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Capture your life

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

Die Broschüre richtet sich an haupt-und ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugendverbandsarbeit/Jugendhilfe. Neben einer umfangreichen Einführung in die Theorie des Digital Storytellings bietet die Handreichung konkrete Hilfestellung zur Gestaltung eines eigenen Digital Storytelling Workshops sowie einer sozialwissenschaftlichen Analyse einzelner Digital Storys.

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capture <strong>your</strong> <strong>life</strong><br />

Digital Storytelling mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen


Inhalt<br />

Vorwort<br />

Kapitel 1<br />

– Von der Geschichte zur Digital Story<br />

– Was ist eine Geschichte?<br />

– Warum erzählen wir Geschichten?<br />

Kapitel 2<br />

– Bildsprache<br />

Kapitel 3<br />

– Was ist Digital Storytelling?<br />

– Warum Digital Storytelling?<br />

Kapitel 4<br />

– Was ist Biographiearbeit?<br />

– Warum Biographiearbeit?<br />

Kapitel 5<br />

– Warum Digital Storytelling in der<br />

Jugend(verbands)arbeit?<br />

4<br />

8<br />

10<br />

12<br />

14<br />

18<br />

Kapitel 7<br />

– DST mit Kindern<br />

Kapitel 8<br />

– Materialien und Methoden<br />

– Spiele<br />

– Grundstruktur einer Geschichte<br />

– <strong>Capture</strong> <strong>your</strong> Life! –<br />

Sieben Anregungen zu deiner Story<br />

– Interviewleitfaden<br />

Analyse<br />

– Digital Storytelling als wirksamer<br />

jugendlicher Selbstausdruck<br />

– „Spielkind – ein Film von Coby“<br />

(Der Körper als Ort des Ichs)<br />

–„Hühnchen & Pommes auf Kuba“<br />

(Gesucht und gefunden)<br />

– Dämonenaustreibung<br />

Literaturverzeichnis und Impressum<br />

34<br />

38<br />

48<br />

60<br />

Kapitel 6<br />

– Der Digital Storytelling-Workshop<br />

– Vorbereitung und Planung<br />

– Durchführung<br />

– Nach dem Workshop<br />

22


Vorwort<br />

Weil die eigene Lebensgeschichte immer auch Spiegel<br />

gesellschaftlicher, kultureller und sozialer Verhältnisse ist,<br />

liegt in der Biographiearbeit immer auch die Chance zur<br />

politischen Bildung und Veränderung. (Herbert Gudjons,<br />

Erziehungswissenschafler, *1940)<br />

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Ausgehend von<br />

dieser Frage ist die Naturfreundejugend Deutschlands zwei<br />

Jahre lang quer durch die Republik gefahren, um ganz unterschiedliche<br />

Jugendliche und junge Erwachsene zu treffen<br />

und sie aus ihrem Leben erzählen zu lassen. Wir wollten<br />

hören, welche Erlebnisse sie hatten und welche Erfahrungen<br />

sie gemacht haben, woran sie verzweifelt und woran sie gewachsen<br />

sind, welche Hindernisse sie überwinden konnten<br />

und von welchen Problemen ihr Alltag bis heute belastet ist.<br />

Wir wollten wissen, woher sie kommen, wer sie sind, wer<br />

sie sein möchten und was verändert, verbessert oder abgeschafft<br />

werden müsste, damit sie frei und selbstbestimmt in<br />

dieser Gesellschaft leben können.<br />

Wir, die Naturfreundejugend Deutschlands, sehen Bildung<br />

als eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Mitbestimmung.<br />

Unser pädagogisches Handeln befindet sich<br />

deshalb stets im Spannungsfeld zwischen der Ermöglichung<br />

von Selbstentfaltung einerseits und der Förderung einer –<br />

kritischen – Teilhabe an der Gesellschaft andererseits. Diese<br />

Arbeit fordert uns immer wieder neu heraus, aber sie lohnt<br />

sich: In dem hier beschriebenen Projekt haben wir erneut<br />

den ungeheuren Partizipationswillen junger Menschen<br />

erfahren dürfen.<br />

Unser Dank gilt an dieser Stelle allen, die ihre Erlebnisse<br />

und Erfahrungen mit uns geteilt haben und bereit waren,<br />

diese in Form von Bild und Ton, als Digitale Geschichte, auch<br />

für andere sichtbar zu machen. Wir bedanken uns zudem<br />

bei der Aktion Mensch für die finanzielle Unterstützung. Ohne<br />

sie hätten wir dieses Projekt so nicht realisieren können.<br />

Wo stehen wir nun nach diesen zwei Jahren? Es ist unser<br />

Wunsch, mit dem Erzählten weiterzuarbeiten, indem wir<br />

aus den geteilten Erlebnissen und Erfahrungen Handlungsprinzipien<br />

für die alltägliche Praxis in unserem Jugendverband<br />

ableiten. Konkret wollen wir uns weiterhin einsetzen<br />

für eine gleichberechtigte Teilhabe von Jugendlichen und<br />

jungen Erwachsenen in allen Lebensbereichen, uns stark<br />

machen gegen Diskriminierung und soziale Ausgrenzung und<br />

kämpfen für eine offene und lebendige Gesellschaft, in der<br />

alle Menschen die Möglichkeit erhalten, sich frei zu entfalten.<br />

Die vorliegende Broschüre richtet sich an haupt- und<br />

ehrenamtliche Akteur*innen in der Jugend(verbands)arbeit,<br />

insbesondere an solche, die sich selbst in der politischen<br />

Bildungsarbeit verorten.<br />

Die Broschüre gliedert sich in vier Abschnitte. Der erste<br />

Abschnitt, der Theorieteil (Kapitel 1-5), dient dem thematischen<br />

Einstieg. Hier werden die für die praktische<br />

Arbeit notwendigen Begrifflichkeiten und theoretischen<br />

Konzepte vorgestellt. Zudem werden die Verknüpfungen<br />

der hier vorgestellten Methode mit den Grundsätzen der<br />

Jugend(verbands)arbeit und insbesondere der politischen<br />

Bildungsarbeit aufgezeigt.<br />

Der dritte Teil der Broschüre (Kapitel 8) beinhaltet Methoden<br />

und Materialien, die in der Ausgestaltung eines Digital<br />

Storytelling-Workshops Anwendung finden können. Der<br />

Schwerpunkt liegt hierbei auf der Förderung der Kreativität im<br />

Allgemeinen und auf der Aneignung des kreativen Schreibens<br />

im Speziellen.<br />

Im vierten Abschnitt, der Analyse (Kapitel 9), werden dann<br />

schließlich beispielhaft drei Digital Storys von Jugendlichen<br />

und jungen Erwachsenen sozialwissenschaftlich ausgewertet<br />

Dario Scholl<br />

Bundesleitung<br />

Dennis Melsa<br />

Bundesgeschäftsführer<br />

und noch einmal die konkrete Verknüpfung mit den Aufgabenfeldern<br />

der politischen Bildungsarbeit hergestellt. Die<br />

ausgewerteten Digital Storys befinden sich neben weiteren<br />

15 Digital Storys auf der beigefügten DVD.<br />

Wir hoffen, dass die hier vorliegende Broschüre vielfach genutzt<br />

wird, und so noch mehr junge Menschen die Möglichkeit<br />

erhalten, ihre Lebensrealitäten sichtbar zu machen.<br />

Berg frei!<br />

Lukas Nicolaisen<br />

Bildungsreferent*in<br />

Der zweite Abschnitt, der Praxisteil (Kapitel 6 und 7), widmet<br />

sich dann ganz der praktischen Vorbereitung, Ausgestaltung<br />

und Nachbereitung eines Digital Storytelling-Workshops mit<br />

Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Technische Fragen<br />

werden geklärt, aber auch Strukturen und Arbeitsweisen<br />

vorgeschlagen.<br />

4<br />

5


Theorieteil


Kapitel 1<br />

1. Von der Geschichte zum Digital Storytelling<br />

Wirft man einen Blick auf die Menschheitsgeschichte, auf<br />

unterschiedliche Epochen und Kulturen, so stellt man schnell<br />

fest, dass die Tradition des Geschichtenerzählens zu jeder<br />

Zeit an jedem Ort bekannt war. Auch beim Digital Storytelling<br />

(DST), also bei der Verknüpfung des traditionellen Geschichtenerzählens<br />

mit multimedialer Technik, steht die Geschichte<br />

selbst und nicht etwa die technische Umsetzung im Vordergrund.<br />

Bevor also geklärt werden kann, was eine digitale<br />

Geschichte ist und wie die Methode des Digital Storytellings<br />

in der Jugend(verbands)arbeit genutzt werden kann, ist es<br />

notwendig, sich zunächst dem Begriff der „Geschichte“<br />

selbst zu nähern. Der Duden definiert eine Geschichte als<br />

„eine schriftliche oder mündliche Schilderung eines tatsächlichen<br />

oder erdachten Geschehens, Ereignisses etc.“. Hierunter<br />

fallen demnach also Romane, Novellen und Kurzgeschichten,<br />

Mythen und Märchen, aber auch autobiographische<br />

Texte und Alltagserzählungen. Unabhängig von Gattung,<br />

Genre und Stil erkennen wir eine Geschichte meistens sofort,<br />

wenn wir sie hören, lesen oder sehen. Es muss also bestimmte<br />

Merkmale geben, die dieses Erkennen möglich machen.<br />

Welche sind das? Oder: Was macht eine Geschichte zu einer<br />

Geschichte?<br />

1.1 Was ist eine Geschichte?<br />

Joseph Campell (amerikanischer Mythenforscher, 1904-<br />

1987) untersuchte in den 30er und 40er Jahren Sagen und<br />

religiöse Mythen aus verschiedenen Kulturen und Epochen.<br />

Dabei stellte er bezüglich Ablauf und Struktur viele Gemeinsamkeiten<br />

fest und entwickelte auf dieser Basis das Konzept<br />

einer universellen Heldengeschichte (Monomythos):<br />

Der Held wird durch ein Ereignis aus seinem Alltag gerissen.<br />

Das Ereignis ist so tiefgreifend, dass er sich entschließt, dem<br />

„Ruf des Abenteuers“ zu folgen und sich auf den Weg zu<br />

machen. Unterwegs muss der Held Hindernisse überwinden,<br />

Probleme lösen und Rückschläge hinnehmen. Am Ende<br />

seines Weges findet dann meistens eine entscheidende Prüfung<br />

statt: Hier kommt es zur Konfrontation und schließlich<br />

zur Überwindung des Gegners. Anschließend kehrt der Held<br />

dahin zurück, wo er hergekommen ist, aber – und das ist<br />

das zentrale Element - er ist nicht mehr der selbe wie vorher.<br />

Die Reise hat ihn verändert. Heldenreisen finden demzufolge<br />

also nicht nur auf einer physisch sondern vor allem auch auf<br />

einer psychischen Ebene statt (Transformation).<br />

Tipp: Gute Geschichten sind Heldengeschichten.<br />

Für die Arbeit mit der Methode des Digital Storytellings<br />

ist es gut, die Grundstruktur einer Heldenreise<br />

stets im Hinterkopf zu haben. Geschichten, also auch<br />

Alltagsgeschichten, werden zumeist erst dann zu guten<br />

Geschichten, wenn möglichst viele Elemente<br />

einer Heldenreise in ihr auftauchen. Es empfiehlt sich<br />

also, die Geschichten der Teilnehmer*innen darauf<br />

hin zu prüfen und gegebenenfalls Hilfestellung zu<br />

geben. (Siehe auch Kapitel 8.2 )<br />

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich von dem Begriff<br />

des Helden nicht verwirren zu lassen. Ein Held muss nicht<br />

zwangsläufig jemand sein, der „Heldenhaftes“ vollbracht<br />

hat – also zum Beispiel Leben gerettet oder den Ozean in<br />

einem Ruderboot überquert hat. Ein Held im Sinne einer<br />

Dramaturgie ist vielmehr ein ganz „normaler“ Mensch, der<br />

das Publikum emotional in Verbindung mit dem Thema<br />

bringt. Ein Held kann also zum Beispiel auch ein Kind sein,<br />

das Fahrradfahren lernt, ein Vater, der ein Faschingskostüm<br />

für seine Tochter näht, oder eine Oma, die mit ihrem Enkel<br />

einen Drachen baut. Der Held dient dem Publikum als Zugang<br />

zur Geschichte.<br />

1.2 Warum erzählen wir Geschichten<br />

Was eine Geschichte zu einer Geschichte macht, ist nun<br />

also geklärt. Was bleibt ist die Frage, warum wir überhaupt<br />

Geschichten erzählen beziehungsweise warum wir so gerne<br />

Geschichten hören – also die Frage nach der Funktion von<br />

Geschichten.<br />

Geschichten dienten schon immer der Wissensvermittlung.<br />

Sie waren lange Zeit das wichtigste Medium zur Weitergabe<br />

von kulturellen und religiösen Werten, Normen und Traditionen.<br />

Neben diesen eher gesellschaftlichen Funktionen hat<br />

das Geschichtenerzählen aber auch für den Einzelnen eine<br />

ganze Reihe von Funktionen, die auch für die Arbeit mit der<br />

Methode des Digital Storytellings von entscheidender Bedeutung<br />

sind. Der amerikanische Psychologe John McLeod<br />

hat diese Funktionen wie folgt zusammengefasst:<br />

„A story communicates:<br />

1. An expression of subjectivity, intentionality and identity –<br />

‚this is who I am‘.<br />

2. An expression of relationship – ‚this is the story I choose<br />

to tell to you‘.<br />

3.Data about the teller‘s understanding of his/her social<br />

world: ‚this is what I would expect, but look what happened<br />

yesterday...‘.<br />

As a form of thinking, or in more general term ‚sense-making‘,<br />

a story serves the following functions to the teller:<br />

4. Bringing order, sequence and a sense of completion to<br />

a set of experiences.<br />

5. Problem-solving, by providing a causal explanation for<br />

something that happened.<br />

6. Development of a sense of perspective, by placing a singular<br />

event into its broader context.“ (vgl. McLeod, 1997)<br />

Eine Geschichte ist also immer persönlich gefärbt und gibt<br />

deshalb zwangsläufig auch Auskunft über den Erzählenden<br />

selbst (1). Darüber hinaus werden Geschichten nicht zufällig<br />

erzählt sondern gezielt ausgesucht. Die Auswahl verrät etwas<br />

über die Beziehung, die zwischen dem*der Erzählenden<br />

und seinem*ihrem Publikum besteht (2). Außerdem erfährt<br />

man über Geschichten auch immer etwas über die soziale<br />

Welt, in der sich die erzählende Person bewegt (3). McLeod<br />

hält außerdem fest, dass das Geschichtenerzählen auch für<br />

den*die Erzählende*n wichtige Funktionen erfüllt. So kann<br />

das Erzählen zum Beispiel dabei helfen, Erfahrungen richtig<br />

einzuordnen (4), Probleme zu lösen oder besser zu verstehen<br />

(5), und schließlich können Geschichten dabei behilflich<br />

sein, bestimmte Ereignisse in einen größeren Kontext<br />

(zum Beispiel zeitgeschichtlich) einzuordnen (6). Ergänzend<br />

könnte man nach Campell hinzufügen, dass eine Geschichte<br />

(Heldenreise) immer auch vom Publikum nachempfunden<br />

und gewissermaßen miterlebt wird, und deshalb bestenfalls<br />

davon auszugehen ist, dass auch das Publikum eine Transformation<br />

durchläuft.<br />

Tipp: Geschichten haben Funktionen und wirken<br />

auf vielfältige Weise und auf unterschiedlichen Ebenen.<br />

Für die Arbeit mit DST ist es wichtig, sich dieser<br />

Funktionen und Wirkungen bewusst zu sein. Für die<br />

Teilnehmenden ist der Prozess des Erzählens häufig<br />

sehr anstrengend und herausfordernd – hier ist wichtig,<br />

dass man sich stets unterstützend, aufgeschlossen<br />

und wertschätzend den Teilnehmenden und ihren<br />

Geschichten gegenüber verhält.<br />

8<br />

9


Kapitel 2<br />

2. Bildsprache<br />

Digitale Geschichten werden immer über Fotos erzählt. Ähnlich<br />

wie bei der Betrachtung eines Fotoalbums mit Freunden<br />

oder Familienmitgliedern kann die Erzählung dabei viele<br />

verschiedene Formen annehmen: Sie kann in Worte fassen,<br />

was auf dem Bild zu sehen ist, Informationen über Zeit, Ort,<br />

Anlass und Personen liefern oder aber sich auch sehr weit<br />

vom Sichtbaren entfernen und von Gedanken, Gefühlen<br />

oder Erinnerungen sprechen, die mit dem, was das Auge<br />

sieht, nur lose verknüpft sind.<br />

Auf diese Weise kommen persönliche Lebensgeschichte und<br />

objektives Zeitgeschehen zusammen. Fotos - auch persönliche,<br />

intime, familiäre – bewahren immer Geschichte auf;<br />

kommen die „Geschichten“ der erzählenden Person dazu,<br />

kann das Publikum die Verschränkung von privat und geschichtlich-öffentlich<br />

