hinaus bei trockenem Wetter spazieren geht und nicht der<br />

Landstraße folgen will, so geräth man auf Wege, wo einem der dürre gelbe Sand bis über<br />

die Knödlein [Knöcheln] geht, so daß man gezwungen ist in Stiefeln spazieren zu gehen.<br />

Doch hat man einen großen Wald gerade vor der Stadt, welcher Thiergarten heißt, und<br />

worin feste Wege sind. Da ich nur etwa 400 Schritte vom Thor wohne, welches dahin führt,<br />

so gehe ich sehr oft dahin, es ist aber ein langweiliger Spaziergang. Wenn man sich etwas<br />

zu gute thun will, so sitzt man auf die Eisenbahn und rutscht in 33 oder 35 Minuten nach<br />

dem gute fünf Stunden entfernten Potsdam, wo die Gegend etwas besser und sonst noch<br />

vieles zu sehen ist. Das Fahren auf den Eisenbahnen ist sehr lustig; man fliegt eigentlich wie<br />

ein Vogel dahin . . ."<br />

Ein begeisterter Eisenbahnfahrer ist Burckhardt sein Leben lang geblieben und hat auf<br />

451


diese Weise unzählige Reisen unternommen - zumeist mit größerem Komfort als damals<br />

auf der „Berlin-Potsdamer".<br />

Noch bis 1843 blieb Burckhardt in der ungeliebten preußischen Hauptstadt, ein Aufenthalt,<br />

der von ihm bereits 1840 als „absurd" gekennzeichnet wurde. Er bekannte auch, daß<br />

er so wenig Anteil an dem Berliner Leben nehme „als ein polnischer Jude, der auf die<br />

Leipziger Messe kömmt an Leipzig Theil nimmt" 2 . Die Abneigung des Basler Patriziers<br />

gegenüber der norddeutschen Metropole hatte sich bis in das Alter hinein erhalten. Als<br />

1882 der inzwischen hochangesehene Professor an der Universität seinrer Heimatstadt<br />

von einer Reise, die ihn unter anderem auch nach Berlin geführt hatte, zurückkehrte,<br />

schrieb er aus Basel an Friedrich von Preen 3 :<br />

„. . . Im Sommer hatte ich eine Studienreise durch deutsche Galerien absolviert, unter<br />

anderem einen 14tägigen Aufenthalt in Berlin. Ich glaube mich überzeugt zu haben, daß<br />

ich jetzt nicht mehr am Leben wäre, wenn ich vor zehn Jahren den Ruf dorthin (an die<br />

Universität) angenommen hätte. Das Wetter der betreffenden beiden Wochen war vorwiegend<br />

schön, ich erreichte meine Zwecke und hatte nur angenehme Begegnungen — aber<br />

Berlin hat für mich etwas Tödtliches; in der Jugend hielt ich dort 4 Jahre aus und jetzt<br />

hielte ich sie nicht mehr aus. Was es ist, weiß ich nicht; in Prag und Dresden könnte ich<br />

existieren, in Berlin nicht. Es hängt nicht bloß daran, daß ich melancholisch werde wenn<br />

einer Stadt ein Fluß und Anhöhen fehlen; die Menschen dort haben ein gewisses Etwas,<br />

wogegen ich mich hilflos fühle, und concurrenzunfähig bin . . ."<br />

Goethes Ausspruch über den „verwegenen Menschenschlag", demgegenüber „man Haare<br />

auf den Zähnen haben muß", fällt einem ein. Sicherlich besaß Burckhardt, der große<br />

Kunst- und Kulturhistoriker, Autor der „Kultur der Renaissance und der „Weltgeschichtlichen<br />

Betrachtungen" die von Goethe zitierte „Grobheit" nicht, mit der man den Berlinern<br />

begegnen müsse, um gut mit ihnen auszukommen.<br />

Doch sollten die Anregungen, die er auf der Berliner Universität, besonders in den Lehrveranstaltungen<br />

Franz Kuglers, Johann Gustav Droysens, August Boeckhs und Leopold von<br />

Rankes erhalten hatte, durch sein ganzes Leben hin weiter wirken 4 .<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 33, Berkaer Straße 6<br />

1 Jacob Burckhardt: Briefe. Hrsg. v. Max Burckhardt. 8 Bde. Basel 1949 ff. Bd. 1, 1949, S. 147 ff.<br />

2 Brief an Theodor Meyer vom 11. März 1840. Ebd. S. 138<br />

3 Ebd. Bd. 8 (1974), S. 98<br />

4 Vgl. Werner Kägi: Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bd. 2, Basel, 1950, S. 25 ff.<br />

452


Nachrichten<br />

Bismarck-Autographen<br />

im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz<br />

„Wer immer sich in die Geschichte Deutschlands oder Europas während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

vertiefte, mußte zu Bismarck Stellung nehmen . . ." Da sich an der Richtigkeit dieser<br />

Feststellung Erich Eycks (Bismarck - Leben und Werk, 1941 — 44) auch künftig kaum etwas<br />

ändern wird, wollen wir anläßlich von Bismarcks 80. Todestag am 30. Juni 1978 auf einige für die<br />

Urteilsbildung nötige Quellen hinweisen, die sich auch heute noch im Dahlemer Archiv befinden.<br />

Außer Akten aus seiner Amtszeit als preußischer Ministerpräsident, die häufig Bearbeitungsvermerke<br />

oder auch längere Stellungnahmen von ihm enthalten, liegen dort zahlreiche Einzelautographen,<br />

die weniger bekannt, aber recht gut geeignet sind, Politik und Persönlichkeit des<br />

„Eisernen Kanzlers", mitunter auch nur im privaten Rahmen, besser zu beleuchten.<br />

Das Geheime Staatsarchiv hatte seit Kriegsende teils durch Schenkungen von Privatleuten, denen<br />

auch an dieser Stelle gedankt sei, teils bei Autographen-Versteigerungen im In- und Ausland<br />

seinen Bestand an Einzelschriftstücken Fürst Otto von Bismarcks (1815-1898) vermehren und<br />

durch den Erwerb von Faksimiles sowie Ablichtungen entsprechender Autographen aus fremdem<br />

Besitz abrunden können. Diese sogenannten „kleinen Erwerbungen" wurden kürzlich in der Repositur<br />

90 B des Geheimen Staatsarchivs zusammengefaßt, wo sie allen interessierten Besuchern<br />

im Forschungssaal des Archivs innerhalb der Öffnungszeiten zur Einsichtnahme vorgelegt werden<br />

können.<br />

In den rund hundert Einzelschriftstücken aus der Zeit von 1851 bis 1898 werden die unterschiedlichsten<br />

Themen berührt: Da gibt es politische Äußerungen Bismarcks über die Ursachen der<br />

1848er Revolution (1865), den Bonapartismus (1851), die Einstellung der hessischen Bevölkerung<br />

zur Revolution (1853), seine eigene zum Schleswig-Holstein-Konflikt (1864), zum Krieg mit Österreich<br />

(1866), zur Kaiserfrage (1870), über den Feldzug (1870) und die „Konventionen" mit<br />

Frankreich (1871), zu seiner Entbindung vom Amt des preußischen Ministerpräsidenten (1872),<br />

über Preußens Stellung zum Reich (1872), schließlich zur Deutschen Post (1879-1882) oder auch<br />

zu Finanzfragen (u.a. 1863 und 1869). Andere Stücke stehen bereits am Übergang von der öffentlichen<br />

zur privaten Sphäre, wie etwa Bismarcks Stellungnahme zu einer satirischen Zeitungsmeldung<br />

(1859), die Bitte eines Amerikaners um ein Autogramm (1864) oder die eines Hamburgers, er<br />

möge doch einem Duell mit Rudolf Virchow aus dem Wege gehen (1865), ferner einige anonyme<br />

Briefe an ihn aus der Zeit des Deutschen Krieges (1866) oder Huldigungsgedichte. Bismarcks<br />

Persönlichkeit erfassen wir deutlicher, wenn er einem Gutsbesitzer in Pommern seine Einstellung<br />

zum Christentum darlegt (1865), als Staatsbürger erhält auch er einen Einkommenssteuerbescheid<br />

(1866), als Feinschmecker zeigt ihn ein begeistertes, Dankschreiben an den britischen Gouverneur<br />

von Helgoland, dem er für eine Sendung Hummer dankt (1869). Mit seinem durch Wohlleben<br />

oftmals gefährdeten Gesundheitszustand beschäftigt sich ein Brief seines Arztes aus dem Jahre<br />

1870. Als Landwirt erscheint Bismarck in der Akte eines Baumschulenbesitzers in Klein-Flottbeck,<br />

der mit ihm ausführlich über die Einführung neuer Baumarten korrespondiert hat (1872 ff.),<br />

aber auch in anderen Schreiben, die seine Varziner Güter betreffen (1877—1879). Mit<br />

seiner Pension befaßt sich ein Brief Chrysanders (1890). Anderes Material bezieht sich auf die<br />

Feier seines 80. Geburtstages (1895), und erwähnenswert sind schließlich die Erinnerungen des<br />

Geheimen Hofrats Schulz an die Arbeitsstätte Bismarcks in der Reichskanzlei, geschrieben 1921.<br />

Der Bismarck-Interessent sei noch darauf aufmerksam gemacht, daß sich der persönliche Nachlaß<br />

des Kanzlers im Schloßarchiv der fürstlichen Familie in Friedrichsruh und weiteres behördliches<br />

Schriftgut aus seiner Amtszeit als Ministerpräsident (außer im Geheimen Staatsarchiv) heute auch<br />

infolge kriegsbedingter Aktenauslagerungen im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg befindet.<br />

Die Akten der 1878 von Bismarck als Zentralbüro des Reichskanzlers gegründeten Reichskanzlei<br />

werden, soweit sie vor 1945 bereits ins Reichsarchiv gelangt waren, bis auf weniges Verlorene<br />

heute in einer weiteren Abteilung des genannten DDR- Archivs in Potsdam verwahrt,<br />

während das Bundesarchiv in Koblenz nur über einen geringen Nachlaßrest Bismarcks, aber über<br />

453


Foto:<br />

Aus dem Eigentum des Autors<br />

117 Mikrofilmrollen (Lesefilme) des Friedrichsruher Archivs verfügt. Weitere Bismarck-Autographen<br />

liegen dort auch in den verschiedensten Nachlässen, u.a. in dem Franz v. Rottenburgs<br />

(bis 1969 im Geheimen Staatsarchiv). Außenpolitische Akten der Bismarck-Zeit verwaltet überdies<br />

das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn. Das Germanische Nationalmuseum<br />

in Nürnberg hat eine von Kurt Kabitzsch zusammengetragene Sammlung von Bismarck-Karikaturen<br />

erworben. Das archivische Schicksal der Bismarck-Akten spiegelt im ganzen das deutsche wieder;<br />

auch aus ihrer Zerrissenheit ergibt sich, wie bedürftig wir Bismarcks als „Mahner zur Einheit<br />

der Deutschen" (Eugen Gerstenmaier) wieder sind.<br />

Das Geheime Staatsarchiv, das sich in seinen Ausstellungen „Bismarck in der Karikatur" (1969)<br />

und „Der Norddeutsche Bund" (1971) schon früher kritisch mit Person und Lebenswerk dieses bedeutenden<br />

Preußen auseinandergesetzt hat, wird Bismarck erneut in einer Ausstellung zum „Berliner<br />

Kongreß 1878" als „ehrlichen Makler" vom 13. Juni 1978 an würdigen. Zugleich wird<br />

in zwei Sondervitrinen mit einigen der hier erwähnten Autographen der 80. Wiederkehr seines<br />

Todestages gedacht. Eckart Henning M. A.<br />

Aus dem Bestand des Märkischen Museums sind zwei Bildmappen mit älteren Stadtansichten von<br />

Berlin erschienen. Die „Altberliner Stadtansichten. Aus dem Märkischen Museum in Berlin, Hauptstadt<br />

der DDR" betitelten und mit jeweils 10, teilweise farbigen Reproduktionen ausgestatteten<br />

Mappen enthalten Abbildungen, die zwischen 1650 und 1860 entstanden sind. Sie sind in Format<br />

und Aufmachung unterschiedlich gestaltet. Bei dem gleichen Herausgeber, der in Berlin (Ost) ansässigen<br />

Berlin-Information, Neustädtische Kirchstraße 3, DDR—108 Berlin, ist auch eine Mappe<br />

mit 12 Abbildungen aus dem graphischen Werk Heinrich Zilles erschienen. Auch hier stammt der<br />

überwiegende Teil der Aquarelle und Zeichnungen aus dem Bestand des Märkischen Museums. SchB.<br />

454


Das KaDeWe von der Tauentzienstraße aus Foto: KaDeWe<br />

--" Das Kaufhaus des Westens — ein Stück Berliner Geschichte<br />

Das KaDeWe: Kindheitserinnerungen, Jugenderinnerungen!<br />

Mit dem „Westring", der Straßenbahn 7, fuhr man vom Bayerischen Platz zum KaDeWe - oder<br />

auch mit der U-Bahn.<br />

Was gab es dort alles zu sehen, zu bestaunen, besonders zur Weihnachtszeit, wenn die Eltern<br />

mit uns durch die einzelnen Etagen gingen und dann so mancher kindliche Wunsch erfüllt wurde:<br />

auch mein erstes Ballkleid aus hellblauem Crepe de Chine, mit kleinen bunten Perlen bestickt,<br />

stammte aus der Modellabteilung des Hauses. Und später - wie oft bin ich nach einem Tauentzienbummel<br />

immer wieder im KaDeWe gelandet.<br />

Dieses schöne Weltstadtwarenhaus wurde am 24. November 1943 das Opfer eines sinnlosen Krieges,<br />

als ein amerikanisches Kampfflugzeug in den Lichthof stürzte und das Haus total ausbrannte.<br />

Eine tote Gegend umgab nun das einstmals lebensprühende Haus. Trotzdem war der Glaube der<br />

Geschäftsleitung des Hertie-Konzerns an die Zukunft dieser Stadt so stark, daß sie den Wiederaufbau<br />

des KaDeWe trotz größter Schwierigkeiten wagte. Er wurde belohnt! Am 3. Juli 1950,<br />

dem Tag der Wiedereröffnung, strömten 180 000 treue Kunden in das inzwischen fertiggestellte<br />

Erdgeschoß und die erste Etage. 1956 war der Wiederaufbau vollendet, damals schon mit der<br />

legendären Lebensmittelabteilung im 6. Stock. Doch schon bald wurde das Haus zu klein. Die<br />

stürmische Entwicklung der 50er und 60er Jahre zwang ab 1975 zu einer Erweiterung der Nutzfläche<br />

um 30% auf insgesamt 70000 qm mit einem Kostenaufwand von 120 Mill. DM. Am<br />

3. April 1978 war es dann soweit! Das „Flaggschiff" des Hertie-Konzerns - eines der größten<br />

und attraktivsten Warenhäuser der Welt - wurde mit einem Gala-Empfang in Anwesenheit des<br />

Bundespräsidenten und 1500 Gästen aus Politik, Kultur und Wirtschaft gefeiert. Herr Seemann,<br />

der Geschäftsführer des KaDeWe, und der Innenarchitekt, Herr Rauch, haben hier Außergewöhnliches<br />

vollbracht. Von der Kosmetikabteilung im Parterre, in der man auf einer Wolke der<br />

455


Die „Zille-Stube",<br />

eines von drei<br />

Restaurants<br />

im KaDeWe.<br />

Foto: KaDeWe<br />

erlesensten Düfte schwebt, über die fünf geschmackvoll angelegten Etagen mit einem internationalen<br />

Abgebot an Waren, das seinesgleichen sucht, bis zum Schlemmerparadies im 6. Stockwerk<br />

ist es ein Haus der Superlative.<br />

Die Weltstadt Berlin ist jetzt um eine Attraktion reicher. Sie gehört für den Touristen dazu wie<br />

der Kurfürstendamm, die Gedächtniskirche, der Reichstag, der Funkturm, das Schloß Charlottenburg.<br />

Zehn Jahre Humboldt-Zentrum Berlin<br />

Alice Hamecher<br />

Das Humboldt-Zentrum Berlin kann in diesem Jahr auf die erste Dekade erfolgreicher Tätigkeit<br />

in unserer Stadt verweisen. Als Berliner Sektion der bundesweit aktiven Humboldt-Gesellschaft<br />

ist es der Pflege von Erbe und Erinnerung an Wilhelm von Humboldt (1767 — 1835), den<br />

preußischen Staatsmann und Gelehrten, und an Alexander von Humboldt (1769—1859), den<br />

bekannten Naturforscher und Geographen gewidmet, zwei Persönlichkeiten der Geschichte Preußens<br />

und Berlins, die die Entwicklung von Wissenschaft und Bildung im 19. Jahrhundert bedeutsam beeinflußt<br />

haben. Aber auch den Kreis der Freunde und Zeitgenossen der beiden Brüder in ihrer<br />

Bedeutung in ihrer sowie für unsere Zeit erkennbar werden zu lassen, hat sich das Humboldt-<br />

Zentrum zur Aufgabe gesetzt. Dabei wurde besonderes Gewicht auf die regelmäßig stattfindenden<br />

Vortragsveranstaltungen gelegt, die neben Themen verschiedener Disziplinen aus Geschichte, Kunstgeschichte<br />

und Naturwissenschaften auch die Beziehung Wilhelm und Alexander von Humboldts<br />

zu Berlin behandelt haben. Es soll hier nur an Schloß Tegel erinnert werden, deren Besitzerin,<br />

Frau Marie Agnes von Heinz, schon mehrmals Schloß und Park für Veranstaltungen des Humboldt-Zentrums<br />

zur Verfügung stellte. Zu den Vortragenden des Humboldt-Zentrums gehörten in<br />

den letzten Jahren auch immer wieder Kenner und Gelehrte, die in unserem Verein nicht unbekannt<br />

sind, wobei hier auf Frau Prof. Wirth, Herrn Dr. Zimmermann, Herrn Prof. v. Simson und<br />

Herrn Prof. Wilhelm Richter stellvertretend für alle anderen verwiesen werden soll.<br />

Unter der jetzigen Vorsitzenden, Frau Dr. habil. Hofmann-Wychgram, erscheinen seit 1975 halbjährlich<br />

Mitteilungen, in denen Vorankündigungen und Berichte über Veranstaltungen des Hum-<br />

456


oldt-Zentrums sowie Hinweise und Rezensionen zu neuerscheinender Literatur den Mitgliedern<br />

und Freunden Anregungen für ihre gemeinsamen Bemühungen um die Geschichte der Brüder<br />

Humboldt und ihre Erforschung, die gerade in den letzten Jahren sich wachsenden wissenschaftlichen<br />

Interesses erfreuen kann, vermitteln.<br />

Das Humboldt-Zentrum Berlin hat sich in den letzten zehn Jahren unter den historischen Vereinen<br />

unserer Stadt einen bedeutenden und anerkannten Platz gesichert. W. N.<br />

Arbeiten zur Geschichte Berlins in Ost-Berlin<br />

Wie die „Berliner Zeitung" Nr. 257 vom 31. Oktober 1977 berichtet, haben sich die Mitarbeiter<br />

des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in einem Brief an<br />

Erich Honecker mit Fragen der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung beschäftigt. Wörtlich hieß<br />

es unter anderem:<br />

Zu Ehren des 30. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik verpflichtet<br />

sich das Kollektiv des Instituts, auf der Grundlage der Beschlüsse des IX. Parteitages der SED im<br />

sozialistischen Wettbewerb 1978/79 die Pläne in hoher Qualität zu erfüllen und durch Übernahme<br />

zusätzlicher Aufgaben, die aus dem aktuell-politischen Kampf erwachsen, überzuerfüllen.<br />

Im Mittelpunkt der Aufgaben des Instituts werden unter anderem „Arbeiten zur Geschichte Berlins<br />

und der Berliner Arbeiterbewegung" stehen. SchB.<br />

Spittel-Kolonnaden entstehen neu<br />

Die Spittel-Kolonnaden wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Ihr Südteil soll nach Ausführungen<br />

im „Neuen Deutschland" vom 5. Mai 1978 nunmehr im Bereich zwischen Gertrauden-Brücke und<br />

Leipziger Straße neu errichtet werden. Die Kolonnaden werden in Grünanlagen halbkreisförmig eingebettet<br />

und von Trophäen, Putten und Vasen gekrönt. SchB.<br />

*<br />

Am 22. Februar 1978 ist in Berlin (Ost) der Bezirksvorstand der Denkmalpflege gegründet worden.<br />

Er setzt sich aus Mitgliedern der 1977 ins Leben gerufenen Interessengemeinschaft Denkmalpflege,<br />

Kultur und Geschichte zusammen, der sich jetzt erweiterte Möglichkeiten zur Arbeit<br />

bieten. In den fünf Interessengruppen Denkmalpflege, Urgeschichte, Frühgeschichte, Ortschronik<br />

und Sammlerfreunde arbeiten rund 300 Mitglieder mit, die im Jahre 1978 etwa 20 Vorträge und<br />

Exkursionen geplant haben. Auf der (Ost-)Berliner Bezirksdenkmalliste stehen rund 350 Objekte.<br />

SchB.<br />

EUROPA NOSTRA<br />

Die europäische Vereinigung für Denkmal- und Naturschutz EUROPA NOSTRA wird ihre diesjährige<br />

Hauptversammlung vom 21. bis 24. September in Hamburg abhalten.<br />

EUROPA NOSTRA wurde vor zwölf Jahren als Dachorganisation aller europäischen Vereine und<br />

Verbände für Denkmal- und Naturschutz gegründet. Heute umfaßt sie einige tausend Mitgliedsverbände<br />

mit mehreren Millionen Mitgliedern in 23 Ländern Europas.<br />

Nach Kongressen dieser Art in London, Zürich, Amsterdam und Wien findet die EUROPA-<br />

NOSTRA-Tagung erstmalig seit 1969 wieder in Deutschland statt, und zwar - auf Einladung der<br />

Stiftung F. V. S. und des Deutschen Heimatbundes - in Hamburg.<br />

Als europäischer Dachverband nationaler, regionaler und lokaler Verbände hat es sich diese Vereinigung<br />

zum Ziel gesetzt, das Verständnis der Völker Europas für ihr gemeinsames Erbe in der<br />

Kunst und der Architektur sowie für die landschaftlichen Schönheiten zu wecken. Sie will die<br />

Aufmerksamkeit auf die Gefahren lenken, durch welche diese unersetzlichen Werte bedroht werden,<br />

und auf Maßnahmen zu ihrem Schutz dringen, und sie will für ein hohes Niveau in der zeit-<br />

457


genössischen Architektur in Stadt und Land sowie für die Verbesserung der Umweltbedingungen<br />

eintreten.<br />

Seit der Gründung der EN besteht ein enger Kontakt zu anderen europäischen Körperschaften,<br />

insbesondere mit dem Europarat, mit dem zusammen die EN beispielsweise das Europäische<br />

Denkmalschutzjahr 1975 veranstaltet hat. Die ICOMOS, der internationale Gemeindeverband und<br />

der Europäische Verkehrsverband sind durch Delegierte im Präsidium der EN vertreten.<br />

In der Praxis werden die Aufgaben der EN verfolgt durch Resolutionen der Mitgliederversammlung<br />

an europäische und internationale Körperschaften, unmittelbare Interventionen zu Einzelproblemen,<br />

Erfahrungsaustausch innerhalb der Mitglieder, Seminare zu bestimmten Fragen von<br />

europäischer Bedeutung (z.B. Jugend- und Denkmalpflege) sowie Diareihen und Filme. Zum Denkmalschutzjahr<br />

1975 hat die EN beispielsweise einen Film hergestellt, der zu den höchstdekorierten<br />

Filmen auf diesem Gebiet zählt. Dem Einfluß der EN ist es u.a. zu verdanken, daß der Marktplatz<br />

von Brüssel heute frei ist von parkenden Fahrzeugen, daß die malerischen Innenstadt-<br />

Kanäle von Gent nicht zugeschüttet wurden, daß der Plan für Neubauten und moderne Straßen<br />

in der Mönchsrepublik Athos zurückgestellt wurde, daß das architektonisch wertvolle Gefängnis<br />

zu Stein am Rhein nicht einem Neubau weichen mußte, daß Straßen durch wertvollen Baubestand umgeplant<br />

wurden und anderes mehr. Als Auftragsarbeit für den Europarat und die Europäische<br />

Gemeindekonferenz hat die EN das „Forum der Historischen Städte" ins Leben gerufen, zu dem<br />

heute über 400 Städte in 18 europäischen Ländern zählen. Dieses Forum dient dem Erfahrungsaustausch<br />

insbesondere durch Studienreisen von Bürgermeistern und leitenden städtischen Beamten<br />

sowie dem Austausch von beispielhaften Projekten.<br />

In diesem Jahr verleiht die EN erstmalig Preise für außergewöhnliche Leistungen, um die internationale<br />

Aufmerksamkeit auf solche Projekte zu lenken, durch die auf die verschiedenste Weise<br />

ein Beitrag zur Erhaltung des architektonischen und landschaftlichen Erbes Europas geleistet worden<br />

ist. Es werden jährlich fünf Medaillen und zehn Diplome verliehen.<br />

Von unseren Mitgliedern<br />

Mitgliederversammlung 1978<br />

Dr. G. Kutzsch neuer Vorsitzender - Professor Dr. Dr. Hoffmann-Axthelm Ehrenvorsitzender -<br />

Professor Oschilewski Ehrenmitglied<br />

Die ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins für die Geschichte Berlins am 10. Mai 1978 im<br />

Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg wurde vom Vorsitzenden, Professor Dr. Dr. W. Hoffmann-<br />

Axthelm, mit einem Gruß an die 52 anwesenden von insgesamt 838 Mitgliedern und mit der Totenehrung<br />

eingeleitet. Seit der letzten Mitgliederversammlung sind die folgenden 17 Mitglieder verstorben:<br />

