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Berliner Stimme Nr. 6 2018

Berliner Stimme 6-2018 mit dem Titelthema Bildung

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Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 6 · <strong>2018</strong> | 68. Jahrgang<br />

TITELTHEMA<br />

BILDUNG<br />

ÜBERBLICK<br />

Neues Miteinander –<br />

Berlin baut Bildung<br />

REPORTAGE<br />

Aus dem Alltag einer<br />

Grundschul-Rektorin<br />

MEINUNG<br />

Peter Strieder:<br />

Verantwortung für Berlin


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2 BERLINER STIMME


Text Michael Müller<br />

Foto Senatskanzlei Berlin<br />

Unsere Schulen sind<br />

ein Ort der Freiheit<br />

Unsere Schulen sind nicht nur ein<br />

Ort des Lernens, sie sind auch Orte des<br />

Austauschs, des Miteinanders und der<br />

Integration. Kinder aus ganz unterschiedlichen<br />

Nationalitäten lernen hier<br />

gemeinsam. Ohne Toleranz und ein<br />

solidarisches Miteinander im Schulalltag<br />

ist dies nicht möglich. Hetze und Ausgrenzung<br />

haben auf dem Schulhof nichts<br />

verloren. Unsere <strong>Berliner</strong> Schulen sind<br />

ein Ort der Freiheit.<br />

Berlin wird gerade von Familien sehr<br />

geschätzt. Mehr als 40.000 Geburten im<br />

Jahr und ein stetiger Zuzug zeigen, dass<br />

Berlin die Stadt der Kinder ist – darauf<br />

sind wir stolz. In einem neuen Miteinander<br />

von Senat und Bezirken sorgen wir<br />

dafür, dass Schulen gebaut und saniert<br />

werden.<br />

Gleichzeitig haben wir die Ausbildungskapazitäten<br />

für Lehramtsstudierende verdoppelt<br />

und sind bundesweit Vorreiter<br />

in Bezug auf die gleiche Bezahlung von<br />

Grundschullehrkräften und ihren Kolleginnen<br />

und Kollegen an den weiterführenden<br />

Schulen. Wir setzen damit ein<br />

klares Zeichen, denn unsere Lehrerinnen<br />

und Lehrer leisten jeden Tag Enormes,<br />

um unsere Kinder bestmöglich auf ihren<br />

Lebensweg vorzubereiten.<br />

Ich wünsche euch viel Vergnügen bei<br />

der Lektüre der <strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong> mit dem<br />

Schwerpunkt Bildung.<br />

Herzlich<br />

Euer<br />

Um dies zu bewerkstelligen, investieren<br />

wir bis 2026 mehr als 5,5 Milliarden Euro<br />

für die <strong>Berliner</strong> Schulen. Sichtbar wird<br />

diese einzigartige Bauoffensive schon<br />

nach den Sommerferien. Dann ist<br />

in Mahlsdorf Baubeginn für die erste<br />

Schnellbau-Schule, die komplett aus<br />

dem Milliardenpaket finanziert wird.<br />

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BERLINER STIMME<br />

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TITELTHEMA<br />

Bildung<br />

02 EDITORIAL<br />

Unsere Schulen sind<br />

ein Ort der Freiheit<br />

Text Michael Müller<br />

Foto Senatskanzlei Berlin<br />

06 GASTBEITRAG<br />

Berlin baut Bildung<br />

Text Matthias Kollatz-Ahnen<br />

& Martin Hikel<br />

Fotos Christina Bauermeister & SenBJF<br />

& SPD Berlin/Joachim Gern<br />

09 INTERVIEW MIT MAJA LASIĆ<br />

„Wir brauchen eine gerechte<br />

Verteilung der Lehrkräfte“<br />

Fragen Birte Huizing<br />

Fotos SPD-Fraktion im AGH & Privat<br />

12 REPORTAGE<br />

70 Prozent NdH – 70 Prozent Lmb –<br />

100 Prozent Wir-Gefühl<br />

Text & Fotos<br />

Christina Bauermeister<br />

16 GASTBEITRAG<br />

Revolution im Klassenzimmer<br />

Text Stephan Noller<br />

Fotos Calliope gGmbH<br />

18 STUDIE<br />

Schluss mit der sozialen Sonderung<br />

Text Michael Wrase<br />

Foto David Ausserhofer<br />

Illustration Esther Schaarhüls<br />

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Die Schulbauoffensive ist eines der zentralen Infrastrukturprojekte<br />

Berlins. Mehr dazu auf den Seiten 6–8.<br />

Foto: Christina Bauermeister<br />

4 BERLINER STIMME


AUS DEM LANDESVERBAND<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong>n<br />

21 PANORAMA<br />

Das ABI stellt sich neu auf<br />

Text & Foto<br />

Christina Bauermeister<br />

22 GASTBEITRAG<br />

Bessere Bezahlung, mehr Personal<br />

und ein Kita-Navigator<br />

Text Sandra Scheeres<br />

Foto SenBJF · Frank Schulenberg<br />

24 MEINUNG<br />

Verantwortung für Berlin<br />

Text Peter Strieder<br />

Foto Christina Bauermeister<br />

VERMISCHTES<br />

Kultur & Geschichte<br />

28 FOTOSTRECKE: BARCAMP BERLIN<br />

Von Netzpolitik bis Kitakrise<br />

Text Elisa Gutsche<br />

Fotos Maren Strehlau Photography<br />

30 HISTORIE: 65 JAHRE WAHLGESETZ<br />

Die Geburt der Kanzlerstimme<br />

Text Holger Czitrich-Stahl<br />

Foto ullstein bild<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong><br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie<br />

Herausgeber<br />

SPD Landesverband Berlin,<br />

Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),<br />

Müllerstraße 163, 13353 Berlin,<br />

Telefon: 030.4692-222, E-Mail: spd@spd.berlin<br />

Webadresse: www.spd.berlin<br />

Redaktion<br />

Christina Bauermeister und Birte Huizing<br />

Telefon: 030.4692-150<br />

E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de<br />

Mitarbeit an dieser Ausgabe<br />

Holger Czitrich-Stahl, Elisa Gutsche, Martin Hikel,<br />

Matthias Kollatz-Ahnen, Stephan Noller,<br />

Sandra Scheeres, Peter Strieder, Michael Wrase<br />

Grafik Nico Roicke und Hans Kegel<br />

Illustration Titelseite Esther Schaarhüls<br />

Abonnement 29 Euro pro Jahr im Postvertrieb<br />

Abo-Service Telefon: 030.4692-144,<br />

Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de<br />

Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln<br />

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Text Matthias Kollatz-Ahnen & Martin Hikel<br />

Fotos Christina Bauermeister & SenBJF & SPD Berlin/Joachim Gern<br />

Berlin baut Bildung<br />

Um seine Schulen zeitgerecht in Schuss zu bringen und zu bauen,<br />

hat Hamburg den Weg der Zentralisierung beschritten.<br />

Berlin wählt einen anderen Ansatz: spezialisieren statt zentralisieren.<br />

Mit neuen Akteuren wird mehr umgesetzt.<br />

Das erfordert ein kooperatives Miteinander von Bezirken und Senat.<br />

Klein sind die Aufgaben nicht, vor denen Berlin im Bereich Schulbau<br />

steht. Rund 1,3 Milliarden Euro müssen in die Schulen gesteckt werden,<br />

damit der Sanierungsstau abgebaut werden kann. Gleichzeitig wächst<br />

die Stadt und mit ihr die Schülerzahlen. In den vergangenen fünf Jahren<br />

stieg deren Zahl um 28.000 – und es geht in dem Tempo weiter. Große<br />

Herausforderungen also, vor denen die <strong>Berliner</strong> Schulbauoffensive (BSO)<br />

steht.<br />

Vieles wurde seit Beginn der BSO 2017 bereits angepackt. Auf zehn Jahre<br />

wurden 5,5 Milliarden Euro bereitgestellt. Das Personal wurde bei den<br />

Bezirken um mehr als 320 Stellen aufgestockt. Bereits 2017 wurde mehr<br />

Geld in den Schulen verbaut als 2016. Alleine beim Bauunterhalt wurden<br />

mit rund 93 Millionen Euro 50 Prozent mehr als im Vorjahr in die Schulen<br />

gesteckt. Rund 8.000 Schulplätze wurden bereits durch Modulare Ergänzungsbauten<br />

geschaffen. Und nach den Sommerferien ist Baubeginn für<br />

die erste BSO-Schule.<br />

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Das Tempo muss jetzt weiter gesteigert werden, damit die Schulbauoffensive<br />