besonders gut nachvollziehen. Es kann<br />

deutlich werden, wie privates Erleben mit geschichtlich-politischen<br />

Zusammenhängen verknüpft ist und umgekehrt.<br />

Das mag nicht selbstverständlich sein, schließlich handelt es<br />

sich ja bei unseren privaten Fotos nicht um offizielle Bildwerke,<br />

die mit einer bestimmten (dokumentarischen) Absicht<br />

entstehen. Oft machen wir solche Bilder ganz nebenbei, aus<br />

der Situation heraus. Um zu verstehen, wie die gesellschaftlichen<br />

Umstände ins Bild kommen, müssen wir uns anschauen,<br />

was ein Foto überhaupt ist und wie es funktioniert. Was<br />

unterscheidet ein Foto von einem gemalten Bild oder einer<br />

schriftlich festgehaltenen Erinnerung?<br />

Fotos halten einen Moment in seiner Gesamtheit fest. Solche<br />

Momente bestehen aber aus viel zu vielen Einzelheiten,<br />

die ein*e Fotografin*in kaum alle kontrollieren kann, gerade<br />

dann, wenn ein Bild nebenbei im Alltag entsteht. Wie die<br />

Menschen vor der Kamera angezogen sind, wie sie gucken,<br />

welche Pose sie einnehmen, aber auch, was im Hintergrund<br />

zu sehen ist, wie Wetter, Straßen, Autos, Gebäude, lässt sich<br />

nicht bis ins Letzte planen. Es ist einfach da und gerät beim<br />

Schnappschuss vor die Linse. Während man bei einem Gemälde<br />

jedes Detail genau planen kann und bei einem Text<br />

nur ausgewählte Elemente übernimmt, erfasst die Kamera<br />

zunächst einmal unterschiedslos alles, was im Bildausschnitt<br />

gerade vorhanden ist. Ob wir wollen oder nicht, das Foto<br />

entzieht sich immer ein bisschen unserer Kontrolle. Schon<br />

damit drängt sich ungefragt eine Menge Zeitgeschichte ins<br />

Bild, auch wenn wir gar nichts dokumentieren wollen.<br />

Fotos entstehen aber auch immer aus Gewohnheiten heraus,<br />

die uns selbstverständlich erscheinen. Wenn wir Gruppenfotos<br />

machen, bitten wir größere Menschen, sich hinten<br />

aufzustellen oder sich vor die Kleineren zu hocken. Wir<br />

finden es selbstverständlich, dass alle in die Kamera schauen<br />

und lächeln – das berühmte „Cheese!“. Schaut man sich<br />

viele typische Fotosituationen im Vergleich an – also Bilder<br />

aus dem Kindergarten, aus der Schule, von Festen, aus dem<br />

Urlaub – stellt man fest, dass es allgemein gültige Posen,<br />

Gesichtsausdrücke und Personenanordnungen gibt, die<br />

Fotograf*in und fotografierte Person ganz automatisch<br />

einnehmen und einfordern, ohne sich ausdrücklich darüber<br />

zu verständigen. Wir „wissen einfach“, wie bestimmte Fotos<br />

auszusehen haben und verhalten uns entsprechend.<br />

Solche Bildkonventionen haben immer damit zu tun, welche<br />

Bedeutung die Situation in unserem Leben hat: Ist Urlaub<br />

etwas Besonderes, das man sich nur mühevoll leisten kann,<br />

oder ganz alltäglich? Muss man sich in der Schule gut benehmen<br />

und „passen“ oder sollen wir dort eher individuell<br />

und kreativ sein? Ist Weihnachten das Fest einer Großfamilie,<br />

bei dem Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse eine<br />

Rolle spielen, oder geht es vor allem um Spaß und Geschenke?<br />

Wie Fotos „richtig“ inszeniert werden, was ein „normales“,<br />

„gutes“ Bild ist, verrät uns so schon eine Menge über<br />

gesellschaftliche Umstände.<br />

So etwas ändert sich natürlich im Lauf der Zeit – und auch<br />

das kann man anhand von Fotos beobachten. Und natürlich<br />

kann man auch ganz bewusst gegen Bildkonventionen<br />

verstoßen und sich vor der Kamera so verhalten, wie es<br />

eigentlich überhaupt nicht angesagt ist. Auch das kann man<br />

aber (im Vergleich mit anderen Fotos) erkennen und auch<br />

das sagt uns dann etwas über die Normalität dieser Zeit und<br />

die Versuche, die es gab, dagegen aufzubegehren.<br />

Fotos entstehen also im Spannungsfeld zwischen Kontrollverlust<br />

– wenn wir auf den Auslöser drücken, können wir<br />

nicht 100-prozentig bestimmen, was gerade vor der Kamera<br />

los ist – und dem Versuch der Inszenierung – wir fotografieren<br />

so, wie wir es aus unserer Zeit und Prägung heraus richtig<br />

und angemessen finden, stellen uns die Leute richtig hin<br />

und sortieren am Ende die Bilder aus, die wir für ungeeignet<br />

halten. Es gibt kein Foto, das nicht wenigstens ein bisschen<br />

Platz für Zufälle hat, und kein Foto, das nicht bis zu einem<br />

gewissen Grad geplant ist.<br />

Beides ebnet der gesellschaftlichen Umwelt den Weg ins<br />

Foto. Der Zufall holt auch die Elemente unserer Umwelt ins<br />

Bild, an die wir nicht gedacht haben und die wir vielleicht<br />

lieber gar nicht im Bild hätten; die Planung zeigt unsere<br />

Auseinandersetzung mit gesellschaftlich geformten<br />

Vorstellungen von guten und angemessenen Bildern, die<br />

wir befolgen oder von denen wir uns abgrenzen können.<br />

Fotos zeigen damit auf zwei Ebenen, wie unser privater<br />

Blick mit gesellschaftlichen Bedingungen zusammen hängt:<br />

Durch das, was auf dem Bild zu sehen ist, und durch die<br />

Inszenierung, die sich im Bild ausdrückt, also die Art, wie<br />

Fotograf*in und Personen vor der Kamera das Bild aufbauen.<br />

Wenn wir – über ein Fotoalbum gebeugt, mit Freunden am<br />

Handy oder in einer Digitalen Geschichte – mit anderen über<br />

Bilder sprechen, fügen wir noch eine weitere Ebene hinzu.<br />

In der Fotoanalyse spricht man davon, dass „ein Blickpfad“<br />

durch das Bild gelegt wird. Erzähler*innen wählen beim<br />

Betrachten aus, sie konzentrieren sich auf das, was ihnen<br />

wichtig ist, und lassen anderes beiseite, sie thematisieren<br />

die Inszenierung oder nicht, ziehen Vergleiche mit anderen<br />

Bildern und so weiter. Das ist der individuelle Blick auf die<br />

gesellschaftlichen Zustände im Damals des Fotos aus dem<br />

Heute der Betrachter*innen. Und auch diese Auswahl,<br />

was wir interessant finden und was nicht, ist wieder durch<br />

unsere gesellschaftliche Lage beeinflusst – was wir erlebt<br />

haben (und was nicht), was man uns als gut und angemessen<br />

beigebracht hat, was uns ins Auge springt und was wir<br />

für unwichtig halten, was uns vielleicht gar nicht auffällt.<br />

Eine Digitale Geschichte ist die Neuinszenierung eines Bildes<br />

durch Sprache. In ihr denken wir laut darüber nach, wie eine<br />

vergangene Mischung aus Individuellem und Gesellschaftlichem<br />

uns heute prägt.<br />

10<br />

11


Kapitel 3<br />

3. Was ist Digital Storytelling?<br />

Die Bandbreite dessen, was als Digital Story bezeichnet<br />

wird, ist groß. So zählen Computerspiele genauso zu den<br />

Digital Storys wie interaktive Spielgeschichten, digitale<br />

Lehrgeschichten oder persönliche Digital Storys. Allen<br />

Beschreibungen gemeinsam ist, dass es sich dabei um eine<br />

Form des Geschichtenerzähles handelt, bei der zusätzlich<br />

zum Text verschiedene multimediale Elemente wie Bild, Ton,<br />

Animation oder Video eingesetzt werden. Im Kontext dieser<br />

Broschüre ist mit Digital Storytelling stets die Produktion<br />

einer persönlichen Digital Story gemeint. Alle anderen möglichen<br />

Formen des Digital Storytellings werden hier nicht<br />

behandelt.<br />

Persönliche Digital Storys<br />

Diese Form der Digital Story knüpft direkt an die orale Tradition<br />

der Alltagsgeschichten an, wie sie zum Beispiel in der Familie,<br />

am Arbeitsplatz oder in Freundeskreisen gepflegt wird.<br />

Das reine Erzählen wird jedoch um multimediale Elemente<br />

erweitert. Persönliches Digital Storytelling ist also eine Praxis,<br />

in der persönliche Geschichten mit digitalen Elementen zu<br />

einem multimedialen Produkt, einer Art Kurzfilm, kombiniert<br />

werden. Anders als bei herkömmlichen Kurzfilmen werden<br />

bei dieser Methode aber ausschließlich Geschichten aus dem<br />

eigenen Leben erzählt.<br />

3.1 Warum Digital Storytelling?<br />

Vorreiter auf dem Gebiet des (persönlichen) Digital Storytellings<br />

ist Joe Lampert, Direktor des Center of Digital Storytelling.<br />

Lampert und seine Mitarbeiter*innen entwickelten<br />

1993 den Digital Storytelling Workshop, ein Programm, das<br />

sich als „Art for the People - Programm“ versteht. Ziel des<br />

Programms ist es, den Teilnehmer*innen zu helfen „ihre<br />

eigene Stimme zu finden und ihrer Geschichte Gehör zu<br />

verschaffen“ (vgl. Lambert, 2006). Bevor es Internet, Digitalkameras<br />

und Open-Source-Produkte gab, war das Geschichtenerzählen<br />

häufig „wichtigen“ Leuten vorbehalten.<br />

In Form von Autobiographien, Interviews und Dokumentationen<br />

hatten allein sie die Möglichkeit, aus ihrem Leben<br />

zu erzählen, Erfahrungen weiterzugeben und Einfluss zu<br />

nehmen. Alle anderen durften nur zuhören. Dank der<br />

neuen Medien ist es heute viel mehr Menschen möglich, ihr<br />

Leben, ihre Erfahrungen und Erlebnisse für andere sichtbar<br />

zu machen. Diese Möglichkeit beinhaltet auch das Potential,<br />

dass mehr Menschen direkt und indirekt Einfluss auf<br />

gesamtgesellschaftliche Prozesse nehmen können. Ausgehend<br />

von dieser Grundidee entstanden in den letzten Jahren<br />

weltweit Digital Storytelling-Projekte und -Programme für<br />

unterschiedliche Zielgruppen und mit unterschiedlichen<br />

Fragestellungen.<br />

Es geht also darum, persönliche Erfahrungen, Erlebnisse oder<br />

Perspektiven in Form von Bild, Ton und Sprache aufzuarbeiten<br />

und für andere sichtbar und erfahrbar zu machen.<br />

Für die bildliche Darstellung benutzt man überwiegend<br />

persönliche Erinnerungsstücke wie zum Beispiel Fotos, kurze<br />

Videosequenzen, eigene Zeichnungen, Postkarten, Briefe<br />

et cetera. Die eigene Stimme begleitet die bildliche Darstellung.<br />

Beim persönlichen Digital Storytelling steht also<br />

der authentische Inhalt der Geschichte klar an erster Stelle,<br />

technische Perfektion ist hingegen eher zweitrangig. Eine<br />

digitale Geschichte ist zwischen einer und maximal vier<br />

Minuten lang.<br />

Gemeinsam ist allen Programmen und Projekten die Fokussierung<br />

auf die Potentiale der Methode hinsichtlich Empowerment<br />

und politischer Teilhabe. Zudem stellt Digital Storytelling<br />

immer eine Form der Biographiearbeit dar. Es ist daher<br />

angeraten, sich mit Wirkung und Funktion biographischen<br />

Arbeitens auseinanderzusetzen, bevor man einen Digital<br />

Storytelling Workshop abhält.<br />

12<br />

13


Kapitel 4<br />

4. Was ist Biographiearbeit?<br />

Der Begriff der Biographie setzt sich zusammen aus den<br />

griechischen Wörtern bios (Leben) und graphein (darstellen,<br />

schreiben) und bedeutet so viel wie Lebensbeschreibung.<br />

Dieser Herleitung kann man bereits entnehmen, dass es sich<br />

bei einer Biographie nicht um ein passives Abbild von gelebten<br />

Leben, sondern vielmehr um das Ergebnis eines sehr<br />

individuellen und gestalterischen Prozesses handelt.<br />

Biographie wird also nie nur wiedergegeben, sondern immer<br />

auch vom Individuum selbst hergestellt, und zwar vor dem<br />

Hintergrund und unter Einfluss der eigenen sozialen Teilhabe,<br />

des Milieus, der Kultur und der jeweiligen Zeit. Der Begriff<br />

der Arbeit deutet in diesem Zusammenhang darauf hin,<br />

dass dieser Prozess zielgerichtet und beabsichtigt ist. Kurz<br />

gesagt handelt es sich bei der Biographiearbeit also um die<br />

Beschäftigung und die kreative Auseinandersetzung mit der<br />

eigenen Lebensgeschichte. Diese „biographische Selbstreflexion“<br />

wird meistens pädagogisch angeleitet und begleitet.<br />

Je nach Arbeitsfeld und Adressat*innengruppe findet man<br />

in der Praxis unterschiedliche Ansätze des biographischen<br />

Arbeitens. So hat zum Beispiel das biographische Arbeiten<br />

in der Altenhilfe einen eher pflegerischen Ansatz, während<br />

dem Arbeiten in der Jugendhilfe in den meisten Fällen ein<br />

eher pädagogischer Ansatz zu Grunde liegt.<br />

Auch in der Psychotherapie finden Formen der Biographiearbeit<br />

Anwendung. Die angewandten Verfahren und<br />

Methoden unterscheiden sich je nach Kontext deutlich voneinander<br />

(Genogramm, Theater, Rollenspiele, Film et cetera),<br />

daher ist es kaum möglich, das Konzept „Biographiearbeit“<br />

einheitlich zu erfassen oder als Methode zu beschreiben.<br />

Allem biographischen Arbeiten ist aber die Vorstellung<br />

gemein, dass es ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, dem<br />

eigenen Leben eine Bedeutung zu geben (vgl. Jansen, 2011).<br />

4.1 Warum Biographiearbeit?<br />

Trotz unterschiedlicher Adressat*innengruppen, Verfahren<br />

und Methoden lassen sich übergeordnete Ziele und Funktionen<br />

biographischen Arbeitens beschreiben, auf die in<br />

unterschiedlichen Zusammenhängen der praktischen Biographiearbeit<br />

immer wieder verwiesen wird. Hierzu gehören:<br />

1. Identitätsentsentwicklung<br />

Eine wichtige Funktion des biographischen Arbeitens besteht<br />

darin, Menschen bei der Entwicklung ihrer Identität zu<br />

unterstützen. Diese Funktion steht besonders dann im<br />

Vordergrund, wenn es um das Verarbeiten von kritischen<br />

Lebensereignisse oder lebensgeschichtlichen Brüchen geht<br />

(vgl. Filipp, 2007). Zu den kritischen Lebensereignissen<br />

gehören zum einen unvorhersehbare Ereignisse, wie zum<br />

Beispiel Verlust oder Trennung von Bezugspersonen, Krankheiten,<br />

Gewalterfahrungen oder andere Ereignisse, die<br />

das bisherige Lebenskonzept in Frage stellen. Gleichzeitig<br />

gehören hierzu aber auch sogenannte normierte Umbruchsituationen,<br />

die im Lebenslauf durchaus vorhersehbar sind<br />

zum Beispiel Schulabschluss, Auszug aus dem Elternhaus<br />

oder Familiengründung.<br />

Fragen wie: „Wer war ich?“, „Wer bin ich?“, „Wer werde<br />

ich sein?“ werden hier gestellt und bearbeitet.<br />

„Man wird so oft gefragt, wer man mal sein will, so<br />

beruflich und so, aber es fragt eigentlich nie jemand<br />

danach, wie man zu dem Menschen geworden ist,<br />

der man ist. Das war ja auch Arbeit. Da hab ich was<br />

geleistet.“ (Maya, 19 Jahre)<br />

14<br />

Kritische Lebensereignisse sind in beiden Fällen dadurch<br />

charakterisiert, dass sie den betreffenden Personen von<br />

„Außen“ aufgezwungenen werden. Sie haben deswegen<br />

immer auch das Potential, Verunsicherung hervorzurufen,<br />

Selbstsicherheit zu beschädigen und Identität zu bedrohen.<br />

Im Rahmen der Biographiearbeit geht es dann um ein<br />

„Arbeiten an der Diskontinuität“ des eigenen Lebens (vgl.<br />

Alheit, 2003). Ziel ist es, Brüche und kritische Lebensereignisse<br />

sinnvoll in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren<br />

und damit die eigene Identität(sentwicklung) zu stärken.<br />

15<br />

2. Stabilisierung und Bewältigung<br />

Eine weitere wichtige Funktion der Biographiearbeit besteht<br />

darin, Menschen bei der Bewältigung von oben genannten<br />

kritischen Lebensereignissen zu unterstützen und sie so in<br />

ihrer Krise oder im Nachgang einer Krise zu stabilisieren. Bewältigung<br />

meint in diesem Zusammenhang alle Formen der<br />

Auseinandersetzung mit inneren oder äußeren Zuständen<br />

(Gefühlen oder Ereignissen), die die momentan verfügbaren<br />

Ressourcen einer Person übersteigen und sie deshalb in ihrer


Kapitel 4<br />

Handlungsfähigkeit und/oder ihrem Wohlbefinden einschränken<br />

(vgl. Greve, 2008). Beim biographischen Arbeiten<br />

geht es in diesem Zusammenhang zunächst darum, subjektives<br />

Erleben ausdrücken zu dürfen. Den Lebenskrisen wird<br />

also ganz bewusst Raum gegeben. Eine (erneute) konstruktive<br />

Auseinandersetzung mit der Krise wird dadurch ermöglicht.<br />

Diese Auseinandersetzung birgt auch das Potential,<br />

dass die Teilnehmer*innen sich ihrer eigenen Ressourcen,<br />

die sie zur Problembewältigung einsetzen könnten, bewusst<br />

werden.<br />

„Mir hat es gut getan, darüber zu sprechen. Mir hat<br />

es gut getan, den anderen meinen Film zu zeigen. Ich<br />

habe mich nicht mehr so machtlos gefühlt.“ (Anonym)<br />

„Denn trotz allem Bitteren und Traurigen sind wir als<br />

Menschen dazu in der Lage, mit unserer Geschichten<br />

aufrecht dazustehen und uns auszudrücken.“<br />

(Jonas, 26 Jahre)<br />

4. Politische Bildung und Veränderung<br />

In Biographien werden Werte und Normen einer Gesellschaft,<br />

wie sie institutionell, aber auch informell durchgesetzt<br />

werden, sichtbar. Lebensgeschichten sind Produkt der Auseinandersetzung<br />

mit diesen gesellschaftlichen Umständen.<br />

Biographien verraten, welche Wünsche und Bedürfnisse<br />

Menschen hatten, welche erfüllt werden konnten und welche<br />

nicht, welche Probleme bewältigt werden mussten, welche<br />

Sorgen und Nöte das Denken und Handeln bestimmt haben.<br />

3. Aktivierung von Ressourcen<br />

Die bisherigen Ausführungen deuten bereits an, dass durch<br />

die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie lebensgeschichtlich<br />

erworbene Ressourcen aktiviert werden können<br />

(vgl. Hözle, 2009). Das heißt, die Auseinandersetzung<br />

mit Lebenskrisen und die Erinnerung daran, wie diese bewältigt<br />

wurden, stärken das Gefühl der Selbstwirksamkeit.<br />

Die Wahrnehmung von eigenen Potentialen und Ressourcen<br />

wird gestärkt. Bestenfalls können diese dann auch auf zukünftige<br />

oder aktuelle Situationen übertragen werden. Eine<br />

wichtige Funktion des biographischen Arbeitens ist es also,<br />

die eigenen Ressourcen für den Umgang mit Lebenskrisen<br />

und biographischen Herausforderungen zu aktivieren und<br />

verfügbar zu machen. Das Erinnern an schöne und glückliche<br />

Momente, Ereignisse und Begegnungen eignet sich<br />

zur Aktivierung von Ressourcen und Potentialen bei allen<br />

Zielgruppen.<br />

Privilegien und Ausgrenzungen (und ihre Gründe) werden<br />

ersichtlich. Deshalb beinhaltet das biographische Arbeiten<br />

und das Sichtbarmachen biographischen Arbeitens immer<br />

auch die Chance auf politische Bildung und Veränderung.<br />

Denn mit dem Sichtbarmachen der eigenen Biographie kann<br />

auch die Verflechtung von Individuellem und Gesellschaftlichem<br />

explizit gemacht werden, Einzelschicksale können in<br />

größere Zusammenhänge eingeordnet und Austausch über<br />

die als gemeinsam erkannten Probleme initiiert werden. Hieraus<br />

kann dann politisch solidarisches Handeln erwachsen.<br />

„Die Geschichte würde den großen Einfluss und den<br />

institutionellen Rassismus zeigen, den staatliche Instanzen,<br />

Behörden et cetera zu gegebenen Zeiten ausgeübt<br />

haben. Bis hin zu einem sehr privaten Bereich: der<br />

Entscheidung, wen ich heirate, liebe oder mit wem ich<br />

eine Familie gründe. Sie würde ein kritisches Bewusstsein<br />

zu staatlichen Institutionen und unserem Umgang<br />

mit ihnen anregen.“ (Cynthia, 25 Jahre)<br />

16<br />

17


Kapitel 5<br />

5. Warum Digital Storytelling in der<br />

Jugend(verbands)arbeit?<br />

Ein Ziel der Jugend(verbands)arbeit ist es, Jugendliche und<br />

junge Erwachsene bei ihrer Persönlichkeitsbildung und Identitätsentwicklung<br />

zu unterstützen. Sie soll an den Interessen<br />

Jugendlicher und junger Erwachsener anknüpfen, aber vor<br />

allem auch von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden.<br />

Junge Menschen sollen zur Selbstbestimmung befähigt und<br />

zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement<br />

angeregt und hingeführt werden. Digital Storytelling<br />

als Methode der biographischen Selbstreflexion fügt<br />

sich hier umfassend ein.<br />

Im Alltag finden Jugendliche und junge Erwachsene oft nur<br />

wenig Gelegenheit und Anregung, sich mit der Formulierung<br />

und Reflexion eigener Lebensrealitäten und -entwürfe<br />

eingehend auseinanderzusetzen. Sie werden schlicht und<br />

ergreifend selten nach ihren Erlebnissen, Erfahrungen und<br />

Biographien befragt. Nach wie vor herrscht hier die Meinung<br />

vor, dass nur, wer viel gelebt hat, auch viel Wertvolles<br />

zu erzählen hat. Die Aufforderung, biographisch zu erzählen,<br />

erfolgt also meist erst dann, wenn schon viel Lebenszeit<br />

gelebt wurde, oder in Ausnahmefällen dann, wenn jemand<br />

eine „besondere“ Leistung erbracht hat.<br />

Wenn man aber Jugendliche und junge Erwachsene an<br />

gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Entscheidungen<br />

partizipieren lassen möchte, ist es notwendig, ihre<br />

Erfahrungen und Lebensrealitäten – also ihre Biographien<br />

- gleichberechtigt anzusehen und sie in gesellschaftspolitisches<br />

Handeln miteinzubeziehen und zwar unabhängig<br />

davon ob sie eine bestimmte Leistung erbracht haben oder<br />

nicht. Es ist notwendig nachzufragen, wer sie sind, woher<br />

sie kommen, welche Hürden, Schwierigkeiten und Probleme<br />

sie gemeistert, welche Hoffnungen sie bis heute gehegt<br />

und welche sie längst aufgegeben haben. Erst die gemeinsame<br />

Rückschau, das Anerkennen und Miteinbeziehen des<br />

bisher gelebten Lebens macht auch ein gemeinsames nach<br />

vorne Schauen und das Entwickeln von gesellschaftlichen<br />

Utopien möglich. Nur so nämlich kann auch der Schritt<br />

vom Einzelschicksal und dem zunächst als rein individuell<br />

wahrgenommenen Erfolg oder Misserfolg im Leben hin zur<br />

Erkenntnis der gesellschaftlichen (Mit-)bedingtheit solchen<br />

Erlebens erfolgen. Dieser wiederum ist Voraussetzung<br />

für gemeinsames solidarisches Handeln über vermeintliche<br />

Grenzen hinweg. Denn durch das bewusste Reflektieren,<br />

Strukturieren und Aufbereiten eigener prägender Erlebnisse<br />

im methodischen Prozess, den Abgleich mit ähnlichen und<br />

fremden Lebenserfahrungen und vor allem die Einbettung in<br />

den öffentlichen Raum, erleben die Teilnehmenden, dass ihr<br />

Leben durch gesellschaftliche Zusammenhänge geprägt ist,<br />

aber auch - und das ist das Entscheidende - dass diese durch<br />

Eigeninitiative und vor allem durch solidarisches politisches<br />

Handeln gestaltbar sind.<br />

Biographisches Arbeiten mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

stellt also immer auch eine Form der politischen<br />

Bildungsarbeit sowie ein Arbeiten an der Förderung gesellschaftspolitischer<br />

