Berliner Stimme Nr. 5 2018
Ausgabe 5 des Mitgliedermagazin der Berliner SPD "Berliner Stimme" mit dem Schwerpunkt Europa.
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Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 5 · <strong>2018</strong> | 68. Jahrgang<br />
TITELTHEMA<br />
EUROPA<br />
EUROPAWAHL<br />
Unsere Kandidatin<br />
Gabriel Bischoff im Interview<br />
LANDESPARTEITAG<br />
Das sind die<br />
wichtigsten Beschlüsse<br />
VOR 70 JAHREN<br />
Wie die Berlin-Blockade<br />
die Stadt veränderte
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2 BERLINER STIMME
Text Michael Müller<br />
Foto Jens Jeske<br />
Für Europa werben<br />
Die SPD Berlin hat beim letzten Parteitag<br />
gezeigt, wie stark unser Bekenntnis<br />
zu Europa ist. Die SPD ist die Europapartei.<br />
Elf Kandidatinnen und Kandidaten<br />
haben sich um eine Nominierung zur<br />
Europakandidatur 2019 beworben. Sie<br />
alle haben eindrücklich bewiesen, dass<br />
wir für ein Europa kämpfen, das sich<br />
auf die gemeinsamen Werte beruft.<br />
Ein soziales Europa. Ich bin stolz, dass<br />
wir mit Gabriele Bischoff eine starke<br />
Spitzenkandidatin für Europa nominiert<br />
haben. Ihre Vision von Europa als eine<br />
Bastion der Freiheit und einen Tempel<br />
der Menschenwürde sind unsere<br />
Antwort auf die Feinde unsere Wertegemeinschaft.<br />
Europa verliert nie an Aktualität. Nach<br />
dem verstörenden Brexit und der Wahl<br />
Trumps brauchen wir mehr denn je eine<br />
Wertegemeinschaft, die für Freiheit,<br />
Solidarität und Gerechtigkeit steht.<br />
Europa verbindet. Es ist eine Gemeinschaft,<br />
die uns stark macht. Die sich<br />
selbstbewusst gegen totalitäre Gesellschaftsvorstellungen,<br />
antisemitische<br />
Hasstiraden und nationalistische Bestrebungen<br />
stellt.<br />
Berlin als Europäische Metropole zeigt,<br />
dass Vielfalt ein Gewinn ist. Unsere<br />
Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft<br />
lebt von den vielen unterschiedlichen<br />
Einflüssen der <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong><br />
und Menschen aus aller Welt, die zu uns<br />
kommen. Deswegen liegt es auch an uns,<br />
Europa erlebbar zu machen. Europa ist<br />
weit mehr als die Summe der Vorgaben<br />
aus Brüssel, es ist ein Freiheitsversprechen.<br />
Wir erleben es täglich: Meinungsund<br />
Pressefreiheit, Gleichberechtigung,<br />
Religionsfreiheit, Offenheit und Toleranz<br />
sind keine Selbstverständlichkeit.<br />
Wir müssen uns gemeinsam jeden Tag<br />
dafür einsetzen.<br />
Europa ist unsere Antwort für eine<br />
friedliche Welt.<br />
Herzlich<br />
Euer<br />
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BERLINER STIMME<br />
3
TITELTHEMA<br />
Europa<br />
02 EDITORIAL<br />
Für Europa werben<br />
Text Michael Müller<br />
Foto Jens Jeske<br />
06 INTERVIEW MIT GABRIELE BISCHOFF<br />
„Wir müssen den Traum<br />
von Europa wiederbeleben“<br />
Fragen Birte Huizing<br />
Foto Jens Jeske<br />
09 LANDESPARTEITAG<br />
Vier für Europa<br />
Text Anett Seltz<br />
Foto Jens Jeske & Hans Kegel<br />
12 INTERVIEW MIT BERND HÜTTEMANN<br />
„Eine Politik im Schatten<br />
schafft Misstrauen“<br />
Fragen Christina Bauermeister<br />
Foto Europ. Bewegung Deutschland<br />
Illustration Esther Schaarhüls<br />
18 POSITION<br />
Mehr als nur eine Plattform<br />
Text Viola Weyer<br />
Foto PES & Jens Jeske<br />
10 BILANZ<br />
Europa ist bei uns in guten Händen<br />
Text Sylvia-Yvonne Kaufmann<br />
Foto Jens Jeske<br />
16 BERICHT<br />
Eine sozialdemokratische Antwort<br />
auf Macron<br />
Text Cansel Kiziltepe & Bettina Hornbach<br />
Foto Alexandra Wend<br />
20 INTERVIEW MIT SILVAN WAGENKNECHT<br />
I like Europe in analog<br />
Fragen Christina Bauermeister<br />
Fotos Julian Stange & Pulse of Europe Berlin<br />
AUS DEM LANDESVERBAND<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong>n<br />
23 LANDESPARTEITAG<br />
„Lasst uns gemeinsam für Klarheit<br />
und Orientierung sorgen“<br />
Text Anett Seltz<br />
Fotos Jens Jeske & Hans Kegel<br />
26 LANDESPARTEITAG<br />
Die wichtigsten Beschlüsse<br />
Text Christina Bauermeister<br />
Foto Hans Kegel<br />
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28 STANDPUNKT<br />
Vorreiter für gute Arbeit<br />
Text Raed Saleh & Bettina König<br />
Fotos SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus<br />
4 BERLINER STIMME
VERMISCHTES<br />
Kultur & Geschichte<br />
29 HISTORIE:<br />
70 JAHRE BERLINER BLOCKADE<br />
Als alles aus der Luft kam<br />
Text Alexander Kulpok<br />
Fotos ullstein bild E&O / Privat<br />
32 BUCHAUSZUG<br />
„Ich bin schwul,<br />
und das ist auch gut so.“<br />
Text Klaus Wowereit<br />
Fotos Ulrich Horb<br />
ILLUSTRATION<br />
Esther Schaarhüls<br />
IMPRESSUM<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong><br />
Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie<br />
Herausgeber<br />
SPD Landesverband Berlin,<br />
Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),<br />
Müllerstraße 163, 13353 Berlin,<br />
Telefon: 030.4692-222, E-Mail: spd@spd.berlin<br />
Webadresse: www.spd.berlin<br />
Redaktion<br />
Christina Bauermeister und Birte Huizing<br />
Telefon: 030.4692-150<br />
E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de<br />
Mitarbeit an dieser Ausgabe<br />
Sylvia-Yvonne Kaufmann, Cansel Kiziltepe,<br />
Bettina König, Alexander Kulpok, Raed Saleh,<br />
Alexandra Wend, Viola Weyer<br />
Grafik Nico Roicke und Hans Kegel<br />
Foto Titelseite Pulse of Europe Berlin<br />
Abonnement 29 Euro pro Jahr im Postvertrieb<br />
Abo-Service Telefon: 030.4692-144,<br />
Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de<br />
Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln<br />
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BERLINER STIMME<br />
5
Fragen Birte Huizing<br />
Foto Jens Jeske<br />
„Wir müssen<br />
den Traum von Europa<br />
wiederbeleben“<br />
Die Europa-Spitzenkandidatin der <strong>Berliner</strong> SPD, Gabriele Bischoff,<br />
über ihre Visionen für Europa, den Brexit als Warnschuss<br />
und den Europawahlkampf<br />
Liebe Gabriele, Du bist auf dem Landesparteitag als Spitzenkandidatin<br />
der <strong>Berliner</strong> SPD für das Europäische Parlament gewählt worden.<br />
Was bedeutet Europa für Dich?<br />
Ich fühle mich in Europa zu Hause. Unions-Bürgerin zu sein verbindet<br />
mich mit über 740 Millionen Menschen in Europa. Die Europäische<br />
Union begreife ich als eine große politische Familie, die zusammen viel<br />
stärker ist, als Einzelne es je sein können. Für mich setzt das voraus, dass<br />
alle Familienmitglieder bereit und fähig sind ,das große Ganze zu sehen,<br />
nicht nur ihre Einzelinteressen. Den wachsenden Nationalismus in<br />
Europa sehe ich deshalb als große Gefahr für die Union.<br />
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Viele Genossinnen und Genossen aus Berlin kennen Dich noch gar nicht.<br />
Wer steckt hinter der „DGB-Frau“ Gabriele Bischoff?<br />
Ich bin eine leidenschaftliche Europäerin, mit einem starken Kompass in<br />
Fragen sozialer Gerechtigkeit. Seit mehr als 20 Jahren lebe ich in Berlin<br />
und arbeite seit 2008 beim DGB Bundesvorstand. Die Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss,<br />
dem europäischen Haus der Zivilgesellschaft, haben mich 2015 zu ihrer<br />
Präsidentin gewählt. Seitdem pendele ich zwischen Berlin und Brüssel.<br />
6 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Gabriele Bischoff<br />
Von den einstmals sieben AfD-Abgeordneten<br />
vertritt heute noch einer die AfD<br />
im Europäischen Parlament. Ich bin für<br />
klare Kante gegenüber der AfD, gegen<br />
ihren nationalistischen, rechtsextremen<br />
und anti-europäischen Kurs. Für die<br />
<strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong> haben sie im<br />
EP nichts bewirkt.<br />
Vom 23. bis 26. Mai 2019 wird die Europawahl<br />
stattfinden. Hast Du schon Ideen<br />
für den Wahlkampf?<br />
Das soziale und demokratische Europa<br />
gehört für mich in das Zentrum des<br />
Wahlkampfs, insbesondere die Überwindung<br />
der sozialen Spaltung in Europa.<br />
Denn die SPD ist eine Europapartei, die<br />
seit ihrem Bestehen für Freiheit, Gleichheit<br />
und Solidarität eintritt und engagiert<br />
für eine Union streitet, die das<br />
Wohlergehen aller Bürgerinnen und<br />
Bürger in das Zentrum stellt. Jetzt gilt es,<br />
die vielen engagierten Europäerinnen<br />
und Europäer der <strong>Berliner</strong> SPD miteinander<br />
zu vernetzten und ein starkes<br />
„EUropa-Team“ zusammenzuschweißen.<br />
Europa steckt in der Krise. Was würdest<br />
Du als Europa-Abgeordnete machen,<br />
um wieder mehr Menschen für Europa<br />
zu begeistern?<br />
Begeisterung speist sich aus dem Gefühl,<br />
dass etwas gut ist und auch so erlebt<br />
wird. Deshalb ist es wichtig, Europa<br />
wieder auf eine anderen, einen sozialeren<br />
Kurs zu bringen und Europa stärker<br />
„erlebbar“ zu machen. Wir müssen die<br />
wachsende Kluft zwischen den Bürgerinnen<br />
und Bürgern und der EU überwinden.<br />
Zu viele haben den Eindruck, dass<br />
Brüssel und Straßburg weit weg sind.<br />
Das bedeutet für mich, offene, spannende<br />
