journal - Tumorzentrum Erfurt eV
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che absank, parallel auch die Geburtenziffer dramatisch<br />
zurückging. Nur mit einem korrekt durchgeführten medizinischen<br />
Experiment können statistische Fehler ausgeschlossen<br />
werden. Experimentelle Therapien teilt man<br />
heute in verschiedene Kategorien ein, es gibt Heilversuche,<br />
Phase I-Studien, Phase II-Studien usw. Eine experimentelle<br />
Therapie „einfach so“ hin hingegen ist nach der<br />
ärztlichen Ethik nicht zulässig.<br />
Schon im neunzehnten Jahrhundert, beginnend mit dem<br />
Physiologen Claude Bernard, machten sich die Ärzte Gedanken<br />
über ethische Regeln, die für experimentelle Medizin<br />
bindend sein sollten; es gab bereits in der Weimarer<br />
Republik die sogenannten Reichsrichtlinien zur Forschung<br />
am Menschen von 1931. Dann aber, nachdem die Katastrophe<br />
des Nationalsozialismus die Notwendigkeit ethischer<br />
Normen gerade auch für Ärzte überaus deutlich gezeigt<br />
hatte, wurde, im Anschluss an die Nürnberger Ärzteprozesse,<br />
der „Nürnberger Kodex“ formuliert, der die<br />
Grundlage war für das Genfer Ärztegelöbnis von 1948,<br />
aus dem wiederum die Deklaration von Helsinki hervorging.<br />
Diese – mit vielfachen Modifikationen über die Jahrzehnte<br />
hin weiterentwickelt, zuletzt in Seoul 2008, hat bis<br />
heute absolute Gültigkeit für alle Ärzte, die experimentelle<br />
Therapien durchführen und vor der Gemeinschaft der<br />
Kollegen ihrer Zunft vertreten wollen. Ein paar Zitate aus<br />
den über 30 Artikeln der Deklaration seien zitiert. So heißt<br />
es: „Überlegungen, die das Wohlergehen der Versuchsperson<br />
... betreffen, (haben) Vorrang vor den Interessen<br />
der Wissenschaft und der Gesellschaft...“ Es wurden außerdem<br />
Ethikkommissionen bindend für den Prozess der<br />
Initiierung einer Studie vorgeschrieben. Weiter heißt es<br />
„...Die Verantwortung für die Versuchsperson trägt stets<br />
eine medizinisch qualifizierte Person und nie die Versuchsperson<br />
selbst, auch dann nicht, wenn sie ihr Einverständnis<br />
gegeben hat." Schließlich wird auch eine Verpflichtung<br />
formuliert, Forschungsergebnisse offenzulegen – damit<br />
medizinische Experimente nicht im Verborgenen erfolgen<br />
und auch zukünftige Patienten vor Therapieversuchen bewahrt<br />
werden, welche sich einmal als unwirksam herausgestellt<br />
haben.<br />
Vergessen wir nicht: Jeder Eingriff in die körperliche Integrität<br />
eines Menschen – und damit auch jede ärztliche<br />
Maßnahme – gilt nach deutschem Recht als Körperverletzung,<br />
wenn sie nicht durch Einverständnis oder Notlage<br />
gerechtfertigt ist und außerdem, wie es heißt, nicht gegen<br />
die guten Sitten verstößt.<br />
Fassen wir zusammen: Ohne experimentelle Therapien ist<br />
medizinischer Fortschritt überhaupt nicht möglich. Und<br />
für die Therapieversuche an Patienten, für die es keine<br />
konventionelle Heilungsmöglichkeit mehr gibt, gilt: Die allermeisten<br />
Patienten, die einem Heilversuch unterzogen<br />
werden, werden sterben.<br />
Dies führt, so meine ich, zu einer Art von Bewusstseinsspaltung<br />
bei den Ärzten: zwischen dem rein ärztlichen<br />
Standpunkt einerseits, und dem des Wissenschaftlers auf<br />
der anderen Seite.<br />
Der Arzt sagt: Ich betreue einen unheilbar Kranken - und<br />
suche verzweifelt nach einer Therapie. Der Wissenschaftler:<br />
Ich habe eine Studie - und suche nach Patienten, die<br />
die Ein-gangskriterien erfüllen.<br />