Partizipation dar. Im Hinblick darauf eignet<br />

sich Digital Storytelling als Methode der biographischen<br />

Selbstreflexion besonders gut, weil die Teilnehmer*innen in<br />

diesem Rahmen selbst bestimmen, welches Ereignis, welche<br />

Erfahrung es wert ist, erzählt zu werden. Sie selbst sind<br />

diejenigen, die etwas in den Fokus rücken, ihm Bedeutung<br />

verleihen und nicht etwa standardisierte Fragebögen im<br />

Rahmen eines quantitativen oder qualitativen Interviews. Sie<br />

werden also zu Expert*innen ihrer eigenen Lebensrealität erklärt.<br />

Für die Jugend(verbands)arbeit beinhaltet Digital Storytelling<br />

somit immer auch das Potential, sich den Themen<br />

zu nähern, die in der Lebensrealität von jungen Menschen<br />

tatsächlich eine Rolle spielen.<br />

18<br />

19


Praxisteil


Kapitel 6<br />

6. Der Digital Storytelling-Workshop<br />

Wer einen Digital Storytelling–Workshop (DST-WS) leiten<br />

möchte, sollte sich über seine eigenen Kapazitäten, Fähigkeiten<br />

und Grenzen im Klaren sein.<br />

Was kann ich mir zutrauen, was kann ich leisten? Möchte ich<br />

den Workshop alleine machen, oder suche ich mir jemanden,<br />

der andere Talente (zum Beispiel ein großes technisches<br />

Verständnis) mitbringt und mich deshalb gut unterstützen<br />

und ergänzen kann? Alleine hat man einige Bereiche abzudecken:<br />

Organisation der Rahmenbedingungen, pädagogische<br />

Anleitung und Betreuung der Teilnehmer*innen, Zeitmanagement,<br />

die Vermittlung von Inhalten sowie die technische<br />

Betreuung. Oftmals liegen einem einzelne dieser Dinge<br />

gut, andere aber weniger. Ein*e Partner*in kann daher<br />

entlastend sein und ermöglicht darüber hinaus auch eine<br />

größere Teilnehmerzahl.<br />

Abseits von diesen eher organisatorischen Fragen sollte man<br />

sich aber auch seiner persönlichen Kapazitäten, Fähigkeiten<br />

und Grenzen bewusst sein: Gibt es zum Beispiel Themen,<br />

die mich persönlich treffen könnten? Wie gehe ich damit<br />

um? Gibt es in meiner eigenen Biographie etwas, das nicht<br />

bearbeitet ist, und falls ja, traue ich es mir trotzdem zu,<br />

Teilnehmer*innen zu betreuen, die ein ähnliches Thema<br />

bearbeiten möchten? Und falls nicht, wie verhalte ich mich<br />

dann?<br />

Gerade am Anfang macht man sich häufig nicht deutlich<br />

genug bewusst, welche Bandbreite an biographischen<br />

Themen in einem solchen Workshop zu Tage treten können<br />

und welch großer Betreuungsumfang zum Teil geleistet<br />

werden muss. Lebenskrisen sind nicht selten Themen, mit<br />

denen Teilnehmer*innen sich im Rahmen eines Digital<br />

Storytelling-Workshops beschäftigen möchten. Aus Sicht<br />

der ressourcenorientierten Biographiearbeit ist gerade diese<br />

Auseinandersetzung ja auch durchaus gewollt. In diesem<br />

Zusammenhang ist es wichtig, sich im Vorfeld eines DST-WS<br />

so genau wie möglich über die Gruppenzusammensetzung<br />

im Klaren zu sein. Eigene Berührungsängste, Vorurteile und<br />

Unsicherheiten sollten einem bewusst sein. Leitfragen könnten<br />

sein: Empfinde ich die Teilnehmer*innen, für die ich den<br />

Workshop plane, aus einem bestimmten Grund als besonders<br />

herausfordernd? Haben sie einen speziellen Förderbedarf?<br />

Wie sieht dieser aus? Bin ich dem gewachsen?<br />

Hat man Bedenken, könnte man beispielsweise die Teilnehmerzahl<br />

verringern, Hilfe hinzuziehen oder den zeitlichen<br />

Rahmen erweitern.<br />

Wir, die Naturfreundejugend Deutschlands, empfehlen jedem,<br />

im Vorfeld zumindest einmal eine eigene Digital Story produziert<br />

zu haben, um inhaltliche, technische und zeitliche Aspekte<br />

einschätzen zu können. Man kann Teilnehmer*innen<br />

in der Regeln besser unterstützen, wenn man zum Beispiel<br />

selbst schon mal vor einem leeren Blatt Papier saß und nicht<br />

wusste, was oder wie man etwas schreiben soll.<br />

6.1 Vorbereitung und Planung<br />

6.1.1 Technik<br />

DST ist in technischer Hinsicht eine besonders niederschwellige<br />

Methode. Das Equipment ist überschaubar, leicht zu<br />

bedienen und relativ kostengünstig. Im Folgenden wird das<br />

wichtigste Equipment aufgeführt, die Anforderungen und<br />

Funktionen werden erklärt.<br />

Ihr braucht eine Videoschnitt-Software. PC und Mac bieten<br />

vorinstallierte, kostenlose Programme, die allerdings nur eingeschränkte<br />

Funktionen besitzen. Es gibt auch einige weitere<br />

kostenlose oder kostengünstige Varianten, als am praktischsten<br />

hat sich aber das circa 70 Euro teure Programm<br />

Magix Video Deluxe erwiesen (Stand: Frühjahr 2013).<br />

Ein Schnittprogramm sollte eine gut strukturierte, selbsterklärende<br />

Benutzeroberfläche haben, die ihr selber versteht<br />

und problemlos vermitteln könnt. Darüber hinaus muss es<br />

im Wesentlichen die folgenden Funktionen haben:<br />

– Importieren aller Bild-, Ton- und Videoformate, vor allem<br />

auch Videos aus Consumer-Digitalkameras. Anlegen von<br />

Foto- und Bewegtbild (Videos) sowie Ton in mehr als 2<br />

Spuren<br />

– Schneiden, Verschieben, neu Zusammenfügen<br />

– Einfügen von Titeln<br />

– Eine kleine Palette von Videoeffekten wie Ein- und<br />

Ausblenden von Bild und Ton, Überblenden, Bild Drehen,<br />

den Ausschnitt von Bildmaterial Verändern, Rein- und<br />

Rauszoomen<br />

– Komfortables Exportieren des fertigen Films: Das Programm<br />

sollte in der Lage sein, ein Quicktime-file, MOV<br />

oder AVI mit guter Qualität bei geringer Dateigröße zu<br />

exportieren. Dazu sollte es beispielsweise den mp4-codec<br />

verwenden können. Unbedingt exemplarisch testen! Ihr<br />

werdet euch ärgern, wenn die Teilnehmer*innen am Ende<br />

des Workshops Stunden auf das Exportieren der Filme<br />

warten müssen, weil es technische Probleme gibt.<br />

Ihr benötigt Computer, auf denen das Programm installiert<br />

ist. Sie sollten schnell genug sein, um ein Video „ruckelfrei“<br />

wiedergeben zu können. Auch hier ist vorheriges Testen zu<br />

empfehlen. Am besten versucht ihr mal, eine DVD auf dem<br />

Computer abzuspielen. Sollte das nicht möglich sein, eignet<br />

sich der Computer vermutlich nicht zur Produktion einer<br />

Digital Story.<br />

Tipp: Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsen<br />

in Deutschland besitzen heute Handys, mit denen<br />

man Foto- und Audioaufnahmen in befriedigender<br />

bis guter Qualität produzieren kann. Falls notwendig,<br />

kann man also hier an der Kostenschraube drehen.<br />

Für die Sprachaufzeichnung eignen sich am besten einfache<br />

Handheld-Recorder, also kleine digitale Diktiergeräte, die<br />

im Format mp3 oder WAV auf SD-Karten aufnehmen. Der<br />

Vorteil liegt hier in der räumlichen Flexibilität, das Gerät lässt<br />

sich in den Nebenraum oder nach draußen mitnehmen.<br />

USB-Mikrofone stellen eine etwas preisgünstigere Alternative<br />

dar, sind jedoch an einen Computer gebunden.<br />

Weiteres (teils optionales) Equipment:<br />

– Mehrfachsteckdosen<br />

– Ein Stativ (ein einfaches Dreibeinstativ genügt)<br />

– Ein Paar kleine Lautsprecher oder ein Zugang zu einer<br />

Musikanlage für Filmpräsentationen<br />

– Stifte (verschiedene Farben, dick und dünn), Papier,<br />

eventuell Moderationskarten<br />

– SD-Speicherkarten (oder ähnliches) für den Datentransfer<br />

zwischen den verschiedenen technischen<br />

Geräten. Es reichen wenige Gigabyte pro Karte.<br />

– Ein kleiner Strahler oder eine starke Schreibtischlampe<br />

– Genügend Akkus inklusive Ladegerät<br />

22<br />

23


Kapitel 6<br />

Zu bedenken ist, dass dieser dann blockiert ist und den<br />

übrigen Teilnehmer*innen nicht – zum Beispiel für den<br />

Videoschnitt – zur Verfügung steht. Auch lässt sich ein Laptop<br />

nicht so komfortabel in die gewünschte Aufnahmeumgebung<br />

bringen, und einige Teilnehmer*innen werden es<br />

eventuell bevorzugen, bei der Aufnahme ihrer Audiospur<br />

in Bewegung zu sein.<br />

Digitalkameras sind ideal für alle visuellen Belange. Ihr könnt<br />

mit ihnen fotografieren, Fotos abfotografieren (ihr braucht<br />

also keinen Scanner) und filmen.<br />

Für alle technischen Geräte gilt im Allgemeinen: Ihr benötigt<br />

halb so viele Instanzen wie Teilnehmer*innen. Für eine<br />

Gruppe von 6 Teilnehmer*innen reichen also drei Computer,<br />

drei Handheld-Recorder und drei Consumer Digitalkameras.<br />

6.1.2 Räumlichkeiten.<br />

Bei der Planung eines DST-WS gibt es hinsichtlich der Räumlichkeiten<br />

ein paar Besonderheiten, die es zu beachten gilt.<br />

Falls ihr nicht über einen eigenen Seminarraum verfügt<br />

sondern einen buchen müsst, versucht euch am besten im<br />

Vorfeld einen persönlichen Eindruck von den Räumlichkeiten<br />

zu verschaffen. Sollte das nicht möglich sein, geht die unten<br />

aufgeführte Checkliste unbedingt mit den Anbietern des<br />

Seminarraums durch. Ihr werdet euch ärgern, wenn es im<br />

gesamten Raum nur eine Steckdose gibt, oder die Akustik<br />

so schlecht ist, dass die Audiospuren nicht brauchbar sind.<br />

6.1.3 Die Gruppe<br />

Gruppengröße: Ein*e Workshopleiter*in kann ungefähr vier<br />

Teilnehmer*innen betreuen. Diese Zahl variiert natürlich.<br />

In manchen Fällen ist man mit zwei Teilnehmer*innen bereits<br />

mehr als ausgelastet. Für ein Team aus zwei Leiter*innen<br />

erwies sich eine Gruppe von acht Teilnehmer*innen als<br />

optimal. Das mag nach einem relativ großzügigen Betreuungsschlüssel<br />

klingen, ist aber in Anbetracht der (vor allem<br />

pädagogischen) Arbeit, die geleistet werden muss, durchaus<br />

angemessen.<br />

Checkliste<br />

– Haben wir genügend Platz, genügend Sitzgelegenheiten<br />

und Tische? Es empfiehlt sich gerade bei jüngeren<br />

Teilnehmer*innen so viel Platz zu haben, dass die<br />

Teilnehmer*innen nicht gezwungen sind, direkt<br />

nebeneinander zu sitzen.<br />

– Haben wir genügend Steckdosen? Und sind diese einigermaßen<br />

gleichmäßig über den Raum beziehungsweise<br />

über die Räume verteilt?<br />

– Wie ist die Akustik? Hallt es stark? Generell ist die<br />

Akustik in einem mit Teppichboden ausgekleidet Raum<br />

besser als zum Beispiel in einem gefliesten Raum.<br />

Auch mit Holz verkleidete oder tapezierte Wände<br />

liefern eine bessere Akustik, als die „rohe“ Wand.<br />

– Haben wir Ruhe? Wo liegen die Seminarräume, ist es<br />

hellhörig?<br />

– Gibt es Ausweichmöglichkeiten, wenn jemand zur Ideenfindung<br />

oder für Sprachaufnahmen einen ruhigen<br />

Ort benötigt?<br />

– Bei größeren Gruppen: Gibt es einen Beamer?<br />

– Gibt es kostenloses (!), möglichst schnelles, möglichst<br />

kabelfreies Internet? Das kann dann wichtig sein,<br />

wenn Teilnehmer*innen keine Fotos mitgebracht<br />

haben, aber über Online-Alben und/oder Bilder in<br />

sozialen Netzwerken verfügen oder sich noch von<br />

jemandem Fotos und andere Materialien per E-Mail<br />

schicken lassen wollen.<br />

Altersstruktur: Generell lässt sich sagen, dass die selbstständige<br />

Entwicklung einer selbstreflexiven autobiografischen<br />

Geschichte mit Kindern und jüngeren Jugendlichen<br />

nur selten möglich ist. Insbesondere die freie Themenwahl<br />

überfordert hier viele. Ein biographisches Bewusstsein ist<br />

in den meisten Fällen noch überhaupt nicht ausgeprägt.<br />

Hier bedarf es anderer Herangehensweisen und Methoden<br />

(Siehe auch Kapitel 7) . Das freie Arbeiten empfiehlt sich<br />

für Jugendliche und junge Erwachsene ab einem Alter von<br />

16 Jahren.<br />

Merke: Ihr solltet im Vorfeld idealerweise mehrmals<br />

kommunizieren, dass Materialien (Fotos, biographisch<br />

relevante Gegenstände, Briefe et cetera) mitgebracht<br />

werden sollen. Worum es in dem Workshop geht, sollte<br />

den Teilnehmer*innen unbedingt klar sein Alle<br />

müssen darauf vorbereitet sein, dass es um das Erzählen<br />

„wahrer“ Geschichten geht und nicht um erfundene<br />

Storys.<br />

6.2 Durchführung<br />

6.2.1 Achtsamkeit und Schutzraum.<br />

Denkt bitte zu jeder Zeit daran, dass die Geschichten der<br />

Teilnehmer*innen privat und häufig sehr intim und<br />

emotional sind. Die produzierten Digital Storys gehören<br />

entsprechend den Teilnehmer*innen selbst und nicht<br />

euch. Die Leistungs- und Urheberrechte liegen bei den<br />

Teilnehmer*innen. Ihr könnt also dankbar sein, ihre Geschichten<br />

erzählt zu bekommen und sie eventuell sogar<br />

verwerten und/oder zeigen zu dürfen. Vermittelt den<br />

Teilnehmer*innen von Anfang an, dass sie ihre Digital Story<br />

ausschließlich für sich selbst produzieren können. Niemand<br />

sonst muss seinen Film sehen, auch nicht die anderen<br />

Teilnehmer*innen. Vermittelt den Teilnehmer*innen auch<br />

einen respektvollen und anerkennenden Umgang miteinander.<br />

Es sollte selbstverständlich sein, dass alle gehörten<br />

und gesehenen Geschichten nur mit Einverständnis der<br />

Macher*innen den Raum und den Workshop verlassen.<br />

6.2.2 Ablauf<br />

Im folgenden Abschnitt werden beispielhaft die unterschiedlichen<br />

Arbeitsschritte, inklusive benötigter Materialien<br />

und Methoden, vorgestellt und erläutert. Es sei an dieser<br />

Stelle darauf hingewiesen, dass die Darstellung des Ablaufs<br />

idealisiert und modellhaft ist. Stellt euch darauf ein,<br />

dass kein Workshop wie der andere sein wird. Behaltet die<br />

unten aufgeführten Arbeitsschritte im Hinterkopf, um den<br />

Teilnehmer*innen genügend Struktur zu geben, aber bleibt<br />

auch flexibel und reagiert auf Bedürfnisse und Wünsche.<br />

Das ist gerade bei kreativen Prozessen, wie DST einer ist,<br />

unerlässlich, um gemeinsam mit den Teilnehmer*innen zu<br />

befriedigenden Ergebnissen zu gelangen.<br />

Zeitstruktur: Ein DST-WS gliedert sich in vier Blöcke:<br />

1) Einführung und Theorie<br />

2) Arbeit an Text und Ton<br />

3) Arbeit an Schnitt und Bild<br />

4) Abschluss<br />

24<br />

25


Kapitel 6<br />

Für jeden Block sollte man mit einer reinen Arbeitszeit<br />

von drei bis vier Stunden rechnen. In unserem Fall hat sich<br />

ein zweieinhalb tägiger Workshop-Block als zweckmäßig<br />

erwiesen. Denkbar ist aber sicherlich auch ein wöchentlicher<br />

Termin über einen oder zwei Monate.<br />

6.2.2.1 Einführung und Theorie<br />

Begrüßung der Teilnehmer*innen: An dieser Stelle sollte das<br />

Ziel des Workshops vorgestellt werden (Jede*r wird einen<br />

eigenen Film produzieren). Dass es sich bei diesem Film um<br />

eine sogenannte (persönliche) Digital Story handelt, sollte<br />

erwähnt und im Anschluss dann auch geklärt werden, welche<br />

Besonderheiten (persönliche) Digital Storys im Vergleich<br />

zu anderen Kurzfilmen aufweisen:<br />

– Es handelt sich um persönliche (also tatsächlich erlebte)<br />

Geschichten.<br />

– Die Geschichten werden mit Hilfe der eigenen Stimme<br />

(Voice-Over) und eigenen Materialien (Fotos, Briefen,<br />

Skizzen et cetera) erzählt.<br />

– Die Geschichten sind zwischen einer und (maximal!) vier<br />

Minuten lang.<br />

Vorstellungsrunde: Die Vorstellungsrunde sollte vor allem<br />

genutzt werden, um sich einen Überblick über die bisherigen<br />

Erfahrungen der Teilnehmer*innen hinsichtlich Filmarbeit<br />

und kreativer Arbeit im Allgemeinen zu verschaffen.<br />

Außerdem sollten an dieser Stelle auch die Erwartungen der<br />

Teilnehmer*innen geklärt werden.<br />

Beispielfilme: Damit die Teilnehmer*innen eine noch genauere<br />

Vorstellung vom Digital Storytelling und den möglichen<br />

Ergebnissen eines DST-WS bekommen, sollten an dieser Stelle<br />

ein paar Beispielfilme gezeigt werden (siehe beiliegende<br />

DVD). Bei kleineren Gruppen genügt dafür meist ein Laptop,<br />

bei größeren Gruppen sollte ein Beamer zur Vorführung<br />

genutzt werden. Erwähnt kurz das jeweilige Thema, bevor<br />

ihr die Filme zeigt, um den Teilnehmer*innen die Möglichkeit<br />

zu geben, die Konfrontation mit Themen zu vermeiden,<br />

die ihnen aus persönlichen Gründen unangenehm sind (Wir<br />

kamen mehr als einmal in diese Situation). Reflektiert anschließend<br />

die Eindrücke: Wie hat euch dieser Film gefallen?<br />

Was ist euch aufgefallen? Was fandet ihr besonders gut?<br />

Zeigt eine gemischte Auswahl von etwa drei bis sechs Filmen.<br />

Die Auswahl sollte hinsichtlich der Thematik, der technischen<br />

Umsetzung, der Menge an verwendeten Materialien<br />

(Fotos, Videosequenzen) sowie der Filmlänge möglichst<br />

unterschiedlich sein.<br />

So habt ihr die Möglichkeit, auf unterschiedliche Herangehensweisen<br />

einzugehen und bei den Teilnehmer*innen ein<br />

Bewusstsein für kreative Spielräume zu eröffnen. Bei einem<br />

besonders kurzen Film könnt ihr zum Beispiel darauf hinweisen,<br />

dass es nicht auf die Spiellänge ankommt; bei einem<br />

Film, der nur aus einem Foto besteht, darauf, dass auch<br />

wenig Material interessant sein kann, wenn die Idee stimmig<br />

ist, und so weiter. Mit der Filmauswahl beeinflusst ihr<br />

auch die Herangehensweise der Teilnehmer*innen. Es wird<br />

schneller ein Stil und eine Erzählweise adaptiert als man<br />

denkt. Achtet bei eurer Auswahl also auf Vielfalt. Bedenkt<br />

aber auch: Es gibt sehr viele filmische und erzählerische<br />

Techniken, die für Digital Storytelling verwendet werden<br />

können. Erfahrungsgemäß lenkt es die Teilnehmer*innen<br />

eher ab, (zu viele) Filme mit Techniken zu zeigen, die stark<br />

von der klassischen Digital Story abweichen.<br />

Vermeidet es deshalb möglichst, (zu viele) Digital Storys zu<br />

zeigen, die auf Legetechniken (siehe DVD „Utopia Y Yo),<br />

Stopptrickelemente und ähnliches zurückgreifen. Andernfalls<br />

kann es euch leicht passieren, dass die Teilnehmer*innen<br />

ihre Geschichte völlig aus den Augen verlieren und sich<br />

nur noch für die technische Umsetzung interessieren.<br />

Falls Teilnehmer*innen der Meinung sind, dass sie für ihre<br />

Geschichte eine besondere Art der Darstellung benötigen,<br />

die von der herkömmlichen abweicht, werden sie von ganz<br />

alleine auf euch zukommen. Dann habt ihr immer noch<br />

die Möglichkeit, ihnen andere technische Optionen zu<br />

präsentieren.<br />

Kommuniziert eine Struktur: Struktur ist wichtig, auch und<br />

gerade bei kreativen Prozessen. Zuviel Freiraum blockiert<br />

die Teilnehmer*innen eher als dass er ihnen hilft. Die<br />

Teilnehmer*innen machen so eine Arbeit in der Regel zum<br />

ersten Mal. Ihnen erscheint womöglich der gesamte Prozess<br />

als undurchschaubare Ansammlung verschiedener Hürden,<br />

die jedem unterschiedlich schwer vorkommen. Gebt ihnen<br />

das Gefühl, dass alles Schritt für Schritt passiert und halb so<br />

schwer ist.<br />

Methode(n) durchführen: Führt die Teilnehmer*innen mittels<br />

einer Methode (oder mehrerer Methoden) spielerisch an das<br />

Erzählen von Geschichten heran. (Methoden; siehe Kapitel<br />

8.1 und/oder Datenteil der DVD)<br />

Einführung in die Grundstruktur einer Geschichte: Führt die<br />

Teilnehmer*innen in die Grundstruktur einer Geschichte ein.<br />

(Siehe Kapitel 8.2 und/oder Datenteil der DVD). Im Vordergrund<br />

sollten dabei die unterschiedlichen Strukturelemente<br />

(Anfang, Mittelteil und Ende) sowie deren Funktionen stehen.<br />

Ein paar stilistische Tipps und Tricks können hier auch<br />

schon erwähnt werden. Macht deutlich, dass die vorgestellte<br />

Struktur lediglich der Orientierung dient. Man kann sich<br />

ihrer (zum Teil) bedienen, muss es aber nicht.<br />

Ideen: Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich zum ersten Mal<br />