Dr. Karl Bergerhoff, Alfred Braun, Hans Bruhn.Lotte Fröhlich, Professor Dr. Karl Göpp, Ernst<br />

Jänicke, Gertrud Kahl, Dr. Hans Leichter, Erwin Montag, Kurt Pomplun, Johannes Posth, Georg<br />

Rosenberg, Werner Runge, Walter Schneider-Römheld, Wilhelm Schülke, Dr. Robert Venter,<br />

Karl Vogelmann.<br />

Die Versammlung verzichtete darauf, den ihr im Umdruck vorliegenden Tätigkeitsbericht des Schriftführers<br />

verlesen zu lassen, zumal dieser Bericht auch Bestandteil des Jahrbuches 1978 sein soll. Auch<br />

der Kassenbericht 1977 und der Voranschlag 1978 der Schatzmeisterin, Frau R. Koepke, waren den<br />

Mitgliedern vervielfältigt zur Verfügung gestellt worden. Frau R. Koepke erläuterte die einzelnen<br />

Positionen, und K. Grave erstattete für die Betreuer der Bibliothek den Bibliotheksbericht. Aus den<br />

Berichten der Kassenprüfer Kretschmer und Degenhardt (von diesem vorgetragen) und der Bibliotheksprüfer<br />

Mende und Schlenk (wieder von Mende erstattet) ergaben sich keine Beanstandungen,<br />

jedoch einige wertvolle Anregungen. Gegenwärtig umfaßt die Bibliothek 11 500 Bände. C. P. Mader<br />

gab in der Aussprache einen Hinweis zum Etat des laufenden Jahres.<br />

Mit einem Dank für die Arbeit des Vorstandes beantragte Landgerichtsrat a.D. Rechtsanwalt D. Franz<br />

die Entlastung, die einmütig ausgesprochen wurde. Da sich der Vorsitzende, Professor Dr. Dr.<br />

458


W. Hoffmann-Axthelm, gemäß seiner Ankündigung auf der Mitgliederversammlung 1977 nunmehr<br />

vom Amt des Vorsitzenden zurückzog, benutzte er die Gelegenheit zu einem kleinen Rechenschaftsbericht,<br />

aber auch zu einem Dank an Walther G. Oschilewski, der ein Vierteljahrhundert lang das<br />

Jahrbuch Berlins redigierte, an Dr. P. Letkemann, der hinsichtlich der „Mitteilungen" die Nägel eingeschlagen<br />

hat, die noch lange halten mögen, und an C. P. Mader, der sich um die Gestaltung der<br />

Publikationen des Vereins verdient gemacht hat, nicht zuletzt an die Vorstandsmitglieder für ihre<br />

Arbeit und an die Mitglieder für ihr Vertrauen. Auf einstimmigen Antrag des Vorstandes wurde der<br />

bisherige 1. stellvertretende Vorsitzende, Dr. Gerhard Kutzsch, für die Wahl zum neuen Vorsitzenden<br />

nominiert. Die Jahreshauptversammlung folgte dem Vorschlag einstimmig. Dr. G. Kutzsch dankte<br />

für den einmütigen Vertrauenserweis und richtete ein Dankeswort an seinen Vorgänger, der trotz<br />

starker Arbeitsbelastung den Verein mit glücklicher Hand geleitet, dessen Ansehen gemehrt und dazu<br />

beigetragen hat, daß sich in seiner Amtszeit die Zahl der Mitglieder annähernd verdreifacht hat. Bis<br />

zur satzungsgemäßen Neuwahl des Vorstandes wurde der Schriftführer, Dr. H. G. Schultze-Berndt.<br />

auf Beschluß der Mitglieder kommissarisch auch mit dem Posten des 1. stellvertretenden Vorsitzenden<br />

betraut. Ebenso einmütig war die Wahl von Dr. Wetzel als Nachfolger von Professor Kettig zum Beisitzer.<br />

Einstimmig war die Wiederwahl der bewährten Kassenprüfer Deg'enhardt und Kretschmer und<br />

der versierten Bibliotheksprüfer Mende und Schlenk.<br />

Mit einer Ovation entsprach die Mitgliederversammlung dem Antrag des Vorstandes, Professor<br />

E.h. Walther G. Oschilewski die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen und Professor Dr. Dr. Walter<br />

Hoffmann-Axthelm zum Ehrenvorsitzenden zu ernennen. Am Schluß der Jahreshauptversammlung,<br />

in der kein Widerspruch und nur wenig (berechtigte) Kritik laut wurde, standen die Frage einer Aktivierung<br />

auch der Geselligkeit im Anschluß an die Veranstaltungen des Vereins, für die sich Frau<br />

Hamecher einsetzte, und das Problem des Drucks eines neuen Mitgliederverzeichnisses, der wahrscheinlich<br />

an den Finanzen scheitern dürfte, wenn sich der Verein nicht mit einer wesentlich bescheideneren<br />

Ausstattung begnügen will. An der Diskussion beteiligten sich unter anderem Frau Wolff-<br />

Harms, Frau Brauer, C. P. Mader, Professor Hoffmann-Axthelm, Dr. Schultze-Berndt und<br />

Dr. Kutzsch. Nach dem offiziellen Schluß der Versammlung zeigte K. H. Kretschmer einen filmischen<br />

Rückblick auf die Wendlandfahrt 1977. Die Technik verhinderte es dann leider, daß auch noch ein<br />

Film über Kurt Pomplun vorgeführt werden konnte. H. G. Schultze-Berndt<br />

Professor Walther G. Oschilewski Ehrenmitglied des Vereins<br />

Auf der diesjährigen ordentlichen Mitgliederversammlung am 10. Mai wurde Herrn Professor Walther<br />

G. Oschilewski die Ehrenmitgliedschaft unseres Vereins verliehen.<br />

W.G.O. ist Autodidakt. Er spricht einmal von seiner „tiefeingewurzelten Neigung zu tun und zu<br />

lassen, was ihm Spaß macht". Er hat sich nie bürokratischen Zwängen einordnen wollen, um ein<br />

„freier" Mann sein zu können - ein Außenseiter, wie er von sich bekannte. Der sicheren Wegführung<br />

eines festen Berufes, gerade in den Jahren des Aufbaus einer Existenz, entratend, hat er sich auf sich<br />

selbst gestellt und ist mit Selbstdisziplin, Beharrlichkeit, Fleiß und Wissen der erfolgreiche, angesehene<br />

Schriftsteller zur Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte im weitesten Sinne geworden, der er heute<br />

ist. Der Arbeitersohn aus dem Nordosten Berlins hat sich zeitlebens darum bemüht, durch Tun und<br />

Wirken im Sinne Goethes „ein Mensch zu werden". Menschenleben, Lebensführungen haben ihn<br />

denn auch immer wieder zur Darstellung gereizt, eine Vielzahl guter Biographien entstammt seiner<br />

Feder, vornehmlich auch über Männer, die handelnd und gestaltend in der politisch-sozialen Arena<br />

standen. W.G.O. bekannte sich von früher Jugend an zur Idee sozialistischer Lebens- und Gesellschaftsgestaltung.<br />

Aber abgesehen von wenigen Jahren der Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen<br />

Fraktion im Berliner Stadtparlament hielt sich seine parteipolitische Aktivität in Grenzen, und sein<br />

politisches Engagement bestand im Einsatz für Recht, Würde und Erneuerung des Menschen, die ihm<br />

ein ethischer, humanitäter Sozialismus verhieß. O. wurde der Chronist der deutschen Arbeiterbewegung<br />

und ihrer politischen Organisation, der Sozialdemokratischen Partei. Er schrieb über den<br />

„sozialen Geist des alten Handwerks", über die Konsumgenossenschaftsbewegung, über den sozialen<br />

Fortschritt schlechthin. Ein gemeinsamer Nenner ist den Arbeiten eigen, und geschichtliche Zusammenhänge<br />

werden verdeutlicht - ein wichtiges Kriterium wissenschaftlicher Arbeit. Die Erinnerung an<br />

das Bildungsstreben innerhalb der frühen deutschen Arbeiterbewegung wird wachgerufen, in deren<br />

459


Geiste W.G.O. noch immer lernt und lehrt. Nicht zuletzt wendet sich der Mann der Feder an die<br />

jungen Generationen, denen er ein „altes" geistiges Fundament - soziales Denken als Aufgabe und<br />

Verpflichtung — wieder aufs neue geben will.<br />

Ein umfangreicher Teil des CEuvres W. G. Oschilewskis beschäftigt sich mit Vergangenheit und Gegenwart<br />

seiner vielgeliebten Heimatstadt Berlin, deren politische Bühne und Kulturszene von ganz unten<br />

ausgeleuchtet wird, vom kleinen Volke her, bis hin zu den Beziehungen der Berühmten aus Politik,<br />

Literatur und bildender Kunst zum Geist und Pulsschlag dieser mobilen Stadt. O. ist der Historiograph<br />

der Berliner politischen Linken und - auf dem kulturellen Sektor ihr nahestehend - der Volksbühnenbewegung,<br />

die Mittel und Wege zu neuen Formen der Eingliederung der Bühnenkunst in die<br />

Gemeinschaft des arbeitenden Volkes suchte und ermöglichte. Als freier Schriftsteller und Journalist<br />

fand W.G.O. nach dem Zweiten Weltkrieg den Zugang in ein Verlagshaus, das ihm für lange Jahre<br />

festen Boden unter den Füßen geben sollte. Er brachte seinen unermüdlichen Fleiß und sein großes<br />

Wissen ein und wurde Berlins wohl herausragendster und produktivster Fachmann in den Bereichen<br />

Druck, Schrift, Buch, Verlag, Zeitung. „Ich habe mich immer bemüht, sehr genau und präzise zu sein,<br />

ohne die lebendige Diktion für falsch zu halten." In dieser Selbstbeurteilung verbindet sich das<br />

Bedürfnis nach wissenschaftlicher Gründlichkeit mit dem Streben des Journalisten aus Leidenschaft<br />

nach wirkungsvollem, gediegenem und brillantem Ausdruck. O., umfassend gebildet, führt in die<br />

Problematik seiner Themen ein, erschließt sie quellenmäßig sauber, analysiert sie so faktenreich wie<br />

kritisch und stellt sie, Grundsätzliches herausarbeitend, Wichtiges vom Unwichtigen trennend - ein<br />

sehr wesentliches Merkmal wissenschaftlicher Qualifikation —, allgemeinverständlich dar. Er findet<br />

die Anerkennung auch der Fachwissenschaftler, die er immer sehr ernst genommen hat.<br />

W. G. Oschilewskis Leben ist erfüllt von Willens- und Erkenntnisdrang, von Arbeit an sich selbst und<br />

für andere. Wer da will, wird wertvolle Anregungen und Impulse von ihm empfangen. Um an den<br />

Titel der Festschrift zu seinem 65. Geburtstag anzuknüpfen - man darf sagen, daß er „mittels Tun ein<br />

Mensch geworden ist". Gerhard Kutzsch<br />

*<br />

Unserem Mitglied Frau Käte Haack wurde am 17. April vom Senator für Kulturelle Angelegenheiten,<br />

Dr. Dieter Sauberzweig, der ihr vom Herrn Bundespräsidenten verliehene Verdienstorden der Bundesrepublik<br />

Deutschland überreicht. Wir freuen uns über diese hohe Auszeichnung! SchB.<br />

*<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum<br />

70. Geburtstag Frau Ursula Arfert, Frau Eva Guth, Herrn Hans Pels-Leusden; zum 75. Geburtstag<br />

Herrn Walter Herrmann, Frau Ilse Kemnitz, Frau Rose Marie Pluta-Mende, Herrn Dr. Reinhard<br />

Bickerich; zum 80. Geburtstag Herrn Ernst Jänicke; zum 85. Geburtstag Frau Dr. Ilse Reicke.<br />

460


Buchbesprechungen<br />

Carl-Philipp Melms: Chronik von Dahlem. Berlin: arani 1978. 178 S., Pappbd., 17,80 DM.<br />

Unter den Berliner Vororten nahm Dahlem stets eine besondere Stellung ein. Seit dem Beginn des<br />

modernen Ortsausbaus um die Jahrhundertwende wurde hier versucht, eine Synthese zwischen Villenviertel<br />

und Forschungsstätte zu schaffen. Aus Interesse an der Heimatgeschichte hatte Carl-Philipp<br />

Melms 1957 eine kleine Heimatgeschichte über diesen heute zum Bezirk Zehlendorf gehörenden<br />

Ortsteil verfaßt, die in ihrer Zweiteilung in eine historische Übersicht und chronikalische Notizen das<br />

Bedürfnis nach einfacher Information über den Stadtteil befriedigte.<br />

Heute aber, 21 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage, treten in der unveränderten Neuausgabe<br />

die Schwächen des Buches stärker als die Vorzüge hervor. So hatte der Verfasser es nicht für<br />

nötig gehalten, seine Quellen und die benutzte Literatur anzugeben.<br />

Ein besonders schwerwiegender Mangel ist jedoch das Abbrechen des chronikalischen Teils mit dem<br />

Jahr 1945. Seitdem hat sich auch in Dahlem vieles verändert, und man wünschte sich die Darstellung<br />

auch der Nachkriegsgeschichte, die 1957 vom Verfasser angekündigt wurde. Der alte und neue Verlag<br />

hatte 21 Jahre Zeit, dies vorzubereiten. Die unveränderte Neuauflage bedeutet daher eine Blamage.<br />

Felix Escher<br />

Adolf Glaßbrenner: Wie war Berlin vergnügt. Geschichten und Szenen. Illustr. v. Marga Karlson.<br />

Berlin: arani 1977. 100 S., brosch., 11,80 DM.<br />

Adolf Glaßbrenner: Altes gemütliches Berlin. Geschichten und Szenen. Illustr. v. Marga Karlson.<br />

Berlin: arani 1977.126 S., brosch., 11,80 DN.<br />

Es ist gewiß verdienstlich, wenn der arani-Verlag das Werk Glaßbrenners in handlicher Form wieder<br />

vorlegt (wobei es sich diese alteingesessene Verlagsgesellschaft vor einiger Zeit gefallen lassen mußte,<br />

in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als „Ost-Berliner arani-Verlag" bezeichnet zu werden). Eine<br />

Kürzestbiographie Glaßbrenners ist den Bänden vorangestellt, die dem ersten Kennenlernen Glaßbrenners<br />

dienlich sind. Der anspruchsvolle Leser hätte sich ein Minimum an bibliographischen Angaben<br />

zu den einzelnen Stücken gewünscht, die in ihrer Kürze einen gewissen Eindruck vom Humor<br />

Glaßbrenners und von seinem Berlinerisch um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu vermitteln<br />

vermögen. Man findet auch das geflügelte Wort „Es ist die allerhöchste Eisenbahn!" jenes Mannes,<br />

der die Worte immer umdrehte und eigentlich sagen wollte „Es ist allerhöchste Zeit".<br />

H. G. Schultze-Berndl<br />

Subskriptionsangebote<br />

1. Urkundliche Geschichte der Stadt und Festung Spandau von Enstehung der Stadt bis zur Gegenwart,<br />

bearbeitet von Dr. Otto Kuntzemüller. Mit einem Geleitwort und Nachtrag von Oberbürgermeister<br />

i. R., Geheimer Regierungsrat Friedrich Koeltze. Otto Kuntzemüller veröffentlichte die<br />

Chronik der Stadt Spandau erstmals 1881. Die Auflage, war bald vergriffen. Erst im Jahre 1928 wurde<br />

diese wichtige Stadtgeschichte wieder neu herausgegeben. Als Nachtrag kamen die Aufzeichnungen<br />

des ehemaligen Oberbürgermeisters Friedrich Koeltze aus seiner Dienstzeit in der Spandauer Verwaltung<br />

vom Juli 1884 bis zum April 1919 hinzu.<br />

Nachdruck der Ausgabe 1928/29. Zwei Bände in einem Band. VX/321 Seiten und VHI/309 Seiten.<br />

In Leinen gebunden mit Schutzumschlag. Vorbestellpreis bis zum Erscheinen (etwa im September<br />

1978) 98 DM, nach Erscheinen etwa 128 DM.<br />

2. Samuel Heinrich Spiker: Berlin und seine Umgebungen im neunzehnten Jahrhundert. Eine Sammlung<br />

in Stahl gestochener Ansichten, von den ausgezeichnetesten Künstlern Englands, nach an Ort<br />

und Stelle aufgenommenen Zeichnungen von Mauch, Gärtner, Biermann und Hintze nebst topographisch-historischen<br />

Erläuterungen von S. H. Spiker, königl. Preuß. Biliothekar. Unveränderter<br />

Nachdruck der Ausgabe Berlin 1833. Mit 105 Ansichten auf 52 Tafeln und dem gestochenen Titelblatt.<br />

Die Nachdruckausgabe (mit den Tafeln im Lichtdruck) erscheint Anfang 1979. Vorbestellpreis<br />

128 DM, nach Erscheinen etwa 148 DM.<br />

Auskunft nur: arani-Verlag, Postfach 31 08 29,1000 Berlin 31.<br />

461


Es mag in diesem Jahr, in dem sich der Geburtstag Gustav Stresemanns zum hundertsten Mal jährt,<br />

von Interesse sein, daß seine häufig und meist mit Schmunzeln zitierte Doktorarbeit in Faksimile-<br />

Ausgabe vorliegt: Die Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschaefts. Inaugural-Dissertation zur<br />

Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig. Vorgelegt<br />

von Gustav Stresemann, stud. phil. Gedruckt bei R. F. Funcke, Berlin SO. 16. Köpenickerstr. 114.<br />

Dieser Druck kann zum Preise von 10,60 DM bezogen werden über den Schriftführer oder unmittelbar<br />

bei der Gesellschaft für die Geschichte der Biographie des Brauwesens E.V., Seestraße 13,<br />

1000 Berlin 65.<br />

Unser diesjähriges Jahrbuch „Der Bär von Berlin" wird im September erscheinen. Es enthält acht<br />

Beiträge mit insgesamt 70 Abbildungen zur Geschichte sowie »vultur- und Kunstgeschichte unserer<br />

Stadt. Die Mitglieder erhalten den Band zugeschickt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das<br />

laufende Jahr (z.Z. 36 DM) entrichtet haben. Der Ladenpreis beträgt 22,80 DM. BesteUungen von<br />

Nichtmitgliedem, Zusatzbestellungen oder Bestellungen von Buchhandlungen direkt in der Geschäftsstelle<br />

des Vereins: Albert Brauer, Blissestraße 27, 1000 Berlin 31, und beim Verlag: Westkreuz,<br />

Rehagener Straße 30,1000 Berlin 49.<br />

Im II. Vierteljahr 1978<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Dr. Michael Engel, Bibliotheksassessor<br />

1000 Berlin 19, Kaiserdamm 102<br />

Tel. 3 21 26 71 (H. P. Freytag)<br />

Hans-Peter Farchmin, Assessor<br />

1000 Berlin 31, Witteisbacherstraße 25<br />

Tel. 87 08 83 (H. Schramm)<br />

Käthe Feller, Rentnerin<br />

1000 Berlin 19, Westendallee 115<br />

Tel. 3 05 99 77 (Brauer)<br />

Dr. Rainer Hildebrandt, Geschäftsführer<br />

1000 Berlin 33, Triberger Straße 5<br />

Tel. 8 21 20 34 (Dr. Schultze-Berndt)<br />

Jörg Koch, kaufm. Angestellter<br />

3180 Wolfsburg 1, Stralsunder Ring 8<br />

Tel. (0 53 61) 70 18 85 (Gerh. Koch)<br />

Friedrich Wilhelm Kockert, Verwaltungsjurist<br />

1000 Berlin 47, Paster-Behrens-Straße 26<br />

Tel. 6 06 49 07 (K.-H. Kretschmer)<br />

Wolfgang Korth, Wissenschaftl. Dokumentär<br />

6382 Friedrichsdorf 2, Falkenweg 23<br />

Tel. (0 61 75) 18 32 (Schriftführer)<br />

Studienfahrt nach Goslar<br />

Fritz W. Obermann, Fabrikant<br />

1000 Berlin 19, Johannisburger Allee 11<br />

Tel. 6 25 80 66 (Alice Hamecher)<br />

Willy Ripken, Bez.-Ob.-Insp. i. R.<br />

8580 Bayreuth, Lotzbeckstraße 59<br />

Tel.(09 21)4 13 31 (Brauer)<br />

Rosemarie Seidel, Verwaltungsrätin<br />

1000 Berlin 38, Osthofener Weg 32<br />

Tel. 8 03 44 28 (H. Schramm)<br />

Ruth Scheid, Hausfrau<br />

1000 Berlin 33, Laubacher Straße 7<br />

Tel. 8 22 47 24 (G. Linke)<br />

Herbert Töpfer, Verw.-Amtmann<br />

1000 Berlin 10, Kohlrauschstraße 5<br />

Tel. 3 42 71 15 (H. Schramm)<br />

Gertrud Walter, Rentnerin<br />

1000 Berlin 41, Bergstraße 19<br />

Tel. 7 91 39 28 (Schriftführer)<br />

Ziel der diesjährigen Exkursion ist die Stadt Goslar, die uns vom Städtischen Archivdirektor Dr. Werner<br />

Hillebrand ein vorzügliches Programm gestalten ließ. Der in die Berliner Schulferien fallende<br />

frühe Zeitpunkt vom 1. bis 3. September 1978 ist auf Termingründe beim Gastgeber zurückzuführen,<br />

unter anderem auf das an einem späteren Wochenende stattfindende Treffen mit der Goslarer Patenstadt<br />

Brieg, aber auch auf den Wunsch, die Mitreisenden am Goslarer Altstadtfest teilnehmen zu<br />

lassen.<br />

Das Programm hat das folgende Aussehen:<br />

Freitag, 1. September 1978<br />

6.30 Uhr Abfahrt von der Hardenbergstraße 32 (Berliner Bank)<br />

12.00 Uhr Ankunft in Goslar (Hotel Berliner Bär)<br />

462.