Debatten zu initiieren, neue Angebote<br />
zu unterbreiten, soziale Medien zu nutzen<br />
und Beteiligungsmöglichkeiten zu offerieren.<br />
Seit dem Bundestagswahlkampf haben<br />
wir mit der AfD eine neue rechte Partei<br />
im Parlament sitzen, die massiv Politik<br />
gegen Europa macht. Wie sollten wir<br />
mit der AfD im Europawahlkampf umgehen?<br />
Mich ärgert, welcher Raum dieser Partei<br />
in Deutschland eingeräumt und wie<br />
ihre Themen übernommen werden.<br />
Im Europäischen Parlament sind sie<br />
seit 2014 vertreten und allenfalls durch<br />
ihre diversen Spaltungen aufgefallen.<br />
Zwischen Berlin und Brüssel liegen<br />
650 Kilometer. Wie möchtest Du die<br />
beiden Städte verbinden?<br />
Brüssel, Straßburg und Berlin zu verbinden<br />
gehört zu den Herausforderungen,<br />
die ich gerne annehme. Seit Jahren lebe<br />
ich mit meiner Familie in Berlin und<br />
arbeite überwiegend in Brüssel, bin aber<br />
auch in vielen anderen EU-Ländern<br />
unterwegs. Für mich ist es wichtig, auch<br />
hier in Berlin präsent zu sein und europapolitisch<br />
Flagge zu zeigen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
7
Was ist für Dich die wunderbarste<br />
Errungenschaft, die wir dank der EU<br />
haben?<br />
Unsere Grundwerte und Grundrechte,<br />
die mit der Grundrechtecharta in den<br />
EU-Verträgen verankert sind. Und wie<br />
viele Europäerinnen und Europäer<br />
schätze ich die Freiheit, überall in der<br />
EU leben und arbeiten zu können, ohne<br />
dass wir EU-Bürgerinnen und -Bürger<br />
beispielsweise aufgrund unserer Nationalität,<br />
Weltanschauung oder Religionszugehörigkeit<br />
diskriminiert werden<br />
dürfen.<br />
Du kennst Dich ja bereits in Brüssel aus.<br />
Wo bist Du am liebsten?<br />
Brüssel ist auf den ersten Blick keine<br />
gefällige Stadt. Die Hauptstadtregion<br />
Brüssel mit den 19 Gemeinden bietet<br />
eine große Vielfalt. Inzwischen bin ich<br />
gern mit dem Rad unterwegs, da hat<br />
sich viel getan in den letzten Jahren.<br />
Ich mag die Parks, das Marollen-Viertel<br />
oder den Platz St. Catherine.<br />
Viele von uns hat der Brexit verstört.<br />
Was war Deine erste Reaktion und was<br />
hat sich seitdem in Brüssel verändert?<br />
Obwohl ich durch die Debatten mit<br />
britischen Kolleginnen und Kollegen<br />
eine Ahnung hatte, dass die Abstimmung<br />
kritisch werden könnte, war ich<br />
doch erstmal geschockt. Der Brexit ist<br />
ein „Warnschuss“. Was dort passiert ist,<br />
kann auch anderswo Nachahmer finden.<br />
„Der Brexit ist ein „Warnschuss“.<br />
Was dort passiert ist, kann auch<br />
anderswo Nachahmer finden.“<br />
hat sie eine klare Strategie. Dass es ihr<br />
nicht gelungen ist, die 27 Mitgliedstaaten<br />
in den Verhandlungen zu spalten<br />
und auseinander zu dividieren, ist für<br />
den Erfolg der Verhandlungen enorm<br />
wichtig.<br />
Macron hat seine ganz eigene Vision<br />
für Europa. Wie sieht die Vision von<br />
Gabriele Bischoff aus?<br />
Meine Vision ist, dass wir den „Traum<br />
von Europa“ wiederbeleben können.<br />
Der Traum derer, die das europäische<br />
Haus aufgebaut haben war es, einen<br />
Pfeiler des Rechts, eine Bastion der Freiheit,<br />
einen Tempel der Menschenwürde<br />
mit diesem Europa zu schaffen. Wir<br />
brauchen ein Europa, dass seine Bürgerinnen<br />
und Bürger wirklich schützt<br />
und sie ermächtigt. Ich engagiere mich<br />
deshalb für ein Europa, dass Sicherheit<br />
gibt, den ökologischen wie digitalen<br />
Übergang zu bewältigen, dafür Ressourcen<br />
mobilisiert und niemanden zurücklässt.<br />
Mein Europa gewährleistet starke<br />
Grundrechte, dazu gehören verbindliche<br />
soziale Rechte, und diese müssen wir<br />
auch durchsetzen.<br />
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Was hat sich geändert?<br />
Kaum jemand konnte wissen, wie komplex<br />
die Brexit-Verhandlungen sein<br />
würden. Die Regierung May verhandelt<br />
derzeit weder besonders geschickt noch<br />
8 BERLINER STIMME
Text Anett Seltz<br />
Fotos Jens Jeske & Hans Kegel<br />
Vier für Europa<br />
LINKS<br />
Jean asselborn, Udo Bullmann<br />
Ihre Beiträge stimmten die Delegierten<br />
auf die Nominierung der Kandidatinnen<br />
und Kandidaten für das Europäische Parlament<br />
ein. Elf Kandidaturen lagen insgesamt<br />
vor. Gabriele Bischoff wurde auf<br />
Platz eins, die Juso-Landesvorsitzende<br />
Annika Klose auf Platz zwei nominiert.<br />
Als erster Ersatzkandidat – der so genannte<br />
Huckepack-Kandidat – wurde<br />
Arturo Winters und als zweite Kandidatin<br />
Mélanie Reuter nominiert.<br />
Der Landesparteitag am 1. und 2. Juni<br />
<strong>2018</strong> stand zu Beginn ganz im Zeichen<br />
Europas. Der Fraktionsvorsitzende der<br />
europäischen Sozialdemokraten im<br />
Europaparlament Udo Bullmann und<br />
der luxemburgische Außenminister<br />
Jean Asselborn unterstrichen, wie nötig<br />
ein geeintes Europa für Frieden und<br />
Stabilität in der Welt ist. Jean Asselborn<br />
fand zur globalen Lage deutliche Worte:<br />
„Die Europäische Union wird den Brexit<br />
meistern. Unsere Einstellung zum Multilateralismus<br />
wird auch diesen amerikanischen<br />
Präsidenten überleben.“ Auch<br />
Udo Bullmann gab sich mit der Aussage<br />
„Wir treten an, um die Europäische<br />
Union gerechter und sozialer zu machen.<br />
Lassen wir uns von der Feigheit der<br />
selbst ernannten politische Mitte nicht<br />
einlullen.“<br />
OBEN<br />
v.l.: Mélanie Reuter, Michael Müller,<br />
Annika Klose, Arturo Winters,<br />
Gabriele Bischoff<br />
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BERLINER STIMME<br />
9
Text Sylvia-Yvonne Kaufmann<br />
Foto Jens Jeske<br />
Europa ist bei uns<br />
in guten Händen<br />
Sylvia-Yvonne Kaufmann vertritt die <strong>Berliner</strong> SPD<br />
im Europäischen Parlament. Im kommenden Jahr scheidet sie<br />
aus der aktiven Politik aus. Doch noch hat sie viel vor,<br />
mit ihrer Heimatstadt Berlin und ihrer Leidenschaft,<br />
dem europäischen Projekt.<br />
Im Sommer 2019 endet mein Mandat als Mitglied des Europäischen<br />
Parlaments. Ich werde dann dreißig aufregende Jahre in der aktiven<br />
Politik gewesen sein. Sie führten<br />
mich 1989 von Demonstrationen<br />
gegen Honeckers SED in die erste<br />
„Wir wollen in Europa die<br />
frei gewählte DDR-Volkskammer kulturelle Hegemonie des neoliberalen<br />
und über den ersten gesamtdeutschen<br />
Bundestag 1991 ins<br />
Mainstreams überwinden.“<br />
Europäische Parlament. Seitdem<br />
brenne ich leidenschaftlich für das Europäische Projekt, und das wird<br />
auch künftig so bleiben.<br />
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Die Arbeit im Europäischen Parlament erfordert Präsenz in Brüssel und<br />
Straßburg, ohne dass dadurch die <strong>Berliner</strong> Bodenhaftung verloren geht.<br />
Mit wortgewaltigen Sprechblasen ändert man dort nichts. Der Wählerauftrag<br />
ist ein Vertrauensauftrag. Er besteht darin, im Parlament den europäischen<br />
Gesetzgebungsprozess so sozialdemokratisch wie möglich zu<br />
gestalten. Wir wollen in Europa die kulturelle Hegemonie des neoliberalen<br />
Mainstreams überwinden. Im Kern geht es um eine EU, die friedlich, sozial<br />
und demokratisch ist. Dafür streiten wir SPD-Europaabgeordneten!<br />
610 BERLINER STIMME
Im Europäischen Parlament gibt es –<br />
im Unterschied zum Abgeordnetenhaus<br />
oder zum Bundestag – keine festen politischen<br />
Mehrheiten, sondern von Gesetz<br />
zu Gesetz jeweils wechselnde politische<br />
Mehrheiten. Ein europäisches Gesetz<br />
kann nur dann verabschiedet werden,<br />
wenn es dem jeweils verantwortlichen<br />
Abgeordneten gelingt, es mehrheitsfähig<br />
zu machen, und zwar über die Länderund<br />
Fraktionsgrenzen hinweg. Dies eröffnet<br />
dem einzelnen Abgeordneten zum<br />
Teil erhebliche Handlungsspielräume.<br />
Diese Besonderheiten sind es, die ein<br />
präsentes Engagement, viel Ausdauer,<br />
Detailkenntnis, große Sachkompetenz,<br />
aber auch Kompromissfähigkeit erfordern.<br />
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am<br />
gleichen Ort – dafür habe ich, dafür hat<br />
unsere Partei jahrelang gekämpft. Das<br />
Parlament hat der Entsenderichtlinie<br />
Ende Mai endlich zugestimmt. Was für<br />
ein Erfolg für Arbeitnehmerinnen und<br />
Arbeitnehmer! Selbstverständlich heißt<br />
es für uns weiterzukämpfen, damit<br />
Europa endlich auch ein soziales Projekt<br />
wird! Ich bin überzeugt: Europa ist bei<br />
uns in guten Händen! Von daher werde<br />
ich 2019 den Staffelstab an Gabriele<br />
Bischoff gern weitergeben.<br />
Ich bin durchaus ein wenig stolz darauf,<br />
dass das Europäische Parlament heute<br />
gemäß dem Vertrag von Lissabon gleichberechtigt<br />
mit dem Rat europäischer<br />
Gesetzgeber ist. Mehrere Dutzend Artikel<br />
des EU-Vertrages und der EU-Grundrechtecharta,<br />
der weltweit modernste Grundrechtekatalog,<br />
tragen ebenso meine<br />
Handschrift wie die Europäische Bürgerinitiative.<br />
Stolz bin ich auch auf mein Berlin.<br />
Die <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong> wissen<br />
sehr genau, was ihre Stadt dem europäischen<br />
Einigungswerk als Garant für<br />