mit den Ideen der Teilnehmer*innen zu beschäftigen. Setzt<br />

euch dafür am besten in einen Stuhlkreis. Was haben die<br />

Teilnehmer*innen mitgebracht? Möchten sie einzelne Fotos<br />

oder andere Gegenstände zeigen und etwas dazu erzählen?<br />

Haben sie schon eine Idee? Falls ja, wie sieht die aus? Es<br />

besteht auch die Möglichkeit, nochmal auf eine Methode<br />

zurückzugreifen. Hier empfiehlt sich die Methode „Der alte<br />

Goldzahn meiner Oma“ (Siehe Kapitel 8.1 und/oder Datenteil<br />

der DVD).<br />

26<br />

27


Kapitel 6<br />

6.2.2.2 Arbeiten an Text und Ton<br />

Merke: Eine gute Geschichte mit beliebiger Bildauswahl<br />

funktioniert besser als eine beliebige Geschichte<br />

mit guter Bildauswahl. Bevor man sich Gedanken<br />

über die Bebilderung macht, sollte ein Text geschrieben<br />

und eingesprochen sein. Gleich Fotos zur Hand<br />

zu nehmen verwirrt und lenkt vom Wesentlichen ab.<br />

Alle Teilnehmer*innen beginnen also immer mit der<br />

Produktion einer Geschichte.<br />

Ideen finden und Geschichten schreiben: Macht eine Zeitvorgabe<br />

zum Skizzieren einer Idee und zum Erarbeiten einer<br />

eigenen Geschichte. Ein Zeitrahmen von etwa einer Stunde<br />

erwies sich als optimal. Zwar werden nach einer Stunde<br />

nicht alle Teilnehmer*innen eine Geschichte erarbeitet<br />

haben, mit der sie vollständig zufrieden sind. Üblicherweise<br />

sind aber alle Teilnehmer*innen an einem Punkt, an dem<br />

man noch einmal über Ideen, erste Entwürfe und einzelne<br />

Passagen sprechen und reflektieren kann. Das kann in großer<br />

Runde geschehen oder aber in Einzelgesprächen.<br />

Merke: Es wird Teilnehmer*innen geben, die sich<br />

mit einer Verschriftlichung nicht wohlfühlen oder<br />

die tatsächlich nicht in der Lage sind, diese Aufgabe<br />

zu erfüllen. In diesem Fall ist es möglich, gleich mit<br />

dem Audioaufnahmegerät zu arbeiten. Das heißt, die<br />

Teilnehmer*innen sprechen ihre Geschichte direkt ein.<br />

Feedback: Ob nun in großer Runde oder in Einzelgesprächen,<br />

die Frage für euch als Workshopleiter*innen wird sein,<br />

wie ihr die Teilnehmer*innen bei der Ideenfindung und beim<br />

Konkretisieren ihrer Ideen unterstützen könnt. Erfahrungsgemäß<br />

könnt ihr hier am besten durch Gespräche, Nachfragen<br />

und ehrliche Kritik Hilfestellung leisten. Der letzte Punkt<br />

ist hierbei der wichtigste und zugleich der schwierigste.<br />

Es wird euch nicht immer leicht fallen, stilistische Kritik zu<br />

üben insbesondere dann, wenn euch Geschichten sehr<br />

intim vorkommen oder die Thematik euch persönlich sehr<br />

berührt. Tut es trotzdem. Die Teilnehmer*innen sind in der<br />

Regel froh, Hilfe zu erhalten und freuen sich am Ende über<br />

ein gutes Ergebnis.<br />

Folgende Fragestellungen können bei der Reflexion<br />

hilfreich sein:<br />

1. Ist die Geschichte relevant für den*die Teilnehmer*in?<br />

Fragt nach, warum der*die Teilnehmer*in ausgerechnet diese<br />

Geschichte erzählen möchte (sofern es euch nicht sofort<br />

einleuchtet).<br />

Es kommt vor, dass Teilnehmer*innen sich an diesem Punkt<br />

noch nicht von ihren mitgebrachten Fotos, Bildern, et cetera<br />

„gelöst“ haben und deshalb versuchen, etwas zu schreiben,<br />

was zu ihren Bildern passt (zum Beispiel eine Geschichte<br />

über den letzten Sommerurlaub). Versucht herauszufinden,<br />

ob das der Fall ist. Falls ja, ermutigt die Teilnehmer*innen<br />

nochmals, sich zunächst nur auf ihre Geschichten zu konzentrieren<br />

und ihre Bilder erst mal zu „vergessen“.<br />

2. Ist die Geschichte persönlich? Schildert der*die<br />

Teilnehmer*in eigene Sinneseindrücke und Emotionen? Falls<br />

nicht, würde das der Geschichte gut tun?<br />

Häufig neigen Teilnehmer*innen dazu, ganz allgemeine<br />

Geschichten über „Liebe“, „Glück“ oder „Freundschaft“<br />

zu schreiben anstatt persönliche Erfahrungen und Perspektiven<br />

zu schildern. Ermutigt die Teilnehmer*innen,<br />

sich selbst einzubringen. Was für Erfahrungen haben die<br />

Teilnehmer*innen ganz persönlich mit Liebe, Glück oder<br />

Freundschaft gemacht? Gibt es einen Moment, ein Erlebnis,<br />

eine Person, an der das sichtbar geworden ist?<br />

3. Ist die Geschichte verständlich und sinnvoll strukturiert?<br />

Könnt ihr der Geschichte gut und gerne (interessiert)<br />

folgen? Besteht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen<br />

Anfang, Mittelteil und Ende?<br />

Teilnehmer*innen schreiben häufig sehr lange, detailreiche<br />

Einleitungen, die sich zwar schön lesen, aber mit der<br />

eigentlichen Geschichte wenig zu tun haben. Zum Beispiel<br />

kommt es vor, dass Teilnehmer*innen sehr ausführlich den<br />

Ort beschreiben, an dem sich die Geschichte ereignet, obwohl<br />

dieser für die Geschichte eigentlich keine Rolle spielt.<br />

Ermutigt die Teilnehmer*innen, sich auf das Wesentliche zu<br />

konzentrieren.<br />

4. Ist die Geschichte authentisch? Überprüft, ob die Sprache,<br />

die der*die Teilnehmer*in in seiner*ihrer Geschichte<br />

benutzt, auch seiner*ihrer Alltagssprache entspricht. Falls<br />

das nicht so ist, überprüft, ob das Sinn ergibt und zur<br />

Geschichte passt oder ob der Geschichte dadurch ein Stück<br />

weit Authentizität verloren geht.<br />

Wenn Teilnehmer*innen ihren Film in einer anderen<br />

Sprache als ihrer Muttersprache produzieren wollen, sind<br />

sie häufig sehr unsicher. Nicht selten werden dann andere<br />

Teilnehmer*innen gebeten, den Text zu „korrigieren“<br />

oder es werden Wörterbücher bemüht. Dieses Vorgehen<br />

führt aber dazu, dass die Geschichten plötzlich Wörter und<br />

Satzkonstruktionen enthalten, die die Teilnehmer*innen<br />

normalerweise nie benutzen würde. Und das wird man der<br />

Geschichte auch anmerken. Ermutigt die Teilnehmer*innen,<br />

Sprache immer nur so zu benutzen, wie sie sie auch im<br />

Alltag benutzen, oder bietet alternativ an, dass sie in ihrer<br />

Muttersprache produzieren können (Untertitel können später<br />

hinzugefügt werden).<br />

5. Ist die Geschichte auf den Punkt gebracht? Könntet ihr<br />

in einem Satz sagen, worum es in der Geschichte des*der<br />

Teilnehmer*in geht? Und in einem Wort? Bittet auch<br />

den*die Teilnehmer*in, den Kern ihrer*seiner Geschichte<br />

28<br />

29


Kapitel 6<br />

zu benennen. Versucht, eine gute Balance zwischen Beeinflussung<br />

der Erzählung zugunsten einer sinnvollen Struktur<br />

und der Fokussierung auf bestimmte Details auf der einen<br />

Seite und der Bewahrung der eigenen Erzählweise und<br />

Vorliebe des*der jeweiligen Teilnehmers*in auf der anderen<br />

Seite zu finden. Denkt daran: Es handelt sich um persönliche<br />

Geschichten. Geht sorgsam und respektvoll damit um.<br />

Es kommt immer vor, dass jemand auch nach längerem<br />

Nachdenken keine Vorstellung entwickeln kann, wie er*sie<br />

seine*ihre Idee in eine Form bringen soll. Bei solchen<br />

Schwierigkeiten könnt ihr verschiedene Varianten vorschlagen:<br />

Einen Brief an eine Person schreiben, lyrisch oder<br />

assoziativ, eine Aufzählung von Stichworten und so weiter.<br />

Bei stilistischen Problemen und Schreibblockaden kann auch<br />

die Schreibhilfe (Siehe Kapitel 8.3) ausgegeben werden.<br />

Eine Methode zur Ideenfindung: Optional könnt ihr auch<br />

eine Interview-Methode nach Joe Lambert zur Ideenfindung<br />

und Konkretisierung einsetzen. Die Interviews können in<br />

Zweiergruppen oder auch alleine als Selbstinterview durchgeführt<br />

werden. (Interviewleitfaden; siehe Kapitel 8.4 und/<br />

oder Datenteil der DVD)<br />

Sprachaufzeichnung: Wenn die Teilnehmer*innen ihre Geschichten<br />

in eine Form gebracht haben, mit der sie zufrieden<br />

sind, ist der nächste Arbeitsschritt die Audioaufnahme.<br />

Gebt dem*der jeweiligen Teilnehmer*in ein Aufnahmegerät,<br />

falls gewünscht mit Kopfhörern, und erklärt ihm*ihr kurz<br />

die wichtigsten Funktionen. Dies sind Aufnahme, Stopp,<br />

Lautstärke des Kopfhörers und Wiedergabe, um Aufgenommenes<br />

anhören zu können.<br />

Es sollte Auto-Gain, also die automatische Aussteuerung<br />

des Aufnahmepegels, gewählt werden, damit die<br />

Teilnehmer*innen sich nicht um den technischen Aspekt der<br />

manuellen Aussteuerung kümmern müssen und trotzdem<br />

eine unverzerrte Aufnahme erhalten.<br />

Einige stilistische Mittel können auch hier die Geschichte<br />

unterstützen. Es kann geflüstert oder geschrien, frei<br />

gesprochen oder abgelesen, emotional oder emotionslos<br />

gesprochen werden. Insgesamt ist darauf zu achten, dass<br />

in einem für den Zuhörer angenehmen Tempo eingesprochen<br />

wird. Vermittelt den Teilnehmer*innen, dass sie nicht<br />

notwendiger Weise eine „perfekte“ Aufnahme benötigen.<br />

Sie können ebenso gut mehrere Aufnahmen von ihrem<br />

Text produzieren und später einzelne Abschnitte aus den<br />

verschiedenen Versionen verwenden.<br />

Merke: Ab und an kommt es vor, dass<br />

Teilnehmer*innen Hemmungen haben, ihre eigene<br />

Stimme aufzunehmen. Wenn sie sich dazu nicht<br />

überwinden können, kann man beispielsweise anbieten,<br />

sich eine*n andere*n Teilnehmer*in zu suchen,<br />

der*die bereit ist, den Text einzusprechen.<br />

6.2.2.3 Arbeit an Schnitt und Bild<br />

Bestandsaufnahme: Falls ihr die Arbeit am Schnitt an einem<br />

neuen Tag beginnt, könnt ihr gut mit einer Methode einsteigen.<br />

Es ist in jedem Fall für alle Teilnehmer*innen(und<br />

auch für euch) interessant zu hören, an welchem Punkt des<br />

Prozesses die anderen sind. Lasst also jede*n kurz berichten,<br />

wie weit er*sie ist, ob es Schwierigkeiten gibt Und was<br />

er*sie als nächstes vorhat.<br />

Merke: Es wird zu diesem Zeitpunkt<br />

Teilnehmer*innen geben, die noch nicht mit ihrer<br />

Sprachaufnahme fertig sind. Das ist normal und<br />

kein Grund zur Panik. Gebt den entsprechenden<br />

Teilnehmer*innen das Gefühl, dass sie sich im Rahmen<br />

bewegen, aber baut auch einen angemessenen Druck<br />

auf. Zeitvorgaben helfen hier am besten.<br />

Schnittprogramm: Die Ersten werden nun soweit sein, die<br />

aufgenommene Tonspur in das Videoschnittprogramm<br />

zu importieren, die Tonspur gegebenenfalls zu überarbeiten<br />

und sich anschließend um die visuelle Gestaltung zu<br />

kümmern. Legt als erstes für jede*n Teilnehmer*in einen<br />

eigenen Ordner auf dem Desktop an, in dem alle Daten (Fotos,<br />

Audioaufnahmen und so weiter) gespeichert werden.<br />

Sind die Daten zum Beispiel nur auf einer SD-Karte, wird es<br />

später nicht möglich sein, den Film fehlerfrei zu exportieren<br />

oder abzuspielen. Erklärt das den Teilnehmer*innen und<br />

erinnert sie immer mal wieder daran.<br />

Gebt eine kurze Einführung in das Schnittprogramm, und<br />

zeigt den Teilnehmer*innen die relevanten Funktionen. Hierzu<br />

gehören: Einfügen (Importieren), Schneiden, Verschieben,<br />

Löschen, Rein- und Rauszoomen und Anhören beziehungsweise<br />

Ansehen von Aufnahmen (Start und Stopp). Für<br />

Bilder kommen hinzu: Bilddrehung, Ein- und Ausblenden<br />

beziehungsweise Überblenden, Zoomen, das Verändern<br />

von Ausschnitten sowie das Erstellen von Titeln.<br />

Generell raten wir, nicht zu viele Funktionen auf einmal zu<br />

erklären. Am Anfang muss man den Teilnehmer*innen zum<br />

Beispiel noch nicht unbedingt das Ein- und Ausblenden, das<br />

Zoomen oder das Überblenden zeigen – das kann folgen,<br />

sobald es gebraucht wird. Zunächst reicht es vollkommen,<br />

wenn sie sich darauf konzentrieren den Ton zu bearbeiten,<br />

Bilder auszusuchen und diese zu importieren.<br />

Visuelle Umsetzung: Auch für das Visuelle ist eine stilistische<br />

Idee sinnvoll. Folgende Fragen können hilfreich sein: Verwende<br />

ich Fotos? Oder keine Fotos? Wenig Fotos oder sogar<br />

nur eines? Male oder zeichne ich etwas und fotografiere<br />

es dann? Mache ich Fotos von mir oder von bestimmten<br />

Objekten? Benutze ich ein Stativ? Erzeuge ich bewusst eine<br />

bestimmte Lichtstimmung mit Lampen oder Tageslicht?<br />

Verwende ich sogar Video, Stoptrick oder Legetrick et<br />

cetera? Seid offen für die Wünsche der Teilnehmer*innen,<br />

aber verliert nicht aus den Augen, dass die Geschichte im<br />

Vordergrund steht.<br />

Merke: Es mag der Gedanke aufkommen, es<br />

sei sinnvoll, einmal für alle Teilnehmer*innen die<br />

Technik zu erklären. Davon raten wir jedoch ab.<br />

Teilnehmer*innen, die noch mit ihrer Sprachaufnahme<br />

beschäftigt sind oder ihren Text noch einmal umschreiben<br />

wollen, sind gedanklich an einem ganz anderen<br />

Punkt und werden das von euch vermittelte Wissen<br />

nicht speichern können, bis sie es brauchen. Abgesehen<br />

davon „stehlt“ ihr den Teilnehmer*innen mit<br />

einem solchen Vortrag wichtige Kreativzeit.<br />

Ist eine visuelle Herangehensweise gefunden, entstehen<br />

weitere Stilfragen, bei denen ihr die Teilnehmer*innen<br />

unterstützend begleiten könnt. Folgende Fragen stellen sich<br />

hier: Wie viele Bilder brauche ich wirklich? Wie lange zeige<br />

ich die Bilder? Soll ich bestimmte Bilder wiederholen? Macht<br />

ein Ausschnitt, Überblenden oder Hineinzoomen Sinn?<br />

Arbeite ich mit „Leerstellen“ (Filmpassagen ohne Bild)?<br />

Überprüft die Verständlichkeit für den Zuschauer und die<br />

visuelle Erzählgeschwindigkeit. Zu viele Effekte können von<br />

der Geschichte ablenken und sie schnell „zerstören“. Weniger<br />

ist auch hier oft mehr. Verdeutlicht, dass das Visuelle<br />

die Geschichte unterstützen aber nicht dominieren soll.<br />

Hier könnt ihr gegebenenfalls nochmal auf die Beispielfilme<br />

verweisen.<br />

30<br />

31


Kapitel 6<br />

Hinterfragt auch die Dopplung von Bild und Ton. Wenn<br />

man beispielsweise von einer Amsel erzählt, muss man nicht<br />

unbedingt gleichzeitig das Bild einer Amsel zeigen. Eine inhaltliche<br />

Erweiterung auf bildlicher Ebene durch das Zeigen<br />

eines eher assoziativen Bildes ist oft viel interessanter.<br />

Merke: Fragt in regelmäßigen Abständen nach,<br />

ob alle ihre Dateien gespeichert haben. Das wird<br />

häufig vergessen, und jedes Programm stürzt irgendwann<br />

mal ab. Wenn die Teilnehmer*innen mit ihrer<br />