12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen in den Gaststätten Grauhof-Brunnen, Am Grauhof-<br />

Brunnen, 3380 Goslar 1<br />

13.45 Uhr Besichtigung des Lehrstollens des Erzbergwerkes Rammeisberg in Gruppen von<br />

25 bis 30 Personen. Dauer: jeweils ca. 45 Minuten (festes Schuhwerk empfehlenswert).<br />

Für die wartenden Gruppen besteht die Möglichkeit zu einem Spaziergang am<br />

Herzberger Teich oder bei entsprechenden Temperaturen zu einem Bad im<br />

Herzberger Teich (die Talsperre liegt unmittelbar neben dem Eingang zum<br />

Stollen).<br />

Anschließend Wanderung auf den Rammeisberg zur Waldgaststätte „Maltermeister<br />

Turm" zum Kaffeetrinken. Der Aufstieg erfordert etwa eine halbe<br />

Stunde Zeit. Eine Fahrstraße zum Maltermeisterturm ist aber auch vorhanden.<br />

Nach dem Kaffeetrinken Wanderung (ca. eine halbe Stunde bergab) entlang des<br />

Waldrandes/Geologie-Pfades bis zum Berufsförderungswerk.<br />

Rückfahrt zum Hotel „Berliner Bär".<br />

19.30 Uhr Gemeinsames Abendessen im Hotel-Restaurant „Klause", Hoher Weg 3, Goslar.<br />

Sonnabend, 2. September 1978<br />

9.00 bis 9.30 Uhr Empfang durch die Stadt Goslar im Rathaus. Anschließend Fahrt in den Oberharz<br />

(die Route richtet sich etwas nach dem Wetter): Granetalsperre, Innerstetalsperre,<br />

Lautenthal, Wildemann, Clausthal-Zellerfeld, Dammgraben - Dammhaus<br />

(Harz-Hochstraße), Andreasberg, evtl. Odertalsperre, Torfhaus, Altenau,<br />

Okertalsperre, dort<br />

ca. 12.30 Uhr Mittagessen (Hotel „Das Tanneck", Wiesenbergstraße 17, 3396 Schulenberg).<br />

Rückkehr am Nachmittag.<br />

Am Abend Besuch des Altstadtfestes, Gelegenheit zum Abendessen nach eigener<br />

Wahl.<br />

Sonntag, 3. September 1978<br />

9.30 Uhr Mönchehaus: Einführung in die Stadtgeschichte (Städtischer Archivdirektor<br />

Dr. W. Hillebrand) und Vorführung eines Goslar-Films.<br />

10.00 bis 12.00 Uhr Stadtführung in Gruppen von ca. 30 Personen.<br />

12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen im 475jährigen Hotel Kaiser Worth, Markt 3, Goslar.<br />

Anschließend Abfahrt nach Berlin.<br />

Für eine Kaffeepause wird noch eine geeignete Gaststätte gesucht,<br />

ca. 21.00 Uhr Ankunft in Berlin.<br />

Änderungen vorbehalten.<br />

In Goslar sind genügend Einzelzimmer und Doppelzimmer zum Endpreis von 30 DM bzw. 24 DM je<br />

Bett reserviert worden, sämtlich im Hotel „Berliner Bär", Krugwiese, 3380 Goslar. Alle Zimmer sind<br />

mit Bad und WC ausgestattet. Die Benutzung des Schwimmbades ist kostenlos. Für die Sauna wird<br />

ein Kostenbeitrag von 6 DM pro Person erhoben.<br />

Alle Mitglieder, die sich auf die Vorankündigung im letzten Heft der „Mitteilungen" gemeldet haben,<br />

erhalten unaufgefordert ein Rundschreiben mit verbindlichem Anmeldeschein. Alle weiteren Interessenten<br />

werden gebeten, sich formlos bis zum 22. Juli bei Dr. Hans G. Schuitze-Berndt, Seestraße 13,<br />

1000 Berlin 65, anzumelden. Gesonderte briefliche Einladungen ergehen nicht!<br />

Für die Studienfahrt wird ein Teilnehmerhonorar von 43,50 DM je Person erbeten, das die Omnibusfahrt,<br />

den Ausflug in den Oberharz sowie alle Führungen und Eintrittsgelder einschließt. Gegebenenfalls<br />

kann dieser Teilnehmerbeitrag bei Schulkindern ermäßigt werden.<br />

Wo aus Gründen der rascheren Abwicklung ein gemeinsames Mittagessen bzw. Kaffeegedeck vereinbart<br />

worden ist, entstehen die folgenden Kosten: Grauhof-Brunnen (wird noch mitgeteilt); Waldgaststätte<br />

„Maltermeister Turm": Kaffeegedeck (Kännchen, ein Stück Torte/Kuchen) 5,50 DM;<br />

Hotel-Restaurant „Klause": kalte Platte (reichlich) 9 DM; Hotel „Das Tanneck" (auf Wunsch des<br />

Hauses ä Ia carte); Hotel Kaiser Worth: Harzer Fleischspieß auf Würfelkartoffeln mit sautiertem, gemischtem<br />

Gemüse, Speck und Zwiebelwürfeln 15,70 DM. H. C. Schuitze-Berndt<br />

463


Veranstaltungen im III. Quartal 1978<br />

1. Sonnabend, 22. Juli 1978, 15 Uhr: „Natur- und Landschaftsschutz am Beispiel der<br />

Pfaueninsel". Leitung: Herr Dr. Hans-Jürgen Mielke und Herr Prof. Horst Korge<br />

(Volksbund Naturschutz). Treffpunkt: Fähre Pfaueninsel.<br />

2. Sonnabend, 29. Juli 1978, 11 Uhr: „Barock in Berlin - am Beispiel des Schlosses<br />

Charlottenburg". Leitung: Herr Günter Wollschlaeger. Treffpunkt: im Ehrenhof des<br />

Schlosses.<br />

Im Monat August finden keine Veranstaltungen statt.<br />

3. Freitag, 1. September, bis Sonntag, 3. September 1978: Studienfahrt nach Goslar.<br />

Bitte beachten Sie das Programm auf den Seiten 462 und 463.<br />

4. Dienstag, 5. September 1978, 19.30 Uhr: „Berlin - Stadt der politischen und kulturellen<br />

Impulse''. Vortrag mit Lichtbildern von Herrn Heinz Eisberg. Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

5. Donnerstag, 14. September 1978, 10 Uhr: Besichtigung der Staatlichen Porzellan-<br />

Manufaktur, Berlin 12, Wegelystraße 1. Treffpunkt: am Haupteingang.<br />

6. Sonnabend, 23. September 1978, 10 Uhr: Besichtigung der Deutschen Staatsbibliothek,<br />

Unter den Linden 8. Führung durch Herrn Dr. Winfried Löschburg.<br />

(Antrag auf Genehmigung eines Berechtigungsscheines für Berlin, Übergang Friedrichstraße<br />

für Fußgänger, in einem Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten bis zum<br />

15. September 1978 stellen.)<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste willkommen. Die Bibliothek ist<br />

zuvor jevVeils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen geselliges Beisammensein<br />

im Ratskeller.<br />

Freitag, 28. Juli und 30. September, zwangloses Treffen in der Vereinsbibliothek ab<br />

17 Uhr.<br />

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch. Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31, Blissestraße 27,<br />

Ruf 8 53 49 16. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße 13, Ruf 45 30 11.<br />

Schatzmeister: Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf 6 93 67 91. Postscheckkonto des<br />

Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto: 038 180 1200 bei der Berliner Bank,<br />

1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Claus P. Mader, 1000 Berlin 41, Bismarckstraße 12; Felix Escher, Wolfgang<br />

Neugebauer.<br />

Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM<br />

jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

464


KOI<br />

.,;y.<br />

A 20 377 F<br />

MITTEILUNGEN<br />

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS<br />

GEGRÜNDET 1865<br />

74. Jahrgang Heft 4 Oktober 1978<br />

Ol Ote ei»iiet -fcf unf<br />

graSe» SnterrfTe en bicTest 5oXI babe. (£rf«acnbf» (&tl2*tet i«| .<br />

gru^ea Saal) $tr €saet«arsali, 6ur* biefe (trUänma elrtte |<br />

Presseberichte vom Giftmordprozeß 1923.<br />

Berliner Tageblatt, Nr. 121, 13. 3. 1923 (Morgenausgabe, 1. Beiblatt). Berliner Tageblatt, Nr. 123,<br />

14. 3. 1923 (Morgenausgabe, 1. Beiblatt). Vorwärts, Nr. 124, 15. 3. 1923 (Morgenausgabe, Beilage).<br />

Vossische Zeitung, Nr. 128,16. 3. 1923 (Abendausgabe).<br />

465


Alfred Döblins Versuch der literarischen Verarbeitung<br />

eines Giftmordprozesses in Berlin 1923<br />

Von Dr. Hans Jürgen Meinik<br />

Der Geburtstag des Schriftstellers Alfred Döblin jährte sich im August dieses Jahres zum<br />

einhundertsten Mal. Die Rezeption seines großen literarischen Werkes ist einem breiteren<br />

Publikum allerdings bis heute versagt geblieben. 1 Döblin hat für den Prosaschriftsteller<br />

eine Theorie des Epischen konstruiert, die man als eigenwillig ansehen muß. Einerseits tritt<br />

er für einen stark realitätsbezogenen Stil ein: „dichter heran müssen wir an das Leben", 2<br />

andererseits scheint er über diesen Appell noch hinausgehen zu wollen, indem er fordert,<br />

auch eine letzte, den Blick für die Wirklichkeit verstellende Trennwand noch zu durchbrechen.<br />

Döblin formuliert in diesem Zusammenhang geradezu eine Handlungsanweisung<br />

für den Schriftsteller: „er muß ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr<br />

Blut, ihren Geruch, und dann hat er die Sache zu durchstoßen, das ist seine spezifische<br />

Arbeit".' Dieser Spürsinn für die Realität, für das Dokumentarische prägte sich bei Döblin<br />

zeitweise so stark heraus, daß er, die eigene schriftstellerische Originalität bewußt zurückstellend,<br />

oft die Aktenprosa historischer Vorgänge, auch Lexikon- und Zeitungsartikel,<br />

wörtlich in sein Werk übernahm. 4 Daß die Einarbeitung von Plakat- und Reklametexten<br />

sowie Artikeln aus der Tagespresse für Döblins Arbeitsweise nichts Ungewöhnliches ist, hat<br />

man bereits anhand des bekannten Romans „Berlin-Alexanderplatz" nachgewiesen. 5 Im<br />

Jahre 1924 erschien im Berliner Verlag „Die Schmiede" der erste Band einer von Rudolf<br />

Leonhard herausgegebenen Reihe von Prozeßberichten. Die Gesamtreihe war überschrieben:<br />

„Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart", und Döblin<br />

lieferte im ersten Band einen Prozeßbericht über einen Berliner Giftmordfall in Form einer<br />

Erzählung unter dem Titel „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord". Döblin hatte von<br />

Leonhard den Auftrag erhalten, die Schriftenreihe mit dem Bericht über diesen „Verbrecherfall"<br />

und dessen Hintergründe zu eröffnen. 6<br />

Nimmt schon Döblins Werk insgesamt eine Außenseiterstellung in Deutschland ein, so<br />

kann man ohne Übertreibung sagen, daß dieser Band, der hier einer näheren Betrachtung<br />

unterzogen werden soll, bisher auch in der Fachwissenschaft eine Außenseiterrolle gespielt<br />

hat. Eine selbständige Untersuchung zu dieser Erzählung fehlt bisher. In einer der letzten<br />

großen Arbeiten über Döblins Werk wird z.B. die Studie über den Giftmordprozeß nur<br />

ein einziges Mal ganz am Rande erwähnt. 7<br />

Das rein faktische Prozeßmaterial hat zwar schon einmal als Grundlage für ein Hörspiel<br />

gedient, aber ein Bezug zu Döblins Arbeit fehlte hier vollständig. 8 Die kürzlich im Zweiten<br />

Deutschen Fernsehen gesendete Verfilmung dieses „Kriminalfalles aus dem Berlin des<br />

Jahres 1923" 9 in der Regie von Axel Corti stützt sich immerhin auf Döblins Text, legt aber<br />

ein allzu großes Gewicht auf die Entstehung und den Verlauf des Giftmordes (der eigentliche<br />

Prozeß ist nicht mehr Gegenstand des Films), wobei die sozialen Verhältnisse der<br />

Beteiligten und die Zeitumstände besonders betont, mit Rücksicht auf das Fernsehpublikum<br />

aber in mancher Beziehung verharmlost werden.<br />

Die Fakten des rein äußeren Geschehens in diesem Giftmordfall sind rasch erzählt. Die<br />

Hauptangeklagte Ella Klein, zur Zeit des Prozesses erst 23 Jahre alt, gelernte Friseuse,<br />

Tochter des biederen Tischlers Thieme aus Braunschweig, kam 1919 nach Berlin. 10 Hier<br />

466


lernt das lebenslustige Mädchen auf einem Tanzabend den Möbelpolierer Willi Klein<br />

kennen, den sie ein Jahr später heiratet. Ein Prozeßbeobachter schrieb dazu: „Liebesheirat<br />

des menschenunerfahrenen Mädchens. Sie kommt dabei zwar aus der Provinz nach der<br />

Hauptstadt, aber sie bleibt in ihrer Sphäre: die Tischlerstochter hat sich einen Tischlergesellen<br />

erwählt. Warum sollte das Heim der Neuvermählten nicht ein Himmel werden?" 11<br />

Aber es tritt das Gegenteil ein, denn die Ehe gestaltete sich für die junge Frau zu „einer<br />

einzigen Tortur" 12 . Der Mann kam oft betrunken nach Hause und neigte dann zu sexuellen<br />

Exzessen, die zumindest nach den Moralvorstellungen der damaligen Zeit außergewöhnlich<br />

gewesen sein müssen. Rechtsanwalt Dr. Salinger, bei dem Ella Klein später ihre Ehescheidung<br />

einreichte, die sie jedoch unter den Drohungen ihres Mannes wieder zurückzog,<br />

sagte später vor Gericht aus, er habe eine große Erfahrung in Eheprozessen, doch was ihm<br />

hier vorgetragen worden sei, übersteige alles bisher Dagewesene. Deshalb habe er in die<br />

Klageschrift auch nur die körperlichen Bedrohungen und Mißhandlungen aufgenommen<br />

und die „obszönen Intimitäten weggelassen, . . . weil es ihm peinlich gewesen wäre, derartiges<br />

seiner Sekretärin zu diktieren" 13 .<br />

Während ihrer Ehe lernte Ella Klein die 26jährige Grete Nebbe kennen, die später vor<br />

Gericht behauptete, auch ihr Mann habe perverse Forderungen im ehelichen Leben an sie<br />

gestellt. Die Beziehungen der beiden Frauen gestalteten sich im Laufe der Zeit zu einem<br />

engen Liebesverhältnis. Sie wollten, „wie sie es in . . . Briefen ausdrücken, miteinander<br />

eine zweite Ehe schließen" 14 . Der Wunsch, sich von den Ehemännern zu befreien, wurde<br />

im Laufe der Zeit immer stärker. Ella Klein besorgte sich Arsenik und mischte ihrem<br />

Mann davon regelmäßig etwas in das Essen. Die Freundin beteuerte immer wieder, sie<br />

werde ihren Gatten ebenfalls vergiften, doch schreckte sie wohl aus Angst vor den Folgen<br />

davor zurück.<br />

Am 1. 4. 1922 verstarb Willi Klein im Städtischen Krankenhaus Lichtenberg am Tage<br />

seiner Einlieferung. Auf Betreiben der mißtrauischen Schwiegermutter wurde die Leiche<br />

beschlagnahmt und obduziert. Die beiden Freundinnen wurden verhaftet, nachdem in der<br />

Wohnung Ella Kleins eine umfangreiche Korrespondenz der Frauen sichergestellt werden<br />

konnte, aus deren Inhalt die Mordabsichten an den Männern klar hervorgingen. 15 Der<br />

Prozeß begann am 12. 3. 1923 vor dem Schwurgericht des Landgerichts III in Berlin<br />

„unter ungeheurem Andränge des Publikums, unter welchem das weibliche Element<br />

überwog" 16 .<br />

Die Presse griff begierig das schlagzeilenträchtige Geschehen im Gerichtssaal auf und<br />

erging sich genüßlich in ausführlichen Berichten über die „Giftmischerinnen" bzw. „Gattenmörderinnen".<br />

Alfred Döblin hat sich dagegen von Anfang an, bei dem Versuch, den Fall literarisch zu<br />

verarbeiten, um ein hohes Maß an Distanz und Objektivität bemüht. Er, der selbst eine<br />

„wahre Strindberg-Ehe" geführt hat 17 und der als Arzt und Schriftsteller für psychologische<br />

„Grenzfälle" sensibilisiert war, 18 ist durch diesen Prozeß und seine Hintergründe in hohem<br />

Maße gefesselt worden. Im Epilog zu „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord" stellt<br />

er rückblickend noch einmal deutlich fest: „Ich war nicht auf billige Milieustudien aus" 19 .<br />

Diesen am Schluß der Erzählung fomulierten Grundsatz hat Döblin in der Tat konsequent<br />

beachtet, indem er einseitige und vorschnelle Wertungen unterläßt und auch eine „Schuldfrage"<br />

im herkömmlichen Sinne nicht untersucht. Die Frage, ob Döblin selbst als Zuschauer<br />

den Prozeßverlauf verfolgen konnte, läßt sich anhand des vorliegenden Quellenmaterials<br />

nicht beantworten. Als sich die Notwendigkeit ergab, die Öffentlichkeit zeitweise<br />

467


vom Verfahren auszuschließen, wurde dennoch den Pressevertretern „und einigen Herren,<br />

die aus wissenschaftlichem Interesse der Verhandlung beiwohnten, die Anwesenheit<br />

gestattet" 20 . Unter dieser Personengruppe befand sich auch der Vertreter der Berliner<br />

Ärztekammer Dr. Mamlock, 21 über dessen Vermittlung es Döblin vielleicht möglich<br />

gewesen wäre, den Prozeß im Gerichtssaal zu verfolgen.<br />

Döblin nennt als Quellen für seine Erzählung Berichte aus Tageszeitungen, die Gutachten<br />

der psychiatrischen Sachverständigen und Betrachtungen über den Giftmordprozeß in<br />

Fachzeitschriften. Bei der literarischen Verarbeitung dieser Quellen werden an mehreren<br />

Stellen ganze Passagen wörtlich in den Erzähltext eingearbeitet. Äußerlich deckt sich das<br />

mit dem Befund, den Stenzel für den Roman „Berlin Alexanderplatz" ermittelt hat, 22 und<br />

mit Döblins Theorie des Epischen. Während in dem Roman aber eine zufällige, wenn auch<br />

nicht willkürliche Auswahl getroffen wird, ist Döblin bei dieser Erzählung streng an das<br />

Faktische gebunden. Er kann daher sinnvollerweise nur Prozeßberichte, Zeitungsartikel<br />

und wissenschaftliche Betrachtungen, die speziell zu diesem Fall erschienen waren, in den<br />

Text seiner Erzählung über die beiden Freundinnen einarbeiten. Diese Passagen sind, da<br />

sie nicht unvermittelt eingeblendet, sondern angekündigt werden, 23 als Zitate anzusprechen.<br />

Ein solches Verfahren „evoziert den Eindruck ungefiltert-roher Tatsächlichkeit<br />

des eingefügten Materials" 24 .<br />

Döblin kürzt in der Erzählung die Namen der am Prozeß beteiligten Personen ab: „Sanitätsrat<br />

L." (Leppmann); „Drogist W." (Weber); „Dr. S." (Salinger), oder er verändert die<br />

Namen durch einfache Buchstabenumstellungen: aus Klein wird „Link", aus Nebbe wird<br />

„Bende", aus Geist wird „Fleist". Den bildhaften Namen der mitangeklagten Mutter von<br />

Grete Nebbe „Riemer" verwandelt Döblin unter Beibehaltung des bildhaften Namenscharakters<br />

einfach in „Schnürer".<br />

Bei der Einarbeitung von Zitaten aus Prozeßberichten verfährt Döblin keineswegs mechanisch.<br />

Dies soll an einem konkreten Beispiel gezeigt werden: Döblin verwendete in seiner<br />

Erzählung unter anderem „Zeitungsnotizen (von) Dr. M. in einer Berliner Zeitung" 25 .<br />

Tatsächlich handelt es sich dabei um einen mit „Dr. E. M" gezeichneten Artikel im Berliner<br />

Tageblatt. 26 Dieser Artikel unterscheidet sich insofern wohltuend von vielen anderen Prozeßberichten<br />

jener Tage, als in ihm um Verständnis für die Angeklagten und ihr Schicksal<br />

nachgesucht wird. Auffallend ist allein schon die darin vorgenommene äußere Beschreibung<br />

der Angeklagten Klein: „Man sieht dieses unscheinbare Geschöpf mit dem harmlos blonden<br />

Vogelköpfchen . . . und schüttelt den Kopf." 27 Dieses Zitat gibt Döblin am Schluß<br />

der Erzählung wieder, aber bereits auf der ersten Seite greift er dieses Bild der schutzbedürftigen,<br />

harmlos-lebhaften Elli Link auf, indem er schreibt: „Sie war harmlos frisch,<br />

von der Munterkeit eines Kanarienvogels, wie ein Kind lustig." 28<br />

Diese Art der Betrachtungsweise hält Döblin in der gesamten Erzählung durch. Mit zärtlicher<br />

Einfühlsamkeit nähert er sich den beteiligten Personen und bemüht sich um eine<br />

vorurteilslose Betrachtung der Hintergründe des Mordes. Die Schuld wird daher auch<br />

nicht einseitig in dem widernatürlichen Verhalten des rabiaten Ehemannes gesehen, denn<br />

schließlich war für die gepeinigte Frau Zeit genug vorhanden, um die Ehe friedlich auseinandergehen<br />

zu lassen. Aber Elli war zu leichtfertig in diesen Dingen: „Sie wischte darüber<br />

weg." Außerdem dachte sie in den kleinbürgerlichen Kategorien ihres Elternhauses:<br />

„Eine eigene Wirtschaft war nicht zu verachten . . . , sie würde Ehefrau sein, eine Familie<br />

haben wie die in Braunschweig." 29 Auch das normale eheliche Liebesleben befriedigte<br />

Elli nicht. Zwar bemühte sie sich ehrlich „umzufühlen, aber vermochte doch nicht. Ihr<br />

468


dämmerte ängstlich, daß sie sich da nicht zurecht fand." 30 Ja, bezogen auf diesen Befund,<br />

spitzt Döblin das Dilemma, in dem sich die Geschworenen später bei ihren Beratungen<br />

befanden, auf die Frage zu, ob man einen Eierstock schuldig sprechen könne, „weil er so<br />

und nicht so gewachsen war" 31 . Freilich deckte sich dies auch mit den kühl wissenschaftlich<br />

konstatierten Ergebnissen der Gutachter, die bei Elli Klein eine „körperliche und geistige<br />

Entwicklungshemmung" annahmen, „die sich selbst bis auf die inneren Geschlechtsorgane<br />

erstrecke" 32 .<br />

Ellis Ehemann, der dies gar nicht überblicken kann, wird durch die eheliche Situation zu<br />

einer extremen Haltung verleitet: „Ohne daß er wußte, warum und wie, unter deutlichem<br />

inneren Widerstreben, verfiel er darauf, geschlechtlich wild mit ihr zu sein. Heftiges, Wildes,<br />

Besonderes, von ihr zu verlangen." 33<br />

Das Zusammenleben der Kleins verschärft sich ins Unerträgliche, als Elli zufällig die drei<br />

Jahre ältere Grete Nebbe kennenlernt, die ebenfalls eine wenig glückliche Ehe führt. 34<br />

Nach längerem Zögern „erfolgte auf beiden Seiten die Entladung", indem sich die beiden<br />

Frauen „krampfartig, stoßartig" die in der Ehe erlittenen Torturen gestehen. 35 Das Leiden<br />

in den zerrütteten Ehen wird durch die engen Kontakte der beiden Frauen in scheinbar<br />

idealer Art aufgehoben und mündet in einen psychischen Befreiungsakt. Die muntere<br />

Elli Klein war für ihre ältere Freundin „Trost" und „Ersatz für den schlechten Mann . . .<br />

Die Link war ihr Kind". Die jüngere dagegen „fand sich aufatmend in ihrer alten Rolle<br />

wieder, war der muntere kleine Frechdachs der früheren Zeit" 36 .<br />

Im Laufe der folgenden Monate entwickelte sich zwischen den Frauen ein homosexuelles<br />

Verhältnis, das von Grete Nebbe ausging. 37 Es ist sicher keine erstaunliche Tatsache, daß<br />

gerade dieser Umstand den Prozeß für die Presse sensationsträchtig erscheinen ließ.<br />

Neben den in solchen Fällen üblichen, reißerisch aufgemachten Prozeßberichten über die<br />

„Giftmischerinnen" erschienen in einigen Blättern auch Betrachtungen abgewogenerer<br />

und grundsätzlicher Art. Besondere Beachtung verdient dabei ein Artikel des Schriftstellers<br />

Joseph Roth, den übrigens Rudolf Leonhard ebenfalls dazu ausersehen hatte, einen<br />

Beitrag in der Reihe „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart" zu<br />

schreiben. 38 Die in germanistischer Forschung bisher vertretene Auffassung, Roth habe<br />

im September 1922 seinen letzten Beitrag für den Berliner Börsen-Courier verfaßt, 39 ist<br />

trotz eines vorliegenden Abschiedsbriefes an den Redakteur Herbert Ihering vom 17. 9.<br />

1922 40 falsch, denn Roth schrieb seinen Beitrag über die beiden Hauptangeklagten im<br />

Giftmordprozeß noch im März 1923 für dieses Blatt. 41<br />

Mahnend wies Roth auf die Vielschichtigkeit der im Verlauf der ersten Prozeßtage ans<br />

Licht getretenen Probleme hin: „Wären Zuhörer und Miterleber dieses Prozesses reif<br />

genug, um das Spannende und Lüsterne der Vorgänge auszuschalten und aus den Begebnissen<br />

zu lernen, so müßten sie zu der Erkenntnis gelangen, daß in uns die Engel und Teufel<br />

mit gleichen Kräften ausgerüstet sind und gleiche Gewinnchancen haben; daß die unnatürliche<br />

Veranlagung, die von Anbeginn vorhanden war — vielleicht in jedem vorhanden ist -<br />

gezüchtet wurde durch die Befolgung der gesellschaftlichen Regel" 42 .<br />

Roth, der Döblins schriftstellerischem Schaffen sehr kritisch gegenüberstand, 43 kommt aber<br />

der Einschätzung der Prozeßhintergründe, wie sie in der Erzählung über die beiden Freundinnen<br />

niedergelegt sind, sehr nahe.<br />

Auch Döblin fragt im Epilog nach den „eigentlichen Motoren" für die Handlungsweise der<br />

Angeklagten, hält sich aber mit einem fertigen Urteil vorsichtig zurück: „Psychischer<br />

Zusammenhang oder gar Kausalität, wie soll man sich das denken.' Mit dem Kausalitäts-<br />

469


prinzip frisiert man. Zuerst weiß man, dann wendet man die Psychologie an. Die Unordnung<br />

ist da ein besseres Wissen als die Ordnung." 44<br />

Diese Erkenntnis war es, die Döblin von vorschnellen und oberflächlichen Erklärungsversuchen<br />

abhielt und die man als Bestandteil seiner poetologischen Konzeption begreifen<br />

muß. In seinem „Berliner Programm" aus dem Jahre 1913 hatte er seinen Schriftstellerkollegen<br />

bereits zugerufen: „Man lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft,<br />

die sich mit dem seelischen ganzen Menschen befaßt: sie hat das Naive der Psychologie<br />

längst erkannt, beschränkt sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen, - mit<br />

einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ,Warum' und ,Wie' ". 45<br />

Getragen von einer solchen Einsicht, näherte sich Döblin den angeklagten Frauen in diesem<br />

„von psychologischen Rätseln und sozialen Problemen strotzenden Prozeß" 46 . Während<br />

das fast einhellige Urteil der Berichterstatter in der Tagespresse lautete, die beiden<br />

Frauen hätten aufgrund ihrer homosexuellen Veranlagung den Entschluß gefaßt, ihre<br />

lästig gewordenen Ehemänner zu beseitigen, um völlig ungehindert miteinander leben zu<br />

können, blickt Döblin weiter, indem er die in dieser Konstellation angelegten Konflikte<br />

zwischen den Personen in seine Betrachtung mit einbezieht. Den aussichtslosen Kampf<br />

gegen ihren Mann führt Grete Bende jetzt, nachdem sie sich mit Elli ganz verbunden<br />

glaubt, erfolgreicher „über die Wände ihrer Wohnung hinaus" gegen den Tischler Link, in<br />

der Absicht, sich der Zuneigung und Abhängigkeit der blonden Freundin dauerhaft zu<br />

versichern. Auch Ellis Position bei den täglichen Streitereien mit Link wurde gefestigt,<br />

denn sie besaß jetzt „einen zweiten Willen, die Bende" 47 .<br />

Diese Ausgewogenheit besteht indessen nur scheinbar, weil Elli bald in einen „inneren<br />

Zwiespalt" gerät, der sie zu dem Schluß kommen läßt: „Auch die Bende war nicht gut."<br />

Döblin geht sogar soweit, eine völlig neue Ehekonstellation als überraschende Konfliktlösung<br />

anzudeuten: „Ja, Link und die Bende, fühlte Elli dunkel, gehörten zusammen." 48<br />