zum Erfolg wird. Das erfordert ein neues Miteinander von<br />

Bezirken und Senatsverwaltungen. Deswegen stellt sich Berlin neu auf.<br />

6 BERLINER STIMME


OBEN<br />

Das Hermann-Hesse-Gymnasium in Kreuzberg wird noch bis zum Frühjahr 2019<br />

für 2,2 Millionen Euro kernsaniert.<br />

Spezialisierung<br />

statt Zentralisierung<br />

Bisher haben idealtypisch die Bezirke<br />

beim Schulbau alles bewältigt. Jetzt<br />

werden die verschiedenen Aufgaben auf<br />

mehrere Schultern verteilt: Spezialisierung<br />

statt Zentralisierung ist das Zauberwort.<br />

Die Bezirke sind für den in etwa<br />

verdreifachten laufenden Bauunterhalt<br />

der Schulen zuständig. Hinzukommen<br />

Sanierungen mit max. zehn Millionen<br />

Euro Gesamtkosten und Erweiterungen<br />

von Schulbauten. Rund 2,5 der 5,5 Milliarden<br />

Euro werden damit von den Bezirken<br />

verbaut.<br />

Den Neubau und die Schulsanierungen,<br />

die mehr als zehn Millionen Euro kosten,<br />

(„Großschadenfälle“) übernehmen die<br />

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung<br />

und Wohnen sowie die Wohnungsbaugesellschaft<br />

HOWOGE. Letztere kümmert<br />

sich vor allem um weiterführende Schulen,<br />

die Grundschulen werden von der<br />

Senatsverwaltung gebaut.<br />

Außerdem hilft das Land aus, wenn die<br />

Sanierungen die Bezirke überfordern: Für<br />

Schulen mit mehr als 5,5 Millionen Euro<br />

Sanierungsbedarf kann ein Antrag auf<br />

Amtshilfe gestellt werden. Die <strong>Berliner</strong><br />

Immobilien Holding (BIM) steckt außerdem<br />

eine halbe Milliarde in die Berufsund<br />

zentralverwalteten Schulen.<br />

Wenn man sich spezialisiert anstatt zu<br />

zentralisieren, werden enge Absprachen<br />

und klare Schnittstellen wichtiger.<br />

Immerhin vier große Akteure sind im<br />

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RECHTS<br />

An der Fassade des Hermann-Hesse-<br />

Gymnasiums steht ein Gerüst<br />

für den Anbau eines Fahrstuhls<br />

Bereich Schulbau unterwegs, hinzu<br />

kommen mehrere Ämter. Damit das alles<br />

zusammenpasst, arbeiten Senat und<br />

Bezirke Hand in Hand.<br />

Gemeinsame Geschäftsstelle<br />

der <strong>Berliner</strong> Bezirke<br />

In der Taskforce Schulbau sitzen alle<br />

Beteiligten zusammen, um Abläufe glattzuziehen<br />

und akute Probleme verwaltungsübergreifend<br />

zu lösen. Die Bezirke<br />

stimmen sich untereinander in drei<br />

Regionalverbünden ab. Für die Koordinierungsaufgaben<br />

zwischen der Senatsebene<br />

und den Bezirken wurde eine<br />

Gemeinsame Geschäftsstelle der <strong>Berliner</strong><br />

Bezirke (GGSt BSO) gegründet. Diese ist<br />

in Neukölln angesiedelt.<br />

Neben den koordinierenden Tätigkeiten<br />

wird die Geschäftsstelle für Personalgewinnung,<br />

Datenmanagement, Prozessbegleitung<br />

und Öffentlichkeitsarbeit<br />

verantwortlich sein, um die Regionalverbünde<br />

von diesen Aufgaben zu entlasten<br />

und die Bezirke bei zentralen Aufgaben<br />

zu unterstützen. Diese neue Form<br />

der Zusammenarbeit ist notwendig,<br />

denn im Rahmen der <strong>Berliner</strong> Schulbauoffensive<br />

müssen die Bezirke hunderte<br />

Schulen sanieren.<br />

UNTEN<br />

Matthias Kollatz-Ahnen ist<br />

seit Dezember 2014 Finanzsenator<br />

des Landes Berlin<br />

Martin Hikel ist seit März <strong>2018</strong><br />

Bezirksbürgermeister von Neukölln<br />

Die BSO steht für ein neues Miteinander<br />

im Land Berlin. Das ist gut so, denn klar<br />

ist: Bei der Größe der Aufgabe klappt es<br />

nur, wenn mehr Kapazitäten geschaffen<br />

werden.<br />

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Mehr Infos zur Schulbauoffensive:<br />

www.berlin.de/sen/finanzen<br />

8 BERLINER STIMME


Fragen Birte Huizing<br />

Fotos SPD-Fraktion im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus & Privat<br />

„Wir brauchen eine<br />

gerechte Verteilung<br />

der Lehrkräfte“<br />

Die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion<br />

im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus Maja Lasić über ihre Erfahrungen<br />

in Brennpunktschulen und den Einsatz von Quereinsteigern<br />

LINKS<br />

Maja Lasić<br />

Liebe Maja, das neue Schuljahr steht<br />

in den Startlöchern. Aktuelle Zahlen<br />

sprechen von 400 bis 600 fehlenden<br />

Lehrkräften. Ist Berlin für das kommende<br />

Schuljahr gut aufgestellt?<br />

Ich bin natürlich nicht glücklich darüber,<br />

dass wir diese unbesetzten Stellen haben.<br />

Aber wir müssen auch über die Ursachen<br />

für diese unbesetzten Stellen sprechen.<br />

Wir haben gerade eine Pensionierungswelle,<br />

da sind wir jetzt im absoluten<br />

Peak und damit müssen wir umgehen.<br />

Gleichzeitig ist Berlin für viele Menschen<br />

eine attraktive Stadt: Sie wollen<br />

hier leben und arbeiten. Und der dritte –<br />

in der öffentlichen Debatte am wenigsten<br />

beachtete – Aspekt: Wir bauen kontinuierlich<br />

die Qualität aus. Inklusion gibt<br />

es nicht zum Nulltarif!<br />

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Trotzdem ist in der öffentlichen Debatte<br />

von einem akuten Lehrermangel<br />

die Rede. Deshalb entsteht schnell der<br />

Eindruck, dass die Politik nicht genügend<br />

dagegen unternimmt ...<br />

Wir haben in den vergangenen fünf<br />

Jahren zusätzlich 4.000 Lehrkräfte<br />

eingestellt. Dieses Jahr kommen noch<br />

einmal 2.000 Stellen zusätzlich hinzu.<br />

Das ist ein riesiger Kraftakt, der sich<br />

aber lohnt. Deswegen ist die Aussage<br />

auch falsch, dass uns Lehrkräfte für den<br />

regulären Unterricht fehlen. Durch die<br />

Puffer, die wir haben, können wir natürlich<br />

den regulären Unterricht bewältigen.<br />

Untergansszenarien sind hier wirklich<br />

nicht angebracht!<br />

Schule ist ja nicht gleich Schule. Du hast<br />

dich immer wieder für Brennpunktschulen<br />

stark gemacht. Warum?<br />

Das liegt natürlich auch an meiner persönlichen<br />

Erfahrung. Ich habe bei dem<br />

Programm Teach First in einer Brennpunktschule<br />

im Wedding gearbeitet.<br />

Jeder meiner politischen Schritte wird<br />

von meiner damaligen Erfahrung geprägt.<br />

Bei allem, was ich mache, stelle<br />

ich mir die Frage: Was macht das mit<br />

unseren Brennpunkten? Meine damalige<br />

Erfahrung verleiht mir den Kompass,<br />

um die Brennpunkte nie aus den Augen<br />

zu verlieren.<br />

Welche Schlüsse ziehst du aus dieser<br />

persönlichen Verankerung für deine<br />

politische Arbeit?<br />

Unsere sozialdemokratische Bildungspolitik<br />

hat ja immer schon einen Schwerpunkt<br />

in den Brennpunktschulen gesetzt.<br />

Eine hundertprozentige Ausstattung<br />

der Schule bedeutet in einem bürgerlichen<br />

Kiez einfach etwas anderes<br />

als in einer Brennpunktschule. Bei den<br />

einen hast du die Stunden plus Vertretung<br />

abgedeckt, in den Brennpunktschulen<br />

musst du mit ca. 160 Prozent des<br />

Personals rechnen, um auf das Niveau<br />

einer bürgerlichen Schule zu kommen.<br />

Dass gerade an den Brennpunktschulen<br />

die Stellen fehlen, darf nicht passieren.<br />

Welche Maßnahmen brauchen wir,<br />

damit gerade im Brennpunkt der Unterricht<br />

gesichert ist?<br />

Wir brauchen eine gerechte Verteilung<br />

der Lehrkräfte über die ganze Stadt.<br />

Natürlich wird es auch mittelfristig<br />

passieren, dass wir keine 160 Prozent bei<br />

den Brennpunktschulen erreichen. Es<br />

wird aber nicht soweit kommen, dass<br />

etwa die Sprachförderung komplett gestrichen<br />

wird. Hier müssen wir ganz klar<br />

steuern. Das betrifft auch die Quereinsteiger.<br />

Es darf nicht sein, dass eine<br />

Schule komplett mit voll ausgebildeten<br />

Lehrkräften versorgt wird und andere<br />

fast zu 100 Prozent auf Quereinsteiger<br />

setzen müssen, die sie dann auch noch<br />

610 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Als Fellow der Bildungsinitiative<br />