Audiospur und ihrer visuellen Umsetzung zufrieden<br />

sind, können sie einen Titel und/oder einen Abspann<br />

hinzufügen. Je nach Länge des Films kann beides<br />

zusammen zu viel sein. Ein einminütiger Film, der mit<br />

Vor- und Abspann plötzlich doppelt so lang ist, wirkt<br />

auf den Zuschauer befremdlich.<br />

6.2.2.4 Abschluss<br />

Exportieren: Gegen Ende braucht ihr Zeit, um nach<br />

und nach die Filme zu exportieren (das können die<br />

Teilnehmer*innen nur selten selbst) und sie für ein abschließendes<br />

Screening zusammenzutragen – also auf<br />

einen Laptop oder PC zu transferieren. Es gibt immer<br />

Teilnehmer*innen, die bis zur letzten Minute an ihrem Film<br />

arbeiten. Ein zeitlicher Puffer von etwa einer Stunde ist<br />

daher unbedingt einzuplanen.<br />

Screening und Diskussion: Ruft alle zusammen und veranstaltet<br />

das finale Screening! Alle Teilnehmer*innen<br />

sollen dabei die Chance erhalten, etwas zu ihrem Film zu<br />

sagen. Außerdem bietet es sich hier an, in eine weiterreichende<br />

Diskussion einzusteigen. Welche Themen wurden<br />

von den Teilnehmer*innen angesprochen? Haben andere<br />

Teilnehmer*innen schon ähnliche Erfahrungen gemacht?<br />

Wie sind sie mit diesen Erfahrungen umgegangen? Hätten<br />

sie sich Unterstützung gewünscht? Falls ja, von wem?<br />

Wie im gesamten Workshop ist es hier wichtig, ausgesprochen<br />

respektvoll zu sein. Bedenkt nochmal: Die Teilnehmer*innen<br />

haben sehr persönliche Geschichten aus ihrem Leben erzählt<br />

und sich getraut, sie zu zeigen. Deshalb sollten sie es jetzt<br />

in der Hand haben, wie tief sie in eine Diskussion zu ihrem<br />

Film einsteigen möchten.<br />

Feedbackrunde: Am Ende solltet ihr den Teilnehmer*innen<br />

danken, dass sie ihre Geschichten mit den anderen und<br />

euch geteilt haben. Macht außerdem unbedingt eine Feedbackrunde<br />

und klärt alle Fragen, die sich eventuell hinsichtlich<br />

der Nutzung der Filme ergeben, zum Beispiel: Dürfen<br />

die Filme veröffentlicht (DVD, Website, Youtube) und/oder<br />

auf anderen Workshops gezeigt werden? Lasst euch, sofern<br />

ihr jetzt schon wisst, was ihr mit den Filmen machen möchtet,<br />

die Nutzungsrechte von den Teilnehmer*innen schriftlich<br />

bestätigen. Vorlagen hierfür findet man im Internet.<br />

6.3 Nach dem Workshop<br />

Postproduktion: Wer möchte, kann die Filme im Nachhinein<br />

technisch überarbeiten. Oftmals sind die Tonspuren unterschiedlich<br />

laut und enthalten leisere und lautere Passagen.<br />

Mit einem kostenfreien Audioschnittprogramm wie Audacity<br />

und geringen tontechnischen Kenntnissen können Lautstärken<br />

optimiert und angeglichen werden. Auch Bildübergänge,<br />

Typografie sowie Anfang und Ende eines Films können<br />

unter Umständen verbessert werden, wir raten jedoch von<br />

allzu großen und offensichtlichen Eingriffen ab, da die Filme<br />

schließlich die der Teilnehmer*innen sind.<br />

In jedem Fall benötigt man hierfür den Projektordner, in dem<br />

alle Daten gespeichert sind. Allein daher sollte man auf eine<br />

übersichtliche Struktur auf den Computern achten.<br />

Macht auch den Teilnehmer*innen ihre Filme zugänglich.<br />

Ladet die Filme auf kostenlosen Filehostern im Internet<br />

hoch, und schickt den Teilnehmer*innen den Download-<br />

Link, oder schickt ihnen eine DVD.<br />

Filmverwertung: Sofern ihr die Nutzungsrechte von den<br />

Teilnehmer*innen zugesprochen bekommen habt, stellt sich<br />

nun eventuell für euch die Frage, auf welche Art und Weise<br />

ihr die Filme nutzen möchtet. Hier bieten sich natürlich Videoplattformen<br />

(Youtube, Vimeo, Myvideo et cetera) an. Bei<br />

einigen Plattformen gibt es die Möglichkeit, die Filme nur<br />

bestimmten Menschenzugänglich zu machen, zum Beispiel<br />

allen Teilnehmer*innen eurer Workshops. Ansonsten kommt<br />

auch eine Veröffentlichung in Form einer DVD in Frage.<br />

Auch No- und Low-Budget-Filmfestivals können hinsichtlich<br />

einer Veröffentlichung interessant sein.<br />

Auswertung und Rückführung: Im Sinne der Jugend-<br />

(verbands)arbeit und im Sinne der ressourcenorientierten<br />

Biographiearbeit wäre es wünschenswert, die Workshops<br />

und vor allem die Filme zu analysieren. Welche Themen<br />

wurden von den Teilnehmer*innen angesprochen? Gibt<br />

es Workshop übergreifende, also immer wiederkehrende,<br />

Themen? Falls ja, welche sind das? Inwiefern drückt sich<br />

in diesen Themen etwas aus, was nicht nur das einzelne<br />

Individuum sondern auch die Gesellschaft als Ganzes betrifft<br />

? Was bedeutet das für eure Arbeit mit Jugendlichen und<br />

jungen Erwachsenen? Deckt ihr diese Themen bereits ab?<br />

Falls nicht, warum nicht? Ließen sich diese Themen in die<br />

alltägliche Praxis eurer Jugend(verbands)arbeit integrieren?<br />

32<br />

33


Kapitel 7<br />

7. DST mit Kindern<br />

Grundsätzlich ist es möglich, einen Digital Storytelling-<br />

Workshop mit Kindern durchzuführen. Allerdings sollte man<br />

sich darüber im Klaren sein, dass „echtes“ biographisches<br />

Arbeiten mit Vorschul- und Grundschulkindern nicht möglich<br />

ist. Man geht davon aus, dass biographisches Bewusstsein<br />

erst in einem Alter von etwa zwölf Jahren entsteht<br />

(vgl. Rath 2009). Vorher können Kinder zwar Erlebnisse<br />

wiedergeben, sie sind aber kaum in der Lage, diese in einen<br />

logischen Bezug zu ihrer eigenen Identität zu setzen oder<br />

sie im Rahmen ihres bisher gelebten Lebens zu verstehen.<br />

Digital Storytelling-Workshops müssen deshalb in dieser<br />

Altersklasse deutlich anders strukturiert werden und auch<br />

einen deutlich anderen Schwerpunkt haben.<br />

Während bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen die<br />

kreativen und technischen Mittel eher Zugänge für das<br />

biographische Arbeiten liefern, stehen diese bei der Arbeit<br />

mit Kindern im Vordergrund. Die Kinder sollen innerhalb<br />

des Workshops vor allem die Möglichkeit erhalten, Schnittprogramme,<br />

Kameras und Audioaufnahmegeräte auszuprobieren.<br />

Das Geschichtenschreiben tritt dagegen eher in den<br />

Hintergrund.<br />

Darüber hinaus ist es wichtig, einen klareren Rahmen für<br />

die Geschichte selbst zu setzen. Hier empfiehlt es sich, im<br />

Vorfeld einen kleinen Fragekatalog zu erstellen, den die<br />

Kinder schriftlich abarbeiten können. In Kombination mit<br />

Fotos und/oder Bildern entsteht innerhalb eines solchen<br />

Workshops dann eher eine Art Portfolio als eine persönliche<br />

Digital Story.<br />

Als zweckmäßig haben sich zum Beispiel folgende Fragen<br />

erwiesen:<br />

1. Wer bist du?<br />

Hier kann der Name und das Alter genannt werden, aber<br />

auch Hobbys, das Lieblingsessen und anderes.<br />

2. Wer ist XY?<br />

Hier soll eine Person genannt werden, die man besonders<br />

mag. Also zum Beispiel „mein Opa“. Hier können die Kinder<br />

aufgefordert werden, mehr zu erzählen. Wie sieht der Opa<br />

aus? Wie alt ist er? Hat der Opa ein besonderes Hobby oder<br />

einen Beruf?<br />

3. Was habe ich mit XY gemacht?<br />

Hier soll nun ein konkretes Erlebnis erzählt werden, das das<br />

Kind mit der unter 2. genannten Person erlebt hat.<br />

Umso klarer und konkreter die Fragen sind, umso einfacher<br />

ist es für Kinder in dieser Altersklasse, die Aufgabe zu bearbeiten.<br />

Es ist auch denkbar, einzelne Kinder zu interviewen<br />

und ihre Antworten direkt mit dem Audiorecorder aufzunehmen.<br />

Die so entstandene Audiodatei kann dann in der<br />

Digital Story als Voice-Over genutzt werden.<br />

34<br />

35


Methoden und Materialien


Kapitel 8<br />

8. Materialien und Methoden<br />

8.1 Spiele<br />

Das erinnert mich an<br />

Anregend. Einfach. Jeder für sich.<br />

Die Gruppe setzt sich im Kreis. In die Mitte werden Bildkarten<br />

ausgelegt. Die Teilnehmer*innen werden aufgefordert,<br />

jeweils eine Karte auszuwählen, von der sie sich sofort<br />

angesprochen fühlen. Nun sollen sie ihre Assoziationen zu<br />

dem Bild notieren. Als Hilfestellung kann hier das Alphabet<br />

herangezogen werden: Zu jedem Buchstaben des Alphabets<br />

soll ein Stichwort gefunden werden, das zu dem Bild passt.<br />

Anschließend sollen sich die Teilnehmer*innen darüber Gedanken<br />

machen, an welche Erfahrungen aus dem eigenen<br />

Leben sie dieses Bild erinnert. Auch hierzu dürfen Notizen<br />

gemacht werden. Anschließend kommen alle zurück in den<br />

Kreis und reflektieren mit der Blitzlicht-Methode.<br />

Ich höre. Ich rieche. Ich sehe. Ich schmecke.<br />

Anregend. Einstimmend. Jeder für sich.<br />

Die Teilnehmer*innen suchen sich einen bequemen Platz<br />

im Raum. Sie dürfen sich hinsetzen oder auch hinlegen. Sie<br />

werden aufgefordert ganz still zu sein, wer mag, kann auch<br />

die Augen schließen. Den Teilnehmer*innen wird erklärt,<br />

dass sie nun Geräusche vorgespielt bekommen. Ihre Aufgabe<br />

ist es, die Geräusche auf sich wirken zu lassen und auf<br />

ihre Assoziationen zu achten. Welche Bilder kommen ihnen<br />

in den Sinn? Denken sie an einen bestimmten Geruch oder<br />

Geschmack? Fühlen sie etwas? Die Teilnehmer*innen dürfen<br />

sich dazu Notizen machen, wenn sie möchten. Anschließend<br />

wird mit Hilfe der Blitzlicht-Methode reflektiert.<br />

Tipp: Mit jüngeren Kindern empfiehlt es sich, zu<br />

Musik oder Geräuschen zu malen. In diesem Fall<br />

sollten möglichst viele unterschiedliche Farben, Stifte,<br />

Plakatwände et cetera zur Verfügung gestellt werden.<br />

Fingerfarben sind hier besonders reizvoll.<br />

Stille Post-Geschichten<br />

Sehr einfach. Für alle zusammen.<br />

Die Gruppe setzt sich im Kreis. Jede*r Teilnehmer*in hat einen<br />

Stift und einen Notizzettel. Ein Hut wandert von einem<br />

zum nächsten. Jede*r überlegt sich ein Wort, schreibt es auf<br />

seinen Zettel, und wirft diesen in den Hut. Hat der Hut einmal<br />

die Runde gemacht und jede*r ein Wort beigetragen,<br />

geht er erneut reihum. Diesmal zieht jede*r einen Zettel.<br />

Das darauf geschriebene Wort soll in eine fortlaufende<br />

Geschichte einbaut werden: „Es war einmal ...“. Natürlich<br />

soll die Geschichte möglichst witzig und absurd sein. Wenn<br />

der Hut leer ist, kann das Ganze nach Belieben wiederholt<br />

werden. Bei mehrmaligem Durchlauf kann nach jeder Runde<br />

reflektiert werden, was gut geklappt hat und was nicht.<br />

Wann war die Geschichte spannend, witzig et cetera, und<br />

wann ist sie nur so „dahingeplätschert“?<br />

Der alte Goldzahn meiner Oma<br />

Einfach. Spaßig. Anregend.<br />

Die Teilnehmer*innen werden im Vorfeld gebeten, einen<br />

Gegenstand mitzubringen, der eine besondere Bedeutung für<br />

sie hat. Alles darf mitgebracht werden, nur keine Fotos.<br />

Die Teilnehmer*innen sitzen im Kreis. Jede*r legt seinen*ihren<br />

mitgebrachten Gegenstand in die Mitte. Jede*r Teilnehmer*in<br />

wählt nun einen Gegenstand aus, aber nicht seinen*ihren<br />

eigenen. Anschließend denken sich die Teilnehmer*innen<br />

eine Geschichte zu dem von ihnen ausgewählten Gegenstand<br />

aus und tragen diese Geschichten reihum vor. Hierbei<br />

tun sie so, als wäre der Gegenstand ihr eigener besonderer<br />

Gegenstand. Im Anschluss erzählen die wirklichen Besitzer,<br />

wie sie tatsächlich zu dem Gegenstand gekommen sind,<br />

welche Bedeutung er für sie hat und warum.<br />

Ich sehe was, was du nicht siehst<br />

Für alle oder für Kleingruppen. Anregend. Mit Lerneffekt.<br />

Aus den von den Teilnehmer*innen mitgebrachten (oder<br />

von der Leitung gestellten) Fotos werden so viel ausgesucht,<br />

wie es Teilnehmer*innen gibt. Die Bilder werden offen ausgelegt,<br />

ohne dass man weiß, wem welche Bilder gehören.<br />

Jede*r Teilnehmer*in wählt nun ein Foto aus, es darf aber<br />

kein eigenes sein. Die Teilnehmer*innen haben fünfzehn<br />

Minuten Zeit, eine Geschichte zu dem Bild zu verfassen, ...<br />

Variante 1: ... die die wesentlichen Elemente des Dargestellten<br />

enthalten muss (Personen, Gegenstände und so weiter).<br />

Anschließend tragen die Teilnehmer*innen ihre Geschichten<br />

im Plenum vor. Ziel ist es, dass die Gruppe nicht erraten<br />

kann, welches Foto die Vorlage war.<br />

Variante 2: ... die nichts von dem Dargestellten (Personen,<br />

Gegenstände und so weiter) direkt benennen darf. Anschließend<br />

tragen die Teilnehmer*innen ihre Geschichten<br />

im Plenum vor. Ziel ist es, dass die Gruppe trotzdem erraten<br />

kann, welches Foto die Vorlage war.<br />

Variante 3: ... die die Form eines kurzen Märchens haben<br />

muss. Die Gruppe soll erraten können, welches Foto die<br />

Vorlage war.<br />

Variante 4: ... die die Form eines überdrehten Action-Thrillers<br />

haben muss. Die Gruppe soll erraten können, welches<br />

Foto die Vorlage war.<br />

Vorhang zu!<br />

Für Kleingruppen. Fordernd.<br />

Der*die Teamer*in hängt zwischen zwei Stühlen ein Laken<br />

auf. Die Teilnehmer*innen sitzen auf der einen Seite des<br />

Lakens, der*die Teamer*in auf der anderen Seite, so dass<br />

die Teilnehmer*innen nicht sehen können, was hinter dem<br />

Laken geschieht. Die Teilnehmer*innen halten Stift und<br />

Papier bereit. Der*die Teamer*in erzeugt nun mit Hilfe<br />

unterschiedlicher Gegenstände in regelmäßigen Abständen<br />

Geräusche hinter dem Laken (etwa im Abstand von 30 bis<br />

60 Sekunden). Die Teilnehmer*innen sollen die Geräusche<br />

in eine fortlaufende Geschichte einbauen. Anschließend<br />

können die Geschichten vorgetragen werden.<br />

Bewegte Bilder<br />

38<br />

39


Kapitel 8<br />

Für Kleingruppen. Fordernd.<br />

Die Teilnehmer*innen finden sich in Gruppen von bis zu fünf<br />

Personen zusammen. Jede*r wählt ein Foto aus der eigenen<br />

Sammlung aus, das ihm*ihr besonders am Herzen liegt.<br />

Eine Bedingung ist, dass darauf mehrere Personen zu sehen<br />

sein sollten. Reihum stellt jede*r sein*ihr Foto kurz vor,<br />

beschreibt die Situation und die Personen darauf und erklärt<br />

knapp, warum er*sie genau dieses Bild gewählt hat. Die<br />

anderen dürfen Fragen zu den gezeigten Personen und den<br />

Umständen stellen. Mehrere Teilnehmer*innen stellen dann<br />

das Bild nach, indem sie die Rollen der gezeigten Personen<br />