Diese Andeutung findet insofern einen realen Bezugspunkt zu den tatsächlichen Begebenheiten,<br />

als die Freundinnen später übereinstimmend aussagten, „daß die Männer versucht<br />

hätten, je die Frau des anderen zu verführen" 49 .<br />

Döblins Gespür für die verwickelte und ausweglos erscheinende Situation wird besonders<br />

deutlich, wenn man seine Beschreibung des Gemütszustandes der beiden Freundinnen zur<br />

Zeit der Tatausführung betrachtet. Vor den Augen des Lesers wird nicht das Bild der<br />

heimtückischen Mörderinnen, die Tag für Tag ohne Skrupel Arsenik in die Mahlzeiten<br />

ihrer Männer schütten, entfaltet, sondern „die Frauen saßen" oftmals „zusammen, weinten;<br />

sie hatten sich zu schweres übernommen;" 50 schon bald konnten sie „das Leiden, die Angst,<br />

das Hangen und Bangen nicht mehr ertragen" 51 .<br />

Der 1924 erschienenen Auflage seiner Erzählung über die beiden Freundinnen hatte<br />

Döblin einen umfangreichen Anhang mit 17 graphischen Zeichnungen und Tabellen über<br />

die „räumliche Darstellung der Seelenveränderung" der Hauptbeteiligten beigegeben. In<br />

den zeitgenössischen Rezensionen des Buches, die auffälligerweise auch in medizinischpsychiatrischen<br />

Fachzeitschriften erschienen, wurde „diese Art, Seelenvorgänge schematisch<br />

einzufangen", 52 kritisiert und als „wissenschaftlich haltlos" bezeichnet. 53 .<br />

Diese Kritik zielt insofern ins Leere, als der spezifisch literarische Aspekt der Erzählung<br />

über die beiden Freundinnen außer Acht gelassen wird, denn Döblins Überlegungen zu<br />

der „Seelenwanderung", wie sie in den Bildtafeln niedergelegt wurde, sind in den Duktus<br />

der Erzählung aufgenommen worden und verdienen größere Beachtung.<br />

Das Gift, das Elli ihrem Mann fast täglich mit den Mahlzeiten verabreicht, hat nicht den<br />

470


gewünschten schnellen Erfolg. In ihrer Verzweiflung laufen die Frauen gemeinsam zu einer<br />

Wahrsagerin, „die die üblichen dunklen Andeutungen" macht. 54 Diese Dame mit dem<br />

bildhaften Namen Geist wurde auch als Zeugin im Giftmordprozeß gehört und „erschien<br />

vor Gericht wie eine ans Licht gezogene Nachteule" 55 . In den folgenden Wochen nach<br />

dem Besuch bei der Kartenlegerin veränderte Elli sich auffällig: „Es trat eine Verschiebung<br />

ihrer ganzen seelischen Perspektiven ein; ihr inneres Timbre veränderte sich." 56<br />

Das, was Döblin im Text über die veränderte Seelenlage Elfis aussagt, ist dann später in<br />

die Graphik der Bildtafeln übertragen worden. „Das feine Spiel der statischen Kräfte war<br />

gestört; der Mechanismus mühte sich wieder, sich einzustellen, verlangte Rückkehr zum<br />

alten sicheren Zustand." Elli „mußte die übergewichtige neue Last von sich abstoßen, einer<br />

gleichmäßigen Verteilung der inneren Kräfte zustreben" 57 . Ein Problem besonderer<br />

Art bildeten die bei der Angeklagten Klein gefundenen Briefe. In den Schlagzeilen der<br />

Presse wurde die Zahl der Briefe mit 600 angegeben. Eine andere Quelle nennt nur die<br />

Zahl 300. 58 Beide Zahlenangaben sind jedoch nicht korrekt. Elli Klein hielt tatsächlich<br />

in der Matratze ihres Bettes weit über 500 Briefe verborgen, doch befanden sich auch<br />

Schreiben darunter, die mit dem Mordfall in keine Verbindung gebracht werden können.<br />

Die beiden Freundinnen hatten sich im Laufe weniger Wochen „je mehr als 200 Briefe"<br />

geschrieben. 59 Auf normalem postalischem Weg sind diese Schreiben freilich nicht befördert<br />

worden. Die Freundinnen, die sich fast täglich sahen, steckten sich häufig mehrere kurze<br />

Mitteilungen und Briefe an einem einzigen Tag zu. Diese Korrespondenz stellt zweifellos<br />

„eine psychologische Sonderbarkeit für sich" dar. 60<br />

Da in den Briefen immer wieder ganz offen die Mordabsicht an den Ehemännern ausgesprochen<br />

wird, stellt sich natürlich die Frage, warum ein derartiges Belastungsmaterial<br />

aufbewahrt wurde. Elli gab darauf vor Gericht zur Antwort, sie habe die Briefe „aus Hinneigung"<br />

gesammelt. „Sie waren mir ein Ersatz für ein Tagebuch." 61<br />

Der Prozeßberichterstatter der Deutschen Allgemeinen Zeitung machte es sich allerdings<br />

zu leicht, als er über die Korrespondenz der beiden Freundinnen pauschal urteilte: „Aus<br />

allen Briefen, die hier verlesen werden, spricht eine grenzenlose Gemeinheit, eine Roheit<br />

des Herzens und der Gesinnung, wie man sie überhaupt nicht für möglich halten sollte.<br />

Dazu sind die Schreibereien meist in einem so ordinären und mangelhaften Deutsch geschrieben,<br />

daß man sich schaudernd von solcher entsetzlichen Lektüre abwendet." 62 Will<br />

man den Versuch unternehmen, den Inhalt der Briefe möglichst unvoreingenommen zu<br />

würdigen, ist es unerläßlich, auf die Situation einzugehen, in der sich die beiden Freundinnen<br />

befanden. Elli Klein hat dann, als sie etwas Abstand von ihren Leiden gewonnen hatte,<br />

auch rückblickend erläutert: „Mein Mann hatte mich damals ganz dumm geschlagen, so<br />

daß ich nicht wußte, was ich tat. Wenn ich heute die Briefe, wie sie in der Anklageschrift<br />

stehen, lese, dann ist mir unverständlich, wie ich so etwas schreiben konnte." 63<br />

Aber auch die wesentlich optimistischere Auffassung, die ebenfalls in der Deutschen Allgemeinen<br />

Zeitung geäußert wurde, daß nämlich mit Hilfe des Briefwechsels der beiden<br />

Freundinnen „deren ganze Psyche bis in die kleinsten Details aufgedeckt werden" könne, 64<br />

trifft keineswegs den Kern der Sache. Die grundsätzliche Bedeutung der Briefe im Rahmen<br />

der Beurteilung des Giftmordes ist unbestritten. Döblin hat in der Erzählung mehrfach<br />

Zitate aus diesen Schreiben verwendet und dem Anhang der ersten Auflage zwei Handschriftenproben<br />

der Angeklagten mit kurzen Erläuterungen beigefügt. Einer der Prozeßgutachter<br />

druckte im Rahmen einer ausführlichen Würdigung des Falles vier Briefe in<br />

vollständigem Wortlaut ab. 65<br />

471


Die Frauen schrieben die Briefe „teils mit Blei" und „fast unleserlich". Einige Briefe enthielten<br />

„Gedichte, unreife, holprige Verse, lächerlich in ihrer unbeholfenen Ausdrucksweise,<br />

tragisch in ihrer glühenden Leidenschaft" 66 . Der Bearbeiter der Staatsanwaltschaft<br />

hat im Verlauf der Prozeßvorbereitungen die Briefe „mit unendlicher Sorgfalt durchgesehen<br />

und geordnet" 67 .<br />

Einer der zum Prozeß geladenen psychiatrischen Gutachter erklärte, daß „ein Rauschzustand<br />

pathologischer Natur durch die Briefe" gehe, die in einer Art von „Schreibsucht"<br />

und „Sammelwut" verfaßt und aufbewahrt worden seien. 68 Döblin mißt innerhalb seiner<br />

Erzählung diesen Briefen keine überragende Bedeutung zu. Ihn störten überhaupt „die<br />

fürchterlich unklaren Worte" der Prozeßgutachter. Sein Urteil darüber läßt sich an Schärfe<br />

kaum überbieten: „Auf Schritt und Tritt Verwaschenes, oft handgreiflich Kindisches." 69<br />

In dem Briefeschreiben der Freundinnen erkennt Döblin eine Vorstufe zu neuen „Heimlichkeiten",<br />

das heißt, zu sexuellen Handlungen. Als sie den Reiz des Schreibens erkannten,<br />

steigerte sich „das Spiel, das sich Freundschaft, Verfolgung, Liebe nannte" 70 .<br />

Im Laufe der Beschäftigung mit dem Giftmordfall begann Döblin eine Frage zu interessieren,<br />

die er zwar innerhalb seiner Erzählung vorläufig selbst beantwortet hat, die ihn aber<br />

Zu Ellis Handschrift.<br />

(Dezember 1922, Untersuchungshaft.) Augenblickseinflüsse: sie ist abgelenkt (verschreibt sich Zeile 4<br />

„daß" statt „doch", schreibt Buchstaben nicht fertig), wölbt mutlos die Grundstriche nach rechts. -<br />

Die Schrift im allgemeinen ungeistig, linear mager und arm, nüchtern, sachlich. Die Zeilenrichtung<br />

wird, trotz Okkupation, innegehalten, auch der Linksrand; die Buchstaben werden aneinandergedrängt,<br />

die Schrift ist klein: ein haushälterischer, ordentlicher, kleinbürgerlicher Mensch. - Er ist<br />

unscheinbar, ohne rechtes Selbstgefühl, vielleicht mit Eigensinn, Trotz (siehe auch „Termin", Zeile 3,<br />

mit seinem Oberbogen).<br />

Ein verschlossenes Wesen (siehe die Arkadenbildung bei der Bindung der Buchstaben „n" und „m"<br />

in „ich", „auch" Zeile 1, das Zuriegeln der Vokale a und o, der abwärts gedrehte U-Bogen). Die<br />

Schriftlage von mäßiger Linksschräge bis zum Steilen zeigt das schwache Gefühl an, Vorwiegen des<br />

Verstandes, die innere Kühle. Dabei Triebhaftigkeit, Hingabe an den Eindruck, Neigung zum Genuß<br />

ohne seelische Zentrierung (die geringe Schärfe der Schrift, ihre Teigigkeit). - Im wesentlichen Kühle,<br />

Nüchternheit, Verschlossenheit, dahinter ungeregelte Triebhaftigkeit, Entflammbarkeit, alles gedeckt<br />

durch kleinbürgerliche Haltung.<br />

472


Zu Margaretes Handschrift.<br />

(Datum unbekannt, Untersuchungshaft.) Kein so starker Hafteinfluß. Die Schrift im ganzen enorm<br />

unterschieden von Ellis: groß, weit, schräg nach links gelegt, unregelmäßig über den Linksrand verfügend,<br />

meist ihn besetzend. Ein Temperament, leidenschaftliches, exaltiertes Wesen. — Starkes<br />

Selbstgefühl, Neigung sich in Szene zu setzen. Schlecht disponierend, unfähig zu überblicken und zu<br />

ordnen, unter der Vorherrschaft des Gefühls. Dabei nicht eigentlich Mitgefühl, Weiche (siehe die doppelten<br />

Winkel in den „n" und „m"), eher Egoismus (Neigung zu rechtsläufigen Abbiegungen). Die<br />

Offenheit größer als Ellis, aber auch nicht erheblich. Wenig Energie und Zielsicherheit; leichtes<br />

Erlahmen und Wiederaufrichten (gewölbte Zeilenführung in Zeile 3). Größere innere Einheitlichkeit<br />

als Elli; die Worte fließend, gebunden; gegen Ellis Sprunghaftigkeit hier Zusammenhang, Kontinuität,<br />

ja Haftenbleiben. - Die große heftige Schrift mit ihrer selbstsicheren Art, daneben das leichte Erlahmen,<br />

die mangelhafte Fähigkeit zu berechnen, deutet auf Überkompensation. Dekorieren: sie gibt<br />

sich überkräftig, sicher, ist schwächlich. -<br />

Ellis Handschrift beunruhigender, gefährlicher trotz ihrer sauberen bürgerlichen Haltung. Margarete<br />

gesellig und schwach trotz des brüsken impulsiven Auftretens. —<br />

auch nach Erscheinen des Buches weiterbeschäftigte. Diese Frage lautete: Welche der<br />

beiden Frauen spielte die aktivere Rolle in den beiderseitigen Beziehungen? 71 In der<br />

Beurteilung dieser Frage waren sich die Prozeßgutachter ausnahmsweise einig. „Die<br />

stärkere, die aktivere Natur", sei eindeutig Frau Nebbe gewesen. 72<br />

Ungeachtet dieses Votums gelangt Döblin zu der Ansicht, Elli Link sei „die kleine entschlossene<br />

Aktive" gewesen, 73 und er gebraucht in diesem Zusammenhang sogar die<br />

Begriffe „Männlichkeit" und „Heroismus"! 74<br />

Es handelt sich aber dabei - wie oben erwähnt - keineswegs um eine abschließende Beurteilung,<br />

denn auch für Döblin ist der gesamte „Fall ... in einer bestimmten Hinsicht<br />

dunkel" geblieben. 75 Er vergleicht den Fall im Epilog der Erzählung mit einem unentwirrbaren<br />

Flickwerk: „Das Ganze ist ein Teppich, der aus vielen einzelnen Fetzen besteht,<br />

aus Tuch, Seide, auch Metallstücke, Lehmmassen dabei. Gestopft ist er mit Stroh, Draht.<br />

473


«w**t«M;<br />

l{ S<br />

Hasa,<br />

Hl<br />

rWi«*ter<br />

, HÄLFTE 1921: ENTWICKLUNG i>EK BEZIEHUNG<br />

ZWISCHEN BEIDEN FRAUEN.<br />

[ Unverändert.<br />

3. Weiteres Anwachsen der spielerisch kindlichen Art, als<br />

Lockung.<br />

4. Aktivität, die männliche Art betonend, gegen die Bende<br />

verstärkt.<br />

."i. Unverändert.<br />

!. HA1.ETE 1921: WEITERE ENTWICKLUNG DIESER «E-<br />

ZIEHlNüEN.<br />

;j Unverändert<br />

. Mächtiges Anschwellen der spielerisch lockenden Impulse<br />

Anschwellen der männlichen Aktivität.<br />

. Unverändert.<br />

PHASE 9<br />

PHASE 10<br />

!. Trübe üefülilsmasse, unter Ellis Lockung in Bew<br />

auf die Peripherie.<br />

2- Unverändert.<br />

3, Nachlaß der sexuellen Bindung an den Ehemann.<br />

4. Unverändert.<br />

MARGARETE BENDF<br />

1. Weitere zentrifugale Bewegung der umgeformten lief üb. Ismasse<br />

auf Ellis Lockung hin.<br />

3. ; Unverändert.<br />

I Lnv<br />

3a. Abspaltung eines gleichgeschlechtlichen Liebesgefuhls aus<br />

der Sexualität und der Gefühlsmasse.<br />

„Räumliche Darstellung der Seelenveränderung" bei den Hauptbeteiligten des Giftmordfalles. Die<br />

Schaubilder sind dem Anhang der Erstauflage entnommen, die in Berlin 1924 im Verlag „Die<br />

Schmiede" erschien.<br />

474


Zwirn. An manchen Stellen liegen die Teile lose nebeneinander. Manche Bruchstücke sind<br />

mit Leim oder Glas verbunden. Dennoch ist alles lückenlos und trägt den Stempel der<br />

Wahrheit." 76 Wie will Döblin diese breit ausgeführte Methapher verstanden wissen? Er<br />

hat zum Schluß die Prozeßberichte, Zeitungsnotizen und Gutachten beiseite gelegt und<br />

die Straßen aufgesucht, in der „die drei, vier Menschen dieser Affäre" jahrelang zu Hause<br />

gewesen waren. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, man könne den Lebensabschnitt<br />

eines einzelnen Menschen gar nicht isoliert für sich betrachten, da jeder einzelne mit seiner<br />

Umwelt in einer „Symbiose" stehe. Eingebettet in ein buntfarbiges Mosaik heterogener<br />

Seinselemente, ist der einzelne Mensch von seinem gesellschaftlichen Umfeld bestimmt.<br />

Döblin glaubt hier die eigentlichen „Motore" menschlichen Verhaltens entdeckt zu haben:<br />

„Dies ist schon eine Realität: die Symbiose mit den anderen und auch mit den Wohnungen,<br />

Häusern, Straßen, Plätzen. Dies ist mir eine sichere, wenn auch dunkle Wahrheit." 77<br />

Das Gericht hörte neben einer Reihe von Zeugen auch den Vater der Angeklagten Klein.<br />

„Bei seinem Erscheinen duckt sich die Klein nieder und weint still vor sich hin." 78 Zweimal<br />

hatte die Tochter dieses biederen Tischlers den Versuch unternommen, sich den Drangsalen<br />

ihrer Ehe durch die Flucht zu entziehen. Die Rückkehr zu ihrem Ehemann war jedesmal<br />

auch auf Drängen des Vaters erfolgt. Mit dem Hinweis darauf, daß die Frau zum<br />

Mann gehöre, 79 wurde jede tiefergreifende Erörterung über die ehelichen Verhältnisse<br />

der Tochter verhindert. Es war, wie der Vertreter der Berliner Ärztekammer, Dr. Mamlock,<br />

schrieb, einfach „niemand da, der mit Verständnis rechtzeitig alle Beteiligten dem Verhängnis<br />

hätte entreißen können" 80 . Auch in der Gerichtsverhandlung ging man mit den<br />

Frauen nicht sonderlich zartfühlend um. Der Staatsanwalt bezeichnete die beiden Freundinnen<br />

als „minderwertige Frauenspersonen" 81 und stellte dem Vater der Angeklagten<br />

Klein mit entwaffnender Naivität die Frage: „War Ihre Tochter gut und häuslich? Oder<br />

las sie Romane?" 82<br />

Fragen dieser Art waren wohl wenig dazu geeignet, Licht in das Tatgeschehen zu bringen.<br />

Mehr Weitblick besaß dagegen der für das Parteiorgan der Sozialdemokratie arbeitende<br />

Prozeßberichterstatter, der nach nur drei Tagen Verhandlungsdauer schrieb: „Künstlich<br />

gezüchtete Beschränktheit und geistige Interesselosigkeit der Frau, durch Tradition und<br />

Gesetz geheiligte eheliche Knechtschaft, Unverstand der Eltern gegenüber ihren Kindern,<br />

Brutalität des ,Herrn der Schöpfung', des Mannes im ehelichen Leben, bildet den sozialen<br />

Hintergrund des Dramas." 83<br />

Moritz Goldstein sprach in der Vossischen Zeitung sogar generell von einer „gesellschaftlichen<br />

Erkrankung unserer Zeit", die sich in einer hemmungslosen Leidenschaft dokumentiere.<br />

„Sie grassiert als eine Volksepidemie, aus den Abgründen der Gesellschaft durch alle<br />

Schichten hinaufreichend bis in das scheinbar solideste Bürgertum." 84 Es ist natürlich fraglich,<br />

ob anhand eines außergewöhnlichen Giftmordfalles derart weitreichende Schlußfolgerungen<br />

hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Zustände gezogen werden können. Daß man<br />

aber hier und da in der Berichterstattung über die lapidaren Schlagzeilenmeldungen hinaus<br />

dachte und schrieb, verdient sicherlich als ein positives Zeichen festgehalten zu werden.<br />

Der Spruch der Geschworenen lieferte in diesem an Überraschungen nicht gerade armen<br />

Prozeß zum Schluß noch eine Sensation. Die Schuldfrage auf Mord und versuchten Mord<br />

wurde verneint. Frau Klein wurde zu vier Jahren und vier Monaten Gefängnis, Frau Nebbe<br />

zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Mutter der Angeklagten Nebbe wurde freigesprochen.<br />

Elli Klein hatte das Gericht mildernde Umstände zugebilligt, nicht aber ihrer<br />

Freundin. Daraus resultierte dann zwangsläufig die Zuchthausstrafe. 85 Dieses Urteil wurde<br />

475


„vom Publikum mit zum Teil unverhüllter Entrüstung aufgenommen," zumal die Geschworenen<br />

erklärten, sie wollten sich durch ein Gesuch für die Umwandlung der Zuchthausstrafe<br />

in Gefängnishaft einsetzen. 86 In der Öffentlichkeit reagierte man auf dieses<br />

Urteil rein emotional, weil Informationen über den Prozeß in der Regel nur über wenig<br />

faktenreiche Sensationsartikel zu erhalten waren. Die Presse hatte aus dem Briefwechsel<br />

der Freundinnen lediglich „Kraftstellen" wiedergegeben, die eine „beispiellose Kaltherzigkeit<br />

und Roheit" 87 zu offenbaren schienen. Ferner erblickte man in der Vergiftung<br />

des Ehemannes eine besonders heimtückische Art des Mordens. Dieser Auffassung ist<br />

Joseph Roth bereits nach wenigen Prozeßtagen energisch entgegengetreten, indem er einen<br />

Vergleich zwischen kriegerischen Kampfmitteln und Mordwerkzeugen von Einzeltätern<br />

herstellte. Im Grunde, so betont Roth, sei die Beschaffenheit des Mordwerkzeuges im<br />

Frieden wie im Krieg unerheblich, weil es „keine humane Art des Mordes" gebe. Er kommt<br />

deshalb zu dem Ergebnis, daß die beiden Freundinnen nicht aus Rache oder Lust am Morden<br />

zum Gift griffen, sondern „weil es am wenigsten verräterisch ist" 88 .<br />

Kritik am Spruch der Geschworenen wurde allerdings auch von juristischer Seite angemeldet.<br />

Der bekannte Justizrat Eduard Heilfron nahm dieses „Fehlurteil" zum Anlaß, die<br />

Einrichtung des Geschworenengerichts insgesamt in Frage zu stellen. 89<br />

In einem ganz anderen Licht und aus anderer Perspektive betrachtete Döblin die Urteilsverkündung.<br />

Die Strafe der Frauen bestand im Warten. „Langeweile, kein Geschehen,<br />

keine Erfüllung. Es war ein wirkliches Strafen." Die beabsichtigte Befreiung von ihren<br />

ungeliebten Ehemännern war den Freundinnen gelungen. Aber sie hatten immer gehofft,<br />

im Anschluß daran am Beginn eines neuen glücklicheren Lebensabschnittes zu stehen. Jetzt<br />

warteten sie in ihren Zellen, „zugleich wurden sie bitterer, matter, schwächer". In ihrem<br />

stumpfen Brüten beginnen die Frauen zu erkennen: „Link war nicht tot; hier war sein<br />

Testamentsvollstrecker; man gab es ihnen zurück mit Einsamkeit und dem Warten, Elli<br />

mit den Träumen." 90<br />

In der Einsamkeit der Haftanstalt, in der äußere Aktivitäten auf ein genau reglementiertes<br />

Maß eingeschränkt sind, beginnt eine ungeahnte Dynamisierung der Phantasie Ellis. Ihre<br />

Träume hat Döblin breit ausgemalt 91 . Sie kreisen fast alle um das gleiche Motiv: Den<br />

Kampf zwischen Elli und dem verstorbenen Mann. Dabei spielen nicht der Giftmord, sondern<br />

die in der Ehe erlittenen Gewalttaten eine dominierende Rolle. Elli „strafte sich<br />

überhaupt mit diesen Phantasien. Sie fürchtete sich vor ihnen und verhängte sie über<br />

sich" 92 .<br />

Döblins Erzählung über die beiden Freundinnen hat also nicht nur eine rückwärtsgewandte,<br />

auf die Erhellung des Prozeßhintergrundes gerichtete Komponente, sondern weist über<br />

Prozeß und Urteil hinaus, um mit dem Blick auf die Haftdauer der Täterinnen den Versuch<br />

zu unternehmen, dem Leser Bedeutung und Auswirkung der Strafe plastisch vor Augen<br />

zu führen. Döblin schließt sich dem allgemeinen Murren über die angeblich „milde" Strafe<br />

nicht an, weil er den über die Freundinnen verhängten Zwang des Wartens in seiner vollen<br />

Dimension einzuschätzen vermochte.<br />

Ebenso wie sich Joseph Roth in seinem Werk für die „Abseits-Menschen" 93 einsetzte, hat<br />

auch Döblin immer die Partei der sozial Schwachen ergriffen. Die „Präzision seiner großen,<br />

sicheren Sprachkraft" 94 läßt die Entwicklung der Menschen in dieser Erzählung plastisch<br />

werden. Dabei ist gerade sein „rein gedanklicher, abrupter Stil" dazu geeignet, die „nackt<br />

und kalt zur Tat treibenden Umstände" zu verdeutlichen. 95 „Scharf und zart zugleich" 96<br />

ist die Feder, die Döblins Hand beim Abfassen dieses Textes geführt hat.<br />

476


1 Matthias Prangel, Alfred Döblin (Sammlung Metzler, Bd. 105), Stuttgart 1973, S. 104f. Robert<br />

Minder, Alfred Döblin zwischen Osten und Westen, in: ders., Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen<br />

mit deutscher und französischer Literatur. Frankfurt am Main 1972, S. 209 f.<br />

2 Döblin, Alfred, Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F. T. Marinetti, in: ders., Aufsätze<br />

zur Literatur, Ölten und Freiburg i. Breisgau 1963, S. 11.<br />

3 Döblin, Alfred, Der Bau des Epischen Werkes. Das epische Werk berichtet von einer Uberrealität,<br />

in: ebenda, S. 107.'<br />

4 Ebenda, S. 114.<br />

5 Stenzel, Jürgen, Mit Kleister und Schere. Zur Handschrift von „Berlin Alexanderplatz", in: Text +<br />

Kritik. Zeitschrift für Literatur, Hrsg. Heinz Ludwig Arnold, Bd. 13/14, München 1972, S. 39-44.<br />