„Teach First Deutschland“ hat Maja Lasić<br />

von 2009 bis 2011 an einer Brennpunktschule<br />

im Wedding mitgearbeitet.<br />

„Wer im Brennpunkt arbeitet,<br />

hat einfach mehr Arbeit.<br />

Das müssen wir anerkennen.“<br />

selber ausbilden müssen. Es darf keine<br />

„pädagogische Gerechtigkeitslücke“ entstehen,<br />

indem wir Brennpunktschulen<br />

sich selbst überlassen.<br />

Wie kann man hier gegensteuern?<br />

Ein Werkzeug für die Unterstützung<br />

von Brennpunktschulen ist die geplante<br />

Brennpunktzulage. Hiermit möchten<br />

wir Lehrerinnen und Lehrern eine Wertschätzung<br />

für ihre Arbeit entgegenbringen.<br />

Anders als etwa in Sachsen wollen<br />

wir damit nicht die Lehrerströme aktiv<br />

in die Brennpunktschulen lenken, sondern<br />

denen etwas zurückgeben, die<br />

bereits vor Ort großartige Arbeit leisten.<br />

Wer im Brennpunkt arbeitet, hat einfach<br />

mehr Arbeit. Das müssen wir anerkennen.<br />

Natürlich wäre es ein schöner Nebeneffekt,<br />

wenn wir damit auch Lehrerinnen<br />

und Lehrer motivieren könnten, vielleicht<br />

doch an eine Brennpunktschule<br />

zu gehen.<br />

Aufgrund des Fachkräftemangels werden<br />

verstärkt Quereinsteiger eingesetzt.<br />

Wie wird sichergestellt, dass diese überhaupt<br />

als Lehrkräfte geeignet sind?<br />

Wir haben die Quereinsteiger bisher<br />

nicht optimal auf den Beruf vorbereitet –<br />

das muss man durchaus selbstkritisch<br />

zugeben. Das berufsbegleitende Referendariat<br />

ist zwar ein Erfolg. Die eigentliche<br />

Konfrontation mit der Wirklichkeit des<br />

Schulalltags findet jedoch viel früher<br />

statt. Deshalb war uns bei den Haushaltsverhandlungen<br />

im vergangenen<br />

Jahr schnell klar, dass der Umgang mit<br />

den Quereinsteigern ein Schwerpunkt<br />

unserer Arbeit werden muss. Jetzt stehen<br />

uns 60 Millionen zur Verfügung.<br />

In einem ersten Schritt stellen wir die<br />

Ausbildung schon vor dem Schuleinsatz<br />

sicher. Hier wird das erste pädagogische<br />

Handwerk vermittelt. Dann begleiten<br />

wir die Quereinsteiger intensiv während<br />

der ersten Wochen in ihrem Schulalltag.<br />

Gerade am Anfang versuchen wir, dass<br />

sie nicht allein vor der Klasse stehen, sondern<br />

jemanden mit Erfahrung neben sich<br />

haben. So können sie Schritt für Schritt in<br />

die neue berufliche Aufgabe hineinwachsen.<br />

Zudem haben wir die Unterrichtsstunden<br />

von 19 auf 18 herabgesetzt. Im<br />

nächsten Jahr werden wir sogar nur 17<br />

Stunden für die Quereinsteiger vorsehen.<br />

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Text & Fotos Christina Bauermeister<br />

70 Prozent NdH –<br />

70 Prozent Lmb –<br />

100 Prozent Wir-Gefühl<br />

Eine Reportage aus dem Alltag<br />

einer Reinickendorfer Grundschul-Direktorin<br />

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12 BERLINER STIMME


Es ist grosse Pause an der Kolumbus-<br />

Grundschule in Reinickendorf-Ost<br />

an diesem Freitagmittag knapp zwei<br />

Wochen vor den Sommerferien. Der<br />

Schulhof gleicht mit seinen vielen<br />

Gebäuden – einem verschachtelten<br />

denkmalgeschützten Haupthaus, zwei<br />

funktionalen schnörkellosen Erweiterungsbauten,<br />

einer in die Jahre gekommenen<br />

Turnhalle und noch nicht fertig<br />

gestellten Mensa – mehr einem Campus<br />

denn einer Grundschule.<br />

An mehreren Ecken auf dem Pausenhof<br />

sind große gelbe Schilder mit dem<br />

Aufdruck „Aufsicht“ angebracht. Mit<br />

Warnwesten stehen dort Lehrer oder<br />

ältere Schüler, die die herumtollenden<br />

Kinder beaufsichtigen. Wie viele <strong>Berliner</strong><br />

Grund schulen steht auch die Kolumbus-<br />

Schule vor der Herausforderung, mit der<br />

rasant wachsenden Schülerzahl zurechtzukommen,<br />

ohne dass die Unterrichtsqualität,<br />

die Versorgung oder die Aufsichtspflicht<br />

darunter leiden.<br />

LINKS<br />

Sylvia Betzing ist Schulleiterin der Kolumbus-<br />

Grundschule in Reinickendorf Ost. In der Schule<br />

wird Gruppenkultur gelehrt und auf Werte<br />

geachtet. Eltern sagen, dass man der Schule<br />

ihren Brennpunkt-Charakter nicht anmerkt.<br />

„Mich stören nicht Hautfarbe,<br />

Geschlecht, Kultur, Herkunft oder<br />

Religion. Mich stört schlechtes<br />

Benehmen.“<br />

Für einen kurzen Moment übertönen<br />

aufheulende Flugzeugturbinen die lauten<br />

Kinderstimmen. Auf dem Ballplatz<br />

können die Grundschüler die Maschinen<br />

im Landeanflug auf den naheliegenden<br />

Flughafen Tegel beobachten. In der<br />

obersten Etage des Haupthauses warten<br />

zwei Sechstklässler vor dem Büro von<br />

Schulleiterin Sylvia Betzing. Normalerweise<br />

verbringen die beiden ihre Pausen<br />

auf dem Ballplatz, wo sie die Flugzeuge<br />

sehen können. Doch in der letzten<br />

Stunde haben sie plötzlich wieder feste<br />

Regeln infrage gestellt. An der Eingangstür<br />

zum Direktorinnen-Zimmer steht das<br />

Mantra der Schulleiterin: „Mich stören<br />

nicht Hautfarbe, Geschlecht, Kultur,<br />

Herkunft oder Religion. Mich stört<br />

schlechtes Benehmen.“ Die Sekretärin<br />

lugt aus dem Vorzimmer und erzählt,<br />

dass sich solche Störvorfälle gegen Schuljahresende<br />

häufen. „Die Schüler sind<br />

einfach durch und brauchen eine Pause.“<br />

Zur selben Uhrzeit laufen die alarmierenden<br />

Ergebnisse des nationalen Bildungsreports<br />

über die Nachrichtenticker.<br />

Kitas und Schulen in Deutschland sind<br />

aus Expertensicht noch nicht gut genug<br />

auf den stetig wachsenden Zulauf von<br />

Kindern und Jugendlichen eingestellt.<br />

Und was noch schlimmer wiegt: Trotz<br />

vieler Reformprojekte sei es nicht gelungen,<br />

„Bildungsungleichheiten entscheidend<br />

zu verringern“, heißt es in dem<br />

Bericht, der alle zwei Jahre auf Grundlage<br />

von amtlichen Statistiken und wissenschaftlichen<br />

Studien erscheint.<br />

Sylvia Betzing und ihr Team aus 50 Lehrer-<br />

und 20 Erzieher-Kolleginnen und<br />

Kollegen versuchen an jedem Schultag,<br />

das Kardinalproblem des deutschen<br />

Bildungssystems die enge Kopplung von<br />

sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu<br />

lösen. Im Kleinen, auf der Mikroebene.<br />

„Wir haben hier 70 Prozent NdH-Kinder<br />

und 70 Prozent Lmb-Kinder“, sagt sie.<br />

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NdH ist im Schulverwaltungsdeutsch<br />

die Abkürzung für nichtdeutscher Herkunftssprache.<br />

Lmb steht für lernmittelbefreit.<br />

Vom Eigenanteil für die Schulbücher<br />

und andere Lernmaterialien sind<br />

Eltern befreit, die Sozialleistungen beziehen.<br />

Im Einzugsgebiet der Schule sind die<br />

Mieten günstig, die Arbeitslosigkeit hingegen<br />

höher als im berlinweiten Durchschnitt.<br />

Sylvia Betzing weiß, dass „ihre“<br />

Kinder von zu Hause oft nicht viel mitbringen.<br />

Das Kollegium versucht deshalb<br />

schon den Erstklässlern beizubringen, für<br />

sich selbst Verantwortung zu übernehmen;<br />

sei es das morgendliche Schmieren<br />

des Pausenbrots oder das selbstständige<br />

Erledigen der Hausaufgaben. Deshalb<br />

hat Sylvia Betzing in den Unterrichtsalltag<br />

ein sogenanntes FÜF-Band (Fordern-Üben-Fördern)<br />

eingebaut. Kleine<br />

Pausen, in denen die Schüler Methoden<br />

kennenlernen, um selbstständig lernen<br />

zu lernen. Ihre Vision ist, dass sich die<br />

Kinder irgendwann ihre eigene Zielvereinbarung<br />

schreiben und umsetzen.<br />

Hinter ihrem Schreibtisch hängt ein<br />

Foto von Schul-Therapiehund Cay. Der<br />

Labrador kommt zwei Mal in der Woche<br />

für zwei Stunden in eine sechste Klasse.<br />

Gerade bei Kindern, die sich zu Hause<br />

allein gelassen fühlen, wirke das sensible<br />

Tier auf ihr emotional-soziales Verhalten<br />

sehr förderlich. Die Schule versucht, möglichst<br />

viele Lebenswelten in den Unterricht<br />

einzubauen, zu denen die Kinder<br />

sonst womöglich keinen Zugang hätten.<br />

So gibt es einen Gemüseacker, eine<br />

Schreibwerkstatt und einen Leseclub,<br />

Sylvia Betzings Lieblingsraum.<br />

Seit sieben Jahren ist sie Schulleiterin,<br />

zunächst kommissarisch, seit drei Jahren<br />

ist sie es auch ganz offiziell. Betzing sagt,<br />

dass sich der Lehrerberuf sehr gewandelt<br />

habe. Heute müsse man viel mehr als<br />

Coach arbeiten, die Ist-Situation analysieren<br />

und manchmal auch nach kreativen<br />

Lösungen suchen. Als sie im Dezember<br />

1990 anfangen habe, waren die Anforderungen<br />

noch andere. Und trotzdem habe<br />

sie die täglichen Herausforderungen<br />

schnell als Belastung empfunden. „Das<br />

hatte jedoch nichts mit dem Beruf zu<br />

tun, das war eher eine Einstellungssache“,<br />

sagt sie rückblickend. Das änderte<br />

sich schlagartig, als sie durch eines ihrer<br />

drei Kinder auf Mütter traf, die sich täglich<br />

in der freien Wirtschaft beweisen<br />

mussten. Heute zieht sie vor allem positive<br />

Energie aus ihrem Job und sagt:<br />

„Ich liebe diese Kinder, aber wenn sie<br />

manchmal anstrengend sind.“<br />

Zum neuen Schuljahr werden an der<br />

Grundschule mit offenem Ganztagsbetrieb<br />

gleich sieben Quereinsteiger<br />

anfangen, darunter eine Musikschullehrerin,<br />

ein Journalist, eine Kunsthistorikerin<br />

und zwei Mikrobiologinnen.<br />

Betzing hat sie am Berlin-Tag für berufsbegleitende<br />

Weiterbildung kennenge-<br />

14 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Gelebte Integration: In der Schülerkonferenz<br />