übernehmen, deren Haltung möglichst genau nachahmen<br />

und dann auf Zuruf eines Stichworts in dieser Rolle eine<br />

kleine Szene improvisieren: einen Streit, die Übergabe eines<br />

Geschenks, die Mitteilung einer überraschenden Neuigkeit.<br />

Die Darstellenden versuchen, ihrer Rolle (gemäß Foto und<br />

Erklärungen dazu) treu zu bleiben. Der*die Besitzer*in des<br />

Fotos beurteilt, ob die Personen auf dem Bild sich wirklich<br />

so verhalten hätten.<br />

8.2 Grundstruktur einer Geschichte<br />

Eine Geschichte besteht im Wesentlichen aus drei Teilen:<br />

Dem Anfang, der Mitte und dem Ende. Jeder Teil erfüllt eine<br />

andere Funktion. Es ist wichtig den Teilnehmer*innen die<br />

Grundstruktur inklusive der Funktionen näher zu bringen.<br />

Außerdem ist es gut den Teilnehmer*innen schon kurze<br />

Anregungen mit auf den Weg zu geben, wie man die<br />

Funktionen konkret erzeugen kann. Dies sollte in Form<br />

eines Vortrages vermittelt werden. Außerdem hat es sich als<br />

nützlich erwiesen die Grundstruktur, die Funktionen und die<br />

Anregungen in Form von Moderationskarten zu visualisieren<br />

und während des gesamten Workshops hängen zu lassen.<br />

Der Anfang: Der Anfang führt in die Geschichte ein. Hier<br />

werden Personen vorgestellt, eine zeitliche Einordnung<br />

gemacht und/oder der Ort beschrieben an dem die Geschichte<br />

stattfindet. Ein Anfangssatz könnte zum Beispiel<br />

lauten: „Es war im Sommer 1989, als ich Klaus das erste<br />

Mal begegnete.“ Außerdem soll der Anfang die Neugier der<br />

Zuhörer*innen wecken. Dies erreicht man am ehesten über<br />

eine Frage, eine Provokation oder über das Mittel der Irritation<br />

(siehe auch Kapitel 8.3 „Anfang mit einem Knall)<br />

Die Mitte: Die Mitte stellt den Hauptteil einer Geschichte<br />

dar. Hier wird es also konkret. Der*die Zuhörer*in erfährt,<br />

worum es in der Geschichte geht. Außerdem soll hier<br />

Spannung erzeugt werden. Spannung wird erzeugt wenn<br />

sich in der Geschichte ein Problem auftut, ein Hindernis<br />

überwunden werden muss oder wenn eine Person eine<br />

Veränderung durchläuft, die so nicht zu erwarten war.<br />

Hindernisse und Probleme müssen nicht existenziell sein.<br />

Alltägliche Hindernisse und Probleme eigenen sich genauso<br />

gut. Fahrrad fahren lernen, Angst vor der neuen Klasse,<br />

den neunen Kolleg*innen haben oder Schwierigkeiten sich<br />

in die Vaterrolle einzufinden, sind oft viel spannender als<br />

„Mord und Totschlag“.<br />

Das Ende: Das Ende dient dazu den*die Zuhörer*in aus der<br />

Geschichte zu entlassen. Häufig findet man hier eine Moral<br />

oder ein persönliches Statement. Siehe auch Kapitel 8.3<br />

„Ende mit einem Ausrufezeichen!“<br />

(ANFANG)<br />

Einführung<br />

Neugier<br />

(MITTE)<br />

Hauptteil<br />

Spannung<br />

(ENDE)<br />

Moral<br />

– Wer? Wo? Wann?<br />

– Frage, Provokation,<br />

Irritation<br />

– Worum geht es?<br />

– Problem, Hindernis,<br />

Veränderung<br />

– Persönliches Statement,<br />

Aufforderung, Frage<br />

8.3 <strong>Capture</strong> <strong>your</strong> Life! –<br />

Sieben Anregungen zu deiner Story<br />

Eine Geschichte erzählen! Wie soll das denn gehen? Viele<br />

Leute finden das unangenehm - und vielleicht gehörst du ja<br />

auch dazu. Du denkst an langweilige Schulaufsätze, an Situationen,<br />

wo dich plötzlich alle anstarren, an Referate und<br />

Präsentationen, wo du dich wichtigmachen sollst. Und überhaupt:<br />

Du kennst doch gar keine Geschichten, die gibt‘s<br />

doch nur in Romanen und im Kino, und so was Krasses ist<br />

dir eh noch nie passiert.<br />

Eigentlich erzählen wir alle aber fast jeden Tag Geschichten.<br />

Wir nennen es nur oft nicht so. Aber wenn du mit deinen<br />

Freund*innen, in der Schule/in der Uni, am WG-Tisch, im<br />

Bus oder auf Facebook abhängst, passiert es doch oft, dass<br />

jemand sagt: „Wisst ihr, was mir Abgefahrenes passiert<br />

ist?“. Oder: „So was kenn‘ ich von früher, als ...“ Geschichten,<br />

die so anfangen, interessieren uns meistens sofort.<br />

Gerade weil es darin (meistens) nicht um explodierende Autos<br />

oder das Sexleben von irgendwelchen Berlin-Mitte-Stars<br />

geht, sondern um Sachen, die jede/r so ähnlich aus dem<br />

eigenen Leben kennt - und doch sind sie ganz anders. Wir<br />

können uns in sie reinversetzen und kapieren trotzdem besser,<br />

wie es anderen um uns herum geht und wie sie ticken.<br />

Die folgenden Fragen und Übungen sollen dir helfen, deine<br />

Story genauso gut rüberzubringen, wie wenn du sie locker<br />

deinen Leuten erzählst. Was machst du eigentlich bei solchen<br />

Gelegenheiten - und welche Techniken setzt du - ganz<br />

unbewusst - ein, um die anderen zum Lachen zu bringen<br />

oder zum aufmerksamen Zuhören zu bewegen?<br />

1. Ideale Zuhörer. Im Alltag erzählst du deine Geschichten<br />

ganz konkreten Leuten, die in dem Moment vor dir<br />

stehen. Du kannst sofort an ihrem Gesicht erkennen, ob<br />

deine Geschichte ankommt und wann sie ungeduldig<br />

werden. Vor dem Blatt Papier oder dem Mikrofon ist das oft<br />

schwieriger; du klammerst dich an die Wörter und vergisst,<br />

dass du eigentlich zu den Leuten sprichst, die sich den Film<br />

später mal angucken. Nimm‘dir ein bisschen Zeit (vielleicht<br />

drei Minuten), dir eine Person vorzustellen, zu der du mit<br />

deiner Geschichte sprichst, jemand, den du kennst oder<br />

jemand ausgedachtes. Wenn es dir hilft, kannst du sie auch<br />

kurz schriftlich beschreiben, hinkritzeln oder dir Bilder aus<br />

dem Netz ziehen. Rede im Kopf mit dieser Figur, wenn du<br />

die Story zu den Bildern aufnimmst und mach ruhig auch<br />

alles, was du sonst im Gespräch tun würdest: Lächeln,<br />

Gestikulieren, das Gesicht verziehen. So wird dein Vortrag<br />

lebendiger; der Spaß überträgt sich auf jeden Fall auf die<br />

Zuhörer*innen.<br />

2. Anfang mit Knall. Du kannst die Leute nicht ewig bei<br />

der Stange halten, also steig´ gleich so ein, dass sie auch<br />

Bock haben, zuzuhören und neugierig sind, was jetzt wohl<br />

kommt. Deinen Freund*innen reicht es oft schon, dass du<br />

die Geschichte erzählst, weil sie was von dir wissen wollen.<br />

Die Leute, die den Film im Netz sehen, kennen dich aber<br />

nicht. Überleg also mal:<br />

– Kannst du mit einer Frage einsteigen („Habt ihr auch<br />

schon mal ...?“, „Kennst du es, wenn ...?“ „Hasst ihr<br />

es auch so sehr, wenn ...“?)? Die Leute überlegen ihre<br />

Antwort und wollen wissen, wie wohl deine aussieht.<br />

40<br />

41


Kapitel 8<br />

Interessant ist, was dir passiert ist und wie es sich angefühlt<br />

hat. Erzähl‘ den Leuten also von deinen fünf Sinnen:<br />

Was hast du gesehen? Was hast du gehört? Wie hat es<br />

geschmeckt? Wie hat es gerochen? Sich angefühlt? Tipp:<br />

Wenn du von Menschen erzählst, kannst du so auch die<br />

Plätze beschreiben, an denen du sie meistens getroffen hast<br />

oder Gegenstände, die du mit ihnen verbindest.<br />

– Oder steigst du mit einer provozierenden Behauptung<br />

ein? („Familie ist doch scheiße!“, „Schulsport - es gibt<br />

nichts Schöneres!“ „Niemand sollte sich je verlieben!“)<br />

Egal, ob die Leute dir zustimmen oder nicht: Sie sind nicht<br />

gleichgültig und du hast sie am Haken.<br />

– Oder sagst du vielleicht einfach etwas Irritierendes, sodass<br />

man noch nicht weiß, was jetzt wohl kommt („100<br />

Gramm Zucker. 100 Gramm Mehl. 2 Eier. Solche Rezepte<br />

kannte ich damals genug - aber wie ich mit meinem Leben<br />

klarkommen sollte, wusste ich nicht.“ Oder: „Quadratische<br />

Gleichungen. Hab ich in der Schule nie kapiert.<br />

Trotzdem würde ich lieber darüber einen Film machen,<br />

als über das, was jetzt kommt ...“). Versuch‘ mal, einen<br />

Einstieg mit jeder dieser Methoden zu finden und schau,<br />

welche dir am besten gefällt.<br />

3. Zum Punkt kommen. Nochmal: Du hast nicht ewig<br />

Zeit. Du selbst kannst ja auch nicht ewig aufmerksam<br />

zuhören, oder? Überleg‘ dir also, was eigentlich der Kern<br />

deiner Geschichte ist. Kannst du in drei Sätzen sagen, was<br />

die Geschichte ausmacht? Und in einem? Vielleicht sogar<br />

in einem Kernbegriff? Ganz so kurz musst du dich natürlich<br />

nicht fassen, aber es hilft ungemein, wenn du dir darüber<br />

im Klaren bist, was du auf keinen Fall weglassen darfst.<br />

4. Die Wörter zum Leuchten bringen. Auch alltägliche<br />

Sachen können eine gute Geschichte hergeben. Oft ist dann<br />

nicht so wichtig, was passiert ist, sondern wie es abgelaufen<br />

ist und wie du dich dabei gefühlt hast. Kannst du drei<br />

Begriffe finden, die beschreiben, was deine Story für dich<br />

besonders gemacht hat? Und drei Wörter, die ausdrücken,<br />

wie du dich in dieser Situation gefühlt hast? Denk‘ nicht<br />

lange nach, schreib‘ die Sachen auf, die dir als erste einfallen<br />

- vielleicht in 30 Sekunden. Wenn du damit fertig bist,<br />

nimm dir nochmal 30 Sekunden Zeit und finde für jedes<br />

dieser Wörter jeweils drei andere Wörter oder Redewendungen,<br />

die dasselbe auf etwas andere Weise sagen: statt nur<br />

„traurig“ vielleicht „betrübt“ oder „als hätte man mir mit<br />

der Faust in den Magen geschlagen“, statt „überrascht“<br />

„von den Socken“ oder „ich stand voll auf‘m Schlauch“. Die<br />

Übung kannst du so lange wiederholen, bis du einen guten<br />

Vorrat an Wörtern und Bildern hast, die deiner Story mehr<br />

Farbe verleihen. Bau‘ nicht alle davon ein, das klingt schnell<br />

albern - aber ein paar können helfen.<br />

5. Nicht die Welt erklären! Niemand will eine abgehobene<br />

Definition von „Freude“, „Liebe“, „Angst“ oder<br />

„Zweifel“ - das können die Leute im Lexikon nachschlagen.<br />

6. Bleib‘ klein, bleib spannend! Erzähl eine Begebenheit,<br />

von einem Menschen, einem Augenblick, einem<br />

Gefühl, einem Gegenstand. So können die Leute besser<br />

folgen, du kannst dich auf das Wichtige konzentrieren - und<br />

du kommst nicht so schnell in Versuchung, „die ganze Welt<br />

erklären“ zu wollen. Du bleibst emotional und nachvollziehbar.<br />

Versuch‘ mal, deine Geschichte „kleiner zu machen“ -<br />

such‘ dir einen Gegenstand, eine Person, einen Moment von<br />

dem aus, was du erzählen wolltest und probier‘ mal, nur<br />

darüber zu sprechen. Nimm‘ dir nochmal die Übungen Die<br />

Wörter zum Leuchten bringen, Nicht die Welt erklären und<br />

Zum Punkt kommen vor und mach‘ sie im Schnelldurchlauf<br />

mit diesem kleinen Ausschnitt aus deiner Story. Welches<br />

Material findest du besser: Das vorherige oder das, was du<br />

jetzt aufgeschrieben hast?<br />

7. Ende mit Ausrufezeichen! Lass‘ die Leute nicht einfach<br />

so gehen, wenn deine Geschichte vorbei ist. Gib‘ ihnen<br />

etwas mit:<br />

– Eine Frage („Und wie denkt ihr jetzt über ...?“, „Was<br />

würdet ihr machen, wenn euch so was passiert?“, „Was<br />

denkt ihr: Werde ich diese Sache wohl jemals vergessen?“)<br />

– einen provozierenden Gedanken als Fazit („Die Welt<br />

wäre besser, wenn jede_r so was erleben würde“, „Ohne<br />

dass, was ich gerade gezeigt habe, funktioniert einfach<br />

gar nichts“, „Wenn ich das heute wieder erleben würde,<br />

würde ich mich ganz anders verhalten, nämlich ...“)<br />

42<br />

43


Kapitel 8<br />

– oder etwas von dir („... und deshalb bin ich heute so<br />

und so!“, „...und bis heute mache ich das immer<br />

noch so!“ „... und deshalb will ich auf keinen Fall Kinder!“).<br />

Probier‘ wieder alle drei Möglichkeiten aus, deine<br />

Geschichte abzurunden. Welche gefällt dir am besten?<br />

2. Geschichten über Ereignisse<br />

– Wann und wo fand das Ereignis statt?<br />

– Bestand das Ereignis aus einem einzigen Vorfall oder aus<br />

einer Reihe von Vorfällen?<br />

– Hast du das Ereignis mit jemandem zusammen erlebt?<br />

– Welcher Moment war für dich der entscheidende?<br />

– Wie hast du dich währenddessen gefühlt (ängstlich, wütend,<br />

traurig, fröhlich)?<br />

– Hast du etwas aus dem Ereignis gelernt? Falls ja, was<br />

war das?<br />

– Hat das Ereignis in irgendeiner Hinsicht dein Leben<br />

verändert? Falls ja, wie?<br />

Ach ja, guck‘ dir doch auch nochmal an, wie du begonnen<br />

hast - wenn am Anfang eine Frage stand, macht es Sinn,<br />

jetzt die Antwort zu geben? Kannst du auf dein provozierendes<br />

Statement vom Anfang nochmal eingehen (bleibst<br />

du dabei? Änderst du was?) oder mit dem witzigen, unverbundenen<br />

Einstieg spielen? Ein solcher Bogen zum Anfang<br />

macht eine Geschichte oft besonders rund.<br />

8.4 Interviewleitfaden<br />

1. Geschichten über Personen<br />

– Welche Beziehung hast/hattest du zu der Person?<br />

– Kannst du die Person in ein paar Sätzen beschreiben<br />

(Charakter, Aussehen und so weiter)?<br />

– Was magst/mochtest du an der Person am allermeisten?<br />

– Und gibt/gab es etwas, was du an der Person gar nicht<br />

magst/mochtest?<br />

– Hast du etwas von der Person gelernt? Falls ja, was<br />

war das?<br />

– Falls es mehrere Dinge waren, was war das Wichtigste,<br />

was du von der Person gelernt hast?<br />

– Gibt es etwas, was du der Person gerne sagen würdest/<br />

gesagt hättest, aber bisher nie getan hast? Wenn ja, was?<br />

3. Geschichten über Orte<br />

– Kannst du den Ort zunächst in einigen Sätzen beschreiben?<br />

– Wann hast du den Ort für gewöhnlich aufgesucht?<br />

– Gibt es jemanden, mit dem du besonders häufig an<br />

diesem Ort warst?<br />

– Oder gibt es jemanden, mit dem du diesen Ort verbindest?<br />

– Was hast du für gewöhnlich an diesem Ort erlebt?<br />

– Gab es ein besonderes oder entscheidendes Erlebnis<br />

an diesem Ort?<br />

– Hast du an diesem Ort etwas über dich selbst gelernt?<br />

Falls ja, was war das?<br />

– Bist du jemals an diesen Ort zurückgekehrt? Falls ja,<br />

wie hat er sich verändert?<br />

– Falls er sich verändert hat, wie hat diese Veränderung<br />

auf dich gewirkt?<br />

4. Geschichten über eine Tätigkeit<br />

– Welche Tätigkeit übst du aus oder wofür interessierst<br />

du dich?<br />

– Welche Erfahrungen, welche Interessen und welches<br />

Wissen waren notwendig, um deiner jetzigen Tätigkeit<br />

nachgehen zu können?<br />