6 A. Döblin an L. Klages, Berlin, 23. 12. 1924, in: Alfred Döblin, Briefe, Hrsg. Heinz Graber, Ölten<br />

und Freiburg i. Breisgau 1970, S. 126.<br />

7 Müller-Salget, Klaus, Alfred Döblin. Werk und Entwicklung (Bonner Arbeiten zur Deutschen<br />

Literatur, Bd. 22), Bonn 1972, S. 11.<br />

8 Hörspiel des RIAS-Berlin (Regie Werner Völkel; Manuskript Horst Cierpka), ausgestrahlt im<br />

Rahmen der Reihe „Berühmte Prozesse" unter dem Titel: „Giftmord in Lichtenberg. Der Fall<br />

Ella K. und Grete N.", gesendet über RIAS I und II am 24. 2. und 1. 3. 1971. Im folgenden wird<br />

das Manuskript zitiert als RIAS-Hörspiel.<br />

9 Fernsehwoche, Nr. 14,1978, S. 31.<br />

10 Vossische Zeitung. Nr. 120, 12. 3. 1923. Abendausgabe und Vorwärts, Nr. 125. 15. 3. 1923.<br />

Abendausgabe.<br />

11 Vossische Zeitung, Nr. 129, 17.3.1923. Morgenausgabe. Erste Beilage.<br />

12 RIAS-Hörspiel, a. a. O., S. 8.<br />

13 Berliner Tageblatt, Nr. 122,13.3.1923. Abendausgabe.<br />

14 Leppmann, Friedrich, Der Giftmordprozeß K. und Gen., in: Aerztliche Sachverständigen-Zeitung,<br />

Jg. 29, 1923, S. 127.<br />

15 Ebenda, S. 121 f.<br />

16 Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 118/119,13. 3.1923.<br />

17 Minder, Robert. Begegnungen mit Alfred Döblin in Frankreich, in: Text + Kritik Bd. 13/14,<br />

a. a. O., S. 57. Diesen Tatbestand hat Minder auch kürzlich in seinem Vortrag in der Akademie der<br />

Künste am 7. 5. 1978 über „Gespräche mit Alfred Döblin" eindrucksvoll dargelegt.<br />

18 Vgl. z.B. die Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume" in Bd. 6 der Auswahlausgabe des<br />

Walter-Verlages, Ölten und Freiburg i. Breisgau.<br />

19 Die Zitate beziehen sich auf die 1971 in der Bibliothek Suhrkamp, Bd. 289 erschienene Neuauflage.<br />

Allerdings fehlt in dieser Ausgabe der Anhang mit den Handschriftenproben und den graphischen<br />

Tabellen der „Seelenveränderungen", die 1924 der ersten Auflage beigegeben waren;<br />

Zitat: S. 94.<br />

20 Berliner Börsen-Courier, Nr. 120,12. 3. 1923. Abendausgabe.<br />

21 Der Tag, Nr. 61, 13. 3. 1923. Beiblatt. Die Prozeßakten existieren mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

nicht mehr; Schreiben des Generarstaatsanwalts beim Landgericht an den Verfasser vom 26. 6.<br />

1978.<br />

22 Stenzel, Mit Kleister und Schere, a. a. O.<br />

23 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 89, 90 und 92: „Das Organ einer konfessionellen<br />

Partei äußerte: . . ."; „Der Sachverständige Dr. H. . . . veröffentlichte in einer Zeitschrift . . .";<br />

„In einer kleinen Studie . . . diskutierte K. B.... die Frage . . .".<br />

24 Stenzel, Mit Kleister und Schere, a. a. O., S. 40.<br />

25<br />

Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 88.<br />

26<br />

Berliner Tageblatt, Nr. 125,15. 3. 1923. Morgenausgabe. 1. Beiblatt.<br />

27<br />

Ebenda. Bei Döblin wird dieses Zitat irrtümlich auf beide Frauen bezogen, Die beiden Freundinnen,<br />

a. a. O..S. 89.<br />

28<br />

Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 7.<br />

29<br />

Ebenda, S. 9.<br />

30<br />

Ebenda, S.U.<br />

31<br />

Ebenda, S. 85.<br />

32<br />

Vorwärts, Nr. 126, 16. 3. 1923. Beilage; vgl. auch RIAS-Hörspiel, a. a. O., S. 21.<br />

477


33 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 12 f. Denn „er tat es nicht aus Freude. Er war ein<br />

unglücklicher Mann", ebenda, S. 40.<br />

34 Vorwärts, Nr. 120, 13. 3. 1923. Morgenausgabe. Beilage.<br />

35 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 20.<br />

36 Ebenda, S. 22.<br />

37 Leppmann, Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 127.<br />

38 Köhler, Willi, Vergessene Bücher. Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, in: Neues Deutschland,<br />

Nr. 282,13. 10. 1965, Beilage Literatur, Nr. 10/1965, S. 16.<br />

39 Vgl. z.B. Uwe Schweikert, „Der rote Joseph"'. Politik und Feuilleton beim frühen Joseph Roth<br />

(1919—1926), in: Text + Kritik. Sonderband Joseph Roth, Hrsg. Heinz Ludwig Arnold, München<br />

1974, S. 47 f und Sonja Sasse, Der Prophet als Außenseiter. Rezeption von Zeitgeschehen bei<br />

Joseph Roth, ebenda, S. 77.<br />

40 Joseph Roth an Herbert Ihering, Berlin, 17. 9. 1922, in: Joseph Roth, Briefe 1911-1939, hrsg.<br />

und eingel. von Hermann Kesten, Köln-Berlin 1970, S. 40.<br />

41 Joseph Roth, Die Frauen Nebbe und Klein, in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 129, 17. 3. 1923.<br />

Morgenausgabe. Beilage.<br />

42 Ebenda.<br />

43 Roth, Briefe 1911 -1939, a. a. O., S. 75 f; 215f und 285.<br />

44 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 94.<br />

45 Döblin, Alfred, An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: Aufsätze zur Litera­<br />

tur, a. a. O., S. 16.<br />

46 Vorwärts, Nr. 124,15. 3.1923. Morgenausgabe. Beilage.<br />

47 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 23.<br />

48 Ebenda, S. 48.<br />

49 Leppmann, Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 127. Zum Problem einer bestehenden Eifersucht,<br />

ebenda, S. 128.<br />

50 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 55.<br />

51 Ebenda, S. 57.<br />

52 Stekel, Wilhelm, Medizinische Psychologie, Psychotherapie, Psychoanalyse und Sexualwissenschaft,<br />

in: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte, Jg. 22, 1926/1, Nr. 4, 27. 1. 1926,<br />

S. 148. Vgl. auch Leo Greiner, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, in: Berliner Börsen-<br />

Courier, Nr. 149, 29. 3. 1925. Morgenausgabe. Beilage, abgedruckt in: Alfred Döblin im Spiegel<br />

der zeitgenössischen Kritik, hrsg. Ingrid Schuster und Ingrid Bode, Bern und München 1973,<br />

S. 155f.<br />

53 Rubin, Hans, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft,<br />

Bd. 12,1925/26, S. 98.<br />

54<br />

Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 46.<br />

55<br />

Leppmann. Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 124.<br />

56<br />

Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 46.<br />

57<br />

Ebenda, S. 47.<br />

58<br />

Wulffen, Erich, Kriminalpsychologie. Psychologie des Täters, Berlin 1926, S. 437 und 438.<br />

59<br />

Leppmann, Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 122.<br />

60<br />

Vossische Zeitung, Nr. 121,13. 3. 1923. Abendausgabe. Erste Beilage.<br />

61<br />

Berliner Tageblatt, Nr. 124,14. 3.1923. Abendausgabe.<br />

62<br />

Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 122/123,15.3. 1923.<br />

63<br />

Berliner Börsen-Courier, Nr. 120,12. 3.1923. Abendausgabe.<br />

64<br />

Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 118/119,13. 3.1923.<br />

65<br />

Leppmann, Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 129f.<br />

66<br />

Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 120/121,14. 3.1923.<br />

67<br />

Leppmann, Der Giftmordprozeß, a. a. O., S. 122.<br />

68<br />

Wulffen, Kriminalpsychologie, a. a. O., S. 438.<br />

69<br />

Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 93.<br />

70<br />

Ebenda, S. 24.<br />

71<br />

Döblin an Klages, 23.12. 1924, a. a. O.<br />

72<br />

Berliner Tageblatt, Nr. 127,16.3. 1923. Morgenausgabe. 1. Beiblatt.<br />

478


73 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 29 f und 54f.<br />

74 Ebenda, S. 46.<br />

75 Döblin an Klages, 23.12. 1924, a. a. O.<br />

76 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 93.<br />

77 Ebenda, S. 94 f.<br />

78 Vorwärts, Nr. 125, 15. 3. 1923, Abendausgabe.<br />

79 Roth, Die Frauen Nebbe und Klein, a. a. O.<br />

80 Mamlock, G., Freundinnen, in: Berliner Tageblatt, Nr. 125,15. 3. 1923. Morgenausgabe.<br />

81 Berliner Börsen Courier, Nr. 129, 17. 3. 1923, Morgenausgabe. Beilage.<br />

82 Gutmann, Paul, Der gefährliche Roman, in: Vorwärts, Nr. 129, 17. 3. 1923. Abendausgabe.<br />

83 Vorwärts, Nr. 124,15. 3. 1923. Morgenausgabe. Beilage.<br />

84 Goldstein, Moritz, Freundinnen, in: Vossische Zeitung, Nr. 129, 17. 3. 1923. Morgenausgabe.<br />

Erste Beilage.<br />

85 Berliner Börsen-Courier, Nr. 129, Morgenausgabe. Beilage.<br />

86 Ebenda, Nr. 130,17. 3. 1923. Abendausgabe. Beilage.<br />

87 Mamlock. Freundinnen, a. a. O.<br />

88 Roth, Die Frauen Nebbe und Klein, a. a. O.<br />

89 Heilfron, Eduard, Fort mit den Geschworenengerichten!, in: Deutsche Allgemeine Zeitung,<br />

Nr. 128/129,18.3.1923.<br />

90 Döblin, Die beiden Freundinnen, a. a. O., S. 88.<br />

91 Ebenda, S. 65-73.<br />

92 Ebenda, S. 72.<br />

93 Schweikert, „Der rote Joseph", a. a. O., S. 43 u. 49.<br />

94 Geroe, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der<br />

Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, Bd. XIV, 1928, S. 525.<br />

95 Ebermayer, Erich, Außenseiter der Gesellschaft, in: Die Literatur, Jg. 27, 1924/25, Sp. 633.<br />

96 Siemsen, Hans, Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord, in: Die Weltbühne, Jg. 21/1, 1925,<br />

S. 361.<br />

(Die abgebildeten Dokumente stammen aus dem Archiv des Autors.)<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 31, Brabanter Straße 22<br />

479


150 Jahre Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin<br />

Von Prof. Dr. Frido J. Walter Bader<br />

Im April dieses Jahres hat die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin der 150. Wiederkehr<br />

ihres Gründungsjahrs gedacht. Im Mittelpunkt der Festsitzung am 30. April in der Kongreßhalle,<br />

die unter das Generalthema „Die geographische Dimension der sich wandelnden<br />

Weltwirtschaftsordnung" gestellt worden war, stand der Festvortrag des Staatssekretärs<br />

im Auswärtigen Amt, Dr. Peter Hermes. Alle Vorträge werden in einem der nächsten<br />

Hefe der ERDE, der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, abgedruckt. Eine kleine<br />

Kartenausstellung im Foyer wurde durch die freundliche Mitarbeit der Kartenabteilung<br />

der Staatsbibliothek und der Redaktion des Afrika-Karten-Werkes ermöglicht. Der Bogen<br />

der Veranstaltungen im Jubiläumsjahr spannt sich weiter bis in den Herbst, wo gemeinsam<br />

mit der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung die 11. Internationale Polartagung abgehalten<br />

wird.<br />

Es ist nun üblich, in Jubiläumsjahren den Blick zurückzulenken und Rechenschaft abzulegen<br />

über die abgelaufene Zeitspanne. So hat es auch die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin<br />

gehalten, und zwar haben dies zum 50. Geburtstag von Richthofen (gedruckt 1928) 1<br />

und Koner 2 getan, zum 55. von Schleinitz 3 , zum 75. Hellmann 4 , zum 100. wieder Hellmann 5<br />

und Penck 6 , zum 125. Quelle 7 und jetzt zum 150. der derzeitige Vorsitzer Karl Lenz 8 . Eine<br />

weitere Gelegenheit zum Rückblick bot vor 11 Jahren die Einweihung des neuen Hauses<br />

der Gesellschaft auf dem Steglitzer Fichtenberg, die durch den seinerzeitigen Generalsekretär,<br />

Peter Bloch 9 , wahrgenommen wurde. So ist es an dieser Stelle nicht notwendig,<br />

die historischen Konturen erneut nachzuzeichnen.<br />

Vielmehr soll auf die heutigen Aktivitäten der Gesellschaft hingewiesen werden. Einmal<br />

bietet sie den ortsansässigen Mitgliedern monatliche Vorträge und sonstige Veranstaltungen<br />

in ihrem Haus. Dort befindet sich auch die nach dem Krieg wieder neu aufgebaute<br />

Bibliothek, die vor allem in Bezug auf ihren Bestand an Periodika eine der größten geographischen<br />

Fachbibliotheken ist und sich regen Zuspruchs — auch von auswärts — erfreut 10 .<br />

Im Alexander-von-Humboldt-Haus auf dem Fichtenberg wird auch die Zeitschrift der<br />

Gesellschaft redigiert und von dort aus in alle Welt verschickt. Sie erscheint jetzt bereits<br />

im 109. Jahrgang, ist aber unter Einbeziehung ihrer Vorgängerinnen noch älter und kann<br />

bis 1853 („Zeitschrift für Allgemeine Erdkunde") zurückverfolgt werden 11 . Weiterhin ist<br />

die Gesellschaft - dank eines kleinen Stiftungsvermögens - in der Lage, jungen Geographen,<br />

auch Studierenden, Beihilfen zu Forschungsreisen zu gewähren. Die Ergebnisse dieser<br />

Reisen werden z. T. ebenfalls in der Zeitschrift veröffentlicht.<br />

Weiter soll hier auf das Wandern des Domizils der Gesellschaft durch die Stadt Berlin hingewiesen<br />

werden. Zunächst war sie in der Innenstadt, im heutigen Bezirk Mitte, ansässig,<br />

und zwar zunächst (belegt für 1843) in zwei bescheidenen Zimmern in der Taubenstraße 40<br />

„zur Unterbringung der Bibliothek", 45 Jahre später in einer vornehmen Neun-Zimmer-<br />

Wohnung in der Zimmerstraße 90. Der Wunsch nach einem eigenen Haus war immer<br />

stärker geworden, und das Testament Gustav Nachtigals, der für diesen Zweck ein Legat<br />

von 70 000 Mark ausgesetzt hatte, legte den finanziellen Grundstock hierfür. Dazu kamen<br />

dann noch eigene Mittel der Gesellschaft, Mittel der Carl-Ritter-Stiftung und Spenden<br />

der Mitglieder 12 . So konnte im Jahr 1899 das Palais der Fürstin von Fürstenberg in der<br />

480


Wilhelmstraße 23 gekauft werden, das dann die Gesellschaft bis zu seiner Zerstörung im<br />

Bombenkrieg in der Nacht des 31. Januars 1944 beherbergte. Das Palais Fürstenberg mit<br />

seiner einen florentinischen Renaissance-Palast imitierenden Fassade lag in der südlichen<br />

Wilhelmstraße, also im Bezirk Kreuzberg und somit im heutigen West-Berlin. Dies war<br />

ein für die Nachkriegsgeschichte der Gesellschaft wichtiger Faktor. Sie war nach ihrer<br />

Wiederzulassung im Jahr 1948 jahrelang Gast beim Geographischen Institut der Freien<br />

Universität, zunächst in der sog. Rotkäppchen-Villa in der Potsdamer Straße 11 in Lichterfelde,<br />

nach deren Abriß in der Grunewaldstraße 35, ebenfalls im Bezirk Steglitz.<br />

Über das innere Leben der Gesellschaft vor 100 Jahren hat A. Woldt in der „Gartenlaube'"<br />

berichtet 13 . Ihre Sitzungen fanden damals im großen Saale des Architektenhauses zu Berlin<br />

statt und waren bedeutsame Ereignisse für die damalige Berliner Gesellschaft. Woldt<br />

beschreibt die Mitgliederstruktur folgendermaßen: „Die eine Hälfte der Gesellschaft wird<br />

vollständig vom Gelehrten- und höheren Beamtenstande eingenommen, welche beide sich<br />

ungefähr an Zahl das Gleichgewicht halten. Gehören zu den Gelehrten nicht nur viele Mitglieder<br />

der Akademie der Wissenschaften, zahlreiche Universitätsprofessoren, Vertreter<br />

von Specialfächern, wie Astronomen, Botaniker, Geographen, Kartographen, Reisende<br />

481


Alexander-von-Humboldt-Haus der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Erbaut 1966/67 mit Hilfe<br />

der Stiftung Volkswagenwerk.<br />

und Privatgelehrte, Vorstände von Museen und Sammlungen, sondern auch zahlreiche<br />

eigentliche Lehrer von Gymnasien und Realschulen, so umfaßt der zweitgenannte Stand<br />

das hohe Beamtenthum durch alle Kategorien von der Excellenz abwärts, die vortragenden<br />

und Geheimräthe, Räthe jeder Art, namentlich viele Juristen, ferner Gesandte, Diplomaten,<br />

Politiker, Directoren, Consuln u.A.m. Diesen beiden Hauptsäulen der Gesellschaft,<br />

deren jede etwa hundertsiebenzig bis hundertachtzig Mitglieder umfaßt, schließen<br />

sich drei unter sich fast ganz gleich große Kategorien von je siebenzig bis achtzig Vertretern<br />

an, die Militärs nebst Mitgliedern der Marine, die Aerzte und die Kaufleute. Dann kommen<br />

die Verlagshändler, die Künstler und die besitzende Klasse mit je etwa zwanzig Mitgliedern,<br />

und zuletzt - drei Schriftsteller — leider nur drei!" (S. 295.) Diese Notiz hat mich veranlaßt,<br />

einmal für zwei ausgewählte Jahre die Berufsstruktur der Mitglieder nach den Verzeichnissen<br />

der Mitglieder auszuzählen, die in den von 1873 bis 1901 erschienenen „Verhandlungen<br />

der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin" jährlich abgedruckt worden sind.<br />

Allerdings werden häufig hierzu gar keine Angaben gemacht, und manchmal ist auch die<br />

Zuordnung schwer. Z.B. steht bei Werner von Siemens „Geh. Reg.-Rat, Mitglied der<br />

Königl. Akademie der Wissenschaften". Interessant wäre auch eine genauere Analyse der<br />

Wohnsitze der Mitglieder, damals natürlich vorwiegend in der Innenstadt. Aber auch die<br />

Genthiner Straße, oder Groß-Lichterfelde werden 1890 mehrfach genannt. Dazu kommen<br />

Spandau. Köpenick und Potsdam. Unter den Mitgliedern findet man mehrere Minister,<br />

ferner die deutschen Botschafter in Istanbul und Wien (sie werden als ortsansässige Mitglieder<br />

geführt). Auffallend wenig vertreten sind Theologen — in beiden Jahren nur je drei,<br />

dagegen sind die Bankiers mit 12 bzw. 33 recht stark vertreten. Die 10 bzw. 49 Rentiers<br />

sind ein Zeugnis für den Lebensstil der damaligen Zeit. Die Schriftsteller scheinen sich die<br />

482


Klage der „Gartenlaube" zu Herzen genommen zu haben: 1890 taucht diese Berufsangabe<br />

achtmal auf.<br />

Berufe der Mitglieder der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin<br />

(ausgezählt nach dem Verzeichnis der Mitglieder)<br />

Zahl der ortsansässigen<br />

Mitglieder insgesamt<br />

Davon sind:<br />

Hochschullehrer<br />

Andere Lehrer<br />

Offiziere<br />

Beamte, Richter, Anwälte<br />

Ärzte<br />

Unternehmer und Kaufleute<br />

Buchhändler und Verleger<br />

Bankiers<br />

Maler und Bildhauer<br />

Redakteure<br />

Theologen<br />

Rentiers<br />

Sonstige und ohne Angaben<br />

1874<br />

454 1<br />

57<br />

58<br />

45<br />

125<br />

37<br />

40<br />

18<br />

12<br />

7<br />

2<br />

3<br />

10<br />

38<br />

1890<br />

804 2<br />

52<br />

54<br />

71<br />

180<br />

65<br />

163<br />

17<br />

33<br />

5<br />

3<br />

3<br />

49<br />

109<br />

dazu noch 9 auswärtige<br />

ordentliche, 105 korrespondierende<br />

und 62 Ehrenmitglieder.<br />

dazu 231 ordentliche auswärtige,<br />

64 korrespondierende<br />

und 65 Ehrenmitglieder.<br />

Auch heute will die Gesellschaft für Erdkunde kein enger berufsbezogener Zirkel von<br />

Geographen in Schule und Hochschule sein, sondern sie steht offen für jeden, der an der<br />

Erdkunde im weitesten Sinn interessiert ist. Dieses weite Feld zeigen auch die Berufe der<br />

heutigen Mitglieder - ohne daß diese jetzt ebenfalls ausgezählt werden sollen.<br />

(Die Abbildungen sind aus dem Besitz der Gesellschaft.)<br />

Anschrift des Verfassers: 1000 Berlin 48, Richard-Tauber-Damm 25<br />

Richthofen, Ferdinand von, 1928: Die Geographie im ersten Halbjahrhundert der Gesellschaft<br />

für Erdkunde. Festrede zum 50jährigen Stiftungsfest 1878. Z. Ges. Erdkde. Bln. Sonderband zur<br />

Hundertjahrfeier. 1928. S. 15-30.<br />

Koner, Wilhelm, 1878: Zur Erinnerung an das fünfzigjährige Bestehen der Gesellschaft für Erdkunde<br />

zu Berlin. Z. Ges. Erdkde. Bln. 13 (1878). S. 169-250.<br />

Schleinitz, Georg von, 1883: Festrede zur Feier des 55jährigen Bestehens der Gesellschaft für<br />

Erdkunde zu Berlin, gehalten am 28. April 1883. Verh. Ges. Erdkde. Bln. 10 (1883) Extra­<br />

Nummer. S. 7 —21.<br />

Hellmann, Gustav, 1903: Fest-Sitzung zur Feier des 75jährigen Bestehens der Gesellschaft für<br />

Erdkunde zu Berlin. Z. Ges. Erdkde. Bln. 1903. S. 325-343.<br />

Hellmann, Gustav, 1928: Aus der Geschichte der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin im zweiten<br />

halben Jahrhundert ihres Bestehens (1879-1928). Z. Ges. Erdkde. Bln. Sonderband zur Hundertjahrfeier.<br />

1928. S. 1-4.<br />

483


6<br />

Penck, Albrecht, 1928: Hundert Jahre Gesellschaft für Erdkunde. Z. Ges. Erdkde. Bln. 1928.<br />

S. 162-169.<br />

' Quelle, Otto, 1953: 125 Jahre Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1828-1953. Berlin.<br />

8<br />

Lenz, Karl, 1978: 150 Jahre Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. DIE ERDE. 109 (1978).<br />

S. 15-35.<br />

9<br />

Bloch, Peter, 1967: Aus der Geschichte der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Vortrag, gehalten<br />

am 19. April 1967 anläßlich der Einweihung des neuen Hauses Berlin-Steglitz, Arno-Holz-Straße<br />

Nr. 14 (Berlin). Maschinenschriftl. vervielfältigt.<br />

10<br />

Leonhardy, Hans & Wolfgang Scharfe, 1966: Periodica. Verzeichnis der Zeitschriften und periodischen<br />

Veröffentlichungen in der Bibliothek der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (Stand<br />

1. Oktober 1965). DIE ERDE. 97 (1966). S. I - XXXVI.<br />

11<br />

Leonhardy, Hans, 1969: Die Veröffentlichungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. DIE<br />

ERDE. 100(1969). S. 118-123.<br />

12<br />

Bloch, wie Anm. 9.<br />

13<br />

Woldt, A., 1878: Die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin. Zu deren Jubiläum am 30. April und<br />

1. Mai. Gartenlaube. 1878. S. 295-297.<br />

Ferner:<br />

Verzeichnis der Mitglieder der Gesellschaft für Erdkunde am 3. Januar 1874. Verh. Ges. Erdkde.<br />

Bln. 1 (1875), zweite Folge. S. 1 -22.<br />

Verzeichnis der Mitglieder der Gesellschaft für Erdkunde. Verh. Ges. Erdkde. Bln. 17 (1890).<br />

S. 2-42.<br />

Tschaikowsky in Berlin<br />

Von Dr. Werner Bollert<br />

Bereits 1861 und dann wieder 1868 hatte Peter Tschaikowsky die Stadt Berlin kennen<br />

gelernt, aber erst in seiner letzten Lebenszeit kam er dazu, jene flüchtige Bekanntschaft<br />

zu erneuern und ein wenig zu vertiefen. Dies waren ja zugleich die Jahre, in denen er<br />

auszog, um auch in fernen Ländern - wenn möglich, als Dirigent - für die eigene Kunst<br />

zu werben. Die Initialzündung, Tschaikowsky mit der Leitung eines philharmonischen<br />