trägt ein Junge aus der<br />

fünften Klasse ein selbstgeschriebenes<br />

Gedicht vor. Es handelt von seinem<br />

Heimatland Syrien.<br />

Was würde sie sich sonst<br />

von der Politik wünschen?<br />

„Nun ja, etwas mehr<br />

Wertschätzung, Vertrauen<br />

und den einen oder anderen<br />

Dienstgang weniger.“<br />

lernt, sie zu Hospitationen eingeladen<br />

und Einzelgespräche geführt. „Da kommen<br />

sieben tolle Leute, die zum Teil auch schon<br />

unterrichtserfahren sind.“ Natürlich<br />

wären ihr voll ausgebildete Lehrkräfte<br />

lieber gewesen, doch diese Leerstelle sei<br />

ein Versäumnis der Politik vor 20 Jahren.<br />

Sie freut sich auf die Quereinsteiger,<br />

gerade weil sie Erfahrungen aus anderen<br />

Lebensbereichen mitbringen. Was Betzing<br />

auf keinen Fall will, ist eine Zweiklassen-<br />

Lehrerschaft. Sie hat deshalb auch nicht<br />

verstanden, warum der Senat die geplante<br />

Gehaltsanpassung nicht von Beginn an<br />

für alle Grundschullehrer – egal, ob frisch<br />

von der Uni, Quereinsteiger oder Bestandslehrer<br />

– geplant hat. „Jetzt haben die Kolleginnen<br />

und Kollegen nicht das Gefühl,<br />

dass ihre Arbeit wertgeschätzt wird,<br />

sondern dass sie sich dieses Recht erst<br />

erkämpfen mussten.“<br />

Von der Brennpunktzulage – ein finanzieller<br />

Anreiz für Lehrer auch in schwierigen<br />

Kiezen zu unterrichten – würde die<br />

Kolumbus-Schule nicht profitieren. Dafür<br />

ist ihr Anteil an lernmittelbefreiten Kindern<br />

um zehn Prozent zu niedrig. Doch<br />

Sylvia Betzing will nicht jammern. Sie<br />

weiß, dass andere Schulen mit noch viel<br />

größeren Problemen wie Gewalt und<br />

Parallelgesellschaften zu kämpfen haben.<br />

Durch das Brennpunkt-Schulprogramm<br />

konnte sie eine zusätzliche Kraft für die<br />

Schulsozialarbeit finanzieren sowie ein<br />

Präventionsprogramm gegen sexuellen<br />

Missbrauch, einen Workshop zur Ich-<br />

Stärkung und andere Dinge realisieren.<br />

Dafür ist sie sehr dankbar. Was würde<br />

sie sich sonst von der Politik wünschen?<br />

„Nun ja, etwas mehr Wertschätzung,<br />

Vertrauen und den einen oder anderen<br />

Dienstgang weniger.“<br />

Wenige Tage vor den großen Ferien versammeln<br />

sich die mehr als 600 Kinder<br />

zur Schülerkonferenz in der kleinen<br />

Turnhalle. Es wird gesungen, getanzt und<br />

geehrt – für besonders soziales Verhalten,<br />

Fleiß oder Hilfsbereitschaft. Wie eine<br />

Theater-Souffleuse steht Sylvia Betzing<br />

an der Seite und spricht die Moderationen<br />

der Schüler nach. Dann ist ein Junge aus<br />

der fünften Klasse an der Reihe. Er will<br />

ein selbstgeschriebenes Gedicht vortragen.<br />

Doch gleich am Anfang verhaspelt<br />

er sich, gibt sich dafür sogar selbst eine<br />

Ohrfeige. Gelächter hallt durch die Turnhalle.<br />

Sylvia Betzing geht zum Mikrofon.<br />

„Bitte seid kurz still. Wenn man hier vorn<br />

vor euch allen steht, kann man schnell<br />

nervös werden.“ Danach trägt der Junge<br />

sein Gedicht flüssig vor. Es handelt von<br />

seiner Heimat Syrien, aus der er mit<br />

seinen Eltern vor eineinhalb Jahren geflohen<br />

ist. „Viel kleiner als Deutschland –<br />

gerade gibt es Krieg für 23 Millionen –<br />

Keinen Sieg – Aber der Jasmin blüht<br />

immer noch – und wir haben die Hoffnung<br />

ja doch.“ Der Junge blickt auf –<br />

lacht – riesiger Applaus.<br />

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15


Text Stephan Noller<br />

Fotos Calliope gGmbH<br />

Revolution im<br />

Klassenzimmer<br />

Der Calliope mini soll Kinder für IT begeistern und ihnen<br />

einen spielerischen Zugang zur digitalen Welt ermöglichen. In Berlin<br />

ist der Mini-Computer schon an einigen Grundschulen im Einsatz.<br />

„Die digitale Bildung steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen.<br />

Unsere Nachbarländer der Europäischen Union sind in vielen Fällen<br />

schon weiter. Dabei wird die digitale Bildung unserer Kinder über ihre<br />

zukünftigen Chancen entscheiden, ob sie an der digitalen Gesellschaft<br />

teilhaben können, einen guten Job finden und die Welt von morgen mitgestalten<br />

können. Mit dem Calliope mini wollen wir einen Startschuss<br />

für die digitale Bildung in Deutschland geben – damit alle Kinder schon<br />

ab der Grundschule kreativ und spielerisch lernen, wie die digitale Welt<br />

funktioniert“. (Gesche Joost)<br />

Der Calliope – ein Mini-Rechner, der anders als Handys oder Tablets<br />

seine Technik nicht im Gehäuse versteckt – ist ein praktischer Ansatz für<br />

dieses bundesweite Problem: Immer wieder betonen Vertreterinnen und<br />

Vertreter aus Politik und Wirtschaft, dass die digitale Grundbildung von<br />

Kindern verbessert werden muss. Mit reichlich Schwung aus der Unternehmenswelt<br />

setzt Calliope hier an.<br />

Davon versprechen wir uns besser ausgebildete Kinder, aber auch kritischere<br />

und souveräne Nutzerinnen und Nutzer, die sowohl Begeisterung<br />

für die Möglichkeiten als auch ein Gefühl für die Gefahren der neuen<br />

Technologien vermittelt bekommen. Die eigentliche Motivation bleibt<br />

jedoch, die digitale Grundbildung zu stärken und zu fördern.<br />

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Daraus ergab sich unser Ziel, flächendeckend alle Schülerinnen und<br />