– Gab es ein besonderes Ereignis, das dich dazu gebracht<br />

hat, deine jetzige Tätigkeit anzustreben?<br />

– Gab es jemanden, der dich beeinflusst oder unterstützt<br />

hat?<br />

– Hat diese Tätigkeit dein Leben verändert? Falls ja, in<br />

welcher Weise?<br />

44<br />

45


Analyse


Kapitel 9<br />

48<br />

Jane Schuch<br />

9. Digital Storytelling als wirksamer jugendlicher<br />

Selbstausdruck<br />

Dr. Jane Schuch lehrt und forscht am Institut für Erziehungswissenschaft<br />

der Humboldt-Universität zu Berlin. Einer ihrer<br />

Forschungsschwerpunkte ist Visualität in sozialwissenschaftlicher<br />

Perspektive. Gearbeitet hat sie insbesondere zu Fotografie<br />

als soziale Praxis und zum Nutzen von Fotografien als<br />

Quellen für historische Bildungsforschung.<br />

Die auf der DVD präsentierten Filme bieten in dieser Auswahl<br />

einen hervorragenden Einblick in das Potential der Methode<br />

des Digital Storytellings - und dies in mehrfacher Hinsicht.<br />

Zum einen wird deutlich, wie unterschiedlich Digital Storytelling<br />

von den Tellern umgesetzt werden kann und zwar in den<br />

Themensetzungen, der Erzähldramaturgie und der visuellen<br />

Gestaltung ihrer Filme. Zum anderen zeigen die Videos, dass<br />

Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene hier eine<br />

Form der wirksamen Auseinandersetzung mit sich, ihrer persönlichen<br />

Geschichte und den Formen ihres Umgangs damit<br />

finden können. Diese Filme sind jugendlicher Selbstausdruck<br />

in beeindruckender Art und Weise – selbstbestimmt,<br />

unmittelbar und außerordentlich kreativ. Sie sind sehr intim<br />

und sie berühren. Gleichzeitig erzeugen die Filme und ihre<br />

Produktion noch viel mehr. Jenseits der Möglichkeit, ihren<br />

Erfahrungen und Empfindungen einen selbstbestimmten<br />

Ausdruck zu geben, stellen sie für die Filmemacher*innen<br />

eine wirksame Form der lebendigen Auseinandersetzung mit<br />

gewichtigen und herausfordernden Lebenserfahrungen dar.<br />

Die Erzählungen<br />

Gemeinsam ist allen Filmen, dass es fast immer um so<br />

genannte kritische Lebensereignisse wie Umzüge in Kindheit<br />

oder Jugend, Veränderungen von Familienkonstellationen,<br />

Abschiebung und so weiter geht oder dass ein individuell<br />

sehr bedeutendes Lebensthema wie das Aufwachsen ohne<br />

Mutter, persönliche Leidenschaften, Transidentität, Gestaltung<br />

von Beziehungen und so weiter thematisiert wird. Wie<br />

ein Ereignis, eine Episode, ein Thema von den Erzählenden<br />

gesetzt und aufbereitet wird, ist sehr unterschiedlich. So<br />

finden wir Lebensthemen, die anhand des Lebens einer<br />

Freundin erzählt werden („Christina), Filme ohne jegliche<br />

Erzählstruktur, die nur erahnen lassen, wie aufwühlend<br />

und prägend ein Ereignis oder eine Lebensphase gewesen<br />

sein muss („Utopie. Y. Yo – Utopie & Ich“), die Präsentation<br />

von Leidenschaften und dem persönlichen Lebensbezug<br />

(„Zurückziehen“; „Die Frage nach dem Warum“), tabuisierte<br />

Familiengeschichten und deren Verstrickungen mit dem<br />

eigenen Leben („love letter to dad“), unbewältigte Ereignisse<br />

(„Blind“). Diese Bandbreite der Narrationen spiegelt<br />

sich auch in den Dramaturgien, den aufgesprochenen<br />

Erzählungen wider – Geschichten werden chronologisch<br />

oder zeitlich versetzt erzählt, manche Erzählungen verweigern<br />

sich jeglicher Struktur. Aber all dies funktioniert und<br />

findet letztlich zu einem stimmigen Gesamtwerk – für die<br />

Schaffenden selbst, denn sie haben den Film in dieser Form<br />

entstehen lassen und aber auch für die Betrachtenden, wie<br />

auf der DVD gut nachvollziehbar.<br />

Die Visualisierungen<br />

Die Visualisierung ihrer Geschichten setzen die Filmemacher*innen<br />

zumeist mit von ihnen selbst ausgewählten<br />

und zum Workshop mitgebrachten Erinnerungsstücken um.<br />

Diese Ego-Dokumente (vgl. Häder 2004) im besten Sinne<br />

sind zum Großteil private Fotografien oder Fotoalben, aber<br />

auch Tagebuchaufzeichnungen, Briefe oder Geburtsurkunden.<br />

Einige Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene<br />

erschaffen visuelle Präsentationen, indem sie während des<br />

Workshops für ihren Film zeichnen, basteln, schreiben,<br />

fotografieren und/oder sich selbst filmisch oder fotografisch<br />

in Szene setzen.<br />

Die Verbindung von Erzählung und Visualisierung<br />

Die Ego-Dokumente werden entweder sprachlich von den<br />

Macher*innen selbst interpretiert oder sie laufen parallel als<br />

Kommentar, sozusagen als visueller Subtext zur Sprache.<br />

Die Filmemacher*innen setzen sich hier mit Artefakten ihrer<br />

49<br />

eigenen Biografie auseinander, deuten sie neu und verorten<br />

sie, gebunden an eigenes Erleben und Erfahren, im Hier<br />

und Jetzt. Der Umgang mit dem visuellen Hauptmedium der<br />

Filme, der privaten Fotografie, ist ausgesprochen spannend.<br />

Mitgebrachte und in die Filme eingebaute Fotografien<br />

werden nicht nur kontextualisiert: „Das bin ich und hier ist<br />

… “, „Hier mache ich das und das“, sondern auch interpretiert:<br />

„Wieso schaut er so?“. In den meisten Fällen jedoch<br />

werden die Fotografien in die Gesamterzählstruktur ohne<br />

direkten sprachlichen Bezug eingebaut und unterstützen<br />

die Erzählung, erweitern sie oder irritieren und verwirren<br />

sie. Dies geschieht zum einen durch die Bildauswahl und die<br />

Reihenfolge der Bildpräsentation an sich, aber auch durch<br />

ästhetische Gestaltungsmittel wie durch den gewählten<br />

Bildausschnitt und der Fokussierung und Platzierung in der<br />

jeweiligen Filmszene.<br />

Die Filme als jugendlicher Selbstausdruck<br />

Die Filme zeigen insgesamt sehr eindrucksvoll, wie Digital<br />

Storytelling als selbstbestimmter Selbstausdruck von Jugendlichen<br />

beziehungsweise jungen Erwachsenen gelingt. Nicht<br />

nur, weil sie ästhetisch und inhaltlich ansprechende Filme<br />

sind, sondern auch, weil sie als Selbstzeugnisse junger Menschen<br />

vom Selbst auf die Welt verweisen. Interessanterweise<br />

sind die „berührenden Momente oder Ereignisse, Personen,<br />

die man nie vergisst oder Ereignisse, die uns verändert haben“<br />

(so auf einer Einladung zum Workshop) nicht an erster<br />

Stelle, wie vielleicht erwartbar, die erste Liebe oder jugendkulturelle<br />

Events wie Partys, Konzertbesuche et cetera. Auch<br />

die Lebenswelt „Schule“ spielt in den Erzählungen nahezu<br />

keine Rolle. Der Großteil der Filme thematisiert Beziehungen,<br />

die das Versprechen der dauerhaften Bindung in sich<br />

tragen: Eltern und Freundschaften. Beziehungen, die uns<br />

durchs Leben tragen.<br />

Ein weiterer Teil der Filme stellt Lebensleidenschaften<br />

(Schreiben, Zeichnen, Sport) in den Mittelpunkt, die darauf<br />

verweisen, wie Jugendliche und junge Erwachsene mit<br />

Themen wie Einsamkeit, Mobbing und persönlichem Ehrgeiz


Kapitel 9<br />

umgehen. Auch die Themen Sexualität und gender werden<br />

einigen Filmen aufgegriffen. Hierbei geht es vor allem um<br />

sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentität. Gerade<br />

bei diesen Filmen wird die Interaktion von Selbst- und Weltbezug<br />

besonders deutlich, denn in einer heterodominanten<br />

Gesellschaft werden sowohl sexuelle als auch geschlechtliche<br />

Identitäten prekär. Die Filme begegnen dieser Dominanz<br />

auf unterschiedliche Art und Weise: mal normalisieren sie<br />

implizit („Freundschaften [Gleich und Gleich gesellt sich<br />

gern?]“), mal zeigen sie offensive Strategien und Ressourcen<br />

auf („Spielkind“).<br />

Die Filme, die Freundschaften thematisieren, verweisen auf<br />

die enorme Bedeutung von peergroups und Freundschaften<br />

mit Gleichaltrigen für Heranwachsende. Auch hier zeigen<br />

sich Bezüge zur gesellschaftlichen Situation, denn wie<br />

noch nie zuvor hat sich „(…) die Bedeutung informeller<br />

Gleichaltrigengruppen für Jugendliche erhöht, das Spektrum<br />

freizeitbezogener Öffentlichkeiten ausgeweitet und<br />

die Wahlmöglichkeiten für kulturelle Lebensstile enorm<br />

vergrößert.“ (Krüger 2007, S. 372) Gleichwohl funktioniert<br />

Familie nach wie vor als ein Orientierungspunkt, als eine<br />

originäre Bindung, die gegebenenfalls als Korrektiv und Halt<br />

fungieren kann („Exorcise The Demons“), die aber auch<br />

zur schmerzvollen Herausforderung auf einem Lebensweg<br />

werden kann („Mein Grund“).<br />

Die Filme sind aber nicht nur Selbstzeugnisse, sie sind auch<br />

Produkte der Selbstbehauptung und sie bezeugen Selbstwirksamkeit.<br />

„<strong>Capture</strong> <strong>your</strong> <strong>life</strong>“ zeigt sich nicht nur in<br />

der Eroberung von selbstbestimmter Darstellung kritischer<br />

Ereignisse und Lebensthemen und deren narrativ-visuellen<br />

Präsentation. Die im Nachgang geführten Interviews mit<br />

einigen Filmemacher*innen bestätigen und erweitern die<br />

Einschätzung der Filme hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeit<br />

für die Schöpfer*innen. Im Prozess der Konstruktion einer<br />

Erzählung, der Auswahl von und des Umgangs mit ausgewählten<br />

Erinnerungsstücken, der visuellen Bekräftigung<br />

und Kommentierung der Erzählungen werden verschiedene<br />

Formen der Selbstreflexion, Bewältigungsstrategien, Vergegenwärtigungen<br />

junger Menschen sichtbar.<br />

J. setzt sich in seinem Film „Mein Kind, mein Bubi“ anhand<br />

eigener Kindheitsfotografien mit seiner Kindheit<br />

auseinander und kann so eine produktive Distanz schaffen:<br />

„Die Geschichte ist jetzt ein Äußerliches, auf das ich mit<br />

mehr Abstand schauen kann.“ (Interview mit J.). K. („Mein<br />

Grund“) berichtet, wie er im Zuge der Videoproduktion wieder<br />

Kontakt zu seinem Vater herstellen und pflegen konnte,<br />

obwohl durchaus ambivalente Erinnerungen und Gefühle<br />

durch seine Videoproduktion ausgelöst wurden: „(…) Ich<br />

war erst wieder ziemlich wütend auf meinen Vater und<br />

insbesondere dessen Freundin, gleichzeitig aber habe ich ihn<br />

auch wieder vermisst. Inzwischen besteht zwischen mir und<br />

ihm wieder regelmäßiger Kontakt, sozusagen direkt nach<br />

dem Video habe ich ihn wieder aufgenommen.“ (Interview<br />

mit K.) D.s Film „Für Dich Mama“ ist eine Liebeserklärung<br />

an die verstorbene Mutter, gleichzeitig ist er ein Abschied<br />

von ihr und ein Beitrag zur Klärung der eigenen Gefühle<br />

und damit verbundenen Handlungen: „Ich habe gemerkt,<br />

dass ich nicht nur traurig bin, sondern auch wütend über<br />

das, was mir passiert ist. Und über das, was mir passiert.<br />

Ich habe einen anderen Blick auf mein Alkoholtrinken.“<br />

(Interview mit D.)<br />

Für mich sind die Filme zwar auch „Geschichten, die andere<br />

hören, die andere sehen sollten“ (so in einer Ankündigung<br />

zum Workshop). Sie enthalten Botschaften und Appelle an<br />

die Zuschauenden und vielfältige Bezüge zu gesellschaftlichen<br />

Konstellationen und Bedingungen- jedoch eher<br />

implizit. Sie bieten die Chance, jugendliche Lebenswelten<br />

auf eine besondere Art kennenzulernen, Vielfalt zu erfahren,<br />

Perspektiven zu verändern, verborgene Lebenswelten<br />

sichtbar zu machen. Sie sind eine Möglichkeit, den verschiedenen<br />

Lebensentwürfen und Identitätsbildungsprozessen<br />

der Macher*innen Raum zu geben.<br />

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind sie beeindruckende<br />

Quellen für die Analyse jugendlicher Lebenswelten.<br />

Gleichwohl erweisen sich die Produktionsprozesse in den<br />

Workshops selbst für die Teilnehmenden als Chance für eine<br />

konstruktive Verarbeitung persönlicher Herausforderungen<br />

oder wie ein Teilnehmer formuliert: „(…) Denn trotz allem<br />

Bitteren und Traurigen sind wir als Menschen dazu in der<br />

Lage, mit unseren Geschichten aufrecht da zustehen und<br />

uns auszudrücken.“ (Interview mit J.)<br />

Im Folgenden werden drei Filme näher vorgestellt und in<br />

ihren Aussagen als Selbstzeugnisse jugendlicher Lebenswelten<br />

interpretiert. Analysiert und interpretiert wurden jeweils<br />

die Erzählungen, die verwendeten visuellen Zeugnisse und<br />

schließlich die Verschränkung und das Zusammenspiel von<br />

beidem. Gearbeitet wurde mit Methoden der qualitativen<br />

Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010), der Film-Strukturanalyse<br />

(vgl. Ehrenspeck/Lenzen 2003) und der seriell-ikonografischen<br />

Fotoanalyse (vgl. Pilarczyk/Mietzner 2005).1<br />

Literatur<br />

– Ehrenspeck, Yvonne/Dieter Lenzen: Sozialwissenschaftliche<br />

Filmanalyse – ein Werkstattbericht. In: Ehrenspeck,<br />

Yvonne/Burkard Schäffer (Hrsg.): Film- und Fotoanalysen<br />

in der Erziehungswissenschaft. Ein Handbuch. Opladen<br />

2003. S. 439-450.<br />

– Häder, Sonja: Der Bildungsgang des Subjekts: Thema –<br />

Kontext, Quellen – Methode – Theorie. In: Zeitschrift für<br />

Pädagogik. 48. Beiheft. 2004. S. 7-27.<br />

– Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen<br />

und Techniken. Weinheim 2010.<br />

– Pilarczyk, Ulrike/Ulrike Mietzner: Das reflektierte Bild. Die<br />

seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und<br />

Sozialwissenschaften. Bad Heilbrunn 2005.<br />

50<br />

51


Kapitel 9<br />

9.1 „Spielkind – ein Film von Coby“<br />

(Der Körper als Ort des Ichs)<br />

Die Geschichte, die in diesem Film erzählt wird, ist eine Geschichte,<br />

die weder einen Anfang noch ein Ende hat. Es ist<br />

ein Lebensthema, das hier verhandelt wird: der Körper und<br />

seine Geschlechtlichkeit.<br />

Coby gibt schon in den ersten Sekunden das Thema des<br />

Films bekannt und verbindet es mit den Bildern, die zu<br />

sehen sind: „Warum ich jongliere? Weil ich trans bin.“ Der<br />

Vorgang der Jonglage und die Jonglagebälle stellen für<br />

Copy einen direkt Zugang zum Körper dar, aktivieren das<br />

Körperempfinden und schalten für diesen Moment das<br />

Denken aus. Ein Denken, das durch die Zeiten (Früher,<br />

Jetzt, Später) irrt, immer wieder hinterfragt und oft nicht<br />

stillstehen kann. Rationalität und Reflexion war und ist (?)<br />

für Coby eine Form des Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit,<br />