Konzerts in Berlin zu betrauen, dürfte mit von Hans von Bülow ausgegangen sein, der<br />

den Komponisten sehr schätzte. Bülow, dem ja das Klavierkonzert b-moll gewidmet war<br />

und der 1885 zu St. Petersburg die 3. Orchestersuite op. 55 aus der Taufe gehoben hatte,<br />

schrieb vom gleichen Ort aus ein Jahr später an Richard Strauss: „Tschaikowsky war hier<br />

und brachte mir seine Manfredsymphonie, die ich nur erst anzublättern Zeit gefunden,<br />

die aber mehr Musik zu enthalten scheint als sämtliche Orchester-opera A. Rubinsteins.<br />

Der Verfasser ist persönlich einer der allerliebenswürdigsten Menschen, denen ich je begegnet,<br />

dabei so tolerant und lobesfreudig für seine Kollegen, kurz ein Prachtexemplar.<br />

1840 geboren, beinahe schon weißhaarig, aber voll geistiger Jugend; wenn er komponiert,<br />

vergräbt er sich in seine absoluteste Einsamkeit; ist er fertig mit der Arbeit, so erfreut er<br />

durch seinen herzlichen Verkehr alle ihm sympathischen Mitwesen."<br />

Jener erste, in der Chronik der Berliner Philharmoniker nicht zu übergehende Tschaikow-<br />

484


Desiree Artöt de Padilla<br />

* 1835 Paris, 11907 Wien<br />

Französische Bühnensängerin,<br />

lebte von 1884 bis 1889<br />

in Berlin;<br />

1868 mit Tschaikowskv verlobt.<br />

Foto:<br />

Staatl. Institut<br />

für Musikforschung<br />

Preussischer Kulturbesitz<br />

Berlin<br />

sky-Abend fand am 8. Februar 1888 statt, womit nicht gesagt sein soll, daß dessen Name<br />

und Werke bis dahin den hiesigen Musikfreunden fremd geblieben seien. Schon 1878 hatte<br />

Benjamin Bilse den Berlinern die Orchester-Fantasie „Francesca da Rimini" vorgestellt<br />

und, trotz ablehnender Pressestimmen, sogar Wiederholungs-Aufführungen gewagt. Haben<br />

vielleicht deswegen Bülow und der Konzertunternehmer Hermann Wolff dem Komponisten<br />

von der Wahl der „Francesca" abgeraten und dafür plädiert, als effektvolles Schlußtableau<br />

doch lieber die Festouvertüre „1812" ins Programm zu nehmen? Wie dem auch<br />

sei, die endgültige Vortragsfolge - offenbar dem Geschmack des Publikums Rechnung tragend<br />

- war nun zwar abwechslungsreich, aber ziemlich buntscheckig geraten: Fantasie-<br />

Ouvertüre „Romeo und Julia'VKlavierkonzert b-moll (Solist Alexander Siloti)/Introduktion<br />

und Fuge aus der 1. Orchestersuite op. 43/Andante aus dem 1. Streichquartett op. 11<br />

(von allen Streichern gespielt)/Lieder (gesungen von Aline Friede)/Festouvertüre „1812".<br />

Unter den dargebotenen Orchesterwerken scheint lediglich das Opus 43 eine Novität für<br />

Berlin gewesen zu sein, während das Andante aus Opus 11, „ein reizendes Kabinettstück<br />

von zartester Durchführung, zu den beliebtesten Repertoirestücken der Philharmonischen<br />

Kapelle gehört und, wie gewöhnlich, wiederholt werden mußte". Weshalb Tschaikowsky<br />

darauf verzichtete, seine 4. Symphonie (die er in anderen Städten dirigiert hat) auch in<br />

Berlin zu präsentieren, ist nicht recht einzusehen, zumal man weiß, daß er selbst die als<br />

pures Gelegenheitswerk entstandene Ouvertüre „1812" gering geachtet hat. An Frau von<br />

Meck berichtet Peter Iljitsch wie folgt: „Mein Konzert in Berlin war sehr gelungen. Ich<br />

485


hatte es mit einem ausgezeichneten Orchester zu tun, mit Musikern, welche mir von der<br />

ersten Probe an die größte Teilnahme entgegenbrachten. Das Publikum empfing mich begeistert.<br />

Es versteht sich von selbst, daß mir dies alles sehr angenehm ist, ich fühle mich<br />

aber so müde, daß ich nicht weiß, wie ich das Bevorstehende ertragen soll. Der Aufenthalt<br />

in Berlin war einfach ein Martyrium; nicht einen Moment konnte ich allein sein.<br />

Von früh bis spät mußte ich Gäste empfangen oder selbst Besuche machen." Einer ihm<br />

weiterhin bei einem „Frühschoppen" zugedachten Ehrung wünschte er jedoch unter allen<br />

Umständen zu entgehen. Gern nahm er dafür die Einladung zu einem Diner im Hause<br />

des Musikverlegers Hugo Bock an (den er „einen guten, netten Kerl" nennt), und es gab<br />

nun die ihm höchst willkommene Möglichkeit, Desiree Artöt, die „ungetreue Braut" von<br />

ehedem, wiederzusehen. Der Abend bei ihr, zusammen mit Edvard Grieg, verlief ungemein<br />

harmonisch und in bester Stimmung; Tschaikowsky begleitete die Sängerin zu Liedern<br />

Griegs, dieser wiederum akkompagnierte die Gesänge Tschaikowskys am Klavier.<br />

Ein Jahr später kehrte Tschaikowsky aufs neue in Berlin ein; innerhalb eines populären<br />

Abends der Philharmoniker (26. Februar 1889) dirigierte er diesmal nur zwei Nummern:<br />

die Streicherserenade op. 48 und „Francesca da Rimini" (im zweiten Teil hörte man<br />

Carl Maria von Webers ,,Preziosa"-Musik). „Der Saal war überfüllt", schrieb Peter an<br />

seinen Bruder Modest, „der Erfolg ein großer, obwohl ,Francesca' eigentlich nicht die<br />

Wirkung ausübte, die ich erwartet hätte; das Orchester spielte nämlich<br />

so herrlich, daß es mir schien, das Publikum müßte schon allein deswegen in Begeisterung<br />

geraten. Sehr deutlich vernahm ich zwei oder drei Pfiffe. Am besten hat der Walzer der<br />

Serenade gefallen. . . In Berlin mache ich den ganzen Tag Besuche, und das ist für mich<br />

das Schrecklichste. Mein einziger Trost ist — Artöt, die ich überall treffe und furchtbar<br />

gern habe. Am Abend muß ich zu Klindworth, der mir zu Ehren einen musikalischen<br />

Abend aus meinen Kompositionen veranstaltet."<br />

Während der letzten Lebensjahre gab es für Tschaikowsky noch ein paar Berliner Stippvisiten<br />

(Januar 1890; März 1891; Januar 1892; Mai 1893). Als er im Dezember 1892<br />

zum vorletztenmal in unserer Stadt weilte, „waren es keine drei lustigen Tage,,, die er<br />

hier verbrachte. Von hier erhielt sein Lieblingsneffe Wladimir („Bobik") jene Zeilen, die<br />

tief ins Innere hineinleuchten: „Ich sitze immer noch in Berlin; es fehlt mir der Mut,<br />

mich aufzuschwingen. Ich prüfte aufmerksam und sozusagen objektiv meine Symphonie,<br />

welche ich zum Glück noch nicht instrumentiert und in die Welt gesetzt habe. Der Eindruck<br />

war für sie nicht schmeichelhaft, d.h. die Symphonie ist nur um des Schreibens<br />

willen geschrieben und enthält nichts Interessantes und Sympathisches. Sie soll verworfen<br />

und vergessen werden. Dieser von mir gefaßte Entschluß ist unwiderruflich.. . Ohne Arbeit<br />

zu leben, die alle Zeit, Gedanken und Kräfte verschlänge - wäre langweilig. Was<br />

soll ich tun? Das Komponieren an den Nagel hängen und vergessen? Der Entschluß ist<br />

sehr schwer. Ich denke und denke und weiß nicht, wofür ich mich entscheiden soll". Dieses<br />

Opus hat Tschaikowsky tatsächlich vernichtet, doch bereits Anfang April 1893 konnte<br />

er melden, er habe inzwischen eine neue Symphonie vollendet, die ihn selbst zufriedenstelle<br />

und formal mancherlei Ungewöhnliches bringe. Wie gut es das Schicksal gerade mit<br />

dieser seiner „Symphonie pathetique" meinte und welche außerordentliche Resonanz sie<br />

beim Publikum auslöste, das alles sollte sich schon bald nach dem Tode des Komponisten<br />

(6. November 1893) zeigen.<br />

Innerhalb des Berliner (und des Leipziger) Konzertlebens gebührt das Verdienst am<br />

Nachruhm zweifelsohne dem Dirigenten Arthur Nikisch, der hier seit 1895 eine konstante<br />

486


Tschaikowsky-Pflege entfaltete. Seine erste Berliner Saison eröffnete er am 14. Oktober<br />

1895 mit der 5. Symphonie e-moll, der noch in der gleichen Spielzeit Darbietungen des<br />

Violinkonzerts (Alexander Petschnikoff) und des 1. Klavierkonzerts in b-moll (Frederic<br />

Lamond) folgten. Die zweite Saison brachte „Romeo und Julia" und die dritte, am<br />

10. Januar 1898, die 6. Symphonie h-moll. Im Februar 1899 erschien „Francesca da<br />

Rimini", ein Jahr danach die Fantasie-Ouvertüre „Hamlet" im Programm der Philharmoniker.<br />

Und am 5. November 1900 war, zum erstenmal in diesen Konzerten,die 4.<br />

Symphonie f-moll zu hören. Aufführungen der Orchestersuiten Nr. 3 und Nr. 1 (Februar<br />

bzw. Oktober 1902), der 3. Symphonie D-dur (November 1903), der „Manfred"-Symphonie<br />

(Februar 1906) und der Orchester-Fantasie „Der Sturm" (März 1908) hatten zwar<br />

auch bei Nikisch Seltenheitswert, inzwischen aber waren die Symphonien Nr. 4 — 6, das<br />

b-moll-Klavierkonzert und das Violinkonzert zu veritablen Dauerbrennern geworden, die<br />

das Publikum goutierte und offenbar immer wieder verlangte.<br />

Auch die Nikisch-Nachfolger beim Philharmonischen Orchester, Wilhelm Furtwängler<br />

ebenso wie Herbert von Karajan, haben die Tschaikowsky-Interpretation stets als eine<br />

fesselnde und lohnende Aufgabe betrachtet. Auf dem musiktheatralischen Sektor ist zudem<br />

die Geltung dieses Komponisten in der Gegenwart eher noch gewachsen: neben der<br />

unverminderten Beliebtheit seiner abendfüllenden Ballette haben da Schöpfungen wie<br />

„Eugen Onegin" und „Pique Dame" eine frische, ganz eigene Wirksamkeit erreicht.<br />

Anschrift des Verfassers: Hermannstraße 8, 1000 Berlin 37<br />

(In erheblich gekürzter Fassung erschienen in: Philharmonische Blätter, hrsg. vom Berliner Philharmonischen<br />

Orchester, Heft 8, 1977/78.)<br />

Nachrichten<br />

Um den Döblin-Platz<br />

Auf Dr. Walter Heynen gehen die Bemühungen zurück, dem bedeutenden Berliner Dichter Alfred<br />

Döblin eine Straße oder einen Platz zu widmen. Der hundertste Geburtstag am 10. August 1978 schien<br />

ein guter Anlaß, die Stadt Berlin an diese Ehrenpflicht zu erinnern. Unser damaliger Vorsitzender<br />

Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm hat sich darum auch als Kollege Döblins, der von Hause<br />

aus Arzt war, bei den zuständigen Stellen und zuletzt beim Regierenden Bürgermeister von Berlin um<br />

die Namensgebung bemüht. Mit einem Brief ohne Datum teilte ihm Dietrich Stobbe dann im Sommer<br />

mit: „Es freut mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, daß nunmehr die Bezirksverordnetenversammlung<br />

des Bezirks Kreuzberg einer Neubenennung eines Platzes in ,Alfred-Döblin-Platz' zugestimmt hat . . .<br />

Herrn Claude Doblin habe ich entsprechend unterrichtet und ihm mitgeteilt, daß es sich um einen Platz<br />

im Schnittpunkt der Dresdener, Sebastian- und Luckauer Straße handelt."<br />

In Unkenntnis dieses Vorgangs hat der Leiter der Lokalredaktion des „Tagesspiegels", Günter<br />

Matthes, dann in einer Glosse am 10. August 1978 auf die Vorschläge unseres Vereins hingewiesen,<br />

zugleich aber vermerkt, daß eine Antwort „des Mitglieds Stobbe" offensichtlich noch ausstehe und<br />

man nun wohl bis zum zweihundersten Geburtstag des Dichters von „Berlin Alexanderplatz" warten<br />

müsse. Am 11. August 1978 erschien im Amtsblatt für Berlin, 28. Jahrgang, Nr. 51, Seite 1329, die<br />

folgende Nachricht: „Im Bezirk Kreuzberg wird mit Wirkung vom 11. September 1978 das von den<br />

487


Straßen Luckauer Straße, Dresdener Straße und Sebastianstraße gebildete Straßendreieck in ,Alfred-<br />

Döblin-Platz' benannt."<br />

Mit Rücksicht auf Klaus Döblin/Claude Doblin. den Sohn Alfred Döblins, der an der Würdigung seines<br />

Vaters teilnehmen wollte, sollten allerdings die neuen Straßenschilder auch am 11. September<br />

noch nicht angebracht werden.<br />

Auf eine Unart unserer Stadtväter sei in diesem Zusammenhang einmal hingewiesen: Warum muß es<br />

ausgerechnet „Alfred-Döblin-Platz" heißen? Wer ihn kennt, wird auch bei „Döblin-Platz" an diesen<br />

berühmten früheren Mitbürger erinnert, wer aber keine Beziehung zu ihm hat, erfährt hoffentlich aus<br />

einer kurzen Erläuterung an der Beschilderung des Platzes, um wen es sich handelt. Wie gut, daß wir<br />

schon unsere Goethestraßen haben, heutige Tiefbauämter als zuständige Behörden würden wohl<br />

„Johann-Wolfgang-von-Goethe-Straße" vorschlagen. H. G. Schultze-Bemdt<br />

70 Jahre Märkisches Museum<br />

Wie „Der Morgen" am 10. Juni 1978 meldete, wurde das neue Gebäude des Märkischen Museums in<br />

der Nähe der Jannowitzbrücke vor genau 70 Jahren, am 11. Juni 1908, für die Berliner Bevölkerung<br />

eröffnet. Sechs Gebäudeteile, die zwei Innenhöfe umschließen, erwecken den Anschein eines in verschiedenen<br />

Epochen von der Gotik bis zur Renaissance gewachsenen Komplexes. Auch im Inneren<br />

des Museums wechseln die Stilformen, die für die unterschiedlichen Sammlungsgebiete den jeweils<br />

passenden Rahmen abgeben sollten. Diese Konzeption einer Einheit von historischen Architekturformen<br />

und spezifischem Sammlungsinhalt eines Heimatmuseums ist ein besonders interessantes Beispiel<br />

der Museumsbauweise um die Jahrhundertwende. Im Kreuzgang mit alten Grabdenkmälern ist eine<br />

mittelalterliche Tür aus einer märkischen Kirche mit einer gotischen Steineinfassung eines Hauses der<br />

Gertraudenstraße bemerkenswert. Eine Holzbalkendecke über Konsolsteinen fällt in dem Raum auf.<br />

der jüngst eine Sonderausstellung mit Berliner Medaillen zeigte. Das Märkische Museum hat folgende<br />

Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonnabend von 9 bis 17 Uhr, Sonntag von 9 bis 18 Uhr.<br />

Dorfanger Friedrichsfelde unter Denkmalschutz<br />

H. G. Schultze-Bemdt<br />

Im Frühjahr 1978 wurde der Dorfanger Friedrichsfelde unter Denkmalschutz gestellt. Damit wird die<br />

alte Angerfläche in dieser Form erhalten bleiben. Zum historisch bemerkenswerten Ensemble dieses<br />

mittelalterlichen Ortskerns gehören eine Kirche, ein ehemaliges Inspektorenhaus und ein Backofen.<br />

Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Barockkirche wurde nach dem Krieg durch einen Bau im Stil der<br />

alten Dorfkirchen ersetzt. Der große Backofen aus Kalksteinquadern auf dem Dorfanger lehnt sich<br />

heute noch an ein Gebäude an, er wird künftig wieder frei stehen. In das Inspektorenhaus sollen in den<br />

nächsten Jahren Atelierwohnungen und Räumlichkeiten für die Arbeit eines „Zirkels für künstlerisches<br />

Volksschaffen" verlegt werden. H. G. Schultze-Bemdt<br />

Von unseren Mitgliedern<br />

Studienfahrt nach Goslar<br />

Die frühe Morgenstunde des 1. September 1978 sah rund 70 Reiselustige an der traditionellen Abfahrtsstelle<br />

an der Berliner Bank in der Hardenbergstraße. Sie bestiegen frohen Mutes den doppelstöckigen<br />

Omnibus, der nicht nur schönere, sondern wohl auch schon bessere Tage gesehen hatte. In<br />

Helmstedt jedenfalls mußte er zu einer mehr als vierstündigen Reparatur in die Werkstatt, was sich<br />

zwar im Hinblick auf den weiteren Ablauf des Programms verschmerzen ließ, für die Teilnehmer aber<br />

488


deshalb so unangenehm war, weil sie halbstundenweise über den Zeitpunkt des Aufbruchs vertröstet<br />

wurden und nicht die Gelegenheit zu einer improvisierten Besichtigung Helmstedts und seiner Sehenswürdigkeiten<br />

hatten. Um so erfreulicher war dann das gemeinsame späte Mittagessen in den Gaststätten<br />

Grauhof-Brunnen, wo zur Zeit des Nachmittagskaffees das durch langes Kochen noch schmackhafter<br />

gewordene Wildgulasch „Hubertus" aufgetischt wurde. Auch Steiger Müller im Rammeisberg<br />

ließ sich die Wartezeit nicht verdrießen und zeigte den Gästen umschichtig den Lehrstollen und die<br />

200 Jahre alten hölzernen Fördereinrichtungen dieses Schicksalsberges Goslars. Die jeweils andere<br />

Gruppe brauchte nicht zu warten, sondern konnte in der Waldgaststätte „Maltermeister Turm" inzwischen<br />

ein wärmendes Getränk einnehmen. Dann erst bezogen die Reisenden ihr inzwischen von<br />

„Berliner Bär" in Harzhotel Bären umgetauftes freundliches Hotel. Für die meisten von ihnen war das<br />

gemeinsame Abendessen im Hotel-Restaurant „Klause" in Goslars Altstadt der Schlußpunkt dieses<br />

Tages.<br />

Am 2. September empfing Bürgermeister Konrad die Gruppe im historischen Rathaus, gab einen Abriß<br />

von der geschichtlichen Bedeutung Goslars und sorgte dafür, daß zumindest ein Teil der Gäste<br />

einen Blick in den berühmten Huldigungssaal werfen konnte. Anschließend übernahm Frau R. Griep<br />

das Kommando zu einer Fahrt in den Oberharz, die von ihr kenntnisreich und liebevoll kommentiert<br />

wurde. Das Augenmerk galt dabei vor allem den alten (Dammgraben) und neuen (z.B. Granetalsperre)<br />

technischen Denkmälern, die für den zweiten Schatz des Harzes, das Wasser, errichtet wurden und dem<br />

Erzbergbau wie der Trinkwasserversorgung dienen. Daß ein gutgemeinter Spaziergang durch die schönen<br />

Harzwälder zum Bahnhof Altenau statt zum Dammhaus führte, wurde trotz hereinbrechender<br />

Regenschauer nicht übel genommen. Das Mittagessen im Hotel „Das Tanneck" war eine willkommene<br />

Unterbrechung der so anregenden wie weitreichenden Rundfahrt durch den Oberharz. Der Regen<br />

störte auch mehr die Besucher des munteren Altstadtfestes als die Gäste aus Berlin.<br />

Der Sonntagmorgen, 3. September, wurde im Hotel mit einem Vortrag des Städtischen Archivdirektors<br />

Dr. W. Hillebrand über die Stadtgeschichte Goslars eröffnet. Ein sehenswerter Film ergänzte<br />

das gesprochene Wort und leitete über zum Stadtrundgang, dessen Führung sich die Herren<br />

Rehbock und Moritz mit Engagement und spürbarer Liebe zu ihrer Heimatstadt teilten. Zwar wichen<br />

die Routen und Objekte der Führung voneinander ab, doch war der Vormittag ohnehin zu kurz, als daß<br />

er der Stadt Goslar voll hätte gerecht werden können. Er verlockte aber zu einem Wiederkommen<br />

bei anderer Gelegenheit. Das Hotel Kaiser Worth hatte seine Gäste dann in den Ratskeller umquartiert,<br />

was als eine Ausladung verstanden wurde, doch verdarb dies den Teilnehmern die gute Laune<br />

so wenig wie der nach der Abfahrt folgende Wassereinbruch in den Veteranen der Landstraße. Eine<br />

Unterbrechung im Quellenhof zu Bad Helmstedt wurde zu einer Kaffeepause genutzt; pünktlich auf<br />

die Minute trafen die Ausflügler dann am Bahnhof Zoo ein. Das auf der Avus gesungene Tedeum war<br />

dann schon mehr Ausdruck von Galgenhumor. Ob die „Drohungen" wahrgemacht werden, man wolle<br />

das Ziel der Exkursion 1979 (Braunschweig) mit der Eisenbahn ansteuern? H. G. Schultze-Berndt<br />

Unser Mitglied Horst Behrend ist zum Vorsitzenden des Freien deutschen Autorenverbandes Berlin<br />

gewählt worden.<br />

*<br />

Am 23. Juli 1978 ist Prof. Dr. Wilhelm Richter in Berlin verstorben. Er wurde 1901 in Pagenkopf in<br />

Hinterpommern als Sohn eines Pfarrers geboren, siedelte aber schon 1914 nach Berlin über. An der<br />

Gründung seines Lehrers Wilhelm Blume, der Schulfarm Scharfenberg, erwarb er sich die Sporen, war<br />

dann als Lehrer und Direktor an der Humboldt-Schule in Tegel tätig und trat 1949 die Nachfolge<br />

W. Blumes beim Aufbau der Pädagogischen Hochschule an, deren Direktor er bis 1958 war. Bis zu<br />

seiner Emeritierung 1967 hatte er den Lehrstuhl für Historische Pädagogik inne.<br />

Wilhelm Richter, der sich Wilhelm von Humboldt und seiner Bildungsidee verpflichtet fühlte (1935/36<br />

hat er Humboldts politische Briefe herausgegeben), war einer der bedeutendsten Pädagogen unserer<br />

Stadt. In den rund zwei Jahrzehnten seines Wirkens an der Pädagogischen Hochschule hat er sich für<br />

die wissenschaftliche Qualität des Lehrerstudiums verwendet. Unserem Verein wird er auch mit seinen<br />

Untersuchungen zur Berliner Schulgeschichte über den Tod hinaus verbunden bleiben.<br />

489


Der Zentralverband der sozialversicherten Rentner und deren Hinterbliebenen hat unserem Mitglied<br />

Franz Berndal in Anerkennung seiner treuen Mitarbeit in der Zeitschrift „Lebensabend" die Ehrennadel<br />

in Bronze verliehen.<br />

*<br />

Am 20. August 1978 ist unserem Mitglied Axel Springer vom langjährigen Gouverneur von Texas,<br />

Conally, die „American Friendship Medai" überreicht worden, mit der sein „unermüdliches und entschiedenes<br />

Eintreten für die Freiheit aller" gewürdigt werden soll. Die Auszeichnung wird nur an<br />

Nichtamerikaner vergeben. Bisherige Träger sind Sir Winston Churchill, der ehemalige philippinische<br />

Präsident Magsaysay und der Schriftsteller Solschenizyn.<br />

Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum<br />

70. Geburtstag Herrn Kurt Altner. Herrn Wilfried Göpel. Frau Liselotte Moesges; zum 75. Geburtstag<br />

Frau Maria Arand, Herrn Erich Heinatz, Herrn Helmut Grell; zum 80. Geburtstag Frau Dörte Neumann,<br />

Herrn Kurt Pierson, Frau Agnes Priebe; zum 85. Geburtstag Frau Helene v. Stülpnagel; zum<br />

90. Geburtstag Herrn Wilhelm Hahn.<br />

Buchbesprechungen<br />

Berlin - Chronik der Jahre 1959 — 1960. Hrsg. im Auftrage des Senats von Berlin. Bearb. durch<br />

Hans J. Reichhardt, Joachim Drogmann, Hanns U. Treutier (Landesarchiv Berlin - Abt. Zeitgeschichte).<br />

Berlin: Hans Spitzing Verlag 1978. 951 S., Leinen, 54,55 DM. (Schriftenreihe zur Berliner<br />

Zeitgeschichte, Bd. 9.).<br />

Nach rund 4jähriger Pause ist jetzt ein weiterer Fortsetzungsband der vom Berliner Senat in Auftrag<br />

gegebenen Stadtchronik erschienen; er schließt nahtlos an den vorigen Band von 1957 — 58 an (vgl.<br />

Bespr. in den „Mitteilungen", Heft 2/1975). Das bewährte Muster der Tageschronologie im sachlichen<br />

Reportagestil wurde konsequent beibehalten und bildet nach wie vor einen der großen Vorzüge dieser<br />

Bände, da es ohne thematische Einengung den sofortigen „Einstieg" in den Geschehensablauf<br />

ermöglicht. Wiederum bilden die politischen Tagesereignisse den Schwerpunkt in der Berichterstattung,<br />

belegt hauptsächlich durch Sitzungsprotokolle, Reden, Erklärungen, Artikel - kurzum durch<br />

