Nordis-Magazin 2/2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
KULTUR & LEBEN<br />
nordis-interview<br />
bilduNg<br />
auf die barrikade!<br />
im september 2017, im 33. jahr der göteborger buchmesse, der größten im norden und, gemessen<br />
an der einwohnerzahl schwedens, mit circa 100.000 besuchern größer als die buchmesse in frankfurt,<br />
ging es politisch hoch her. das lag am thema der Messe: bildung. dass buchmessen länderschwerpunkte<br />
ausrufen, ist das übliche – dass ein nun wirklich nicht simples thema wie bildung im Zentrum<br />
des Messediskurses stehen sollte, war neu und ist neu.<br />
teXt & interview: stePhan oPitZ<br />
»Keine Bildung zu haben, bedeutet,<br />
sich den Umständen zu überlassen«<br />
– diese Formulierung fi ndet sich in<br />
einem zur Messe erschienenen und breit<br />
diskutierten schwedischen Buch. »Bildningen<br />
på barrikaden» – die Bildung auf die<br />
Barrikade, so lautet der Titel dieses von Per<br />
Svensson und Thomas Steinfeld in deutschschwedischer<br />
Zusammenarbeit verfassten<br />
Buches, und der absolut nicht zu dicke<br />
Band dekliniert das Thema Bildung ebenso<br />
gründlich wie pointiert durch (Per Svensson,<br />
Thomas Steinfeld: »Bildningen på barrikaden.<br />
Ett Manifest.» Stockholm 2017,<br />
Svante Weyler Bokförlaget). <strong>Nordis</strong>-Autor<br />
Stephan Opitz führte ein Gespräch mit den<br />
beiden Autoren.<br />
Thomas und Per, wie kam es zu dem<br />
Buch?<br />
Wir sind beide leitende Redakteure bei einer<br />
großen Tageszeitung, Per Svensson lange<br />
Zeit bei »Sydsvenska Dagbladet«, jetzt<br />
bei »Dagens Nyheter«, Thomas Steinfeld<br />
im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«.<br />
Wir sind beide an Bildungsfragen interessiert<br />
und hatten, weil wir uns gut kennen,<br />
über die Jahre immer wieder darüber gesprochen,<br />
was Bildung ist und warum ein<br />
Mangel an Bildung ein gesellschaftliches<br />
Problem darstellt. Nun ist in den vergangenen<br />
Jahren das Thema Bildung in Schweden<br />
immer wichtiger geworden, aus mehreren<br />
Gründen: Zum Ersten verbirgt sich in<br />
der Forderung nach Bildung der Versuch,<br />
in einer immer disparateren, sich immer<br />
weiter in spezielle Milieus teilenden Gesellschaft<br />
so etwas wie eine geistige Einheit<br />
herzustellen. Gebildete Menschen können<br />
sich in der Regel mit sehr vielen Gegenstände<br />
beschäftigen, über die sie gemeinsam<br />
etwas wissen. Zum Zweiten haben offensichtlich<br />
immer mehr Menschen den<br />
Eindruck, den gesellschaftlichen Kräften<br />
ausgeliefert zu sein, also gar nicht mehr zu<br />
wissen, was mit ihnen geschieht. Auch darauf<br />
soll Bildung eine Antwort sein. Und<br />
zum Dritten stellt diese Verbindung eine<br />
Art Korrektiv zur »Identitätspolitik« dar,<br />
die in Schweden immer mehr die Öffentlichkeit<br />
beherrscht. »Identitätspolitik« das<br />
heißt, dass jede gesellschaftliche Gruppe –<br />
sei sie sexueller, ethnischer oder sozialer<br />
Bestimmung – auf Anerkennung ihrer Besonderheit<br />
pocht. Bildung ist immer auch<br />
ein Versuch, eine Gemeinschaft jenseits aller<br />
Besonderheiten herzustellen.<br />
Was ist die wichtigste Botschaft Eures<br />
Buches?<br />
In Schweden gibt es, einer langen Vergangenheit<br />
der Forderung nach Bildung in der<br />
Arbeiterbewegung zum Trotz, ein deutliches<br />
Ressentiment gegen Bildung. Man<br />
glaubt, Bildung seit etwas für die Oberschicht,<br />
etwas Luxuriöses und Überfl üssiges,<br />
das für gewisse bürgerliche Kreise eine<br />
Art höheren Zeitvertreib bildet. Wir haben<br />
versucht zu erklären, dass dieses Ressentiment<br />
blanker Unsinn ist. Bildung besteht<br />
zuallererst in dem Versuch, sich ein Bewusstsein<br />
von der eigenen Situation zu beschaffen,<br />
in jeder Hinsicht: kulturell, ökonomisch,<br />
politisch. Die Geschichte der Bildung<br />
ist zumindest in den europäischen Ländern<br />
eine Geschichte der Emanzipation, zuerst<br />
des Bürgertums gegen die feudale Ordnung<br />
dann der Unterschichten gegen die Überschichten.<br />
Insofern ist die angebliche Verbindung<br />
von Bildung und Oberschicht ein<br />
Versuch, ihren politischen Charakter zu beseitigen.<br />
Dass es in Schweden ausgerechnet<br />
die Sozialdemokratie ist, die sich im Namen<br />
der »Wirklichkeit« von der »fi nkultur«, einer<br />
als »ernst« oder »hoch« verstandenen<br />
Kultur, abgrenzt, ist ein Hohn auf ihre eigene<br />
Geschichte.<br />
Was ist das größte Problem beim Thema<br />
Bildung in Europa?<br />
Bildung setzt ein freies Verhältnis zu ihren<br />
Gegenständen voraus. Es gibt keine Bildung<br />
ohne Muße, ohne Verschwendung von Zeit<br />
und Kraft, und es gibt keine Bildung, die nur<br />
mit Curricula und Prüfungen zu erreichen<br />
wäre. Das Interesse muss sich frei bestimmen<br />
können. Wir leben in Zeiten, in denen<br />
die Verschulung des Wissens universal geworden<br />
ist – wobei sich die Inhalte des Wissens<br />
an dessen vermeintlicher Verwertbarkeit<br />
für im Grunde genommen stets<br />
ökonomisch gedachte Forderungen verstehen.<br />
Das heißt auch, dass sich dieses Wissen<br />
immer wieder selbst auslöscht, so wie man<br />
nach einer Prüfung stets vergisst, was man<br />
ausschließlich für diese Prüfung gelernt hat.<br />
Der Niedergang der Geisteswissenschaften<br />
an den Universitäten, ein Phänomen, das es<br />
überall in Europa gibt, aber das in Schweden<br />
besonders markant ist, fällt mit dem<br />
Ende jener Freiheit zum Wissen zusammen.<br />
72 <strong>Nordis</strong>