Frieden und Freiheit zu verdanken hat.<br />
Ich bin fest davon überzeugt, dass es<br />
auch mit Blick auf den 30. Jahrestag des<br />
Falls der <strong>Berliner</strong> Mauer im Europawahljahr<br />
2019 ein einzigartiges Zeichen für<br />
Berlins Bekenntnis zu Europa wäre,<br />
wenn der 9. Mai, der Europatag, gesetzlicher<br />
Feiertag in unserer Heimatstadt<br />
würde! Der Europatag verkörpert<br />
Geschichte und Zukunft zugleich.<br />
Geschichte, weil er als entscheidende<br />
Lehre aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts<br />
den Beginn der europäischen<br />
Einigung markiert und Zukunft, weil er<br />
auf ein europäisches Deutschland im<br />
vereinten Europa verweist.<br />
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BERLINER STIMME<br />
11
Fragen Christina Bauermeister<br />
Foto Europäische Bewegung Deutschland<br />
Illustration Esther Schaarhüls<br />
„Eine Politik im Schatten<br />
schafft Misstrauen“<br />
Im Interview spricht Bernd Hüttemann, Generalsekretär der<br />
Europäischen Bewegung Deutschland e.V., über Populismus, den Dialog<br />
mit der organisierten Zivilgesellschaft und darüber, wie sich<br />
Europapolitik politisch und medial vermitteln lässt.<br />
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12 BERLINER STIMME
Herr Hüttemann, laut aktueller Eurobarometer-Umfrage ist die EU<br />
ein Jahr vor den Europawahlen so beliebt wie seit 1983 nicht mehr. Doch<br />
trotz wachsender pro-europäischer Kräfte erzielen populistische und<br />
antieuropäische Parteien in den Nationalstaaten Wahlerfolge. Über den<br />
Wahlausgang in Italien zeigen sich Beobachter sehr besorgt. Sie sehen<br />
das Wahlergebnis als schlechtes Signal für die Europawahlen 2019. Ist<br />
diese Sorge berechtigt?<br />
Unbedingt. Zumindest hat die Regierungsbildung zwischen der Fünf-Sterne-<br />
Bewegung und der Lega Nord verhindert, dass mit einer technokratischen,<br />
europafreundlichen Regierung die Populisten bei einer Neuwahl im Herbst<br />
noch mehr hinzugewonnen hätten. Ich gebe den Populismus-Forschern<br />
recht, die konstatieren: Eine technokratische Europapolitik erhöhe die<br />
Sorgen der Menschen, weil sie sich nicht mehr eingebunden fühlen.<br />
Nicht nur in Italien, auch in Deutschland erhielten<br />
populistische und EU-kritische Bewegungen<br />
Zulauf. Woran liegt das?<br />
Parteien, die zu einer Wahl antreten, kämpfen<br />
zunächst einmal für sich selbst. Insofern zeichnen<br />
sie das jeweilige gegnerische Lager in besonders<br />
schwarzen Farben. Politikwissenschaftler, die seit<br />
den 20er Jahren alle demokratischen Wahlen<br />
analysiert haben, kamen zu dem Ergebnis, dass<br />
sich die politische Grundausrichtung der Menschen<br />
– ob links, rechts, progressiv oder konservativ<br />
– gar nicht großartig verändert hat. Es ist<br />
ganz einfach so, dass etablierte Parteien scheitern,<br />
sich teilen, verschwinden oder neu ausrichten.<br />
Auch das derzeitige italienische Geschehen ist<br />
Ausdruck der Implosion der Parteienlandschaft,<br />
die schon Ende der 80er Jahre begann.<br />
Das heißt, die derzeitige Vertrauens- und Demokratie-Krise<br />
ist vor allem eine Parteienkrise ...<br />
Viele die jetzt sagen, es liegt an Europa und ist ein<br />
Problem der europäischen Situation oder des Euro,<br />
die verdecken wissentlich oder unbewusst, dass<br />
wir uns in einer grundsätzlichen Krise der parlamentarischen<br />
Demokratie in den Nationalstaaten<br />
befinden. Wobei ganz klar gesagt werden muss,<br />
dass Europa diesen Vertrauensverlust bisher nicht<br />
ausgleichen konnte.<br />
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BERLINER STIMME<br />
13
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„Was spricht dagegen, die<br />
ausgehöhlte Europäische Rundfunkunion<br />
in eine gut funktionierende<br />
europäische ARD umzuwandeln?“<br />
Den Medien wird oft vorgeworfen,<br />
ihren Teil zu einer europapolitischen<br />
Polarisierung beizutragen. Sehen Sie<br />
das ähnlich?<br />
Ein bezeichnender Fall, bei dem man<br />
sogar von einer „Mediokratie“ sprechen<br />
kann, ist Großbritannien. Dort treiben<br />
seit vielen Jahren wenige große Medienkonzerne<br />
in den Händen weniger Männer<br />
die Politik vor sich her. Lange blieb<br />
das ohne schlimme Folgen – bis zum<br />
Brexit. Wenn Politiker getrieben werden,<br />
dann machen sie Fehler oder sie geraten<br />
in die Versuchung, Probleme zu lösen,<br />
die es gar nicht gibt – so wie beim Brexit.<br />
Cameron verhielt sich wie Frank Underwood<br />
in der Politserie „House of Cards“<br />
und versuchte, sich über eine Medienkampagne<br />
den Rücken zu stärken.<br />
Er wurde dann die Geister nicht mehr<br />
los, die er gerufen hatte.<br />
Gelingt es den Medien, die EU in ihrer<br />
Komplexität angemessen darzustellen?<br />
Zumindest in Deutschland wird die europäische<br />
Integration endlich wahrgenommen<br />
und wertgeschätzt. Durch die<br />
Krisen hat sich viel getan. Auf der anderen<br />
Seite berichten deutsche Medien nur<br />
dann über Europapolitik, wenn es Probleme<br />
gibt. Medien bilden viele Brüsseler<br />
und nationale Gesetzinitiativen, die ursprünglich<br />
aus Brüssel kommen, nicht<br />
ausreichend ab. Die Lobbygruppen aller<br />
gesellschaftlichen Gruppen machen es<br />
da besser. Dieser unterschiedliche Blick<br />
auf die EU-Politik zwischen der sogenannten<br />
vierten und fünften Gewalt ist<br />
ein größeres Defizit als ein angeblich<br />
schwaches EU-Parlament.<br />
Es gibt ja immer wieder die Kritik,<br />
dass es keine richtige europäische<br />
Öffentlichkeit gibt.<br />
Das ist ein wichtiger Punkt. Ich habe<br />
den Eindruck, dass einige Auslandskorrespondenten,<br />
Grundkurse in Europapolitik<br />
belegen sollten. Wie sollen sie<br />
nationale Politik ohne europäische Innenpolitik<br />
richtig bewerten können, wenn<br />
Sie uns aus anderen Ländern berichten?<br />
Was spricht dagegen, die ausgehöhlte<br />
Europäische Rundfunkunion in eine gut<br />
funktionierende europäische ARD umzuwandeln?<br />
Ein öffentlich-rechtlicher europäischer<br />
Rundfunk könnte pluralistisch<br />
aufgebaut werden. Er wäre natürlich<br />
immer noch ein Nischenangebot, aber<br />
durchaus machbar. Allerdings sehe im<br />
Moment keinen Willen bei nationalen<br />
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten,<br />
dies umzusetzen. Auch sie sind eine<br />
Lobby gegen den Wandel.<br />
Mit den Europäischen Bürgerdialogen<br />
setzt die Europäische Kommission nun<br />
ein eigenes Instrument ein, um Europakommunikation<br />
zu verbessern und<br />
Wahlbegeisterung zu stärken. Wie<br />
müssten die Bürgerdialoge gestaltet<br />
sein, um wirklich erfolgreich zu sein?<br />
Die Bürgerdialoge sind sicherlich ein<br />
gut gemeinter Versuch. Die Idee dahinter<br />
wurde in einer Zeit geboren, in der<br />
Macron in Frankreich seine „En Marche“-<br />
Bewegung mit Hilfe von „Bürgerkonventen“<br />
zum Erfolg führte. Die Frage ist, ob<br />
die europäischen Bürgerdialoge so strukturiert<br />
sind, dass man aus ihnen auch<br />
einen Mehrwert ziehen kann. Erfolgreich<br />
wären die Dialoge, wenn Politikerinnen<br />
und Politiker in einem zufällig ausgewählten<br />
Forum in erster Linie zuhören<br />
14 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Bernd Hüttemann begann seine europapolitische<br />
Karriere als Schüler bei den Jungen<br />
Europäischen Föderalisten (JEF). Er studierte<br />
Politikwissenschaft, Geschichte und Europarecht<br />
an der Universität Bonn und ist Lehrbeauftragter<br />
für Lobbyismus und Public<br />
Diplomacy an der Universität Passau sowie<br />
der Hochschule für Wirtschaft und Recht<br />
in Berlin. Er ist zudem Vizepräsident der<br />
Europäischen Bewegung International (EMI)<br />
und berät die Europäische Bischofskonferenz<br />
in europapolitischen Fragen.<br />
„Der Wettbewerb der Ideen in einem echten Europawahlkampf<br />
und leider auch die Angst vor einem Zusammenbrechen der EU bewirken<br />
mehr als halbherzig durchgeführte Bürgerdialoge.“<br />
würden. Die Erkenntnisse müssten im<br />
Nachgang wissenschaftlich ausgewertet<br />
werden. Ich glaube jedoch, dass der Wettbewerb<br />
der Ideen in einem echten Europawahlkampf<br />
und leider auch die Angst<br />
vor einem Zusammenbrechen der EU<br />
mehr bewirken als halbherzig durchgeführte<br />
Bürgerdialoge.<br />
Wie stellt man ein öffentliches europäisches<br />
Interesse her?<br />
Nur über die tatsächliche Auseinandersetzung<br />
mit europapolitischen Themen,<br />
die die Menschen wirklich betreffen.<br />
Es müssen Zusammenhänge dargestellt<br />
werden: Wer steckt hinter welcher Idee?<br />
Wem nutzt es? Wer nimmt Schaden?<br />
Ein gutes Beispiel ist die EU-Datenschutzgrundverordnung,<br />
die derzeit in aller<br />
Munde ist. Nur wenige Medien nennen<br />
die DSGVO ein „EU-Gesetz“, was es de<br />
facto ist. Dass die europäische Gesetzgebung<br />
so nicht genannt wird, ist Teil des<br />
Problems. Eine Politik im Schatten<br />
schafft Misstrauen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
15
Text Cansel Kiziltepe und Bettina Hornbach<br />
Foto Alexandra Wend<br />
Eine sozialdemokratische<br />
Antwort auf Macron<br />