Äußerungen jedweder Art über Berlin, unabhängig davon, wo auf der Welt und in welchem Zusammenhang<br />

sie gefallen sind. Das verleiht dem Text manche Weitschweifigkeit, zeigt aber auch deutlich,<br />

wie die Stadt nach wie vor im Brennpunkt der Weltöffentlichkeit steht. Es sind die Jahre zwischen<br />

dem Chruschtschow-Ultimatum und dem Bau der Mauer, in denen auf verschiedenen, oft auch<br />

abenteuerlichen Wegen in Ost und West nach einer Lösung des Berlin-Problems gesucht wurde. Die<br />

beiden Teile Deutschlands und ebenso Berlins drifteten immer mehr auseinander, obwohl z.B. noch<br />

gemeinsame Olympiamannschaften aufgestellt wurden; die Nadelstichpolitik seitens der Ost-Berliner<br />

Machthaber und die Versuche der Aushöhlung des Viermächtestatus durch die Sowjetunion nahmen<br />

bedenkliche Formen an. Der Flüchtlingsstrom erreichte Rekordhöhen, während im Westen die Wirtschaft<br />

sich weiter konsolidierte, die Bautätigkeit zügig voranschritt und im kulturellen Bereich beachtliche<br />

Leistungen vorzuzeigen waren. Auch hierüber wird in der Chronik, wie bisher, in jedem Einzelfall<br />

berichtet.<br />

Je mehr sich der bearbeitete Zeitraum vorschiebt, um so größer wird die Dichte der Quellen - auch<br />

der ausländischen —, und um so stärker gewinnen die Chronikbände an Intensität. Das geht vielleicht<br />

manchmal zu Lasten der schnellen Kurzinformation, doch wird man andererseits wegen der zunehmenden<br />

Interessenverflechtung in und um Berlin sowie aufgrund der inzwischen wesentlich ausführlicheren<br />

Berichterstattung kaum einen verminderten Dokumentationsstand wünschen. Auch<br />

diesmal durch Bibliographie. Personen- und Sachregister vorzüglich erschlossen, bleiben die Chronikbände<br />

in ihrer gleichbleibend soliden Aufmachung ein unentbehrlicher Begleiter beim Gang durch<br />

die Berliner Nachkriegsgeschichte. Peter Letkemann<br />

490


Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie. Berlin: Propyläen<br />

1977. 1094 S.. Ln.. 68 DM.<br />

Wie wenig derjenige Preußen gerecht wird, der einseitige und klischeehafte Vorstellungen mit diesem<br />

historischen Phänomen verbindet, lehrt der Blick auf seine demokratisch-republikanische Phase.<br />

Gerade in den letzten zehn Jahren sind verstärkte Bemühungen erkennbar geworden, dieses bis<br />

dato recht unerforschte Problemfeld der preußisch-deutschen Geschichte einer Untersuchung zu unterziehen,<br />

wobei hier nur an die Arbeiten von Enno Eimers, Hans-Peter Ehni und Dieter Hertz-Eichenrode<br />

stellvertretend für andere erinnert werden soll; Studien, die allerdings nur wesentliche Abschnitte<br />

der Entwicklung betrachten, nicht aber das demokratische Preußen als Ganzes in den Griff zu bekommen<br />

versuchen. Eine Biographie des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun blieb trotz dessen<br />

1939/40 erschienenem Memoirenwerk ein Desiderat der Forschung.<br />

Das Buch Hagen Schubes, im Wintersemester 1976/77 dem Fachbereich Philosophie der Universität<br />

Kiel als Habilitationsschrift vorgelegt, soll diese Lücke schließen. Der Verf. versucht in einer nicht<br />

auf das Biographische beschränkten Aufgabenstellung, seinem Gegenstand gerecht zu werden:<br />

Otto Braun als Person und zugleich das Preußen der relativ stabilen Koalitionsregierung der Weimarer<br />

Parteien, das schon den Zeitgenossen als „Bollwerk" der Demokratie gegen den totalitären Ansturm<br />

erschien, sollen in einer Synthese von Biographie des preußischen Sozialdemokraten und Ministerpräsidenten<br />

und sachbezogener Monographie über Preußen in der Weimarer Republik zugleich dargestellt<br />

und untersucht werden. Der Problematik der „politischen Biographie" ist sich Schulze dabei<br />

durchaus bewußt (S. 32 f.); er versucht den Unzulänglichkeiten einer biographisch-antiquarischen<br />

..Personenbeschreibung" zu entgehen, indem er neben dem handelnden Menschen das historischpolitisch-soziale<br />

Umfeld deutlich werden läßt. Die Jugend und die politischen Anfänge des 1872 in<br />

Königsberg/Pr. geborenen Otto Braun werden untersucht, seine Arbeit im Parteivorstand der SPD,<br />

seine Tätigkeit als Experte für Fragen der Volksernährung, als Landwirtschaftsminister, schließlich die<br />

Wahl zum Ministerpräsidenten und sein Wirken als „roter Zar von Preußen", der bemüht war, Preußen<br />

zur demokratischen Ordnungszelle des Reiches zu machen, seine immer aussichtsloseren Bemühungen,<br />

die preußische Position zu behaupten, der „Preußenschlag" des Reichskanzlers von Papen, die<br />

Arbeit im Exil und Brauns Kampf gegen das schablonenhafte Anti-Preußenbild, die letzten Jahre bis<br />

zum Tode 1955; die ostpreußische Agrarverfassung um 1900, die Flügel- und Richtungskämpfe in der<br />

SPD vor dem Ersten Weltkrieg, die unterschiedliche Entwicklung von Reich und Preußen nach 1918,<br />

die oft vom Nebeneinander zu einem Gegeneinander ausartende Beziehung der beiden deutschen<br />

Regierungen in der Wilhelmstraße, die Problematik von Einheitsstaat und preußischer Hegemonie,<br />

die in der heiß umkämpften „Reichsreform" nicht gelöst wurde, die inneren wirtschaftlichen und<br />

sozialen Belastungen Preußens in den Zwanziger Jahren (Osthilfe), die innenpolitische Lage bis 1933<br />

und schließlich die Hoffnungen und Pläne des demokratischen Deutschlands im Exil. Dies und vieles<br />

andere mehr untersucht der Verf. und breitet unveröffentlichtes und publiziertes Material in großer<br />

Fülle aus. Er macht es dem nicht mit den Problemen vertrauten Leser nicht immer leicht, die Hauptlinien<br />

der Entwicklung in der Masse der dargebotenen Fakten mit Deutlichkeit zu erkennen. Nicht<br />

ausgewertet wurde dagegen u.a. das Werk von Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die<br />

Teilung Preußens, (deutsche Ausgabe) Bonn 1949, pbwohl gerade diese Studie des engen Mitarbeiters<br />

von Otto Braun für die Probleme der preußisch-deutschen Staatskonstruktion unter der Weimarer<br />

Reichsverfassung wesentliche systematische Erkenntnisse anbietet.<br />

Hagen Schulze gelingt es, die bisher noch nicht in diesem Maße erkannte Bedeutung Otto Brauns für<br />

die deutsche Politik in der Weimarer Republik deutlich werden zu lassen. Dabei scheut er vor neuen,<br />

von der älteren Literatur sichtbar abweichenden Beurteilungen nicht zurück. Dies gilt z.B. für die<br />

beachtenswerten Argumente zu dem Otto Braun u.a. von Karl Dietrich Bracher gemachten Vorwurf,<br />

dem Papenschen Staatsstreich vom 20. Juli 1932 nicht entschieden genug widerstanden und sich<br />

kampflos gefügt zu haben (S. 746 — 755). Die hier vorgebrachten Argumente scheinen dem Rezensenten<br />

durchaus zutreffend zu sein, wobei es an dieser Stelle erlaubt sein wird, zu der Frage des Kräfteverhältnisses<br />

auf die Ausführungen von H.-H. Liang in seiner Arbeit über die Berliner Polizei in der<br />

Weimarer Republik (deutsche Ausgabe, S. 60 — 67) ergänzend zu verweisen. Bei aller Sympathie des<br />

Verf. für Otto Braun, die in der Studie deutlich wird, hat er es aber gerade in den letzten Passagen<br />

seines Werkes verstanden, auch die Grenzen und Schwächen des letzten demokratischen preußischen<br />

Ministerpräsidenten deutlich werden zu lassen.<br />

Schubes Darstellung zeichnet sich durch Solidität der Informationen und Nüchternheit der Sprache<br />

aus. Der in der Zuverlässigkeit begründete Wen des Werkes wird auch durch einzelne problematische<br />

491


Stellen nicht in Frage gestellt. So wurde der Regierungsbezirk Allenstein nicht (S. 89) im Jahre 1908,<br />

sondern 1905 eingerichtet, der Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet<br />

fand nicht (S. 425) am 11. Januar 1922, sondern am 11. Januar 1923 statt, gegen die Parallelisierung<br />

der preußischen Innenpolitik unter dem „System Braun — Severing" mit Methoden der merkantilistischen<br />

Wirtschaftspolitik hat der Rezensent Bedenken (S. 578), mit den „Preußenwahlen vom 24. Mai<br />

1932" (S. 858) dürften die vom 24. April gemeint sein (vergl. S. 725).<br />

Der Gesamteindruck vom Werk Hagen Schubes kann dadurch nicht ernstlich geschmälert werden.<br />

Er hat es verstanden, ein Stück deutscher, preußischer und damit auch Berliner Geschichte zu beleuchten,<br />

wird doch häufig übersehen, daß unsere Stadt auch nach 1918 Hauptstadt im doppelten Sinne war.<br />

Die Masse des dargebotenen Materials und die Fülle der behandelten Aspekte werden jeder künftigen<br />

Darstellung des „demokratischen Preußen" wertvolle Anregungen geben. Wolfgang Neugebauer<br />

Airred Döblin: Ein Kerl muß eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921 — 1924, 2. Aufl. Freiburg/Olten:<br />

Walter 1977. 287 S., brosch., 26,80 DM.<br />

** Alfred Döblin: Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hörspiel nach dem Roman „Berlin Alexanderplatz".<br />

Nachwort: Heinz Schwitzke. Stuttgart: Reclam 1976, brosch., 1,60 DM (Universal Bibliothek<br />

9810).<br />

tt 5<br />

" Klaus Schröter: Alfred Döblin. Reinbek: Rowohlt 1978. 158 S., m. Abb., brosch., 6,80 DM (Rowohlt<br />

Bild-Monographie Bd. 266).<br />

Zum „Döblin-Jahr" 1978 sind eine Anzahl bemerkenswerter Veröffentlichungen über Leben und<br />

Werk des Dichters erschienen. Noch bis Ende des Jahres ist im Schiller-Nationalmuseum eine Ausstellung<br />

zu sehen, die in Form und Anlage ihresgleichen sucht. Im Katalog zu dieser Gedächtnisausstellung<br />

(„Alfred Döblin 1878—1978") ist eindrucksvolles Photo- und Schriftenmaterial ausgebreitet<br />

worden.<br />

Seit geraumer Zeit erscheinen im Walter-Verlag Ölten und Freiburg im Breisgau ausgewählte Werke<br />

Döblins. Die durch Robert Minder noch vor Döbiins Tod in Angriff genommene kritische Mainzer<br />

Gesamtausgabe des Döblinschen Werkes konnte aufgrund des schwerverständlichen Starrsinns der<br />

Erben nicht realisiert werden. Es ist durch Minder überliefert, daß das Ehepaar Döblin noch in seinen<br />

letzten Tagen (Erna Döblin ging nach dem Tode ihres Mannes in den Freitod) schwer unter dieser<br />

Tatsache litt! In die „Auswahlausgabe" des Walter-Verlages gehört auch der erste hier anzuzeigende<br />

Titel: „Ein Kerl muß eine Meinung haben". Es handelt sich dabei um einen textgleichen (einschl. des<br />

Vorwortes von Manfred Bayer) Band, der zuvor im Henschelverlag Berlin/DDR erschienenen<br />

„Griffe ins Lebens, Berliner Theaterberichte 1921 — 1924". die der Verf. bereits in den „Mitteilungen",<br />

Jg. 72/1976, Heft 3, S. 193 f., rezensiert hat, so daß ein näheres Eingehen auf diese Veröffentlichung<br />

nicht erforderlich ist. Im Reclam-Verlag erschien das Hörspiel zum Roman „Berlin Alexanderplatz".<br />

Der Text war bereits in den „Materialien zu Alfred Döblin ,Berlin Alexanderplatz'". Suhrkamp<br />

Taschenbuch Nr. 268, S. 199 — 236 zugänglich, liegt aber nun zu einem sehr günstigen Preis separat<br />

vor. Heinz Schwitzke hat in einem kurzen Nachwort (S. 61 —68) dargelegt, wie die alten Plattensätze<br />

und Manuskripte der Ursendung vom 30. 9. 1930 („Berliner Funkstunde") überliefert wurden und<br />

welche Position Döblin selbst zum Hörspiel einnahm.<br />

Der Hörspieltext muß naturgemäß das breite Romangeschehen stark gerafft wiedergeben. Den Weg<br />

der Läuterung, den Franz Biberkopf seit seiner Entlassung aus Tegel beschreiten muß, zeigt das Hörspiel<br />

anhand der drei wesentlichen Stationen. Schon kurz nach seiner Entlassung spricht Biberkopf die<br />

zweideutigen Worte: „Wir sind ehrbare Leute, wir haben im Zuchthaus gesessen, vier Jahre, da haben<br />

wir was zugelernt" (S. 8). Aber bald schon läßt sich Franz mit der Reinhold-Bande ein. die ihn nach<br />

einem Einbruch unter den Lastwagen stößt, wobei er einen Arm verliert. Nochmals kommt er jetzt zu<br />

der Einsicht: „Bin mal so verrückt gewesen, hat n Vogel gehabt, Franz will anständig sein . . ." (S. 33).<br />

Trotzdem läßt er sich wieder mit Reinhold ein, der Biberkopfs Anhänglichkeit dadurch belohnt, daß er<br />

dessen Freundin Mieze bei einem Ausflug nach Freienwalde ermordet. Völlig gebrochen kann Franz<br />

nur noch jammern: „Mir haben sie furchtbar im Leben gepiesackt, mir haben sie betrogen, den Arm<br />

hab ick verloren, dann haben sie mir meine Mieze umgebracht" (S. 58). Zwischen die Dialoge der handelnden<br />

Personen ist eine warnende „Stimme" eingeschaltet, die im Gespräch mit „Hiob" das Geschehen<br />

um Franz Biberkopf symbolisch erläutert.<br />

492


Der bekannte Germanist Klaus Schröter legt im Bd. 266 der rowohlts monographien eine Arbeit über<br />

Döblin vor, die in ihrem wissenschaftlichen Niveau die meisten bei Rowohlt erschienenen Bildmonographien<br />

überragen dürfte. Schröter analysiert Döblins Werdegang im Rahmen der persönlichen<br />

Entwicklung des Dichters, bettet ihn aber gleichzeitig in die zeitgeschichtlichen Strömungen der jeweils<br />

behandelten Jahre ein, so daß ein äußerst komplexes Bild des Arztes, Schriftstellers, Emigranten und<br />

Familienvaters Döblin entfaltet werden kann. Mit Kritik spart Schröter nicht, wenn er Döblins „Kleinbürgertum"<br />

anprangert oder dessen Haltung gegenüber Thomas Mann analysiert. So ist Schröter<br />

Döblins Tätigkeit als Kulturoffizier im Solde der Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg schlicht nicht<br />

mehr verständlich: „Schließlich fehlt eine Groteske in diesem traurigen Abgesang nicht. Der Künstler<br />

der Montagetechnik bevorzugte es, bei öffentlichen Veranstaltungen militärische Montur anzulegen.<br />

So trat der kleine Mann (160 Zentimeter groß) bei Vorträgen in Baden-Baden, Mainz, Wiesbaden und<br />

auch in Berlin in der Uniform eines französischen Obersten vor seine geschlagenen Landsleute. Wem<br />

andere Widersprüche Döblins unverständlich oder auch nur fremd geblieben waren, mußte diese<br />

letzte Adaption des Kleinbürgers an eine Macht den tiefsten Argwohn wecken" (S. 132). Der Widerspruch<br />

zu Schröters Ausführungen wird sicher nicht lange auf sich warten lassen. Auf der diesjährigen<br />

Frühjahrsveranstaltung der Berliner Akademie der Künste ist ein enger Vertrauter Döblins, Robert<br />

Minder, der „Kleinbürger-These" Schröters bereits entgegengetreten. Hans Jürgen Meinik<br />

Weitere Literatur zu diesem Thema auf Seite 498.<br />

Paul Dehnert: Daniel Chodowiecki. Berlin: Rembrandt-Verlag 1977. 79 S„ 72 Abb. auf 48 Taf.,<br />

Linson geb.. 29,80 DM.<br />

Wenn es im Klappentext des Buches heißt, es gebe zur Zeit keine Monographie über diesen populären<br />

Berliner Künstler auf dem Buchmarkt, so ist das nur zum Teil richtig. Seit vor genau 90 Jahren<br />

Ferdinand Meyer, damals Hauptschriftwart unseres Vereins, die erste volkstümliche Biographie über<br />

den „Peintre-graveur" herausbrachte (einige Werkmonographien sind noch wesentlich älter), ist der<br />

Strom der Veröffentlichungen zu Leben und Werk Chodowieckis bis in unsere Tage nicht abgerissen.<br />

Einige dieser Schriften sind auch heute noch wohlfeil in Antiquariaten zu bekommen, und sie erfüllen<br />

auch in den kritischen Augen zeitgenössischer Kunstkenner durchaus ihren Zweck. Denn eines ist<br />

sicher - und das zeigt das vorliegende Werk ebenfalls -: Es gibt kaum eine Einschränkung in der<br />

allgemeinen Wertschätzung, die dem Schaffen dieses Künstlers seit Generationen zuteil geworden ist.<br />

Gerade seine kleinformatige Graphik, die den Weg in viele Wohnstuben oder private Alben fand,<br />

konnte doch einen weit größeren Publikumskreis begeistern, als der Autor annimmt. Bei der Beurteilung<br />

Chodowieckis dürfte es nur noch um Nuancierungen gehen; neue Gesichtspunkte der künstlerischen<br />

Interpretation sind nicht zu erwarten.<br />

So resümiert dieses sehr sorgfältig zusammengestellte Buch die bekannten Tatsachen, beschreibt in<br />

großen Zügen den Werdegang und die handwerklich-künstlerische Entwicklung Chodowieckis, die<br />

schließlich in jene einzigartige Darstellungsweise des bürgerlichen Realismus auf der Zeitenwende<br />

einmündet. Zwischen Rokoko und Romantik stehend, überwand Chodowiecki in seinen Radierungen<br />

den teilweise pompösen und affektierten Stil vornehmlich der Franzosen und schuf erstmals eine<br />

natürliche, dem täglichen Leben und den bürgerlichen Umgangsformen entsprechende Ausdrucksweise.<br />

Neben historischen, moralisierenden oder auch humoristischen Szenen, hauptsächlich in Kalendern<br />

und Almanachen, hat dieser Meister der „kleinen Form" auch die bekanntesten Werke der<br />

zeitgenössischen Literatur ausgestattet und damit den Grund für das moderne illustrierte Buch gelegt.<br />

Mit seinen Arbeiten für die Dichter und Gelehrten der Epoche, von Lessing und Goethe bis zu<br />

Basedow und Lichtenberg, wurde er zum künstlerischen Interpreten der bürgerlichen Aufklärung in<br />

Deutschland.<br />

Dehnert schildert klar und leicht faßlich die Stadien dieser Entwicklung, unterstützt durch einen - zwei<br />

Drittel des Buches umfassenden - Bildteil. Hierbei reichen allerdings die Erläuterungen nicht immer<br />

für das Verständnis des Dargestellten aus. Im bibliographischen Anhang fehlen u.a. die Schrift von<br />

Johannes Jahn (Berlin-Ost 1954) sowie der Gedenkartikel von W. G. Oschilewski, der zum 250. Geburtstag<br />

Chodowieckis in Heft 4/1976 unserer „Mitteilungen" erschien. Auch dieses Buch von Paul<br />

Dehnert hätte man sich als würdigen Beitrag zum damaligen Jubiläum gewünscht. Peter Letkemann<br />

493


v ^ e s? "' Gustav Stresemann: Schriften, mit einem Vorwort von Willy Brandt, hrsg. v. Arnold Harttung. Berlin:<br />

Berlin Verlag Arno Spitz, 1976. XVI, 438 S., Ln., 38 DM.<br />

Die vorliegende, aus insgesamt 108 Stücken bestehende Sammlung ist deshalb wertvoll, weil einmal<br />

das dreibändige Stresemann-,,Vermächtnis", das 1932/33 erschien, heute zu einer antiquarischen<br />

Rarität geworden ist und zum anderen diese Schriftenauswahl ebenso wie die darauf fußende englische<br />

von 1935 ein recht einseitiges Stresemann-Bild vermitteln. Der Hrsg. hat dagegen seine Sammlung<br />

breiter angelegt und vor allem den Stresemann-Nachlaß, der sich unter den Akten des auswärtigen<br />

Amtes befand, 1945 von den Amerikanern beschlagnahmt und später an die Bundesrepublik zurückgegeben<br />

wurde, herangezogen. So konnte auch die Frühzeit Stresemanns stärker berücksichtigt werden.<br />

Ansonsten sind die Texte, obwohl chronologisch geordnet, des besseren Überblicks halber zu<br />

Sachgruppen zusammengefaßt. Die Orientierung wird außerdem durch das sorgfältige Personen- und<br />

Sachregister sowie durch ein biographisches Namensverzeichnis mit Kurzbiographien der wichtigsten<br />

Persönlichkeiten, mit denen Stresemann zu tun hatte, erleichtert. Leider erfährt man nicht, warum die<br />

ursprünglich vorgesehenen Nummern 106—110 und 113—114 entfallen sind (vermutlich handelt es<br />

sich um Nachrufe, für die die Druckgenehmigung verweigert wurde; unter den Würdigungen vermißt<br />

man im übrigen die sehr kritische von Theodor Heuss in seinen Erinnerungen, die - gewissermaßen als<br />

Kontrapunkt - die Sammlung hätte bereichern können). Insgesamt kann man aber die Auswahl -<br />

auch wenn sie kurz ausgefallen ist - nur begrüßen. Vor allem für den akademischen wie schulischen<br />

Unterricht dürfte sie wertvolle Dienste leisten. Michael Erbe<br />

Theodor Eschenburg/Ulrich Frank-Planitz: Gustav Stresemann. Eine Bildbiographie. Stuttgart:<br />

Deutsche Verlags-Anstalt 1978.168 S., Ln., 38 DM.<br />

Der Band besticht eher durch die gelungene Bildauswahl und die gediegene Ausstattung als durch<br />

seinen Inhalt, den Th. Eschenburg mit bewährtem Können, aber eben doch in der traditionellen Manier<br />

einer Stresemann-Verherrlichung und Würdigung als „großen Europäer" und Sucher des Ausgleichs<br />

mit Frankreich verfaßt hat. Insofern könnte das Buch vor 1960 geschrieben sein. Das Bildmaterial<br />

macht es indessen zu einem Werk von bleibendem Wert, da es U. Frank-Planitz gelungen ist, aus dem<br />

Besitz der Familie Stresemann und aus dem Bildarchiv des Auswärtigen Amtes eine Reihe bisher<br />

unbekannter Photographien zutage zu fördern. Sie illustrieren in reichhaltiger Weise das Leben,<br />

bilden so fast eine auf Stresemann bezogene Dokumentation eines ganzen Zeitalters. Ebenso gelungen<br />

sind etliche Skizzen (so S. 78 über die Wilhelmstraße und das Regierungsviertel) und Graphiken. Das<br />

Buch ist so geeignet, auch jüngeren Lesern einen lebendigen Eindruck von der Zeit zu vermitteln, in<br />

der das Kaiserreich zusammenbrach, die erste deutsche Demokratie errichtet wurde und in inneren<br />

Kämpfen unterzugehen begann. Wer sich künftig mit Stresemann beschäftigt, wird daher an dieser<br />

„Bildbiographie" nicht vorbeigehen können. Michael Erbe<br />

Karl Baedeker: Berlin-Spandau. Stadtführer. Freiburg: Baedeker 1977, 84 S., 10 Karten u. Pläne,<br />

30 Abb., brosch., 6,80 DM.<br />

Anders als die dickleibigen Reiseführer des Verlages, die für den Touristen bestimmt sind, haben die<br />

kleinen Stadtführer, die nun auch für mehrere Berliner Bezirke vorliegen, eine andere Aufgabe: Sie<br />

sollen die Vertrautheit der Bewohner des beschriebenen Bereiches mit ihrem Wohnort verbessern. So<br />

enthalten die „Stadtführer" nicht nur die besonderen Sehenswürdigkeiten, sondern geben eine Beschreibung<br />

der Stadt als Ganzes. Unter allen Bezirken von Berlin (West) dürfte Spandau mit seiner<br />

eigenen städtischen Tradition am besten für eine derartige Beschreibung geeignet sein. Unser Vereinsmitglied<br />

Jürgen Grothe, als Spandauer Lokalhistoriker bestens ausgewiesen, hat den Text des mit<br />

Karten und Skizzen gut ausgestatteten Bandes verfaßt, der ältere Stadtbeschreibungen, vor allem den<br />

Inventarband „Spandau" der Reihe der Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin durch sachgerechte<br />

Korrekturen vielfach ersetzt. Manches freilich könnte auch in diesem Bändchen noch verbessert werden,<br />

angefangen bei einem Hinweis auf den seit 1952 bestehenden Kreis Nauen auf der Übersichtskarte<br />

(S. 6) bis hin zur Eintragung der Entlassungs- und Todesdaten sämtlicher bereits verstorbener<br />