Schüler der 3. Klasse jedes Jahr mit einem Calliope auszustatten. Darüber<br />

hinaus ist uns wichtig, dass jeder Zugang zu dem Board bekommen soll,<br />

auch wenn kein Förderverein oder vermögende Eltern dabei helfen.<br />

16 BERLINER STIMME


OBEN<br />

Der Calliope mini bietet unzählige kreative<br />

Möglichkeiten: Von einfachen Experimenten<br />

mit Licht und Sound bis zur Konstruktion eines<br />

Roboters. Mit wenigen Klicks können die Kids<br />

ihre eigenen Programme für den Mini-Computer<br />

erstellen und neue Anwendungen erfinden.<br />

Produziert wird er in Berlin.<br />

Alle Materialien werden unter freier<br />

Lizenz im Internet veröffentlicht. Mit<br />

wenigen Klicks lassen sich erste eigene<br />

Programme für den ,mini‘ erstellen. Im<br />

Nu verwandelt sich das sternförmige<br />

Board in einen kleinen Roboter, spielt<br />

eigene Musikkompositionen oder überträgt<br />

Nachrichten. Neben 25 roten sowie<br />

einer RGB-LED und zwei programmierbaren<br />

Buttons besitzt der ,mini‘ einen<br />

Lautsprecher, einen Motorenanschluss,<br />

einen kombinierten Lagesensor mit Bewegungssensor<br />

und Kompass sowie ein<br />

Bluetooth-Modul, mit dem das Board mit<br />

anderen Geräten kommunizieren kann.<br />

Wir kooperieren deshalb mit den Ausbildungseinrichtungen<br />

und Bildungsministerien<br />

in den Ländern, um das Ziel<br />

nachhaltig zu erreichen.<br />

Mittelfristig soll das Board und Computational<br />

Thinking fest in den Grundschulalltag<br />

integriert werden – in einem<br />

zweiten Schritt dann auch in weiterführenden<br />

Schulen. Um möglichst viele<br />

Lehrerinnen und Lehrer zu begeistern,<br />

wurden spezielle Weiterbildungsangebote,<br />

u. a. in Form von Onlinekursen,<br />

für sie entwickelt.<br />

Zurzeit werden bundesweit Pilotschulen<br />

ausgestattet, die uns auf dem Weg begleiten.<br />

In elf Ländern – angefangen mit<br />

Berlin und dem Saarland – gibt es bereits<br />

Verträge mit den zuständigen Kultusministerien.<br />

In den meisten Fällen starten<br />

die Länder mit 30 bis 100 Projektklassen,<br />

denen die Geräte geschenkt werden.<br />

In Berlin wurden 2017 bereits 100 Klassen<br />

im Rahmen unseres Pilotprogramms<br />

mit Mini-Programmierern ausgestattet.<br />

Im März <strong>2018</strong> wurde die Fortführung<br />

der Pilotphase verkündet. Alle <strong>Berliner</strong><br />

Grundschulen werden vom Senat kontaktiert<br />

und können sich fortan als Pilotschulen<br />

bewerben.<br />

Eine aktive Community rund um das<br />

Board gibt ebenso Hilfestellungen und<br />

die Möglichkeit, die neuesten kreativen<br />

Anwendungen mit allen zu teilen: Ein<br />

Feuchtigkeitssensor, der anzeigt, wann<br />

die Zimmerpflanze Wasser braucht.<br />

Ein Roboter, der uns warnt, wenn wir zu<br />

schnell fahren. Ein Tore-Zähler für den<br />

Kicker zu Hause und viele weitere Projekte<br />

finden sich auf diversen Internet-<br />

Plattformen, allen voran das wachsende<br />

Forum auf der Calliope-Website.<br />

Langfristiges Ziel ist es, den Calliope<br />

als ein mögliches Werkzeug für die<br />

Aneignung digitaler Kompetenzen<br />

bundesweit zu etablieren.<br />

Stephan Noller ist Diplom-Psychologe,<br />

Digital-Unternehmer und Mitbegründer<br />

der Calliope gGmBH. Er beschäftigt sich<br />

seit langem mit der Frage, wie mehr<br />

digitale Inhalte in die Schulen integriert<br />

werden können.<br />

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Text Michael Wrase<br />

Illustration Esther Schaarhüls<br />

Foto David Ausserhofer<br />

Schluss mit der<br />

sozialen Sonderung<br />

Privatschulen in Berlin müssen für alle Kinder offen sein,<br />

sagt Michael Wrase, Professor mit dem Schwerpunkt<br />

Sozial- und Bildungsrecht.<br />

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18 BERLINER STIMME


Die SPD-Abgeordnete Maja Lasić und der SPD-Fraktionsvorsitzende im<br />

<strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus Raed Saleh haben kürzlich im „Tagesspiegel“<br />

vor einem „Zwei-Klassen-System an Berlins Schulen“ gewarnt. „Wir müssen<br />

mehr Bildungsgerechtigkeit wagen – und dafür braucht es mehr staatliche<br />

Steuerung“, heißt es in dem Namensbeitrag, der vor allem den Lehrkräftemangel<br />

an Brennpunktschulen thematisierte.<br />

Die Forderung nach mehr Bildungsgerechtigkeit lässt sich auch auf private<br />

Ersatzschulen übertragen. Wer in Deutschland eine Privatschule betreibt,<br />

an der die Schulpflicht anstelle der öffentlichen Schulen erfüllt werden<br />

kann (daher „Ersatzschule“), muss bestimmte Bedingungen erfüllen.<br />

Eine davon ist nach Artikel 7 Absatz 4 des Grundgesetzes das sogenannte<br />

Sonderungsverbot. Es besagt, dass durch die Privatschule eine „Sonderung<br />

der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern<br />

nicht gefördert“ werden darf.<br />

Diese Genehmigungsbedingung wurde vor allem<br />

auf Drängen der SPD in die Verfassung aufgenommen.<br />

Die dort verankerte Privatschulfreiheit sollte<br />

nicht genutzt werden (können), um wie in anderen<br />

Ländern private „Eliteschulen“ für Besserverdienende<br />

zu betreiben. Konfessionelle und alternativpädagogische<br />

Privatschulen, die man im Blick<br />

hatte, sollten aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit<br />

für alle Kinder unabhängig vom Einkommen<br />

der Eltern offenstehen.<br />

Die Wirklichkeit im Land Berlin sieht leider größtenteils<br />

anders aus. Die Privatschulen erleben hier<br />

seit etwa zwölf Jahren einen regelrechten Boom.<br />

Ihre Schülerzahl im allgemeinbildenden Bereich<br />

hat sich mehr als verdoppelt. Wie wir in einer<br />

Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung<br />

(WZB) feststellen mussten, ist die soziale<br />

Selektivität vieler Privatschulen erschreckend hoch.<br />

Es gibt eine ganze Reihe von Schulen, die sich eine<br />

Sonderung nach den Einkommensverhältnissen<br />

geradezu „zum Programm“ gemacht haben und<br />

überhaupt keine Schülerinnen und Schüler mit<br />

Lernmittel-Befreiung ausweisen. Diese Zahlen<br />

wurden durch Anfragen des SPD-Abgeordneten<br />

Joschka Langenbrinck untermauert.<br />

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Was sind die Gründe? Zum einen gibt<br />