Die Grundwertekommission des SPD-Parteivorstandes<br />
hat ein Papier zu den EU-Reformvorschlägen des französischen<br />
Präsidenten Emmanuel Macron erarbeitet.<br />
Die Europäische Union ist das erfolgreichste Friedensprojekt, das wir<br />
je auf unserem Kontinent hatten. Doch wir dürfen sie nicht für selbstverständlich<br />
nehmen, denn Parteien mit rechtsnationalistischen, fremden-<br />
und europafeindlichen Zielsetzungen aus ganz Europa gefährden<br />
dieses Friedensprojekt. Wir dürfen ihnen die Zukunft Europas nicht<br />
überlassen, sondern müssen Visionen entwickeln, wie ein solidarisches,<br />
friedliches und vereintes Europa der Zukunft aussehen soll.<br />
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat gezeigt, dass<br />
es möglich ist die Menschen für Europa zu begeistern. In zwei viel<br />
beachteten Reden an der Humboldt Universität zu Berlin und an der<br />
Universität Sorbonne in Paris hat er an den Schatz der gemeinsamen<br />
europäischen Werte und an die Verpflichtung erinnert.<br />
Unter der Leitung von Gesine Schwan hat die Grundwertekommission<br />
der SPD eine „Antwort an Präsident Macron“ verfasst.<br />
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Die Antwort greift viele gute Ideen auf, zum Beispiel bilinguale europäische<br />
Universitäten oder die Förderung von disruptiven Innovationen.<br />
Doch wir brauchen insbesondere in zwei Bereichen Fortschritte: Der<br />
europäischen Asyl- und Migrationspolitik und der Reform der Eurozone.<br />
16 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Cansel Kiziltepe (l.) ist Bundestagsabgeordnete<br />
aus Friedrichshain-Kreuzberg,<br />
Bettina Hornbach ist Mitglied in der<br />
Abteilung 61 in Kreuzberg.<br />
Die Geflüchteten dürfen nicht zu einem<br />
Spielball der Politik werden, mit dem das<br />
europäische Haus eingerissen wird. Deswegen<br />
ist die Idee, Kommunen für die<br />
Aufnahme von Migrantinnen und Migranten<br />
zu belohnen, ein Schritt in die<br />
richtige Richtung. Wir wollen eine Solidarität,<br />
zu der wir uns bekennen und<br />
nicht eine zu der wir unsere Nachbarn<br />
zwingen müssen.<br />
„Wir müssen die Eurozone<br />
so reformieren, dass es zu keiner<br />
Wiederholung der Wirtschaftsund<br />
Finanzkrise kommt.“<br />
dann Unterstützung bekommen, um den<br />
starken Anstieg der Arbeitslosigkeit abzufedern.<br />
Eine ähnliche Funktion würde<br />
auch ein europäischer Investitionsschutz<br />
erfüllen, der die Fortführung von öffentlichen<br />
Investitionen sicherstellen kann.<br />
Der Europäische Währungsfonds (EWF)<br />
kann dabei eine wichtige Rolle spielen.<br />
Wichtig dabei ist jedoch, dass solch ein<br />
Fonds nicht einfach nur eine Kopie des<br />
Internationalen Währungsfonds wird.<br />
Die Weiterentwicklung Europas müssen<br />
wir auch gegen die Nein-Sager der Union<br />
durchsetzen. In den letzten Monaten<br />
hat es bei dem Thema in der CDU/CSU-<br />
Fraktion im Bundestag schon ordentlich<br />
gekracht. Nur in letzter Sekunde konnte<br />
die Kanzlerin den Aufstand in den eigenen<br />
Reihen verschieben. Die SPD hingegen<br />
ist sich in ihrer pro-europäischen<br />
Ausrichtung geeint. Diese Position muss<br />
jetzt untermauert werden mit konkreten<br />
Handlungen. Das Papier der Grundwerte-<br />
Kommission ist ein wichtiger Schritt in<br />
diese Richtung.<br />
Außerdem müssen wir die Eurozone so<br />
reformieren, dass es zu keiner Wiederholung<br />
der Wirtschafts- und Finanzkrise<br />
kommt. Konkret: Banken sollen nicht<br />
mehr mit Steuergeld gerettet werden<br />
müssen. Die Vollendung der Bankenunion<br />
zielt darauf ab. Noch sind jedoch<br />
einige Schritte – etwa bei der Letztsicherung<br />
der Bankenabwicklung und bei der<br />
Einlagensicherung – zu gehen. Wichtig<br />
ist auch, dass eine Austeritätspolitik<br />
nicht die einzige Antwort für kriselnde<br />
Staaten sein darf. Hier setzt die Idee der<br />
europäischen Arbeitslosenrückversicherung<br />
an. Im Krisenfall würden Staaten<br />
Ohne eine starke und handelnde Europäische<br />
Union hätten wir nie erreicht,<br />
was wir haben und ohne eine solche<br />
werden wir das Erreichte nicht weiterentwickeln<br />
können. In diesem Sinne<br />
hoffen wir, dass dieses Papier breit in<br />
der SPD diskutiert wird und auf Zustimmung<br />
stößt.<br />
Link zum Papier der Grundwertekommission:<br />
https://grundwertekommission.spd.de/<br />
fileadmin/gwk/Workshop_Wirtschaft_<br />
Finanzen/Antwort_an_MacronV_GWK_<br />
01.pdf<br />
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BERLINER STIMME<br />
17
Text Viola Weyer<br />
Fotos PES & Jens Jeske<br />
Mehr als nur<br />
eine Plattform<br />
Über die Sozialdemokratie in Europa<br />
und ihre Rolle seit mehr als 25 Jahren<br />
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Für die Activists und den Fachausschuss für Europaangelegenheiten<br />
der <strong>Berliner</strong> SPD ist es ein geflügeltes Wort: die SPE (im Englischen: PES).<br />
So heißt die Sozialdemokratische Partei Europas im Sprachgebrauch<br />
eines Europäers. Sie ist die zweitgrößte Partei in der Europäischen Union<br />
und vereinigt 34 Vollmitgliedsparteien der Sozialdemokraten, Sozialisten<br />
und Arbeiterparteien der EU und Norwegen sowie zwölf weitere assoziierte<br />
Parteien und abermals zwölf Parteien mit Beobachterstatus aus mehreren<br />
europäischen Ländern und der Türkei.<br />
18 BERLINER STIMME
Die SPE wird unsere politische Bewegung<br />
durch eine Roadmap bis 2019 stärken:<br />
► weiterhin Austausch bewährter<br />
Praktiken und Wahlstrategien<br />
OBEN<br />
Viola Weyer ist Vorsitzende des Fachausschusses<br />
für Europaangelegenheiten<br />
der <strong>Berliner</strong> SPD.<br />
Im Jahr 1992 gegründet, hat sie sich von<br />
einer gemeinsamen Initiative zu einer<br />
großen europäischen politischen Partei<br />
entwickelt. Gemeinsam mit ihren Mitgliedern<br />
setzt sie sich mit den Bürgerinnen<br />
und Bürgern für eine europäische<br />
Agenda ein, die den Grundsätzen der<br />
Freiheit, Gleichheit, Solidarität, sozialen<br />
Gerechtigkeit und Demokratie folgt<br />
sowie die Achtung der Menschenrechte<br />
und Grundfreiheiten und die Achtung<br />
der Rechtsstaatlichkeit fördert.<br />
LINKS<br />
Im vergangenen Jahr veranstaltete die SPE<br />
europaweit Aktionen rund um ihre Forderung<br />
eines europäischen Jugendplanes, der u.a. die<br />
Möglichkeit eines Erasmus-Semesters für<br />
alle Interessierten beinhaltet.<br />
In 2019 stehen die Wahlen zum Europäischen<br />
Parlament an. Die SPE sollte nicht<br />
nur eine Plattform für ihre Mitgliedsparteien<br />
und Organisationen sein, um europäische<br />
Politiken zu diskutieren, sondern<br />
auch ein Ort, an dem die Mitgliederparteien<br />
zusammenkommen, um die politische<br />
Visionen, Strategien und Politik<br />
für Sozialisten, Sozialdemokraten und<br />
Progressive in Europa zu formulieren.<br />
► die Organisation von Veranstaltungen<br />
mit unseren Mitgliedsparteien in den<br />
Mitgliedstaaten<br />
► Bereitstellung von Schulungen für<br />
Mitglieder, Organisationen und<br />
Aktivisten<br />
► Resonanz unserer Mitgliedsparteien<br />
und Organisationen<br />
► Präsenz und Sichtbarkeit des Netzwerkes<br />
unserer Vorsitzenden und<br />
Premierminister<br />
Um die größte Fraktion im Europäischen<br />
Parlament in einem Bündnis von Europaabgeordneten<br />
unserer Schwesterparteien<br />
zu werden und um den nächsten Präsidenten<br />
der Europäischen Kommission zu<br />
unterstützen, muss die SPE auch weiterhin<br />
ihre Mitgliedsparteien stärken.<br />
Dies ist von grundlegender Bedeutung<br />
für die Zukunft der europäischen Sozialdemokratie<br />
und für alle sozialistischen,<br />
sozialdemokratischen, demokratischen<br />
und fortschrittlichen Parteien in Europa.<br />
Die SPE und ihre Mitgliedsparteien und<br />
-organisationen sollten fest entschlossen<br />
sein, all ihre Energie und Ressourcen in<br />
die Entwicklung ihrer Vision zu investieren,<br />
ihre Strukturen zu modernisieren,<br />
ihre Basen zu verbreitern. Nur so können<br />
wir das gemeinsame Ziel erreichen,<br />
Wahlen zu gewinnen und in Europa<br />
und in den Mitgliedstaaten zu führen,<br />
um eine fortschrittliche Gesellschaft im<br />
21. Jahrhundert zu entwickeln.<br />
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BERLINER STIMME<br />
19
Fragen Christina Bauermeister<br />
Portraitfoto Juliane Stange / ars publica Marketing GmbH<br />
Foto Pulse of Europe Berlin<br />
I like Europe in analog<br />
Silvan Wagenknecht brachte vor einem Jahr auf dem<br />
Gendarmenmarkt 6.000 Menschen dazu, die Europäische Union<br />
als Friedensprojekt zu feiern. Im Hauptberuf macht der 20-Jährige<br />
eine Ausbildung zum Mediengestalter. Anfang Januar ist er<br />
in seiner Heimatstadt Schwedt in die SPD eingetreten.<br />
Lieber Silvan, du bist einer der Initiatoren der Pulse-of-Europe-<br />
Bewegung in Berlin. Wie schafft es ein Brandenburger Azubi, eine<br />
Großdemo in der Hauptstadt auf die Beine zu stellen?<br />
Anfang letzten Jahres hatte ich das Bedürfnis, mich für meine politischen<br />
Interessen aktiv einzusetzen. Und genau zu dieser Zeit habe ich auf Facebook<br />