Insassen des Kriegsverbrechergefängnisses (S. 55), doch sind dies nur kleine Veränderungen eines insgesamt<br />

gelungenen Bandes, dem man noch viele Auflagen wünschen kann. Felix Escher<br />

494


Eva u. Helmut Börsch-Supan, Günther Kühne, Hella Reelfs: Berlin. Kunstdenkmäler und Museen.<br />

Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1977. 800 S. mit 118 Abb., Plänen u. Übersichtskarten, Leinen,<br />

28,80 DM. (Reclam Kunstführer Deutschland VII.)<br />

Sehr schnell haben sich die Bände dieser Reihe unter der zahlreichen Konkurrenz eine hervorragende<br />

Stellung erworben. Dies gilt im besonderen Maße auch für den hier vorliegenden Band, dem ersten<br />

der allein den Kunstobjekten in den vielen Museen und den Kunstdenkmälem einer - unserer - Stadt<br />

gewidmet ist. Hier ist der besonderen Stellung Berlins als Museumsstadt und als Mittelpunkt intensiven<br />

Kunstschaffens u.a. dadurch Rechnung getragen worden, daß die einzelnen Museen mit ihren<br />

Exponaten und die über das ganze Stadtgebiet verteilten sonstigen bemerkenswerten Kunststätten<br />

jeweils mit ausführlichen Erklärungen dem Leser vorgestellt werden. So finden auch diejenigen, die<br />

meinen, Berlin zu kennen, viel Neues und Interessantes. Die Beschreibungen, nach Stadtbezirken sehr<br />

übersichtlich geordnet, bieten aber vor allem dem interessierten aber bislang nicht so sachkundigen<br />

Besucher eine sehr wertvolle Hilfe. Eine gute kunstgeschichtliche Einführung von Helmut Börsch-<br />

Supan, eine Zeittafel zur Geschichte Berlins, Literaturhinweise, Fachwort-Erläuterungen, Künstlerund<br />

Objektregister sowie Kartenskizzen und Abbildungen ergänzen den rundum gelungenen Band.<br />

Claus P. Mader<br />

Karl Friedrich Schinkel: Berlin, Bauten und Entwürfe. Ausgew., bearb. u. komment. v. Klaus J.<br />

Lemmer. Berlin: Rembrandt 1973, 88 S. 64 Abb., Ln., 38 DM.<br />

Karl Friedrich Schinkels großformatige „Sammlung architektonischer Entwürfe, enthaltend theils<br />

Werke welche ausgeführt sind, theils Gegenstände, deren Ausführung beabsichtigt wurde", Berlin<br />

1820—40 und 1858, dürfte heute fast ausschließlich noch in großen Fachbibliotheken zu finden sein.<br />

So gebührt dem Rembrandt Verlag ein Dank, zumindest einen Teil des bedeutenden Werkes wieder<br />

einem großen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Im verkleinerten Maßstab wurde neben den<br />

schönen Bildtafeln auch der von dem großen preußischen Baukünstler verfaßte Text mit abgedruckt.<br />

Zu bedauern ist lediglich, daß, durch den geringen Buchumfang bedingt, nur eine subjektive Auswahl<br />

unter den vielen Berliner und Potsdamer Entwürfen getroffen werden konnte.<br />

Zu jedem Bauwerk hat der Bearbeiter den heutigen Zustand vermerkt - auch die würdelose Einfügung<br />

eines Portals der abgerissenen Bauakademie in den Eingang der Gaststätte „Schinkel-Klause".<br />

Die kleine Auswahl dürfte vor allem beim Leser den Wunsch wecken, das Originalwerk zu studieren.<br />

Felix Escher<br />

Ilse Nicolas: Berlin zwischen gestern und heute. Berlin: Hessling 1976. 111 S. mit Abb., Pappband,<br />

19,80 DM. (Berliner Kaleidoskop, Bd. 23.)<br />

Wanderungen durch historische Landschaften - was immer man darunter verstehen mag - gehören<br />

seit langem zum gängigen Repertoire geschichtlich ambitionierter Schriftsteller. Ihre Namen sind<br />

ebenso zahlreich wie die Themen ihrer ausgewählten Routen. Im großen Berlin findet sich immer ein<br />

Straßenzug, ein Viertel oder auch nur ein Winkel, dem mit Gespür für menschliche Schicksale und<br />

historische Abläufe nachzugehen lohnt. Es braucht ja nicht immer der große Wurf zu sein, mit dem<br />

z.B. Bogdan Krieger im Jahre 1923 in seinem Werk „Berlin im Wandel der Zeiten" der tragenden<br />

'Kulturachse' Berlin —Charlottenburg ein Denkmal setzte. Daß dazwischen noch ein weites Feld für<br />

die Kleinprosa übrig blieb, hat unser unvergessener Kurt Pomplun bis in die jüngste Vergangenheit<br />

unentwegt und meisterhaft bewiesen. Auch Ilse Nicolas ist vor Jahren die nicht minder erinnerungsträchtige<br />

Straße Berlin — Potsdam „Vom Potsdamer Platz zur Glienicker Brücke" mit lesenswertem<br />

Erfolg abgefahren.<br />

In ihrem neuesten Band führt sie den Leser zwanglos, aber faktenkundig durch die großen Straßen<br />

von heute und auch von einst: Kurfürstendamm, Bundesallee, Bendler- und Kochstraße, daneben das<br />

Kielgan-Viertel (wer kennt das noch?), die Genthiner Straße. Stadtlandschaft entfaltet sich, Ruinen<br />

und Kahlschlagviertel erwachen zum Leben, geben Verborgenes preis, erzählen von Häuser- und<br />

Menschenschicksalen. Neben die Erinnerung an die städtebaulichen Zeugen der Vergangenheit stellt<br />

die Autorin auch die aktuelle Bestandsaufnahme, so über die Situation der Kirchen an der Mauer,<br />

über die Klöster in Berlin, über Architekturdenkmale, Brücken usw. Sie zeigt sich ebenso engagiert<br />

wie einfühlsam; man läßt sich willig führen und freut sich an der gepflegten Diktion des Buches, die<br />

495


ohne Schnörkel und Abschweifungen stets dem Gegenstand verpflichtet bleibt. Ein Baedeker ohne<br />

Ausrufezeichen, der aber von der stillen Liebe zu unserer Stadt ebenso kündet wie von der schmerzhaften<br />

Erkenntnis der Vergänglichkeit aller Dinge. Peter Letkemann<br />

Winfried Löschburg: Ohne Glanz und Gloria. Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick. Berlin<br />

(Ost): Der Morgen 1978. 343 S., 80 Abb., Ln., 13,50 M.<br />

Die überquellende Komik des „Hauptmanns" ist in diesem Buch mit großem Fleiß aus Akten und<br />

Zeitungen der Archive zusammengetragen worden, als spannender Krimi, Zitatenschatz, Dokumentation<br />

über ein Berliner Original, Schmunzellektüre, Fall für die Psychoanalyse, selbst durch die Vorurteile<br />

und Ritualisierungen in unserer gespaltenen Stadt hindurch faßbar und vielschichtig durchschaubar.<br />

Im Anfang war der Vorsatz, Tat und Person des Maschinisten (Schuhmachers) Wilhelm Voigt von<br />

dichterischen Freiheiten, von Legenden und Widersprüchen zu reinigen, ihren historischen Kern aufzudecken.<br />

Nun haben wir das Lebensbild eines kleinen Gauners, so nuancenreich, so umfassend, daß<br />

es wohl nicht mehr wesentlich vervollständigt werden kann. Jetzt haben wir aber auch ein transparentes<br />

Zeitdokument, wie rührselig, extatisch, politisch, geschäftlich ein kalt rechnender Spitzbube zum<br />

international gefragten Star, Amerika-Reisenden, Haus- und Auto-Besitzer (um 1910!) mit Adjutant<br />

(der ihm zum Autogramm den Federhalter reicht) aufsteigt. Eine solche archivalische Paradeleistung<br />

mit zahlreichen Verweisen auf das 19 Seiten umfassende Quellenverzeichnis wirkt als Stimulanz: Der<br />

Leser möchte auch über Rechte und Pflichten des Militärs in den einschlägigen Gesetzen nachlesen,<br />

über die Abgrenzung zwischen Zivil- und Militär-Gerichtsbarkeit in der Kabinetts-Ordre vom 3. 4.<br />

1845, über das Beschwerderecht der Soldaten in den Kriegsartikeln vom 31. 10. 1872 mit Erläuterungen<br />

und Beispielen, deren achtzehnter ferner das Schießverbot gegen Wehrlose formuliert, auf das die<br />

Germania vom 18. 10. 1906 mit ihren „Schießautomaten" anspielt (S. 123).<br />

Diese Texte würden den Rahmen eines so handlichen und sehr flüssig zu lesenden Buches jedoch<br />

sprengen. Der Leser wird dagegen fündig im schillernden Witz, dem Ideenreichtum, der Schlagfertigkeit<br />

und der Vielseitigkeit des Spitzbuben sowie der sachlichen und sehr subtilen Darstellung des<br />

Autors, die etwa die Paß-Frage aus der dramatischen Fabel Zuckmayers auf einen bloßen Geistesblitz<br />

reduziert. Es geht auf und ab - Schlag auf Schlag - wie im historischen Ablauf. Tat: 16. 10. 1906,<br />

Ergreifung: 26. 10., Verhandlung, verurteilt zu 4 Jahren Gefängnis: 1. 12. 1906, Gnadenerweis seiner<br />

Majestät des Kaisers: 15. 8. 1908, Vortragsreisen, Ehrengast, fast ehrbarer Bürger; Tod im 73. Lebensjahr:<br />

3. 1. 1922. J- Schlenk<br />

Robinson: Berlin wie ich es liebe. Texte v. Kurt Pomplun. Berlin: A. u. E. Freund Verlag, 1976.<br />

48 S. m. färb. Zeichnungen, geb., 24 DM.<br />

Robinson hat sich mit seinen Zeichnungen, die zum Teil auch als einzelne Kunstblätter bezogen werden<br />

können, in Berlin einen Namen gemacht. Seiner Feder liegen die geschwungenen Formen von Bauwerken<br />

vergangener Jahrhunderte und ihres zweiten Aufgusses im Zeitalter des Historismus mehr als<br />

die glatten Fassaden unseres Säkulums. Curth Flatow springt Robinson und Pomplun in seinem<br />

Vorwort bei, wenn er doppeldeutig schreibt: Das sinnlose Abreißen sollten wir nicht einreißen lassen!<br />

Es gab oft keinen Grund dafür als den Preis des Grundes. Schöne Altbauten, Zeugen der Vergangenheit,<br />

gibt es nur noch wenige in Berlin. Robinson hat sie mit der Feder festgehalten. Erhalten müssen<br />

wir sie selbst!<br />

Quer durch den Westteil unserer Stadt hat Robinson eine Anzahl bekannter und weniger bekannter<br />

Bauwerke entdeckt und sie mit ihrer Frontalansicht, aber auch in architektonischen Details für festhaltenswert<br />

gehalten, von Riehmers Hofgarten über das Rathaus Reinickendorf, das Postamt Hauptstraße,<br />

das „Idunahaus" bis zum U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof und zur Carl-Schurz-Straße. Neben<br />

Theken und Rotunden werden auch so hehre Gebäude wie das Schloß Charlottenburg und der<br />

Reichstag festgehalten, teils in kolorierten Zeichnungen. Kurt Pomplun hat den wie stets zuverlässigen<br />

Text beigesteuert und erweitert mit seinen Worten den Kreis der im Bild festgehaltenen Dinge, wenn<br />

er etwa die Apotheken aufzählt, deren Inneneinrichtung noch der Entstehungszeit entspricht, und mit<br />

vollem Recht behauptet, zu den Hütern alter Tradition gehören in erster Linie die Apotheker.<br />

H. G. Schutze- Berndt<br />

496


Schöneberg - eine Gegend in Berlin. Fotos, Texte, Gestaltung: Werner Bethsold. Berlin: Werner<br />

Bethsold Verlag, 1977.130 S., brosch., 25 DM.<br />

Bei der Besprechung eines derartigen Fotobandes (121 Seiten sind Abbildungen) über einen bestimmten<br />

Bezirk ergibt sich die Frage, ob man nun einen Foto-Profi oder einen Beruis-Schöneberger als<br />

Rezensenten heranziehen soll oder ob es ein Amateurfotograf mit gesundem Menschenverstand auch<br />

tut. Dieser müßte dem Verfasser und Herausgeber des Buches bestätigen, daß er auch ungewöhnliche<br />

Aufnahmen seines Heimatbezirks geschossen hat - gelegentliche Unscharfen sind dann sicher<br />

ein künstlerisches Attribut. Bezirksbürgermeister W. Kabus, der dieses Buch auch gefördert hat,<br />

steuert ein Vorwort bei. In der üblichen Weise ist den ganzseitigen Abbildungen ein Verzeichnis nachgestellt.<br />

Ob Friedenau nicht vielleicht etwas „unterrepräsentiert" ist und ob Günter Grass nicht<br />

ebensoviel Recht auf Berücksichtigung gehabt hätte wie Friedrich Luft, sind eigentlich nur Randfragen<br />

bei der Durchsicht eines Bildbandes, der nicht nur allen Schönebergern seiner bunten<br />

Mischung und lebensnahen Fotos wegen Freude machen wird. H. G. Schultze-Berndt<br />

Ludwig Jungmann (Hrsg.): Berliner Gassenhauer-Büchlein. Die schönsten Berliner Volks-, Spottund<br />

Scherzlieder für Singstimme, Melodieinstrument (Blockflöte) und Gitarrenbegleitung. Wilhelmshaven:<br />

Heinrichshofen's Verlag 1977. Linolschnitte von Jutta Lamprecht, 32 S., brosch., 2,50 DM.<br />

Eine Gruppe Berliner Studenten war vor einiger Zeit bei einer Exkursion in einer Mälzerei im<br />

nordschleswigschen Hadersleben eingekehrt und wurde dort so herzlich empfangen wie fürstlich bewirtet.<br />

In der Erinnerung an die in Berlin verbrachten schönen Stunden bat der Seniorchef, man möge<br />

ihm zum Dank ein echtes Berliner Lied singen, etwa dasjenige mit dem Refrain „. .. immer an der<br />

Wand lang". Was würde der Rezensent darum gegeben haben, hätte ihm damals ein Berliner Gassenhauer-Büchlein<br />

zur Verfügung gestanden - und was gäbe er darum, enthielte die hier anzuzeigende<br />

Broschüre auch noch dieses Lied! Rund zwanzig Lieder werden mit Noten und Text vorgestellt, von<br />

„Auf einem Omnibus" bis „Wir gehn nach Friedenau" und „Wir sind Berliner Bummler". Aber<br />

auch Fritze Bollmann, der treue Husar und die Kuchenfrau vom Friedrichshaine sind vertreten.<br />

Mehr kann man vorerst fürs Geld nicht verlangen. Vielleicht hat einmal jemand den Mut und bringt<br />

ein vollständiges Berliner Liederbuch auf den Markt. H. C. Schultze-Berndt<br />

*<br />

Unser diesjähriges Jahrbuch „Der Bär von Berlin" wird z.Z. an die Mitglieder, die den fälligen<br />

Mitgliedsbeitrag von 36 DM gezahlt haben, ausgeliefert. Zusatzbände können bei der Geschäftsstelle<br />

des Vereins: Albert Brauer, Blissestraße 27, 1000 Berlin 31, zum Ladenpreis von 22,80 DM (zuziigl.<br />

Porto) bestellt werden.<br />

497


In der Vereinsbibliothek ist noch nachfolgende Literatur zu Heinrich von Kleist<br />

und Alfred Döblin eingegangen.<br />

Helmut Sembdner (Hrsg.): Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten.<br />

München: dtv (wiss. Reihe) 1977. Brosch., 14,80 DM.<br />

Ders.: Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis der Briefe. Frankfurt/M.: Insel 1977. Brosch..<br />

9 DM.<br />

Klaus Kanzog: Heinrich von Kleist. Prinz Friedrich von Homburg. Text, Kontexte, Kommentar. München/Wien:<br />

Hanser 1977. Brosch., 14,80 DM. (Reihe: Hanser Literatur Kommentare.)<br />

Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. Frankfurt/M.: Fischer 1977. Brosch.,<br />

5,80 DM.<br />

Klaus Birkenhauer: Kleist. Tübingen: Wunderlich 1977. 288 S., Ln., 29,80 DM.<br />

Joachim Maass: Kleist. Die Geschichte seines Lebens. Bern/München: Scherz 1977. 416 S., Ln.,<br />

29,50 DM.<br />

(Siehe auch in „Mitteilungen", Hefte 1 und 2, 1978.)<br />

Alfred Döblin: November 1918. Eine deutsche Revolution. München: dtv 1978. 4 Bände (Nr. 1389),<br />

brosch., 49 DM.<br />

Adalbert Wiehert: Alfred Döblins historisches Denken. Geleitwort v. Walter Müller-Seidel. Stuttgart:<br />

Metzlersche Verlagsbuchhdlg., Pöschel Verlag 1978. 320 S., geb. 55 DM.<br />

Alfred Döblin: Pardon wird nicht gegeben. Reinbek: Rowohlt 1978. Brosch. 6,80 DM. (Band:<br />

rororo 4243.)<br />

Die Redaktion behält sich eine ausführliche Besprechung vor.<br />

Mit dem vorliegenden Heft ist wiederum ein Zyklus von 4 Jahrgängen abgeschlossen. Ein ausführliches<br />

Inhaltsverzeichnis folgt voraussichtlich mit Heft 1 im Januar 1979.<br />

Im III. Vierteljahr 1978<br />

haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet:<br />

Peter Grohn, Selbst. Handelsvertreter<br />

1000 Berlin 42, Blumenthaistraße 22<br />

Tel. 7 06 10 49 (Bibliothek)<br />

Sigrid Gülzow, Med.-techn. Assistentin<br />

1000 Berlin 19, Reichssportfeldstraße 16/634<br />

Tel. 3 04 71 79 (Ingetraut Müller)<br />

Marga Kaesberg, Techn. Zeichnerin<br />

1000 Berlin 42, Dardanellenweg 47<br />

Tel. 7 03 11 61 (Ellen Wiegand)<br />

Heinrich Kühn, Oberstud.-Direktor<br />

1000 Berlin 41, Cranachstraße 38<br />

Tel. 8 55 43 01 (Irmtraut Köhler)<br />

Peter Mertin, Verwaltungsangestellter<br />

1000 Berlin 38, Kaiserstuhlstraße 4<br />

Tel. 8 02 68 70 (Rosemarie Seidel)<br />

Gerhard Meyer, Senator für Justiz<br />

1000 Berlin 62, Salzburger Straße 21 - 25<br />

Tel. 7 83 32 24 (Dr. Schultze-Berndt)<br />

Gertraud Polke<br />

1000 Berlin 38, Nickisch-Rosenegk-Straße 5<br />

Tel. 8 03 67 67 (Ruth Koepke)<br />

498<br />

Hanna Riemer, Kinderkrankenschwester<br />

1000 Berlin 12, Niebuhrstraße 65<br />

Tel. 3 24 26 80 (Bibliothek)<br />

Margot Schütze<br />

1000 Berlin 19, Heerstraße 8<br />

Tel. 3 02 24 08 (Brauer)<br />

Karin Schwinge. Industriekaufmann<br />

4300 Essen 1, Herwarthstraße 43<br />

Tel. (02 01) 27 72 20 (Brauer)<br />

Käthe Dietrich, Übersetzerin<br />

1000 Berlin 45, Hortensienstraße 47<br />

Tel. 8 34 61 73 (Frieda Senger)<br />

Maria Brader, Hausfrau<br />

1000 Berlin 15, Lietzenburger Straße 94<br />

Tel. 8 81 17 57 (Ellen Wiegand)<br />

Rolf Otto, Sicherheitsingenieur<br />

1000 Berlin 20, Eisgrabenweg 8<br />

Tel. 3 32 13 40 (Arne Hengsbach)


Die Veröffentlichungen des Vereins<br />

Von den früheren Ausgaben des Jahrbuchs<br />

DER BÄR VON BERLIN<br />

sind folgende Bände noch erhältlich:<br />

1957/58 und 1960 je 4,80 DM; 1961 bis 1964 je 5,80 DM; 1965 (Festschrift)<br />

38- DM; 1968 und 1969 je 9,80 DM; 1971 und 1972 je 11,80 DM; 1973 bis<br />

1975 je 12,80 DM; 1976 und 1977 je 18,50 DM; 1978 = 22,80 DM.<br />

MITTEILUNGEN<br />

des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

erscheinen vierteljährlich im Umfang von 32 Seiten. Sie enthalten in der<br />

Regel mehrere Artikel mit Themen zur Berliner Geschichte (mit Abbildungen),<br />

Nachrichten zu aktuellen Anlässen und aus dem Vereinsleben,<br />

Buchbesprechungen und das Programm der laufenden Veranstaltungen<br />

des Vereins.<br />

Einzelhefte aus früheren Jahrgängen sind zum Stückpreis von 4,- DM<br />

noch erhältlich.<br />

Von der neuen Folge der<br />

Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins<br />

sind bisher erschienen:<br />

Heft 59: Johann David Müller, Notizen aus meinem Leben (1973)<br />

Preis 9,80 DM<br />

Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing, Königin Elisabeth von Preußen. (1974)<br />

Preis 11,80 DM<br />

Heft 61: Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen<br />

Geschichte von Berlin-Brandenburg. (1977)<br />

Konrad Kettig, Goetheverehrung in Berlin. Ein Besuch von<br />

August und Ottilie von Goethe in der preußischen Residenz1819.<br />

(1977) Preis 16,80 DM<br />

Alle Preise zuzüglich Porto<br />

Bestellungen sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten:<br />

Albert Brauer, Blissestraße 27,1000 Berlin 31


Veranstaltungen im IV. Quartal 1978<br />

1. Sonntag, 22. Oktober 1978, 10 Uhr: „Die Spandauer Altstadt, Veränderungen im Stadtbild'".<br />

Führung: Jürgen Grothe. Treffpunkt: Portal der Nikolaikirche, Carl-Schurz-<br />

Straße.<br />

2. Sonnabend, 28. Oktober 1978, 10 Uhr: Besichtigung von Schloß Köpenick mit Kapelle.<br />

Bericht des Restaurators, Herrn Manfred Becker, über die Wiederherstellung des<br />

großen Berliner Kabinett-Schranks 1779 von David Roentgen. Vortrag über die<br />

Geschichte von Schloß und Sammlungen sowie Führung durch Herrn Direktor<br />

Dr. phil. Günter Schade.<br />

(S-Banhof Spindlersfeld, Ostkreuz in Fahrtrichtung umsteigen, ab Friedrichstraße<br />

40 min, Zugabstand 20 min - Antrag auf Gewährung eines Berechtigungsscheines für<br />

Berlin, Übergang Friedrichstraße für Fußgänger, in einem Büro für Besuchs- und Reiseangelegenheiten<br />

bis zum 20. Oktober 1978 stellen- Umlage: 2 DM.)<br />

3. Dienstag, 31. Oktober 1978, 19.30 Uhr: „Zur Geschichte der wissenschaftlichen Einrichtungen<br />

in Dahlem". Vortrag mit Lichtbildern von Dr. Michael Engel. Filmsaal des<br />

Rathauses Charlottenburg.<br />

4. Dienstag, 7. November 1978, 19.30 Uhr: Lesung aus dem 7. Band der „Wanderungen<br />

und Fahrten durch die Mark Brandenburg'" von Hans Scholz. Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

5. Dienstag, 21. November 1978, 19.30 Uhr: „Kaleidoskop der Erinnerungen an das<br />

alte Berlin". Filme über Berlin, vorgeführt von Rolf Rothe. Filmsaal des Rathauses<br />

Charlottenburg.<br />

6. Dienstag, 5. Dezember 1978, 19.30 Uhr: „Friedrich der Große und die Müller-Arnold-<br />

Prozesse". Vortrag von Dr. Otto Uhlitz. Filmsaal des Rathauses Charlottenburg.<br />

7. Sonnabend, 16. Dezember 1978, 15.30 Uhr: Vorweihnachtliches Treffen mit „Weihnachtlicher<br />

Orgelmusik" in der Dorfkirche Gatow. Leitung: Kantor Wolfgang Wedel.<br />

Anschließend Beisammensein in der „Kajüte", Alt-Gatow 23. Fahrverbindung: Busse 34<br />

und 35.<br />

Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg und zum Orgelkonzert sind Gäste willkommen.<br />

Die Bibliothek ist vor den Vorträgen jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet.<br />

Freitag, 27. Oktober, 24. November und 15. Dezember, ab 17 Uhr: Zwangloses Treffen<br />

in der Vereinsbibliothek im Rathaus Charlottenburg.<br />

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Landesarchiv, 1000 Berlin 30, Kalckreuthstraße 1—2 (Ecke<br />

Kleiststraße). Geschäftsstelle: Albert Brauer, 1000 Berlin 31, Blissestraße 27, Ruf 8 53 49 16.<br />

Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, 1000 Berlin 65, Seestraße 13, Ruf 45 30 11. Schatzmeister:<br />

Ruth Koepke, 1000 Berlin 61, Mehringdamm 89, Ruf 6 93 67 91. Postscheckkonto des Vereins:<br />

Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto: 038 180 1200 bei der Berliner Bank,<br />

1000 Berlin 19, Kaiserdamm 95.<br />

Bibliothek: 1000 Berlin 10, Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), Telefon 34 10 01, App. 2 34. Geöffnet:<br />

freitags 16 bis 19.30 Uhr.<br />

Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins,<br />

gegr. 1865. Schriftleitung: Claus P. Mader, 1000 Berlin 41, Bismarckstraße 12; Felix Escher, Wolfgang<br />

Neugebauer.<br />

Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM<br />

jährlich.<br />

Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49.<br />

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.<br />

500<br />

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