Der Arzt: Patienten, die auf konventionelle Weise nicht geheilt<br />
werden können, sind mehr als alle anderen existen-<br />
ziell abhängig von den Medizinern. Es ist auch ein Kunstfehler,<br />
ruhiges, würdiges Sterben in gequältes, unwürdiges<br />
Sterben umzuwandeln. Und - insgeheim glaube ich<br />
immer noch an ein Wunder.<br />
Der Wissenschaftler: Patienten, die auf konventionelle<br />
Weise nicht geheilt werden können, sind das Betätigungsfeld<br />
par excellance für Mediziner mit neuen Ideen! Die<br />
Kranken sind ohnehin todgeweiht - ich kann ihnen gar<br />
nicht mehr schaden; nur nützen. Es gibt keine Wunder. Allerdings<br />
glaube ich an meine wunderbare Theorie.<br />
Der Arzt: Angesichts der irrsinnigen Verantwortung - Entscheiden<br />
über Weitermachen oder Aufgeben - finde ich<br />
letztlich Halt nur in den klaren Zahlen der Naturwissenschaft.<br />
Insgeheim fühle ich mich immer schuldig - wenn<br />
der Patient stirbt, wenn er leidet, oder wenn er von der<br />
Therapie abspringt. Ständig frage ich mich, ob ich die Therapie<br />
nicht ändern muss, damit es dem Patienten besser<br />
geht.<br />
Der Naturwissenschaftler: Die oft jahrelange Erfolglosigkeit<br />
des Forschens kann ich nur ertragen, wenn ich mir<br />
vorstelle, dass ich doch Menschenleben retten werde. Insgeheim<br />
ärgere ich mich, wenn der Patient die Theorie ungültig<br />
macht. Ständig muss ich die Studie vor kurzsichtigen<br />
Modifikationswünschen retten - die nur dazu führen<br />
würden, dass ich keine vergleichbaren Kollektive habe.<br />
Der Arzt sagt: Ich stehe bedingungslos auf der Seite des<br />
Patienten.<br />
Der Wissenschaftler sagt: Ich stehe bedingungslos auf<br />
dem Boden der Tatsachen.<br />
Was heißt das?<br />
Wenn ein terminal kranker Patient bereit ist, sich für einen<br />
Therapieversuch zur Verfügung zu stellen, dann ist dies<br />
ein wertvolles „Gut“, mit dem man aber äußerst verantwortungsvoll<br />
umzugehen hat.<br />
Wenn man dabei Erkenntnisse gewinnen kann, mit denen<br />
man anderen helfen kann, dann sollte man dies unbedingt<br />
tun!<br />
Die Kranken müssen geschützt werden vor Medizinern,<br />
die ohne persönliche Verantwortung nur experimentieren,<br />
wie vor solchen, die eine unscharfe Erfahrungsmedizin<br />
als korrekte Wissenschaft darstellen wollen.<br />
Gute Naturwissenschaft und ethisch verantwortungsvolle<br />
Medizin bedingen einander letzten Endes.<br />
Wenn der Arzt tatsächlich so eine Zwitterrolle spielt - ist<br />
es richtig, ihn mit dieser Rolle allein zu lassen? Wäre es<br />
nicht besser, ihm die eine oder die andere Rolle abzunehmen?<br />
Von der Justiz wissen wir doch, dass gerade dann<br />
gerechte Urteile herauskommen, wenn Staatsanwalt und<br />
Verteidiger zwei verschiedene Leute sind. Wie wäre es,<br />
wenn einer, der nur den ärztlichen Standpunkt einnimmt,<br />
und ein anderer, der den Standpunkt des Wissenschaftlers<br />
vertritt, die Behandlung der Patienten untereinander aushandeln<br />
würden?<br />
Nun - ich persönlich glaube nicht, dass eine Arbeitsteilung<br />
zu besseren Ergebnissen führen würde. Es geht nicht darum,<br />
dass hier das Interesse des Patienten ist und dort das<br />
der Forschung. Es wäre ein gefährlicher Holzweg, wenn<br />
wir eine Art von Ärzten erfinden wollten, deren Aufgabe<br />
es wäre, auf Seiten der Forschung statt auf seiten der Patienten<br />
zu stehen, solche Ärzte wären an sich gar keine<br />
Ärzte. Die Forschung muss immer auch auf Seiten des Patienten<br />
stehen. Und ebenso unsinnig wäre es, Ärzte zu er-<br />
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