einen Artikel über die Entstehung der Pulse-of- Europe-Bewegung<br />
in Frankfurt gelesen, die dort von einem Ehepaar initiiert wurde. Bei<br />
denen habe ich kurzerhand nachgefragt, ob es Pulse of Europe schon<br />
in Berlin gibt und schon war ich mittendrin.<br />
Warum interessierst du dich gerade für Europapolitik?<br />
Europäische Themen sind für junge Leute ja nicht besonders sexy.<br />
Das europäische Projekt bedeutet mir einfach sehr viel. Vielleicht, weil<br />
meine Eltern mit mir in den Urlauben viel in Europa rumgereist sind.<br />
So habe ich die vielen Vorzüge der Europäischen Union – besonders die<br />
Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen – einfach schon sehr früh im Leben<br />
schätzen gelernt.<br />
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Von außen betrachtet, könnte man den Eindruck bekommen, dass der<br />
Pulse of Europe als „I like Europe Bewegung in analog“ schon wieder<br />
abgeebbt ist. Die letzte größere Demo in Berlin war im November 2017...<br />
Es stimmt, die Zeit der Großdemonstrationen ist im Moment vorbei.<br />
Vor einem Jahr hat Marine Le Pen die Menschen von der Couch auf die<br />
Straße bewegt. Der Gefahr, dass eine Politikern mit klarem anti-europäischen<br />
Kurs die nächste französische Staatspräsidentin werden könnte,<br />
620 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Silvan Wagenknecht<br />
wollten vor allem viele junge Leute ein<br />
klares Pro-Europa-Bekenntnis entgegensetzen.<br />
Und wir haben Ihnen die Plattform<br />
dafür gegeben. Bewusst lassen<br />
wir auf unseren Veranstaltungen keine<br />
Politiker sprechen, sondern stellen die<br />
Menschen mit ihren Geschichten und<br />
Erfahrungen in den Mittelpunkt. Wir<br />
wollen die Schnittstelle sein zwischen<br />
den Bürgerinnen und Bürgern und der<br />
EU-Politik.<br />
Was plant ihr gerade für Aktionen?<br />
Gerade konzentrieren wir uns in Berlin<br />
auf anlassbezogene Aktionen. In Berlin<br />
haben außerdem einen Europa-Salon<br />
gegründet. Dort laden wir Autoren zu<br />
Lesungen ein, die ein Buch mit kulturellen,<br />
wissenschaftlichen oder politischen<br />
Europa-Bezug veröffentlicht haben.<br />
Und mit dem Think-Tank Polis180 haben<br />
wir zur Bundestagswahl den Euromat<br />
entwickelt, der analog zum Wahl-O-Mat<br />
die Positionen der Parteien vergleicht,<br />
nur eben dezidiert zu europapolitischen<br />
Themen. Den Euromat werden wir auch<br />
im kommenden Jahr für die Europawahl<br />
anbieten.<br />
Einige Kritiker sagen, die Pulse-of-Europe-Bewegung<br />
sei im Grunde nur eine<br />
harmlose Friede-Freude-Eierkuchen-<br />
Veranstaltung mit viel Symbolik, aber<br />
keinen konkreten Forderungen und<br />
strategischen Überlegungen …<br />
Ich kenne natürlich die Kritik, dass wir<br />
inhaltslos und eine einfache Fahnenschwenk-Bewegung<br />
wären. Aber diese<br />
Kritik misst unsere Bewegung an etwas,<br />
was sie nie sein wollte. Wir sind nie mit<br />
einem großen Forderungskatalog angetreten.<br />
Und das ist auch der Grund,<br />
warum wir so viele Menschen mobilisieren<br />
konnten. Es gibt bereits so viele proeuropäische<br />
Initiativen, Vereine und<br />
Think-Tanks, die sich mit Europa inhaltlich<br />
auseinandersetzen und das teilweise<br />
schon seit Jahrzehnten. Warum<br />
sollten wir nun auch noch inhaltlich mitmischen<br />
wollen? Wir wollen mit unseren<br />
Aktionen zum Ausdruck bringen, dass es<br />
ziemlich cool ist, dass es die EU gibt und<br />
den Rechtspopulisten zeigen: „Hey, ihr<br />
seid hier nicht in der Mehrheit“. Damit<br />
haben wir es geschafft, die Leute emotional<br />
an Europa zu binden, dass sie zu<br />
Zehntausenden in 120 europäischen<br />
Städten auf die Straßen gegangen sind.<br />
Und außerdem denke ich, dass das Bekenntnis<br />
zur Europäischen Union etwas<br />
sehr konkretes ist.<br />
Wie viele Leute engagieren sich<br />
momentan aktiv beim Pulse of Europe?<br />
In Europa haben wir ungefähr 500<br />
Menschen mobilisiert, die alle gut miteinander<br />
vernetzt sind. In Berlin gibt es<br />
15 sehr aktive Leute.<br />
Wird das reichen, um die Bewegung<br />
dauerhaft am Leben zu erhalten?<br />
Unser Plus ist, dass unsere Bewegung<br />
sehr niedrigschwellig ist. Jeder, dessen<br />
Herz für die europäische Idee schlägt,<br />
kann bei uns mitmachen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
21
OBEN<br />
Mehr als 6.000 <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong> demonstrierten im März 2017<br />
für ein friedliches, geeintes und grenzfreies Europa.<br />
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Die teils sehr komplexen Forderungen<br />
und Ziele anderer Pro-EU-Organisationen<br />
wirken dagegen eher technisch<br />
und trocken, so wichtig sie auch sind.<br />
Was wir aber brauchen, ist ein neues<br />
Format, um unsere Forderung „Die<br />
Bürger müssen mehr beteiligt werden!“<br />
zu untermauern.<br />
An was denkst du da konkret?<br />
Es muss wieder mehr geredet werden.<br />
Nicht übereinander, sondern miteinander.<br />
Wir haben uns dafür etwas ausgedacht:<br />
die Europäischen Hausparlamente.<br />
Hinter der Idee steht ein einfacher<br />
Gedanke: Wir diskutieren alle viel mit<br />
unseren Freunden und unserer Familie.<br />
Wie wäre es, wenn diese Diskussionen<br />
größer, nachhaltiger und wirklich sinnvoll<br />
werden würden. Wenn man ernsthaft<br />
in der WG-Küche, im Wohnzimmer<br />
oder auf der Terrasse im Garten zum<br />
Beispiel über die EU-Fluchtpolitik diskutiert<br />
– und am Ende abstimmt. Seit<br />
dem 10. Juni kann sich jeder bei uns als<br />
Gastgeber registrieren und aus seinem<br />
persönlichen Umfeld Teilnehmende<br />
einladen.<br />
Und was passiert mit dem Ergebnis?<br />
Das Ergebnis wird digital – per App oder<br />
über die Webseite – an uns übermittelt.<br />
Und wir sorgen dafür, dass es bei der<br />
Politik Gehör findet. Die Politiker müssen<br />
die Entscheidungen natürlich nicht Einszu-eins<br />
umsetzen, aber sie müssen ihr<br />
Votum begründen, falls sie zu einem<br />
anderen Ergebnis gekommen sind.<br />
Das hört sich nach sehr viel Arbeit an.<br />
Trotzdem bist du Anfang des Jahres<br />
auch noch in eine Partei, die SPD, eingetreten.<br />
Warum?<br />
Ich kann bei Pulse of Europe mein Bedürfnis,<br />
mich aktiv zu beteiligen, sehr<br />
gut umsetzen. Aber ich möchte auch<br />
gern inhaltlich um die beste EU-Politik<br />
streiten. Und die SPD steht mit so viel<br />
Engagement für Europa ein, das ist hier<br />
meine politische Heimat gefunden habe,<br />
auch wenn in der Partei bisher noch gar<br />
nicht aktiv geworden bin.<br />
622 BERLINER STIMME
Text Anett Seltz<br />
Fotos Jens Jeske & Hans Kegel<br />
„Lasst uns gemeinsam<br />
für Klarheit und<br />
Orientierung sorgen“<br />
Am 2. Juni <strong>2018</strong> stand auf dem Landesparteitag der <strong>Berliner</strong> SPD die<br />
Neuwahl des Landesvorstandes auf der Tagesordnung. Der Landesvorsitzende<br />
Michael Müller wurde mit 64,9 Prozent im Amt bestätigt.<br />
In seiner Rede rief er die Partei zur Geschlossenheit auf: „Wir werden<br />
nur erfolgreich sein, wenn wir als SPD gemeinsam für Klarheit und<br />
Orientierung sorgen. Lasst uns diesen Weg ab heute gemeinsam gehen.“<br />
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BERLINER STIMME<br />
23
RECHTS<br />
Kevin Kühnert<br />
in der Aussprache zur Rede<br />
von Michael Müller: „Es ist<br />
unsere Verantwortung, dass<br />
es in drei Jahren heißt,<br />
Rot-Rot-Grün hat geklappt.“<br />
Sonst regiere nach der<br />
nächsten <strong>Berliner</strong> Wahl<br />
Jamaika oder Kenia.<br />
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Michael Müller betonte er, wie wichtig das Thema Wohnungsbau sei:<br />
„Das Wohnungsthema ist eine Existenzfrage für die Menschen. Wir<br />
müssen dafür zu sorgen, dass Menschen in der Stadt gut wohnen können.<br />
Es ist die Aufgabe von Rot-Rot-Grün in einer gemeinsamen Anstrengung<br />
auch Wohnungen zu bauen.“ Müller, der zuvor das Solidarische Grundeinkommen<br />
in die politische Debatte eingebracht hatte, betonte außerdem,<br />
dass es überfällig sei, dass die SPD in der Hartz IV-Debatte selbstkritisch<br />
diskutiert. Auch wenn Hartz IV zum wirtschaftlichen Aufschwung<br />
beigetragen habe, „die Lösung der Vergangenheit kann nicht<br />
die Antwort auf die Zukunft sein“.<br />
24 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Der neue Landesvorstand der <strong>Berliner</strong> SPD<br />
UNTEN<br />
Franziska Giffey<br />
Als stellvertretende Landesvorsitzende wurden Andreas Geisel mit<br />
78,5 und Iris Spranger mit 52,9 Prozent gewählt. Weiterhin votierten die<br />
Delegierten für Ina Czyborra (72,8 Prozent) und Julian Zado (61,3 Prozent).<br />
Die Landeskassiererin Angelika Schöttler wurde mit 76,9 Prozent im<br />
Amt bestätigt.<br />
Die Zahl der Beisitzerinnen und Beisitzer legten die Delegierten auf zwölf<br />
fest. Gewählt wurden: Sevim Aydin, Torsten Einstmann, Kevin Hönicke,<br />
Frank Jahnke, Christopher Jäschke, Cansel Kiziltepe, Mark Rackles,<br />
Ülker Radziwill, Joachim Rahmann, Julie Rothe, Ulrike Sommer und<br />
Ferike Thom. Dem Landesvorstand gehören außerdem Vertreterinnen<br />