es ein Kontrollversagen, das historisch<br />

begründet ist. Viele Jahrzehnte hatte<br />

sich der Senat kaum um die Privatschulen<br />

gekümmert und die Aufsicht schleifen<br />

lassen. Zuschüsse in Millionenhöhe<br />

wurden dennoch gezahlt. Bislang hat<br />

die Bildungsverwaltung das Sonderungsverbot<br />

so interpretiert, dass ein Mindestschulgeld<br />

von 100 Euro im Monat für<br />

alle Familien zulässig sei. Dass damit<br />

ökonomisch fast die Hälfte der <strong>Berliner</strong><br />

Haushalte ausgeschlossen wird, hat die<br />

Behörde nicht gekümmert. Effektiv kontrolliert<br />

wurde nicht. In unserer Berlin-<br />

Studie mussten wir konstatieren, dass<br />

mehr als die Hälfte der Privatschulen<br />

selbst diese unzureichenden Vorgaben<br />

des Senats nicht einhält.<br />

Unterdessen liegen mehrere Beschlüsse<br />

des SPD-Landesparteitags und der Fraktion<br />

vor, die klare Vorgaben für private<br />

Ersatzschulen einfordern. Auch der<br />

Senat hat sich auf den Weg gemacht, die<br />

bestehenden Regelungen aus dem Jahr<br />

1959 zu reformieren. Wichtigster Punkt:<br />

Es sollen feste Obergrenzen für die Schulgelder<br />

analog zu den Regelungen für die<br />

Kita/Hort-Zuzahlungen eingeführt werden.<br />

Das wäre ein großer Schritt, um<br />

den gleichen Zugang für alle Familien<br />

sicherzustellen. Allerdings müssen –<br />

darin sind sich fast alle Expertinnen<br />

und Experten einig – Kinder aus Transferleistungsfamilien<br />

vollständig befreit<br />

sein. Die Regelung kann außerdem nur<br />

dann Wirkung entfalten, wenn sie auch<br />

kontrolliert wird und Schlupflöcher (wie<br />

faktisch verpflichtende Beiträge für Fördervereine)<br />

effektiv geschlossen werden.<br />

Dringend reformbedürftig ist auch die<br />

Finanzierung der Ersatzschulen. Denn<br />

eigentlich sind die Zuschüsse dafür gedacht,<br />

dass die Privatschulen – wie es<br />

das Grundgesetz vorschreibt – auch für<br />

Kinder aus ärmeren Familien offenstehen.<br />

OBEN<br />

Michael Wrase ist Professor für Öffentliches<br />

Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und<br />

Bildungsrecht an der Universität Hildesheim<br />

und am Wissenschaftszentrum Berlin für<br />

Sozialforschung (WZB).<br />

Allerdings werden hohe Schulgelder gegenwärtig<br />

nicht auf die Förderung angerechnet.<br />

Wer hohe Einnahmen durch<br />

Elternbeiträge erzielt, kann damit seine<br />

Gesamteinnahmen deutlich steigern.<br />

Es liegt nahe, diese Mehreinnahmen (bei<br />

400 EUR monatlich sind das 4.800 EUR<br />

im Jahr und entspricht damit fast einer<br />

Verdoppelung des Staatszuschusses) für<br />

ein besonders gutes oder sogar „exklusives“<br />

Schulangebot einzusetzen, das wiederum<br />

speziell für eine einkommensstarke<br />

Schicht attraktiv ist – ein massiver<br />

ökonomischer Anreiz für soziale Sonderung.<br />

Eindeutiger Verlierer der bestehenden<br />

Regelung sind Ersatzschulen, die<br />

viele Schülerinnen und Schüler aufnehmen,<br />

deren Eltern nur ein geringes<br />

Schulgeld zahlen können. Auch die gibt<br />

es. Leider sind sie in der öffentlichen<br />

Diskussion nicht so präsent wie die<br />

„reichen“ Privatschulen.<br />

Die Reform der Privatschulfinanzierung<br />

nach dem Koalitionsvertrag bietet eine<br />

große Chance, das System gerechter zu<br />

gestalten und der Sonderung in einem<br />

Zwei-Klassen-System entgegenzusteuern.<br />

Dafür muss ein signifikanter Teil der<br />

Förderung daran geknüpft werden, dass<br />

die Schulen in freier Trägerschaft auch<br />

tatsächlich Kinder aus ärmeren Familien<br />

aufnehmen. Ein solcher Schritt kann<br />

gelingen, wenn die SPD am Ende nicht<br />

vor einer vermeintlich starken Lobby<br />

einbricht.<br />

20 BERLINER STIMME


Text & Foto Christina Bauermeister<br />

Neu aufgestellt<br />

Das ist das neue Team im August Bebel Institut<br />

Erfahrung aus der interkulturellen<br />

Jugendbildung mit und lebte zweieinhalb<br />

Jahre in Lateinamerika. König<br />

möchte vor allem junge Zielgruppen für<br />

die Arbeit des Instituts begeistern und<br />

setzt dabei vor allem auf die Themen<br />

Feminismus und Antirassismus.<br />

OBEN<br />

Der neue ABI-Geschäftsführer<br />

Reinhard Wenzel war seit 2015<br />

Bildungsreferent. Diese Funktion<br />

übernimmt nun Wendy König.<br />

Alles neu macht der Juli im August Bebel<br />

Institut (ABI). Seit dem 1.7. ist der bisherige<br />

Bildungsreferent Reinhard Wenzel neuer<br />

Geschäftsführer der politischen Bildungseinrichtung.<br />

„Ich freue mich auf meine<br />

neue Aufgabe. Auch in diesem Jahr wird<br />

das ABI wieder eine Gedenkstättenfahrt<br />

durchführen, diesmal nach Hamburg<br />

und Neuengamme. Natürlich wird der<br />

100. Jahrestag der Revolution von 1918<br />

gebührend begangen und wir setzen die<br />

Multiplikatoren-Fortbildung zu Völkermorden<br />

im 20. Jahrhundert fort“, erklärt<br />

Wenzel zu den Schwerpunkten der nächsten<br />

Monate.<br />

Unterstützung bekommt er von der<br />

neuen Bildungsreferentin Wendy König.<br />

Sie bringt unter anderem elf Jahre<br />

Zehn Jahre lang – von 2007 bis 2017 –<br />

wurde das ABI von Ingo Siebert geleitet,<br />

der Programm, Formate und Öffentlichkeitsarbeit<br />

grundlegend auf die Anforderungen<br />

einer Bildungseinrichtung in<br />

einer Einwanderungsstadt ausgerichtet<br />

und es für unterschiedlichste Milieus<br />

geöffnet hat. Siebert wechselte Ende 2017<br />

als Referent in die Senatsverwaltung für<br />

Inneres. Von Januar bis Juni <strong>2018</strong> übernahm<br />

der ehemalige Geschäftsführer<br />

(bis 2007) Enrico Troebst die Institutsleitung<br />

interimsmäßig.<br />

Im vergangenen Jahr feierte das ABI<br />

unter dem Motto „70 Jahre Bildung für<br />

die Demokratie“ sein 70-jähriges Bestehen.<br />

In einem Grußwort betonte der<br />

Regierende Bürgermeister Michael Müller<br />

die Bedeutung der politischen Bildung<br />

als ein „Betriebssystem einer lebendigen<br />

Demokratie“. Politische Bildung könne<br />

eine Brücke in die Gesellschaft bauen<br />

und damit eine Antwort auf Populismus<br />

und Ausgrenzung sein.<br />

Das neue Bildungs-Programm des ABI<br />

für Juli-September ist gerade erschienen<br />

und ist unter www.august-bebel-institut.de<br />

zu finden.<br />

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BERLINER STIMME<br />

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Text Sandra Scheeres<br />

Foto SenBJF · Frank Schulenberg<br />

Bessere Bezahlung,<br />

mehr Personal und ein<br />

Kita-Navigator<br />

Sandra Scheeres, Berlins Senatorin für Bildung, Jugend<br />

und Familie, über die Übergangsstrategie für Kitas<br />

Über die Sozialdemokratie in Europa<br />

und ihre Rolle seit mehr als 25 Jahren<br />

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Jetzt, zum Ende des Kita-Jahres, entspannt sich die Situation. Rund 30.000<br />

Schulanfängerinnen und -anfänger verlassen im Sommer die Kitas und<br />

neue Kinder können nachrücken. Das ist die gute Nachricht. Die weniger<br />

gute Nachricht lautet: Diese Entspannung wird nicht lange anhalten. Die<br />

Kinderzahlen steigen weiter, genehmigte Kita-Plätze können nicht angeboten<br />

werden, weil Fachkräfte fehlen. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird<br />

es immer schwieriger, den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz umzusetzen.<br />

Deshalb war es ein Erfolg, dass beim Kita-Spitzengespräch am 29. Juni<br />

offen und konstruktiv über die aktuelle Lage und das weitere Vorgehen<br />

diskutiert wurde.<br />

22 BERLINER STIMME


Am Tisch saßen Vertreterinnen und<br />

Vertreter von Kita-Verbänden, Gewerkschaften,<br />

den Bezirken, Fachschulen und<br />

Elternvertretungen. Es war ein intensiver<br />

Austausch. Dabei wurde deutlich, was<br />

kurz-, mittel- und längerfristig machbar<br />

ist. Und dass wir die Herausforderungen<br />

nur gemeinsam bewältigen können.<br />

Unstrittig war, dass die Erzieherinnen<br />

und Erzieher deutlich besser bezahlt werden<br />

müssen. Meine Position ist bekannt:<br />

Ich setze mich dafür ein, dass mit den<br />

Verhandlungen zwischen der Tarifgemeinschaft<br />

der Länder und den Gewerkschaften<br />

Anfang 2019 die Löhne steigen<br />

und die Gehaltslücke zu den Brandenburger<br />

Fachkräften geschlossen wird. Allerdings<br />

wird das akute Fachkräfteproblem<br />

damit nicht gelöst.<br />

LINKS<br />

Sandra Scheeres (4.v.l.) beim Kita-Spitzen-Gespräch<br />

mit Martin Hoyer (Paritätischer Wohlfahrtsverband<br />

Berlin), Doreen Siebernik (GEW Berlin), Katharina<br />

Queisser (Landeselternausschuss Kita), Katharina<br />

Mahrt (Kitakrisen-Demo) und Monika Herrmann<br />

(Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzberg)<br />

Beim Spitzengespräch waren wir uns<br />

einig: Jedes Kind, das einen Rechtsanspruch<br />

hat, muss auch einen Kita-Platz<br />

bekommen. Wenn andere Maßnahmen<br />

nicht greifen, müsste man den Betreuungsschlüssel<br />

wieder ändern. Mehr Kinder<br />

pro Erzieher und Erzieherin – so könnten<br />

mehr Kita-Plätze angeboten werden.<br />

Meiner Ansicht nach ist das jedoch der<br />

falsche Weg. Ich möchte an den beschlossenen<br />

Verbesserungen beim Betreuungsschlüssel<br />

festhalten. Es handelt sich hier<br />

um Qualitätsstandards, die wir nicht aufgeben<br />

sollten. Auch in diesem Punkt bestand<br />

beim Kita-Gipfel Konsens. Damit<br />

bleibt aber nur eine Option: Wir benötigen<br />

möglichst schnell mehr Personal.<br />

Das geht nur mit Quereinsteigenden,<br />

mit Personen in der berufsbegleitenden<br />

Ausbildung und wenn wir uns trauen,<br />

auch neue Wege zu gehen. So haben wir<br />

z. B. das Maßnahmepaket mit Platz-<br />

Prämien und Vereinbarungen zwischen<br />

Kita-Eigenbetrieben und Bezirken umgesetzt.<br />

Daran müssen wir nun anknüpfen<br />

und eine Übergangsstrategie für die<br />

nächsten Jahre entwickeln. Dazu gehören<br />

folgende, teils befristete Maßnahmen:<br />

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▶<br />

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Für Personen mit Mittlerem Schulabschluss<br />

(MSA) soll der Zugang zur<br />

Erzieher/innen-Ausbildung erleichtert<br />

werden. Geprüft wird, wie die Ausbildungsdauer<br />

(berufliche Vorbildung<br />

plus Fachschulausbildung) verkürzt<br />

werden kann.<br />

Die weitere Förderung des Quereinstiegs<br />

und der berufsbegleitenden<br />

Ausbildung. Auch verbindliche Ausbildungsquoten<br />

für die Kita-Eigenbetriebe<br />

und Ganztagsschulen sind eine<br />

Option. Kita-Leitungen und Fachkräfte,<br />

die ausbilden, sollen mehr Unterstützung<br />

erhalten.<br />

Finanzielle Unterstützung, wenn<br />

BAFöG/Aufstiegs-BAFöG nicht bezahlt<br />

werden; unter anderem Prüfung eines<br />

Stipendienprogramms<br />

In vielen Kitas arbeiten bereits andere<br />

„geeignete Kräfte“, z. B. aus dem künstlerischen<br />

und sportlichen Bereich. Kitas<br />

sollen nach Einzelfallprüfung nun die<br />

Möglichkeit erhalten, diese Personen<br />

als Fachkräfte in einem gesicherten<br />

Arbeitsverhältnis weiterzubeschäftigen<br />

und zusätzliche Personen als Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter von multiprofessionellen<br />

Teams zu gewinnen.<br />

Leichtere Anerkennung von<br />

ausländischen Abschlüssen<br />

Ausbau der Tagespflege<br />

Die Kita-Platz-Suche muss elternfreundlicher<br />

werden. Dazu soll ein<br />

verbessertes Online-Angebot („Kita-<br />

Navigator“) ab Ende <strong>2018</strong> beitragen.<br />

Ende <strong>2018</strong> werden wir nach einer Zwischenbilanz<br />

weitere Schritte abwägen.<br />

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BERLINER STIMME<br />

23


Text Peter Strieder<br />

Foto Christina Bauermeister<br />

Verantwortung für Berlin<br />

Meinungsbeitrag des ehemaligen Stadtentwicklungssenators<br />

und SPD-Landesvorsitzenden Peter Strieder zur aktuellen Lage der<br />

<strong>Berliner</strong> SPD und den Herausforderungen in der Landespolitik<br />