der offensive Umgang mit dem eigenen Körper.<br />

In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film.<br />

Wir erfahren, wie stark Coby die Vergeistigung als Abkehr<br />

vom Körperlichen gepflegt hat. Fast wirkt es wie eine<br />

Überlebensstrategie. Nach der Erkenntnis und persönlichen<br />

Akzeptanz, weibliche und männliche Seiten im eigenen,<br />

dem einen Körper zu vereinen, wandelt sich Cobys Strategie<br />

und zwar in einen offensiven Umgang mit der eigenen als<br />

schwierig erlebten Körperlichkeit: Der eigene Körper darf<br />

sein, wird angenommen und geliebt. Der eigene Körper<br />

wird zum Ort des Ichs, zum Ort des Seins und Werdens, zum<br />

Ort positiver Gefühle und angenehmer Empfindungen.<br />

Adäquat zur Visualisierung, in der die Hände eine entscheidende<br />

Rolle spielen: sie halten und werfen die Bälle, stellt<br />

Coby die Hände auch immer wieder in den Mittelpunkt der<br />

Erzählung. Vielleicht, weil unsere Hände zumeist sehr aktive<br />

Körperteile sind. Sie können schreiben, halten, abwehren,<br />

aber auch berühren und streicheln. Im Film fungieren sie als<br />

Übergangsmedium von den Bällen zum Körper während der<br />

Jonglage. Ihre erzählerische Thematisierung und gleichzeitige<br />

Präsenz im Film vermittelt aber auch das Bild des konstruktiven<br />

Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit und die<br />

aktive Entscheidung, sich diesem Lebensthema zu stellen, es<br />

quasi in die Hand zu nehmen.<br />

Gleichzeitig wird jedoch deutlich, wie essentiell Körperlichkeit<br />

wird, wenn die eindeutige Geschlechtlichkeit prekär ist<br />

oder als solche empfunden wird. In der Passage, in der Coby<br />

über die eigenen Strategien des Umgangs damit spricht,<br />

ist der Stimme auch die Trauer anzuhören, und im gesprochenen<br />

Satz „Ich war nie glücklich in meinem Körper.“<br />

schwingt die Permanenz der herausfordernden Auseinandersetzung<br />

mit diesem Themas fort.<br />

Und doch werden in Cobys Film Möglichkeiten gezeigt, sich<br />

dieser lebensgeschichtlichen Herausforderung zu stellen,<br />

sowohl mit der Erzählung, die Umgangsweisen anbietet, als<br />

auch mit der visuellen Umsetzung: Coby zeigt seinen*ihren<br />

Körper nie im Ganzen - es sind immer nur Ausschnitte zu<br />

sehen - und verweigert sich damit einem konstruierenden<br />

Urteil von außen zu einem „Gesamtkörper“. In dieser<br />

Sichtbarkeit bestimmt Coby selbst, wie der Körper präsentiert<br />

wird - in welcher Perspektive, in welcher Haltung, mit<br />

welchen Worten.<br />

Die Perspektiven und sichtbaren Körperausschnitte verändern<br />

sich permanent und radikal während des gesamten<br />

Films – vielleicht repräsentiert dies den Wunsch, dass sich<br />

die Außenperspektiven auf den Körper des Anderen vervielfältigen,<br />

nicht statisch sind, sondern flexibel und veränderbar.<br />

Vielleicht zeigt sich hier die Vision, nicht festgelegt zu<br />

werden und/oder unabhängig von einem Außenblick und<br />

fremdbestimmter Markierung autonom agieren zu können.<br />

Von außen gesetzte Markierungen haben zumindest in<br />

dieser Präsentation auf eindrucksvolle Art und Weise keine<br />

Chance.<br />

52<br />

53


Kapitel 9<br />

9.2 „Hühnchen & Pommes auf Kuba“<br />

(Gesucht und gefunden)<br />

Dieser Film handelt von einem der wichtigsten Ereignisse<br />

im Leben eines Menschen. Die Protagonistin lernt ihren<br />

leiblichen Vater kennen. Sie selbst ist wahrscheinlich in den<br />

1980er Jahren in der DDR geboren und aufgewachsen.<br />

Ihr Vater war kubanischer Vertragsarbeiter, so die offizielle<br />

Bezeichnung für Menschen aus anderen Ländern, die in<br />

der DDR auf der Grundlage von bilateralen Staatsverträgen<br />

arbeiteten. Cynthia begibt sich als 22-jährige junge Frau nun<br />

selbst nach Kuba, um nach ihm zu suchen und ihn kennenzulernen.<br />

Es ist ein Film, der relativ nüchtern daherkommt<br />

und das, obwohl wir es hier mit einem „kritischen Lebensereignis“<br />

(siehe auch Kapitel 4.1) zu tun haben, das einen<br />

basalen Punkt unseres Lebens darstellt: unsere Eltern, unsere<br />

Herkunft. Wir alle möchten wissen, wer sind die Menschen,<br />

die uns ins Leben geschickt haben. Und auch, wenn wir<br />

nicht mit ihnen zusammen aufwachsen durften, wollen wir<br />

sie sehen, kennenlernen, mit ihnen sprechen, um unsere<br />

eigene Identität einzuordnen. Zumal dann, wenn deren<br />

kulturelle und/oder regionale Herkunft zu unserer dominierenden<br />

Lebensumwelt differiert. Wir haben es hier also mit<br />

einem brisanten Ereignis zu tun und doch sind die gesprochene<br />

Stimme, die Konstruktion des Textes an sich und schon<br />

allein der Titel „Hühnchen & Pommes auf Kuba“ zunächst<br />

vordergründig wenig emotional. Wie bedeutend jedoch für<br />

die Protagonistin dieses Ereignis war und ist, zeigen ihre<br />

Wahl, diese – doch so intime – Geschichte zu erzählen und<br />

damit sichtbar zu machen, aber auch das Zusammenspiel<br />

von Erzählung und visueller Gestaltung.<br />

Es ist eine sehr künstlerische Erzählung, die sich in ihrer<br />

Chronologie beim ersten Hören und Sehen nicht sofort<br />

erschließt. Zeiten und Logik der Geschichte sind radikal<br />

verschoben. Die sie illustrierenden Fotografien erscheinen<br />

zunächst wahllos gewählt übereinander gelegt. Doch beim<br />

näheren Hinsehen erschließen sich sowohl deren Logik also<br />

auch die Geschichten, die mit den Bildern parallel ergänzend<br />

erzählt werden. Die Erzählung beginnt mit der Lokalisierung<br />

der zu erzählenden Geschichte - „Kuba, Havanna,<br />

Studentenwohnheim“ - und zeigt parallel die Geburtsurkunde<br />

der Protagonistin, auf der schräg gelegt eine Schwarz-<br />

Weiß-Fotografie mit drei Männern zu sehen ist, einer davon<br />

ihr Vater. Diese Fotografie ist sehr wahrscheinlich in der DDR<br />

entstanden und möglicherweise ebenfalls vor beziehungsweise<br />

auf dem Balkon eines Wohnheimes.<br />

Parallel zur Erzählung des telefonischen Erstkontaktes mit<br />

ihrer kubanischen Familie werden weitere Fotografien aus der<br />

DDR gezeigt, auf denen erst ihr Vater in einer Gruppe von<br />

anderen Männern (im Hintergrund das Treptower Ehrenmal<br />

in Berlin), ihr Vater allein vor einem Lada, dann ihr Vater<br />

und ihre Mutter vor dem Brandenburger Tor zu sehen sind.<br />

Die emotionale Schrecksekunde, die eintritt, wenn wir bei<br />

einem wichtigen Anruf auf die Stimme der Angerufenen<br />

warten, symbolisiert Cynthia durch ein schwarzes Bild. Dann<br />

meldet sich eine Frauenstimme, und wir sehen parallel<br />

ihre Mutter und ihren Vater als ein fotografiertes Paar. Das<br />

Telefongespräch wird durch die Protagonisten beendet –<br />

schwarzes Bild.<br />

Nun beginnt die Erzählung einer weiteren Szene, in der sie<br />

das erste Mal ihren Vater als einen sozialen Vater erlebt: er<br />

und ihre Cousine unterstützen sie bei einem Bewerbungsgespräch,<br />

das der Protagonistin ermöglichen soll, in basalen<br />

Lebensdingen (Unterkunft, Geld) abgesichert in Kuba länger<br />

bleiben zu können. Diese Szene bebildert Cynthia unter<br />

anderem mit zwei Bildern, auf denen ihre Eltern mit ihr<br />

als Baby wahrscheinlich nach der Geburt das Krankenhaus<br />

verlassen – also ganz frisch „gebackene“ Eltern sind. Interessant<br />

ist die Anordnung dieser Fotografien: Zunächst sehen<br />

wir das Baby auf dem Arm seiner Mutter, der Vater steht<br />

dicht daneben, das Köpfchen ist an seine Schulter geschmiegt.<br />

Die Mutter schaut glücklich in die Kamera, der Vater<br />

weiß noch nicht genau, wie er schauen soll. (Ein Freund<br />

oder Verwandter steht ironischerweise mit einem Dackel auf<br />

dem Arm und ohne sonstigen Bezugspunkt neben dieser<br />

neuen Familie.) Dann kommt ein paar Sekunden schwarzes<br />

Bild, und danach sehen wir eine weitere Aufnahme aus<br />

dieser Situation, die eine andere Konstellation abbildet: Der<br />

Vater hält nun das Baby in den Armen und schaut es intensiv<br />

an, die Mutter schaut leicht skeptisch in die Kamera.<br />

Die jungen Eltern sind nun allein auf diesem Bild – es gibt<br />

keinen ironischen Kommentar. Cynthia spricht weiter über<br />

diese Szene im Bewerbungsgespräch, in der ihr Vater das<br />

erste Mal ihr sozialer Vater ist. Sie fühlt sich beschützt<br />

(„Löwenverhalten“) und gleichzeitig beschämt, da sie an<br />

sich ja schon dem Schutz der Eltern entwachsen ist (sie ist<br />

zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt). Und nun sehen wir eine<br />

fotografische Szene aus ihrer Kindheit: sie selbst als Kleinkind<br />

in einer Nahaufnahme mit einem weiteren Kleinkind<br />

– vielleicht einem Geschwister. Diese Aufnahme stammt<br />

möglicherweise aus dem Kindergarten, sie ist mit Sicherheit<br />

eine professionelle (Atelier)-Fotografie. Ein starkes Beschützerverhalten<br />

schreibt sie auch ihrer Mutter zu – hier stellt sie<br />

Gemeinsamkeiten her und zeigt gleichzeitig dieses Bild aus<br />

ihrer Kleinkindzeit. Vielleicht hätte sie sich beide Eltern als<br />

soziale Eltern in ihrer Kindheit gewünscht?<br />

Nun kommen wir erzählerisch wieder zurück zu dem<br />

Geschehen auf Kuba und ab jetzt sehen wir Fotografien<br />

aus dem kubanischen Familienkontext. Interessanterweise<br />

sind dies alles Farbfotografien. Es ist anzunehmen, dass die<br />

54<br />

55


Kapitel 9<br />

Protagonistin diese von ihrem Vater oder der kubanischen<br />

Familie erhalten hat. Die Familie wird hier sichtbar: eventuell<br />

ein Bruder zusammen mit dem Vater, möglicherweise<br />

die Großmutter – eine ältere ehrwürdige Dame auf einem<br />

prachtvoll verzierten Stuhl sitzend.<br />

Das letzte Bild des Films und auch der letzte Satz des Films<br />

überraschen. Das Bild zeigt wahrscheinlich den Vater (der<br />

Kopf ist nicht sichtbar, sondern nur der Körper) mit einem<br />

Motorrad, wahrscheinlich seinem Fahrzeug auf Kuba. Dieses<br />

erscheint gerade frisch gesäubert, glänzt, sieht aus wie neu,<br />

es funkelt den*die Betrachter*in geradezu an Dieses Fahrzeug<br />

dominiert die Aufnahme, zumal die ebenfalls abgebildete<br />

Person nicht „vollständig“ ist. Warum dieses Fahrzeug?<br />

Beim näheren Hinsehen wird der Bezug zur Geschichte<br />

dieses Films jedoch klar, denn es handelt sich um eine MZ –<br />

einem Motorrad made in GDR. Damit schließt sich der Kreis<br />

zum Beginn des Films, in dem wir die Spuren des Vaters in<br />

der DDR sahen. Wir kommen also wieder zur DDR und im<br />

letzten gesprochenen Satz der Filmemacherin ganz zu ihr<br />

selbst zurück. Denn der Satz, der sie von der Anspannung<br />

vor der ersten Begegnung mit dem Vater nach ihren Worten<br />

„erlöst“, ist die höflich formulierte Frage des Vaters „Sind<br />

Sie Cynthia Zimmermann?“. Diese Frage, der Mensch, der<br />

sie stellt, die Situation der Begegnung verweisen sie auf<br />

ihre Identität, ihre Herkunft – ja, sie ist Cynthia Zimmermann<br />

und ja, das hat für den Fragenden eine unauflösliche<br />

Bedeutung.<br />

Auf welche sozialen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe<br />

verweist diese Geschichte jenseits des anthropologischen<br />

Grundbedürfnisses nach der Kenntnis der eigenen<br />

Herkunft, der eigenen Geschichte? Es gäbe viele Deutungsmöglichkeiten.<br />

In diesem Fall jedoch gibt die Protagonistin<br />

selbst die Antworten. Ihre kubanisch-DDR-deutsche<br />

-Herkunft und wahrscheinlich deren Deutungen von außen<br />

erschweren ihr eine eindeutige Verortung in Kultur oder<br />

Nation – bis in das Jetzt hinein (So äußert sie sich in der im<br />

Nachgang erfolgten Befragung zum Workshop). Dieses Hinund-Her-Gerissensein<br />

verbunden mit einem Bedürfnis nach<br />

eindeutiger Zugehörigkeit ist ein ständiger Schmerz. Das<br />

Kennenlernen ihres Vaters und ihrer kubanischen Familie,<br />

des Ortes Kuba lindert jedoch diesen Schmerz – sie bieten<br />

für Cynthia einen Ort der Zugehörigkeit.<br />

9.3 „B. - Dämonenaustreibung“<br />

Die Geschichte, die wir hier kennenlernen dürfen, ist die<br />

eines so genannten kritischen Lebensereignisses mit weitreichenden<br />

Folgen für den Protagonisten. B. muss mit 15<br />

Jahren (er erinnert und nennt sogar das exakte Datum) in<br />

eine andere Stadt ziehen, sich komplett neu orientieren, vor<br />

allem in der neuen peergroup. Für ihn hat dieser Wechsel<br />

weitreichende Folgen. Er integrierte sich in einen neuen<br />

Freundeskreis, dessen Mitglieder gesellschaftliche Normen<br />

übertreten. In diesem Milieu gab es exzessive Gewalt.<br />

Gleichzeitig wurde aus dem „jung(en)“, „dynamisch(en)“,<br />

„sportlich(en)“ B., einem Jungen mit „guten Schulperspektiven“,<br />

in seiner Selbstbeschreibung ein Mensch mit den gegenteiligen<br />

Attributen. B. kann sich letztlich diesem Milieu<br />

entziehen und dieser Film berichtet von diesem Erfolg, aber<br />

auch von dem Weg dorthin.<br />

Die im Film präsentierten Fotografien stammen vermutlich<br />

aus aus der Zeit dieser Lebensepisode, manche wurden<br />

eventuell im Rahmen des Workshops nachgestellt. B. vergegenwärtigt<br />

sich damit noch einmal diese Phase, stellt sich ihr<br />

und das ist spürbar nicht leicht für ihn. Hörbar fällt es ihm<br />

schwer, überhaupt mit der Erzählung dieses Lebensabschnittes<br />

zu beginnen – im Erzählfluss gibt es eine Pause, dann<br />

ein hörbares tiefes Ein- und Ausatmen und ein Zögern,<br />

die nunmehr folgenden Worte auszusprechen. Es kostet<br />

ihn Überwindung, doch er tut es und die von ihm im Film<br />

präsentierten Bilder belegen diesen Mut in beeindruckender<br />

Weise. Zum einen zeigt B. ohne Scheu Bilder aus dieser Zeit,<br />

die unter anderem illustrieren, welche Haltung er damals<br />

der Welt gegenüber hatte: geballte Fäuste mit erhobenem<br />

Mittelfinger. Zum anderen sind diese Aufnahmen jedoch<br />

immer wieder mit Porträtaufnahmen kontrastiert, auf denen<br />

der Protagonist ernst und offen in die Kamera schaut.<br />

Hier erwidert er den Blick der Zuschauenden, er hält ihm<br />

stand – er stellt sich damit seiner Geschichte. Und dass diese<br />

Geschichte wahrscheinlich existenziell war, zeigt eine fotografische<br />

Szene, in der sein Gesicht unscharf in der linken<br />

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57


Kapitel 9<br />

Bildhälfte platziert ist und im scharfgestellten Hintergrund<br />

das Warnschild „Hochspannung Lebensgefahr“ sichtbar und<br />

lesbar wird.<br />

Der peergroup, seinen Freunden, mit denen er in dieser Zeit<br />

Kontakt hatte, stellt B. sich auch. Diese Bindungen waren<br />

für B. offensichtlich von großer Bedeutung. Umso traumatischer<br />

sicherlich die Erfahrung, dass die engste dieser Beziehungen<br />

im Alltag nicht fortgesetzt werden konnte, da sein<br />

bester Freund in Haft kam. Das Bild, das diesen Abschnitt<br />

der Erzählung begleitet, zeigt uns einen Aspekt dieser<br />

Beziehung. Dominiert wird die Aufnahme von einem jungen<br />

Mann im Bildvordergrund, B. selbst steht schrägt hinter ihm,<br />

stützt sich auf seine rechte Schulter und schaut leicht zu ihm<br />

auf (Anmerkung der Redaktion; dieses Bild wurde im Rahmen<br />

des Workshops nachgestellt. Die Person auf dem Foto<br />

ist nicht identisch mit der Person in der Erzählung). Diese<br />

Aufnahme versinnbildlicht B.‘s eigene lebensgeschichtliche<br />

Erklärung für seine Faszination für diese neue Lebenswelt:<br />

Der neue Freundeskreis hat ihn in diese andere Welt mit<br />

hineingezogen. Die neuen anderen Freunde waren dabei<br />

der treibende Part, B. konnte sich ihrem Sog und dem Sog<br />

dieses Milieus nicht entziehen. Er konnte sich anlehnen, aufstützen,<br />

musste jedoch gleichzeitig auch folgen, mitmachen.<br />

Das wird im nächsten „Freundschaftsbild“ noch einmal<br />

anders deutlich. Zwei Freunde (er und ein anderer junger<br />

Mann) präsentieren sich in ähnlicher Körperhaltung: die<br />

Körper leicht schräg zur Seite geneigt, mit der linken Hand<br />

in ähnlicher Weise den Mittelfinger, den „Stinkefinger“,<br />

zeigend. Dieses Bild zeigt in seiner Präsenz von jugendkulturellen<br />

Zeichen, hier gibt es eine Verbindung, das gemeinsame<br />

Teilen einer Einstellung: der Verachtung und Abwehr<br />

des Außens; nicht nur durch die erhobenen aggressiven<br />

Mittelfinger, sondern auch durch die getragene Kleidung,<br />

wie dem „pit bull“ –T-Shirt. Beides sind Symbole für Aggression,<br />

aber auch für die Behauptung des Eigenen. Denn<br />

in der Abwertung des Außen/des Anderen kann das Innere/<br />

das Eigene aufgewertet und bekräftigt werden, zumal in<br />

Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen, die ähnlich empfinden,<br />

denken und handeln. Es ist eine Jugendkultur, die<br />

sich auf diesen Bildern ausdrückt und sich durch sie gleichzeitig<br />

konstituiert. Eine Jugendkultur, die in B‘s´ Erzählung,<br />

die Werte und Normen der Erwachsenenwelt attackiert. Für<br />

B. konnte sie nicht zum dauerhaften Identitätsort werden,<br />

obwohl der Sog für ihn sicherlich sehr stark war. In seiner<br />

Geschichte bietet er zwei Erklärungen dafür an. Einerseits<br />

erlebte er die Konsequenzen und damit auch Zerstörung<br />

dieser Form jugendkulturellen Lebens innerhalb seiner<br />

peergroup (Haft, Abschiebung), andererseits hatte und hat<br />

er starke familiäre Bindungen, die ihn damals unterstützten<br />

und bis heute tragen.<br />

Diese Abkehr vom Milieu und seinen Werten und Normen,<br />

die Abkehr und Abwehr von starker Faszination und<br />

Identifikation mit einem jugendkulturellen Milieu wird für B.<br />

zur „Wende“, eine, die er „geschafft“ hat. Im Film werden<br />

an diesem Punkt der Erzählung immer noch die erhobenen<br />

Mittelfinger (das Freundschaftsbild mit „Stinkefingern“)<br />

gezeigt, doch dann wechselt der Film wieder zu B. selbst.<br />

Wir sehen eine der ausdrucksvollen Porträtaufnahmen, auf<br />

denen er intensiv zurückschaut, sich der Welt und ihrem Urteil<br />

stellt, und nun beginnt er seine Botschaft, seinen Appell<br />

an alle Anderen, die in einer ähnlichen Situation sind oder<br />

dazu tendieren, in eine solche Situation zu geraten. Dieser<br />

bildliche Übergang analog zur erzählten Geschichte bezeugt<br />

noch einmal die Rekapitulation der eigenen Faszination<br />

und emotionalen Bindung an peergroup und Milieu durch<br />

den Protagonisten, der B. nun die einer Rückbesinnung auf<br />

das Selbst, die eigenen Wünsche und Eigenverantwortung<br />

gegenüberstellt. Diesen erfolgreichen Schritt, so schwer er<br />

auch fiel, diese eigene Erfahrung möchte B. mit diesem Film<br />

als Warnung und Anstoß in die Welt tragen.<br />

In den Sequenzen, die diese Abkehr thematisieren und sich<br />

in die Zukunft orientieren, wird die Erzählstimme spürbar<br />

entspannter, flüssiger und der Film schlussendlich mit einem<br />

Schuss Ironie gewürzt, wenn B. uns den Rücken zuwendet,<br />

das Victory-Zeichen macht, die Aufschrift seines T-Shirts „Exorcise<br />

the Demons“ sichtbar wird und er dazu spricht „Ich<br />

kann euch nur raten, hört auf eure Eltern!“<br />

Gleichwohl stellt diese Schlusssequenz keineswegs die<br />

Schwere und Ernsthaftigkeit der Erzählung und ihrer Visualisierung<br />

in Frage. Zumal die melancholische und warme<br />

Musik, mit der der Film unterlegt ist, bis zuletzt hörbar ist.<br />

Das letzte Bild symbolisiert vielmehr das Ende einer Reise,<br />

die im Auto begann (siehe das erste Bild des Films) und<br />

nunmehr mit beiden Füßen fest auf der Erde stehend, das<br />

Gesicht dem Himmel zugewandt, endet. Zwar ist dieser<br />

Himmel bedeckt, aufgewühlt durch Wolken, es ist kein<br />

klarer Himmel, jedoch bringen er und die gepflasterte Fläche<br />

vor B., eine neue Dimension in den Film: Weite, Offenheit,<br />

Bewegung. Es ist das einzige Bild, auf dem der Himmel<br />

überhaupt zu sehen ist und dieses Bild zeigt: Es geht weiter,<br />

ich habe einen festen Stand im Leben, ich schaue nunmehr<br />

in eine andere Richtung, diesem Teil meines Lebens kann ich<br />

den Rücken zukehren.<br />

Dieser Film ist ein eindrucksvolles Zeugnis über den Einfluss<br />

jugendkultureller Milieus auf Lebenswelt und Lebenswege<br />

junger Menschen. Gleichzeitig zeigt er jedoch auch, wie<br />

Jugendliche zu Akteuren ihrer eigenen Geschichte werden.<br />

Ein tragendes familiäres Umfeld kann sie dabei unterstützen<br />

– für B. wurde es zum emotionalen Bezugspunkt und zum<br />

Korrektiv.<br />

58<br />

59


Verzeichnis<br />

Impressum<br />

Alheit, P. (2003): Identität oder „Biographizität“? Beiträge<br />

der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen<br />

Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung<br />

Lebensgeschichten erzählen. Biographiearbeit,<br />

Narrative Therapie, Identität, Paderborn, S.6-25. In: Petzold,<br />

Hilarion G. (Hrsg.)<br />

Filipp, S. (2007): Kritische Lebensereignisse. In: Brandstätter<br />

J., Lindenberger U. (2007) Entwicklungspsychologie der<br />

Lebensspanne. Stuttgart, S. 337-366<br />

Greve, W. (2008): Bewältigung und Entwicklung. In: Oerter,<br />

R./ Montanda, L. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, 6.<br />

vollst. überarb. Auflage (S. 910-926). Weinheim/Basel<br />

Jansen, I./Hölzle C. (Hrsg.) (2009): Ressourcenorientierte<br />

Biographiearbeit, Wiesbaden<br />

Lambert, J. (2006): Digital Stortyelling Cookbook, Berkeley<br />

McLeod, J. (1997): Narrative and Psychotherapy, London<br />

Rath, N. (2009): Biographisches Verstehen von Kindern, In:<br />

Jansen, I./Hölzle, C. (Hrsg.) (2009): Ressourcenorientierte<br />

Biographiearbeit, Wiesbaden, S. 89-107<br />

Herausgeberin und Verlag:<br />

Naturfreundejugend Deutschlands<br />

Warschauerstr. 59a, 12043 Berlin<br />

Telefon: 030-29773270<br />

Telefax: 030-29773280<br />

E-Mail: info@naturfreundejugend.de<br />

Internet: www.naturfreundejugend.de<br />

Konzeption: Lukas Nicolaisen<br />

Konzeption DVD: Marcus Zilz, Lukas Nicolaisen<br />

Text: Lukas Nicolaisen, Marcus Zilz, Dr. Jane Schuch<br />

Redaktion: Lukas Nicolaisen, Ulrike Grimm,<br />

Dennis Melsa (V.i.S.d.P.)<br />

Fotos: Screenshots aus Digital Storys<br />

Gestaltung: Verena Fäth, Sebastian Fäth<br />

Druck: DCM Druck Center<br />

Pressung: digiCon AG<br />

ISBN: 978-3-921381-55-7<br />

Gefördert durch:<br />

<br />

Der Herausgeber ist alleine für den Inhalt verantwortlich<br />

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„Wenn meine Geschichte die Macht hätte die Welt zu verändern, dann würde sie<br />

alle Menschen zu Geschichtenerzählern machen. Denn trotz allem Bitteren und<br />

Traurigen sind wir als Menschen dazu in der Lage, mit unserer Geschichten aufrecht<br />

dazustehen und uns auszudrücken. Das zu erkennen, wäre gut und schön.“<br />

www.capture-<strong>your</strong>-<strong>life</strong>.de

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