und Vertreter der zwölf Kreise und der Arbeitsgemeinschaften an.<br />
RECHTS<br />
Monika Buttgereit (r.) wurde von Landesgeschäftsführerin<br />
Anett Seltz nach vielen Jahren<br />
ehrenamtlichen Engagements als Vorsitzende der<br />
Antragskommission mit Applaus verabschiedet.<br />
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BERLINER STIMME<br />
25
Text Christina Bauermeister<br />
Foto SPD Berlin/Hans Kegel<br />
Die wichtigsten<br />
Beschlüsse<br />
Auch inhaltlich setzte der Landesparteitag Akzente.<br />
250 Anträge fanden bei den Delegierten Zustimmung –<br />
über die Konsensliste oder einzeln nach Beratung.<br />
Einstimmig wurde der Antrag für eine „Soziale Teilhabe durch ein Solidarisches<br />
Grundeinkommen und die Überwindung von Harzt IV“ verabschiedet.<br />
Im Antrag heißt es wörtlich: „Wir wollen eine solidarische Gesellschaft,<br />
in der jeder Mensch nicht nur existenzsichernd gegen allgemeine Lebensrisiken<br />
abgesichert ist, sondern entsprechend seiner persönlichen Bedürfnisse<br />
in seiner Entwicklung gefördert wird." Damit unterstützt die <strong>Berliner</strong><br />
SPD den Vorstoß Michael Müllers für ein Umdenken in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik,<br />
den er im Rahmen einer Bundesratspräsidentschaft eingebacht<br />
hat. Müller ist zur weiteren Konzeption in Gesprächen mit<br />
Verbänden, Gewerkschaften und der Bundesregierung. Das Ziel ist die Weiterentwicklung<br />
der Idee und Pilotprojekte in Berlin und anderen Städten.<br />
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Im Bereich Wohnen und Mieten verabschiedeten die Parteitagsdelegierten<br />
einen umfassenden Antrag für mehr bezahlbarem Wohnungsraum, der<br />
Forderungen an das von der Großen Koalition geplante Gesetzespaket zur<br />
„Wohnraumoffensive“ enthält. Konkret sollen zum Beispiel die Landesregierungen<br />
das Recht bekommen, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen<br />
in Milieuschutzgebieten gänzlich zu untersagen. In diesem<br />
Zusammenhang soll auch eine rechtliche Grundlage für verbindliche Mietobergrenzen<br />
nach Modernisierung in Milieuschutzgebieten geschaffen<br />
werden, die auch den Neubau von Wohnraum umfasst. Zudem soll durch<br />
eine Grundgesetzänderung eine zeitliche nicht begrenzte Wohnraumförderung<br />
des Bundes wieder eingeführt werden. Im Mietrecht wird der qualifizierte<br />
Mietspiegel als Instrument gestärkt.<br />
626 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Eine Menschenkette für die<br />
Brückenteilzeit: Der Parteitag<br />
verabschiedete einen Initiativantrag<br />
der ASF, der die sofortige Umsetzung<br />
des Rückkehrrecht von Teilzeit auf<br />
Vollzeit von der Bundesregierung<br />
fordert.<br />
Außerdem wird die Modernisierungsumlage<br />
für fünf Jahre ausgesetzt sowie die<br />
Kündigung eines Mietvertrages wegen<br />
Eigenbedarfs gesetzlich auf den Eigentümer<br />
selbst, Eltern, Kinder und Geschwister<br />
beschränkt.<br />
Um dem Fachkräftemangel im Kita-Bereich<br />
zu begegnen, müssen bis zum kommenden<br />
Jahr die Gehälter der <strong>Berliner</strong><br />
Erzieherinnen und Erzieher an die Entgeltentwicklung<br />
des TVöD angeglichen werden.<br />
Die Träger würden beim Abbau ihres<br />
Sanierungsrückstaus unterstützt. Diese<br />
Forderung ist Teil des Antrages mit dem<br />
Titel „Gute Kita in Berlin: Mehr Personal,<br />
bessere Vergütung, attraktivere Arbeitsbedingungen!“<br />
Zudem ist für den nächsten<br />
Doppelhaushalt 2020/2021 eine Höhergruppierung<br />
des Erzieherberufs anzustreben.<br />
Die Forderung, die Kostenerstattung<br />
an die Träger von derzeit 93,5 auf 100 Prozent<br />
zu erhöhen, fand hingegen keine<br />
Mehrheit.<br />
Nach dem Willen der SPD werden in Berlin<br />
auch künftig keine Lehrerinnen und Lehrer<br />
verbeamtet. Ein entsprechender Antrag<br />
wurde von den Delegierten<br />
mehrheitlich abgelehnt.<br />
Einstimmig angenommen wurde ein Antrag<br />
der ASF, der die SPD-Bundestagsfraktion<br />
auffordert, den von Fraktion im<br />
Dezember beschlossenen Gesetzentwurf<br />
auf Abschaffung des § 219a StGB in dieser<br />
Form weiterzuverfolgen und für sexuelle<br />
Selbstbestimmungsrechte einzustehen.<br />
Eine Kompromisslösung, die nicht die vollständige<br />
Streichung des §219a StGB vorsieht,<br />
wird abgelehnt. Im Bundestag solle<br />
auf die Möglichkeit hingewirkt werden,<br />
die Fraktionsdisziplin zugunsten einer<br />
Gewissensentscheidung aufzuheben.<br />
Auch wurde ein Antrag zur ersatzlosen<br />
Streichung des Paragraphen 218 angenommen.<br />
Die bestehende Regelung zum<br />
Schwangerschaftsabbruch biete quasi<br />
keine Rechtssicherheit. Wörtlich heißt es:<br />
Wir müssen in der SPD und ihren Arbeitsgemeinschaften<br />
eine Debatte über die<br />
Abschaffung der Strafbarkeit des<br />
Schwangerschaftsabbruches führen.<br />
In einer einstimmig verabschiedeten Resolution<br />
appelliert die <strong>Berliner</strong> SPD an die<br />
Bundesebene, das im Koalitionsvertrag<br />
zwischen Union und SPD festgeschriebene<br />
Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit zügig<br />
umzusetzen. Wörtlich heißt es in dem Antrag:<br />
„Es gibt viele wichtige und richtige<br />
Gründe, die Brückenteilzeit einzuführen –<br />
sei es die Pflege von Angehörigen, die Betreuung<br />
von Kindern, Studium und Ausbildung<br />
oder die Verwirklichung anderer<br />
Pläne. [...] Mit Bedauern stellen wir fest,<br />
dass die Männer der Union wieder vor den<br />
Lobbyisten der Wirtschaft einknicken.“<br />
Alle Anträge im Wortlaut und Voten unter:<br />
https://parteitag.spd-berlin.de<br />
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27
Text Raed Saleh & Bettina König<br />
Fotos SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus<br />
Vorreiter für gute Arbeit<br />
Der kleine Passus in einem Arbeitsvertrag,<br />
ob die eigene Stelle befristet oder<br />
unbefristet ist, macht einen großen<br />
Unterschied für das persönliche Leben:<br />
Er hat zum Beispiel Einfluss darauf, ob<br />
man den Zuschlag für die neue Wohnung<br />
bekommt, und ob und wann man eine<br />
Familie gründet – kurz auf die gesamte<br />
Planbarkeit des eigenen Lebens. Wir in<br />
der SPD-Fraktion fordern daher die Abschaffung<br />
sachgrundloser Befristungen.<br />
Dazu haben wir Ende 2017 einen Parlamentsbeschluss<br />
gefasst, in dem wir<br />
den Verzicht auf Befristungen ohne<br />
sachlichen Grund in allen Landes- und<br />
Tochterunternehmen fordern. Damit<br />
sind wir abermals Vorreiter für gute<br />
Arbeit – genauso wie seinerzeit beim<br />
Mindestlohn.<br />
zukünftig den nötigen Nachwuchs zu<br />
gewinnen. Gute Arbeitsbedingungen<br />
sind keine Almosen, sondern sowohl<br />
personalpolitische Notwendigkeit als<br />
auch unsere Schuldigkeit gegenüber den<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.<br />
Leider ist diese Erkenntnis noch nicht<br />
überall gereift. Gerade von den Tochterunternehmen<br />
hören wir, dass dort bislang<br />
kaum Bemühungen zur Umsetzung<br />
unseres Beschlusses erkennbar sind.<br />
Dazu sagen wir klar: Die Unternehmen<br />
haben eine Umsetzungspflicht! Sollten<br />
sie dieser nicht bald nachkommen, werden<br />
wir parlamentarisch nachjustieren.<br />
Denn Berlin braucht sichere, gute und<br />
verlässliche Arbeitsplätze.<br />
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Die Rückkehr zu unbefristeten Arbeitsplätzen<br />
ist für uns eine Herzensangelegenheit.<br />
Denn Berlin soll eine sozial<br />
gerechte Stadt für alle sein. Wir haben<br />
aber auch eine moralische Verpflichtung.<br />
Denn die Ausgründungen von<br />
Tochterunternehmen mit ihren schlechteren<br />
Arbeitsbedingungen haben wir<br />
damals mit der katastrophalen Haushaltslage<br />
Berlins begründet. Wenn wir<br />
heute ein stabiles Haushaltsplus aufweisen,<br />
sind wir in der Pflicht, diese Schritte<br />
zurückzunehmen. Zudem brauchen wir<br />
konkurrenzfähige Arbeitsplätze, um<br />
Raed Saleh ist seit 2011 Vorsitzender der SPD-<br />
Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die Reinickendorferin<br />
Bettina König ist seit 2016 Mitglied des<br />
<strong>Berliner</strong> Landesparlament und in der Fraktion<br />
Sprecherin für Aus- und Weiterbildung.<br />
28 BERLINER STIMME
Text Alexander Kulpok<br />
Foto ullstein bild E&O / Privat<br />
Als alles<br />
aus der Luft kam<br />
Mutter hatte sich alle Mühe gegeben,<br />
aber die Trockenkartoffeln<br />
schmeckten scheußlich. Damals,<br />
im Blockadewinter 1948/49, war<br />
es schmackhafter, den Kartoffelbrei POM zusammen mit einem kunstvoll<br />
gefertigten Omelett aus Eipulver und Trockenmilch auf dem Teller<br />
zu haben.<br />
OBEN<br />
Berlins Bevölkerung beobachtet<br />
die Landung eines Luftbrückenflugzeugs<br />
auf dem Flughafen Tempelhof.<br />
Aufgenommen am 15. August 1948.<br />
Fast alles Essbare kam getrocknet via Luftbrücke in die von den Sowjets<br />
abgeriegelten Westsektoren von Berlin: die Mohrrüben, der Fisch,<br />
die Pflaumen, selbst der Brennspiritus – dazu der Zichorienkaffee, die<br />
Bücher und die zweihundert Tonnen Papier pro Woche für den Druck<br />