Wer sich wundert, wie in den Umfragen 18 Prozent zustande kommen,<br />

sollte sich fragen, ob unsere Diskussionen und Beschlüsse wirklich denjenigen<br />

Vertrauen in die SPD vermitteln können, die auf einen funktionierenden<br />

Sozialstaat angewiesen sind. Sei es in der Frage bezahlbarer<br />

Wohnungen, beim Kitaplatz, bei Bildungschancen oder finanziellen<br />

Leistungen.<br />

Wo war auf dem Parteitag eigentlich die Debatte über die Zukunft Berlins?<br />

Über Verwaltungsversagen und Wohnungsbau, über die viel zu vielen<br />

zurückgelassenen Kinder, über Integration und den Arbeitsmarkt?<br />

Die <strong>Berliner</strong> SPD ist doch nicht nur Müller. Aber warum diskutieren die<br />

Abgeordnetenhausmitglieder und Stadträtinnen und Stadträte nicht<br />

auf dem Landesparteitag?<br />

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Verantwortlich für das Gelingen und für die Umsetzung unserer Versprechen<br />

sind doch die Mitglieder des Senats, die Staatssekretärinnen<br />

und Staatssekretäre, die Bezirksbürgermeisterinnen und Bezirksbürgermeister,<br />

die Stadträtinnen und Stadträte und die Abgeordneten des Abgeordnetenhauses<br />

und in den Bezirksverordnetenversammlungen. Bei ihnen<br />

ist häufig nicht zu erkennen, dass sie die Desaster in ihren Verantwortungsbereichen<br />

sehen, dass sie Verwaltungsabläufe organisieren können<br />

und der Verwaltung klar machen, welche Schwerpunkte die Politik setzt!<br />

Staatsversagen<br />

Zur <strong>Berliner</strong> Wirklichkeit: Bei ungefähr 45.000 Menschen Bevölkerungszuwachs<br />

pro Jahr hat Berlin 2016 genau 165 geförderte Wohnungen<br />

gebaut, jedoch 13.494 frei finanzierte. Von 2017 bis 2026 werden 40.000<br />

624 BERLINER STIMME


OBEN<br />

Peter Strieder ist Jurist und begann seine politische Laufbahn 1992 als Bezirksbürgermeister von<br />

Kreuzberg. 1996 wurde er Senator für Stadtentwicklung. Dieses Amt hatte er bis zum Jahr 2004 inne.<br />

Seitdem ist er als Rechtsanwalt und Politikberater tätig.<br />

Wohnungen aus der Sozialbindung verschwinden.<br />

Allein dieses Defizit ist mit<br />

einer Fortschreibung der gegenwärtigen<br />

Politik nicht zu schließen, geschweige<br />

denn der Bedarf, der sich aus dem jährlichen<br />

Wachstum ergibt. 5000 Wohnungen<br />

für Studierende wurden zugesagt,<br />

keine 500 bisher realisiert.<br />

Aber das ist leider nicht das einzige<br />

Versagen der <strong>Berliner</strong> Politik. Nicht nur<br />

das Desaster um den BER und das Lageso<br />

sind Beispiele des Versagens. Sondern<br />

viele <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong> erleben<br />

täglich, dass die Institutionen ihre Aufgaben<br />

nicht meistern.<br />

Einer meiner Kollegen wartet seit neun<br />

Monaten auf den Bescheid und die Zahlung<br />

des Elterngeldes, alleinerziehende<br />

Mütter erhalten Unterhaltsvorschuss<br />

nach sechs Monaten, genauso lange<br />

dauert die Ausstellung einer Geburtsurkunde,<br />

die man wiederum braucht,<br />

um das Kindergeld zu beantragen.<br />

Die Ummeldung eines Autos braucht<br />

fünf Wochen, von fehlenden Kita-Plätzen,<br />

Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrkräften<br />

erst gar nicht zu reden.<br />

Das ist inakzeptabel. Es sind die mit den<br />

kleinen Einkommen, die Alleinerziehenden,<br />

die Rentnerinnen und Rentner, auch<br />

Studierende, die auf einen funktionierenden<br />

Staat angewiesen sind. Wo sind<br />

die Beschlüsse der Kreisdelegiertenversammlungen,<br />

die ihre Bezirksamtsmitglieder<br />

auffordern, endlich zu handeln?<br />

Die Wohnungsfrage ist zurück<br />

Der Wohnungsbau ist die sozialpolitische<br />

Herausforderung der nächsten 20 Jahre,<br />

so wichtig wie die Rente oder das Arbeitslosengeld.<br />

Wer, wenn nicht eine Koalition<br />

aus SPD, Linke und Grünen soll die Wohnungsfrage<br />

sozialpolitisch annehmen<br />

und beantworten? Dabei geht es um<br />

Instrumente zur Begrenzung von Mietsteigerungen,<br />

um das Durchsetzen wert-<br />

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BERLINER STIMME<br />

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erhaltender Modernisierungen versus<br />

Luxusmodernisierung, um Umwandlungsverbote<br />

oder die Bekämpfung von<br />

Spekulation, mit der allein durch das<br />

Durchhandeln von Grundstücken Millionen<br />

verdient und preiswerter Wohnungsbau<br />

verhindert wird. Für vieles<br />

davon brauchen wir bessere Bundesgesetze.<br />

Es geht aber auch um Aufgaben,<br />

die Berlin allein meistern kann: landeseigene<br />

Grundstücke schneller weiterreichen<br />

an die kommunalen Gesellschaften,<br />

Bebauungspläne vereinfachen,<br />

Planreife herstellen ohne Beschluss der<br />

Gemeindevertretung (BVV) wie sonst<br />

überall in Deutschland und Genehmigungen<br />

schneller erteilen.<br />

„Wenn die SPD Vertrauen<br />

zurückgewinnen will,<br />

wird das weder mit<br />

Unisex-Toiletten noch<br />

mit kostenlosen<br />

feministischen Pornos<br />

geschehen: Die SPD muss<br />

zuallererst zeigen, dass sie<br />

die Stadt regieren, besser:<br />

managen kann!“<br />

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Da, wo Bezirke bremsen, muss klar sein:<br />