der zehn West-<strong>Berliner</strong> Tageszeitungen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Nachdem sich inzwischen herausgestellt<br />
hat, dass der vielgerühmte Marshall-<br />
Plan, der angeblich mit US-Hilfe das<br />
westdeutsche Wirtschaftswunder bewirkt<br />
hat, lediglich ein PR-Projekt war<br />
(die ARD hat dazu am 16. April im Ersten<br />
Programm zu später Stunde eine aufschlussreiche<br />
Dokumentation von<br />
Katarina Schlichting gesendet), wiegt<br />
das Unternehmen „Airlift“ - die vom<br />
US-General Lucius D. Clay verantwortete<br />
Luftbrücke – als amerikanische Hilfeleistung<br />
umso schwerer. Mit ihr begann<br />
in Berlin eine kaum zu erschütternde<br />
deutsch-amerikanische Freundschaft,<br />
die erst mit dem Vietnam-Krieg und der<br />
68-er Bewegung Risse bekam.<br />
Statistiker haben für die Zeit vom Beginn<br />
der Luftbrücke am 26.Juni 1948 bis zum<br />
Ende der Blockade am 12. Mai 1949 beachtliche<br />
Zahlenkolonnen zusammengestellt:<br />
Knapp zweieinhalb Millionen<br />
Tonnen Versorgungsgüter wurden mit<br />
fast 300 000 Flügen nach Berlin transportiert.<br />
Zwei Drittel der Flüge gingen<br />
auf das Konto der Amerikaner, ein<br />
Drittel übernahmen die Briten. Etwa<br />
175 Millionen Flugkilometer haben die<br />
„Rosinenbomber“ der Alliierten dabei<br />
zurückgelegt. Das soll einer Entfernung<br />
entsprechen, die zweihundertmal von<br />
der Erde bis zum Mond reicht. Aus Dankbarkeit<br />
haben ihnen die <strong>Berliner</strong> dafür<br />
vor dem inzwischen stillgelegten Flughafen<br />
Tempelhof ein Denkmal gesetzt,<br />
dem der Volksmund den respektlosen<br />
Namen „Hungerkralle“ gab.<br />
Der Hunger war in den Tagen von<br />
Blockade und Luftbrücke in West-Berlin<br />
ein weit verbreitetes Gefühl. In den Vorgärten<br />
und auf den Balkonen wurde<br />
Gemüse angebaut, und das Gelände<br />
rund um die Siegessäule im <strong>Berliner</strong><br />
Tiergarten verwandelte sich zum weiten<br />
Ackerland mit ertragreicher Kartoffelernte.<br />
Unsere Nachbarin, die zeitlebens<br />
Russen und Kommunisten verfluchte,<br />
kannte zwar weder Brecht noch seine<br />
„Dreigroschenoper“, verfuhr aber dennoch<br />
nach der Maxime „Erst kommt das<br />
Fressen, dann kommt die Moral“. Sie<br />
gehörte zu jenen 20.000 unter den zweieinhalb<br />
Millionen West-<strong>Berliner</strong>n, die<br />
von dem Ost-Angebot Gebrauch machten,<br />
die Lebensmittelkarten des Sowjetsektors<br />
in Anspruch zu nehmen. Und<br />
selbst der spätere US-Außenminister<br />
John Foster Dulles zweifelte angeblich<br />
bei seinem Berlin-Besuch im Oktober<br />
1948 daran, dass die West-<strong>Berliner</strong> Bevölkerung<br />
durchhalten würde. Es heißt,<br />
der SPD-Oberbürgermeister Ernst Reuter<br />
habe den amerikanischen Gast und auch<br />
General Clay beruhigen können. Reuter<br />
wusste offenbar, was er seinen Bürgern<br />
„Das Brummen der Flugzeugmotoren<br />
war die Begleitmusik an<br />
den Tagen und in den Nächten.“<br />
in dieser heißen Phase des Kalten Krieges<br />
zumuten konnte: „Ihr Völker der<br />
Welt, schaut auf diese Stadt !“<br />
Hilfslieferungen kamen aus vielen Staaten<br />
und aus „Westdeutschland“, wie<br />
die Westberliner seit den Blockadetagen<br />
die damals im Entstehen begriffene<br />
Bundesrepublik zwischen Rhein und<br />
Elbe nannten. Die Währungsreform in<br />
den Westzonen und die Absicht der drei<br />
Westmächte zur Gründung der Bundesrepublik<br />
Deutschland hatten ja die Sper-<br />
30 BERLINER STIMME
OBEN<br />
Alexander Kulpok ist Sozialdemokrat seit 1963,<br />
war u. a. Dozent am Publizistischen Institut der FU,<br />
Redenschreiber für Willy Brandt, Leiter des <strong>Berliner</strong><br />
Büros von ARD-aktuell und ist aktuell Geschäftsführer<br />
von „Culture & Politics“.<br />
rung der Land- und Wasserwege von<br />
und nach Berlin-West durch die Sowjets<br />
zur Folge gehabt. Und als in Washington,<br />
London und Paris schon daran gedacht<br />
wurde, die drei Westsektoren den Sowjets<br />
zu überlassen, organisierte General<br />
Lucius D. Clay – nicht zuletzt auf Drängen<br />
von Ernst Reuter – im Juni 1948<br />
die Operation Airlift. Aus Dankbarkeit<br />
wurde im damaligen amerikanischen<br />
Sektor von Berlin eine Straße – die Clayallee<br />
– nach ihm benannt, an der Präsident<br />
Kennedy genau 15 Jahre später bei<br />
seinem Berlin-Besuch im Juni 1963 eine<br />
mitreißende Rede an die in der Stadt<br />
stationierten US-Streitkräfte hielt.<br />
Das Brummen der Flugzeugmotoren<br />
war die Begleitmusik an den Tagen und<br />
in den Nächten der Blockadezeit. Die<br />
Kinder liefen zum Tempelhofer Feld,<br />
denn ein US-Pilot namens Halvorsen<br />
hatte neben der Operation Airlift seine<br />
Operation Little Vittles gestartet. Er bastelte<br />
kleine Fallschirme, hängte Schokolade<br />
und Süßigkeiten dran und warf sie<br />
beim Landeanflug über Neukölln und<br />
Tempelhof ab. So wurde Halvorsen zum<br />
bis heute geehrten „Schokoladenflieger“.<br />
Drunten am Boden plagten sich die<br />
Menschen mit den Stromsperren, denn<br />
Elektrizität gab es oft nur für zwei Stunden<br />
am Tag – und zumeist in der Nacht.<br />
Dann bügelten die Hausfrauen oder nahmen<br />
den heißbegehrten Termin beim<br />
Frisör wahr. Bei Kerzenlicht, Karbid- oder<br />
Petroleumlampe lasen wir „Robinson<br />
Crusoe“ oder „Onkel Toms Hütte“ und<br />
bekamen erste Eindrücke von dem Freiheitsgedanken,<br />
den uns die Amerikaner<br />
im Zuge ihrer Re-Education vermitteln<br />
wollten – mit jener eigentümlichen religiösen<br />
Dynamik, die ständig sich selbst<br />
und andere bessern, verbessern will. „Ich<br />
glaube an die Würde und die Unantastbarkeit<br />
jedes einzelnen Menschen.“ Für<br />
uns war das Saint Petersburg von Tom<br />
Sawyer und Huckleberry Finn im amerikanischen<br />
Sektor Berlins, mit Schlagball<br />
und Kaugummi, mit der Schulspeisung<br />
von den Quäkern und dem ersten Wildwestfilm<br />
(der den martialischen Titel<br />
„Die Frau gehört mir!“ trug), mit AFN,<br />
dem RIAS (jede Woche lehrte uns da ein<br />
Kommentator namens Alfred Boerner,<br />
was Demokratie bedeutet) und der<br />
„<strong>Stimme</strong> Amerikas“, mit Jazz und Swing,<br />
George Gershwin und Glenn Miller,<br />
White Christmas und Ol` Man River.<br />
Als die Lautsprecherwagen des RIAS<br />
bei ihren pausenlosen Einsätzen zur<br />
Nachrichtenvermittlung auf den Straßen<br />
der Stadt das Ende der Blockade für<br />
den 12. Mai 1949, Null Uhr, ankündigten,<br />
hatte Westberlin seinen Ruf als „Bollwerk<br />
der Freiheit“ erworben. Im gleichen<br />
Monat wurde die Bundesrepublik<br />
Deutschland mit der vorübergehenden<br />
Hauptstadt Bonn gegründet. Und als<br />
im Oktober 1949 das letzte Flugzeug der<br />
Operation Airlift ausrollte, marschierte<br />
ein Fackelzug der FDJ durch Ostberlin,<br />
um die Gründung der DDR zu feiern.<br />
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31
Text Klaus Wowereit<br />
Fotos Ulrich Horb<br />
„Ich bin schwul, und<br />
das ist auch gut so.“<br />
Mehr als 13 Jahre lang – von 2001 bis 2014 – lenkte Klaus Wowereit<br />
die Geschicke der Hauptstadt. Vor kurzem erschien sein zweites Buch<br />
„Sexy, aber nicht mehr so arm: mein Berlin“. Ein Buchauszug.<br />
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632 BERLINER STIMME
Am Donnerstag, den 7. Juni 2001,<br />
kamen SPD-Landesvorstand und Fraktion<br />
hinter verschlossenen Türen zusammen.<br />
Für den 10. Juni wurde ein<br />
außerordentlicher Landesparteitag der<br />
SPD angesetzt. Für mich denn doch<br />
überraschend kurz und schmerzlos<br />
verlief sodann die Debatte, dass ich<br />
gegen Eberhard Diepgen antreten solle.<br />
Für Samstag, den 16. Juni würden wir<br />
jene Sondersitzung des Abgeordnetenhauses<br />
beantragen, in der Eberhard<br />
Diepgen durch ein konstruktives Misstrauensvotum<br />
abgewählt und ich mit<br />
den <strong>Stimme</strong>n von Grünen und PDS zum<br />
neuen Regierenden Bürgermeister von<br />
Berlin gewählt werden sollte.<br />
LINKS<br />
Klaus Wowereit Anfang September 2001<br />
im Wahlkampf der Aufnahme von ersten<br />
Sendung von „Radio Wowereit“ – ein Internetstream<br />
mit einer Livesendung des Spitzenkandidaten.<br />
Ziel danach: die Bildung eines rot-grünen<br />
Minderheitssenates, den die PDS tolerieren<br />
würde. Allerdings habe ich von Anfang<br />
an klargemacht, dass ich für diesen<br />
politischen Kurswechsel ein möglichst<br />
baldiges Wählervotum will. Die Legislaturperiode<br />
hätte regulär noch bis September/Oktober<br />
2004 gedauert.<br />
Doch drei Jahre Tolerierung eines Minderheitssenates,<br />
das war keine Option<br />
für mich, keine Option für die SPD und<br />
auch keine Option für die Stadt. Dementsprechend<br />
beschlossen wir, für den<br />
kommenden September eine Selbstauflösung<br />
des Parlaments und Neuwahlen<br />
anzustreben.<br />
Wer mich damals persönlich etwas besser<br />
kannte, wusste selbstverständlich,<br />
dass ich schwul und seit 1993 mit meinem<br />
Partner Jörn Kubicki zusammen<br />
bin. Auch den meisten <strong>Berliner</strong> Journalisten<br />
war das bekannt. Ich selbst hatte<br />
bis dato weder Interesse daran noch<br />
hielt ich es für angebracht, mein Privatleben<br />
in die Öffentlichkeit zu tragen.<br />
Anders gesagt: Ich fand und finde es<br />
klasse, dass es Menschen gibt, die sich<br />
öffentlich für die Rechte von Schwulen<br />
und Lesben engagieren. Doch ich selbst<br />
habe mich nie als so ein Interessenvertreter<br />
gesehen. Ich bin als Klaus schwul,<br />
nicht als Politiker. In der Politik selbst,<br />
aber auch für die Presse galt damals<br />
zudem noch die Grundregel, dass alles<br />
Private, so es nicht in irgendeinem Sinne<br />
justiziabel war, eben privat bleibt. Und<br />
schließlich hatte sich bislang auch kein<br />
deutscher Politiker öffentlich zu seiner<br />
Homosexualität bekannt.<br />
Ich habe dann an besagtem Donnerstag<br />
gespürt: Wenn deine Partei dich für das<br />
Amt des Regierenden Bürgermeisters<br />
nominiert, dann sollten alle wissen, dass<br />
es in deinem Privatleben einen Punkt<br />
gibt, der einen seinerzeit in der Öffentlichkeit<br />
noch hätte angreifbar machen<br />
können.<br />
Zeit, mein Outing und dessen Formulierung<br />
strategisch zu planen, war nicht.<br />
Also habe ich einfach vor Fraktion und<br />
Landesvorstand gesagt, dass ich schwul<br />
bin. Ich weiß gar nicht mehr genau, welche<br />
Formulierung ich in der Situation<br />
gewählt habe, jedenfalls nicht das berühmte<br />
„Ich bin schwul, und das ist auch<br />
gut so“. Eher war es was mit „übrigens“.<br />
Für gefühlte zehn Sekunden hätte man<br />
im Saal die sprichwörtliche Stecknadel<br />
fallen hören können. Doch dann bran-<br />
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dete sofort Beifall auf – und ich<br />
wurde einstimmig als Kandidat<br />
der SPD für das Amt des Regierenden<br />
Bürgermeisters nominiert.<br />
Gleichwohl wurde intern natürlich<br />
diskutiert, ob ich das jetzt auch beim<br />
Parteitag am folgenden Sonntag sagen<br />
solle. Die meisten in der SPD-Spitze<br />
rieten mir ab. Die Befürchtung war<br />
schlicht, dass die <strong>Berliner</strong> Boulevardpresse<br />
bis zur Wahl pausenlos die Messer<br />
wetzen würde. Irgendwas mit<br />
„Schwuler koaliert mit Ex-Kommunisten“<br />
oder so. Leute, die diese Botschaft<br />
rhetorisch geschickt verpacken konnten,<br />
gab es ja.<br />
Am Ende rollte der Zug aus einem ganz<br />
anderen Bahnhof. Die „Schwusos“ in der<br />
SPD sind noch am selben Abend in die<br />
Szene gegangen. Dort haben sie stolz<br />
verkündet: „Hey Leute, unser Neuer ist<br />
schwul, und er hat das auch gesagt!“<br />
Am Freitag ging die Meldung dann über<br />
den Blog queer.de. Und am Samstag<br />
stand es in der Frankfurter Rundschau.<br />
Sonntag früh riefen dann die Journalisten<br />
an. Einer unserer Pressesprecher<br />
meinte besorgt, die Springerpresse wolle<br />
auf das Thema einsteigen. Damit stand<br />
mein Entschluss fest: Ich sage öffentlich<br />
auf dem Parteitag, dass ich schwul bin.<br />
Mit dem Thema werden sie dich nicht<br />
kriegen! Denn das ist schon lange nichts<br />
mehr, mit dem man sich verstecken<br />
muss.<br />
Das war ein ganz persönlicher Entschluss.<br />
Und von dem hätte mich auch<br />
keiner mehr abgebracht. Allerdings<br />
stand da nichts Entsprechendes im<br />
„Ich sage öffentlich auf dem<br />
Parteitag, dass ich schwul bin.<br />
Mit dem Thema werden sie dich nicht<br />
kriegen! Denn das ist schon lange<br />
nichts mehr, mit dem man sich<br />
verstecken muss.“<br />
Manuskript meiner Rede. Ich hatte mir<br />
nicht mal einen formulierten Satz überlegt.<br />
Ebenso gut hätte ich sagen können:<br />
„Ja, ich bin schwul, und dafür muss ich<br />
mich nicht rechtfertigen.“ Am Ende kam<br />
dabei spontan das berühmte Statement<br />
raus. Viele haben sich nachher an dem<br />
„auch“ hochgezogen, einem typischen<br />
Füllwort. Ich hätte da die Heterosexuellen<br />
ausgrenzen oder die Schwulen privilegieren<br />
wollen. Und was da nicht noch<br />
alles für Quatsch hineininterpretiert<br />
wurde. Auf einem unserer damaligen<br />
Wahlplakate („Berlin. SPD ... und das ist<br />
gut so.“) ist das „auch“ nicht mal angekommen.<br />
Heute gibt’s vom Poster übers<br />
T-Shirt bis zum Kaffeebecher alles. Der<br />
Spruch ist mit Dutzenden anderer Themen<br />
kombiniert worden. Sogar militante<br />
Heterosexuelle haben mich schon beklaut.<br />
Seit ich diesen Satz gesagt habe,<br />
ist das Thema in der Öffentlichkeit jedenfalls<br />
durch. Gut so.<br />
Eine völlig unbeabsichtigte Nebenfolge<br />
meines Bekenntnisses war übrigens<br />
die internationale Bekanntheit, die es<br />
mir quasi über Nacht eintrug. Normalerweise<br />
ist es ja eher so, dass bei Auslandsbesuchen<br />
des Regierenden Bürgermeisters<br />
von Berlin anfangs nur die Leute<br />
vom Protokoll dessen Namen kennen –<br />
und den dann auch öfter mal den Gastgebern<br />
zuraunen müssen. Ich war<br />
immer sofort für alle »Mr. Wowereit«.<br />
34 BERLINER STIMME
OBEN<br />
Klaus Wowereit las bei der Vorstellung seines Buches Anfang Mai in Berlin<br />
vor 200 Gästen einige Passagen selbst vor.<br />
Und ich habe nie auch nur im Ansatz<br />
so etwas wie Schwulenfeindlichkeit<br />
gespürt. Sicher, Politiker auf der ganzen<br />
Welt werden da einschlägig gebrieft.<br />
Und sie sind professionell genug, um zu<br />
wissen, dass die sexuelle Orientierung<br />
zumindest im Westen Privatsache ist –<br />
kein Thema für freundliche, launige oder<br />
offen ablehnende Reaktionen.<br />
Doch ich habe auch bei Begegnungen,<br />
wo man das nicht unbedingt erwarten<br />
würde, große Herzlichkeit gespürt. Es ist<br />
ja kein Geheimnis, dass Homosexualität<br />
für viele Menschen in Afrika oder im<br />
arabischen Raum noch so was wie<br />
Satanswerk ist. Trotzdem war das bei<br />
Empfängen für Botschafter oder Minister<br />
nie ein Problem. Ich hatte den König<br />
von Saudi-Arabien als Gast zum Mittagessen<br />
im Roten Rathaus. In diesem Land<br />
müssen Schwule die Todesstrafe fürchten.<br />
Dass der König das auch als Privatmann<br />
für angebracht hält, mag schon<br />
sein. Aber ebenso selbstverständlich<br />
blendet er das aus, gibt mir freundlich<br />
die Hand und macht diplomatisches<br />
Business as usual. So wie ich es umgekehrt<br />
in meinem Amt nicht als meine<br />
Aufgabe betrachtet habe, etwa die<br />
Saudis öffentlich für die Situation der<br />
Schwulen in ihrem Staat zu kritisieren.<br />
Ich war sogar in Saudi-Arabien und<br />
wurde dort unter anderem vom Präsidenten<br />
der erzkonservativen islamischen<br />
Universität von Riad empfangen.<br />
Der ist mit mir Händchen haltend über<br />
den Campus flaniert und alle haben<br />
gegrinst.<br />
Dieser Text ist ein Auszug<br />
aus dem aktuellen Buch<br />
von Klaus Wowereit<br />
„Sexy, aber nicht mehr<br />
so arm: mein Berlin“,<br />
Mai <strong>2018</strong>, geb.,<br />
256 Seiten,<br />
ISBN-13: 978-3841905109,<br />
19,95 Euro<br />
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Beim SPD-Landesverband Berlin ist zum 1. August <strong>2018</strong> eine Stelle als<br />
Sachbearbeiter*in<br />
im Kreisbüro Mitte der <strong>Berliner</strong> SPD zu besetzen.<br />
Die Stelle ist unbefristet. Die Wochenarbeitszeit beträgt 23,19 Stunden, die Vergütung erfolgt in Anlehnung an die<br />
Gruppe V (Stufe 1) der Gehaltstabelle des SPD-Landesverbandes Berlin. Die Probezeit beträgt sechs Monate.<br />
Der Tätigkeitsbereich umfasst die eigenverantwortliche Büroorganisation, die Zusammenarbeit mit Parteigremien<br />
und ehrenamtlichen Verantwortungsträger*innen vor Ort sowie die Mitarbeit bei der organisatorischen Vorbereitung<br />
und Durchführung von Veranstaltungen und sonstigen Aktivitäten sowie allgemeine Kommunikationsaufgaben.<br />
Erwartet werden:<br />
• abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium,<br />
• einschlägige berufliche Erfahrungen durch vorherige Tätigkeiten,<br />
• umfangreiche PC-Kenntnisse (MS-Office, Internet, CMS),<br />
• Interesse an der politischen Arbeit sowie Erfahrungen in der Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit der SPD<br />
oder vergleichbares ehrenamtliches Engagement,<br />
• Serviceorientierung, Teamfähigkeit und gute Allgemeinbildung sowie sicheres Auftreten und<br />
selbstständige Arbeitsorganisation.<br />
Kenntnisse der politischen Landschaft und ihrer Meinungsbildungsprozesse sowie zur Kreispolitik in Berlin-Mitte sind<br />
erwünscht. Eine Mitgliedschaft im Kreisvorstand Mitte der <strong>Berliner</strong> SPD ist mit dieser Stelle nicht vereinbar.<br />
Bewerbungen von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, die die Voraussetzungen der Stellenausschreibung<br />
erfüllen, sind ausdrücklich erwünscht.<br />
Bei gleicher Eignung und Befähigung werden Bewerbungen von Schwerbehinderten bevorzugt berücksichtigt.<br />
Interessent*innen richten ihre vollständige Bewerbung bitte bis zum 10. Juli <strong>2018</strong> an: vorstand.berlin@spd.de<br />
SPD-Landesverband Berlin, Landesgeschäftsführerin Anett Seltz, Müllerstraße 163, 13353 Berlin<br />
ALLE AUSGABEN DER BERLINER STIMME,<br />
DIE ERSCHEINUNGSTERMINE UND DIE<br />
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www.spd.berlin/aktuell/publikationen<br />
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