Sie sind Teil der <strong>Berliner</strong> Verwaltung<br />

und diese wird vom Senat gesteuert.<br />

Wenn ein Bezirk nicht mitmacht und die<br />

Schwerpunkte der Senatspolitik sabotiert,<br />

muss ihm die Kompetenz entzogen<br />

werden. Die rot-rot-grüne Mehrheit im<br />

Abgeordnetenhaus wird entscheiden<br />

müssen, ob wirklich – wie derzeit – für<br />

alles genug Geld da ist, oder ob die<br />

Politik nicht wieder Prioritäten setzen<br />

muss. Denn die Mittel für den geförderten<br />

Wohnungsbau müssen deutlich<br />

erhöht werden. Berlin muss seinen<br />

sozialen Wohnungsbau mindestens<br />

verdoppeln und 10.000 Wohnungen<br />

pro Jahr fördern.<br />

Nur das Wachstum der Stadt sichert die<br />

materiellen Ressourcen, die wir brauchen,<br />

um Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen,<br />

um Integration wirklich leisten<br />

zu können und den Prozess der Umwälzung<br />

von Gesellschaft und Arbeitswelt<br />

durch Digitalisierung so zu gestalten,<br />

dass die heute doch tatsächlich davor<br />

bestehenden Ängste sich nicht bewahrheiten.<br />

Besser managen<br />

Wenn die SPD Vertrauen zurückgewinnen<br />

will, wird das weder mit Unisex-Toiletten<br />

noch mit kostenlosen feministischen<br />

Pornos geschehen: Die SPD muss zuallererst<br />

zeigen, dass sie die Stadt regieren,<br />

besser: managen kann!<br />

Natürlich glauben die Beamtinnen und<br />

Beamten oder die Verwaltungsbeschäftigten,<br />

nur sie seien in der Lage, die Aufgaben<br />

ordentlich zu erledigen. Und im<br />

626 BERLINER STIMME


„Glaubwürdig<br />

wird die SPD nur<br />

wieder durch ein<br />

Handeln in Senat<br />

und Bezirken,<br />

mit dem sie die<br />

soziale Gerechtigkeit<br />

überall dort durchsetzt,<br />

wo sie auf dem Papier<br />

bereits besteht.“<br />

Normalfall ist das auch so. Aber in der<br />

Ausnahmesituation eines jährlichen<br />

Wachstums in der Größenordnung einer<br />

deutschen Mittelstadt und angesichts<br />

des Versagens des Sozialstaats müssen<br />

neue Wege gegangen und notfalls auch<br />

Fehler in Kauf genommen werden. Das<br />

allerdings verlangt politische Haltung<br />

und die Bereitschaft, Entscheidungen<br />

auch zu treffen, wenn es kompliziert und<br />

manchmal stürmisch wird.<br />

Wer aber bei jeder Entscheidung den<br />

Rechnungshof oder gar die Staatsanwaltschaft<br />

fürchtet, hätte Angestellter bleiben<br />

und nicht nach einem politischen<br />

Amt streben sollen. Diese Haltung verlangt<br />

Selbstbewusstsein und Kompetenz.<br />

Mit ihr ist nicht vereinbar, dass sich spätestens<br />

sechs Monate nach Amtsantritt<br />

auch Amts- und Senatsmitglieder in Bedenkenträger<br />

verwandeln und letztlich<br />

die Entscheidungen der Bürokratie überlassen.<br />

Ob Studierende oder Jura-Absolvent/in<br />

mit erstem Staatsexamen und 18 Monaten<br />

Wartezeit für die Fortsetzung der Berufsausbildung<br />

– die Stadt hat genügend<br />

Potential, um in den Verwaltungen Engpässe<br />

zu überbrücken, Daten einzugeben,<br />

Entscheidungen und Bescheide vorzubereiten.<br />

Nicht jeder Teil des Verwaltungshandelns<br />

ist hoheitlich. Wir Sozis sollten<br />

von den Ungerechtigkeiten emotional so<br />

berührt sein, dass wir alles in Bewegung<br />

setzen, um Abhilfe zu schaffen. Das wäre<br />

Politik.<br />

Wohnungsbau, lebenswerte und sichere<br />

Stadt, Chancengleichheit bei der Bildung<br />

sind die richtigen Ziele. Glaubwürdig<br />

wird die SPD nur wieder durch ein Handeln<br />

in Senat und Bezirken, mit dem sie<br />

die soziale Gerechtigkeit überall dort<br />

durchsetzt, wo sie auf dem Papier bereits<br />

besteht.<br />

Die Perspektive Rot-Rot-Grün<br />

Ob Anspruch auf ordentliche staatliche<br />

Dienstleistungen, öffentliche Sicherheit,<br />

ordentliche Kitas und Schulen bis zum<br />

Wohnungsbau – immer geht es um<br />

Schutz der Schwächeren, um Chancen<br />

zum Aufstieg, Bekämpfung von Armut<br />

und soziale Gerechtigkeit. Das ist das<br />

Programm der SPD. Wer das anders sieht,<br />

kann kein Partner sein, weder in Berlin<br />

noch auf Bundesebene.<br />

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Text Elisa Gutsche<br />

Fotos Maren Strehlau Photography<br />

Von Netzpolitik bis Kitakrise<br />

Am 23. Juni diskutierten über 400 junge Teilnehmerinnen<br />

beim 8. Barcamp in Berlin über politische Utopien für eine bessere,<br />

gerechtere Welt sowie die politische Beteiligung von Frauen.<br />

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Engagierte Sozialdemokratinnen<br />

und Gewerkschafterinnen stellen seit<br />

mehr als acht Jahren – teilweise ehrenamtlich<br />

– die mittlerweile größte<br />

politisch-feministische Veranstaltung<br />

Deutschlands auf die Beine.<br />

Das Ungewöhnliche: Die Workshops<br />

und Themen kennt niemand vorab; sie<br />

ergeben sich an dem Tag selbst durch<br />

die Teilnehmerinnen, die morgens ihre<br />

Ideen vorstellen.<br />

28 BERLINER STIMME


Das Themenspektrum reichte dieses Jahr von feministischer Netzpolitik über<br />

Wege zur besseren politischen Teilhabe von jungen Frauen bis hin zur Kitakrise.<br />

Das Frauen-Barcamp ist jedes Jahr eine wichtige Plattform für die feministische<br />

Debatte und Vernetzung. Die Veranstaltung wird von der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

getragen und durch zahlreiche Kooperationspartner – wie dem DGB und dem<br />

Deutschen Frauenrat – unterstützt.<br />

Mehr unter www.barcampfrauen.de<br />

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Text Holger Czitrich-Stahl<br />

Foto ullstein bild<br />

Die Geburt<br />

der Kanzlerstimme<br />

1949 sah man die Bundesrepublik schon auf der<br />

„Fahrt in Richtung Weimar“, doch dann führte vor 65 Jahren eine<br />

Reform des Wahlrechts zu einem Drei-Parteien-Parlament.<br />

Welches Wahlsystem repräsentiert den Wählerwillen am exaktesten?<br />

Welches Wahlsystem sichert die Funktionsfähigkeit des Parlaments am<br />

besten? Diese beiden Grundfragen sind so alt wie die demokratische<br />

Wahl an sich.<br />

Und so pendelten die Antworten stets zwischen dem Verhältniswahlrecht,<br />

das den <strong>Stimme</strong>nproporz abbildet und die Minderheiten schützt,<br />

und dem Mehrheitswahlrecht, das klare Mehrheiten verbürgt. Letzteres<br />

gilt in Großbritannien, ersteres wurde in der Weimarer Republik praktiziert<br />

und stets von der Sozialdemokratie favorisiert, um die <strong>Stimme</strong>n der<br />

„kleinen Leute“ nicht unter den Tisch fallen zu lassen. In der Weimarer<br />

Demokratie allerdings bildete das Wahlrecht nicht nur den Proporz ab,<br />

sondern auch die Zerrissenheit. So konnte per Präsidialkompetenz Hitler<br />

zum Reichskanzler ernannt werden. Das Mehrheitswahlrecht war in<br />

Deutschland überwiegend verpönt, grenzte es vor der Novemberrevolution<br />

in Kombination mit dem Zensussystem (z.B. dem Dreiklassen-Wahlrecht<br />

in Preußen) die „kleinen Leute“ beinahe komplett aus den<br />

Parlamenten aus.<br />

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So galt schon bei der ersten Bundestagswahl 1949 eine Kombination aus<br />

beiden Wahlsystemen: 60 Prozent der Bundestagsabgeordneten wurden<br />

direkt gewählt, 40 Prozent kamen über die Landeslisten (ohne Berlin) in<br />

den ersten Deutschen Bundestag. Allerdings hatten die Wahlberechtigten<br />

damals nur eine <strong>Stimme</strong>. Die Fünf-Prozent-Klausel galt nur eingschränkt<br />

und konnte durch eine Überschreitung in einem Bundesland bzw. durch<br />

ein Direktmandat übersprungen werden. Im ersten Deutschen Bundestag<br />

waren elf Fraktionen vertreten. CDU/CSU und SPD liegen mit 31 Prozent<br />

zu 29,2 Prozent dicht beieinander.<br />

30 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Wahlgesetzänderung im<br />

Vergleich zur letzten Bundestagswahl:<br />

Graphische Darstellung<br />

der Wahl mit Erststimme und<br />

Zweitstimme (Direktwahl der<br />

Abgeordneten bzw. Wahl über<br />

Landeslisten), Juni 1953<br />

Die Angst vor der Zersplitterung und<br />

einer möglichen Regierungsunfähigkeit<br />

sowie der Kalte Krieg forcierten Überlegungen<br />

zu einer Wahlrechtsreform.<br />

Schon 1952 hatte das Bundesverfassungsgericht<br />

die NS-Nachfolgerin SRP verboten,<br />

die in Niedersachsen und Bremen ihre<br />

Hochburgen hatte. Außerdem befand<br />

sich der Verbotsprozess gegen die KPD<br />

in der Schwebe.<br />

Am 25. Juni 1953 beschloss der Bundestag<br />

deshalb die Ausdehnung der Fünf-<br />

Prozent-Sperrklausel auf das gesamte<br />

Bundesgebiet, was die Bedingungen für<br />

kleine bzw. für verfassungsfeindliche<br />

Parteien erschwerte. Der Umweg über<br />

ein Direktmandat blieb bis 1956 rechtlich<br />

bestehen. Seither gilt, dass drei Direktmandate<br />

die Sperrklausel außer Kraft<br />

setzen. Das Bundeswahlgesetz von 1956<br />

gilt in seinen Grundzügen unverändert<br />

bis zum heutigen Tag.<br />

Gleichzeitig beschloss der Bundestag<br />

eine Vergrößerung der Anzahl seiner<br />

Sitze auf 484, ergänzte so die Landeslistenmandate<br />

von 158 auf 242, sodass je 50 Prozent<br />

auf Direkt- und Listenmandate entfielen.<br />

Um den Charakter des Wahlrechts<br />

als personalisiertes Wahlrecht zu unterstreichen,<br />

erhielt jeder Abstimmungsberechtigte<br />

nun eine zweite <strong>Stimme</strong>.<br />

Das <strong>Stimme</strong>nsplitting war geboren, die<br />

Zweitstimme wurde bald zur „Kanzlerstimme“.<br />

Die 22 <strong>Berliner</strong> Abgeordneten<br />

des Bundestages wurden aufgrund des<br />

Vier-Mächte-Status West-Berlins nicht<br />

direkt gewählt, sondern vom <strong>Berliner</strong><br />

Abgeordnetenhaus entsandt. Diese vom<br />

Bundestag in Bonn beschlossene Reform<br />

trat am 8. Juli 1953 in Kraft. Am 6. September<br />

desselben Jahres fanden in der<br />

Bundesrepublik die zweiten Bundestagswahlen<br />

statt. Statt elf gab es nur noch<br />

sechs Fraktionen im neuen Bundestag,<br />

auch die KPD verlor sämtliche bisherige<br />

Mandate an die SPD. Doch vor allem die<br />

Union profitierte von der Wahlrechtsreform,<br />

die sich von 31 auf 45,2 Prozent<br />

steigerte. Es begann ein Konzentrationsprozess<br />

auf drei Bundestagsfraktionen:<br />

CDU/CSU, SPD und FDP. Erst mit den<br />

Grünen 1983 änderte sich das.<br />

Blickt man zurück, so darf man feststellen,<br />

dass die Wahlrechtsreform von 1953 das<br />

politische System stabilisiert hat. Nicht<br />

zuletzt mussten sich die Bundestagsparteien<br />

bemühen, breite Wählerschichten<br />

programmatisch anzusprechen, was<br />

ihnen damals deutlich besser gelang als<br />

heute.<br />

Holger Czitrich-Stahl ist Geschichtslehrer<br />

in Reinickendorf und Historiker mit Schwerpunkt<br />

19. und 20. Jahrhundert.<br />

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„Bürgerschaftliches<br />

Engagement“ in der<br />

zweiten September-Woche.<br />

Foto: Adobe Stock · Jenny Sturm<br />

Wir wünschen einen schönen<br />

und erholsamen Sommer!

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