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Berliner Stimme Nr. 1 2019

Berlin ist die Start-up-Hauptstadt. Außerdem gibt es in der Stadt mehr als 300 Forschungsgruppen und forschende Unternehmen. Wie dort an den Projekten für die Stadt der Zukunft gearbeitet wird, zeigt die aktuelle Ausgabe der Berliner Stimme mit dem Themenschwerpunkt Smart City. Darüber hinaus beschreibt IKT-Staatssekretärin Sabine Smentek die politischen Meilensteine hin zu einer smarten Berliner Verwaltung. Im Interview: Hanna Popp von der IHK Berlin über die Smart-City-Strategie des Senats und die drängenden Probleme der Wirtschaft. Außerdem im Heft: Ein Meinungsbeitrag zur Kita-Politik von Nicola Böcker-Giannini, Kevin Hönicke, Bettina König und Julian Zado sowie ein Porträt über den 90-jährigen Kurt Ottenberg, der seit mehr als 70 Jahren in der SPD Charlottenberg-Wilmersdorf engagiert ist.

Berlin ist die Start-up-Hauptstadt. Außerdem gibt es in der Stadt mehr als
300 Forschungsgruppen und forschende Unternehmen. Wie dort an den Projekten für die Stadt der Zukunft gearbeitet wird, zeigt die aktuelle Ausgabe der Berliner Stimme mit dem Themenschwerpunkt Smart City. Darüber hinaus beschreibt IKT-Staatssekretärin Sabine Smentek die politischen Meilensteine hin zu einer smarten Berliner Verwaltung. Im Interview: Hanna Popp von der IHK Berlin über die Smart-City-Strategie des Senats und die drängenden Probleme der Wirtschaft.
Außerdem im Heft: Ein Meinungsbeitrag zur Kita-Politik von Nicola Böcker-Giannini, Kevin Hönicke, Bettina König und Julian Zado sowie ein Porträt über den 90-jährigen Kurt Ottenberg, der seit mehr als 70 Jahren in der SPD Charlottenberg-Wilmersdorf engagiert ist.

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Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 1 · <strong>2019</strong> | 69. Jahrgang<br />

TITELTHEMA<br />

SMART CITY<br />

GASTBEITRAG<br />

Sabine Smentek: Digitalisierung<br />

der <strong>Berliner</strong> Verwaltung<br />

INTERVIEW<br />

Die IHK über die Smart-<br />

City-Strategie des Senats<br />

STANDPUNKT<br />

Eine gerechte Welt<br />

fängt in der Kita an


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2 BERLINER STIMME


Text Michael Müller<br />

Foto Carolin Weinkopf<br />

Metropolis: Ein Netzwerk, das<br />

Städte gemeinsam voranbringt<br />

Städte sind ein Frühwarnsystem für<br />

globale Entwicklungen. Hier spüren die<br />

Menschen die Veränderungen als erstes.<br />

Wir, in den Städten, repräsentieren mehr<br />

als die Hälfte der Weltbevölkerung. Umso<br />

wichtiger ist es, dass wir uns zusammenschließen,<br />

um gemeinsam daran zu<br />

arbeiten, Städte als lebenswerte Orte<br />

zu erhalten. Wir müssen nachhaltig<br />

mit unseren Ressourcen umgehen, die<br />

Veränderungsprozesse bewältigen und<br />

Menschen ein Zuhause geben, die von<br />

überall zu uns kommen.<br />

Bei dem Städtenetzwerk „Metropolis“<br />

verbindet uns die Überzeugung, dass<br />

sich lokale Probleme besser durch internationale<br />

Zusammenarbeit lösen lassen.<br />

Ein bekanntes Zitat von Nelson Mandela<br />

lautet: „Was im Leben zählt, ist nicht,<br />

dass wir gelebt haben. Sondern, wie<br />

wir das Leben von anderen verändert<br />

haben." Genau darum geht es bei Metropolis<br />

– und ich freue mich diesem Netzwerk<br />

als Präsident vorzustehen.<br />

Die weltweiten Herausforderungen werden<br />

in den Städten besonders konkret:<br />

Ich nenne nur die Stichworte Energieeffizienz<br />

und Klimaschutz. Zwei Drittel<br />

der weltweiten Energie werden in den<br />

Städten verbraucht. Wo, wenn nicht in<br />

unseren Städten, muss sich der Schutz<br />

des Weltklimas bewähren?<br />

Die Lösungsansätze dabei sind vielfältig:<br />

von autofreien Innenstädten, über öffentlicher<br />

Nahverkehr mit alternativen Antrieben<br />

oder vertikale Gärten in Ballungsgebieten.<br />

Bei Metropolis können wir uns<br />

gegenseitig von unseren Erfahrungen<br />

berichten. Vieles wird ausprobiert, manches<br />

lässt sich übertragen, anderes nicht.<br />

Für unseren Austausch greifen wir auf<br />

vernetzte Plattformen zurück. Im Rahmen<br />

des <strong>Berliner</strong> Engagements in Metropolis<br />

haben wir die Online-Plattform „use“<br />

gegründet, auf der Fallstudien zu unterschiedlichen<br />

Fragen nachhaltiger Stadtentwicklung<br />

präsentiert werden. Ich lade<br />

Euch ein, die Seite use.metropolis.org zu<br />

besuchen und Teil der Online-Community<br />

zu werden und an der Stadt der Zukunft<br />

mitzuarbeiten. Für ein Berlin von Morgen.<br />

Euer<br />

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BERLINER STIMME<br />

3


TITELTHEMA<br />

Smart City<br />

02 EDITORIAL<br />

Metropolis: Ein Netzwerk, das<br />

Städte gemeinsam voranbringt<br />

Text Michael Müller<br />

Foto Carolin Weinkopf<br />

06 GASTBEITRAG<br />

Wann ist die <strong>Berliner</strong><br />

Verwaltung smart?<br />

Text Sabine Smentek<br />

Foto SenInnDS | Farbtonwerk<br />

08 INTERVIEW MIT HANNA POPP<br />

„Ein wichtiger Faktor<br />

ist das Vergaberecht“<br />

Fragen Christina Bauermeister<br />

Foto Fotostudio Charlottenburg<br />

11 FEATURE ZUM INFRALAB<br />

Pecha Kucha<br />

im Container<br />

Text & Fotos<br />

Christina Bauermeister<br />

Im InfraLab Berlin entwickeln Start-ups<br />

und <strong>Berliner</strong> Infrastrukturunternehmen<br />

in den Bereichen Kreislaufwirtschaft,<br />

Digitalisierung, E-Mobilität und Klimaneutralität<br />

Mehr auf den Seiten 11-13<br />

Foto: Christina Bauermeister<br />

14 GASTBEITRAG<br />

Eine starke Entwicklungsachse<br />

Text Philipp Bouteiller<br />

Foto <strong>Berliner</strong> Stadtwerke/<br />

Benjamin Pritzkuleit<br />

16 AUTONOMES FAHREN<br />

Maschinen lernen,<br />

wie Menschen zu sehen<br />

Text Christina Bauermeister<br />

Fotos Artisense GmbH & TU München<br />

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18 CITYLAB BERLIN<br />

Verwaltung trifft auf Start-up<br />

Text Walter Palmetshofer<br />

Foto Fiona Krakenbürger<br />

Zeichnung CityLAB Berlin<br />

4 BERLINER STIMME


20 GASTBEITRAG<br />

Berlin: Modellstadt für Digital Health<br />

Text Barbara Loth<br />

Foto Joachim Gern<br />

Illustration Adobe Stock · mast3r<br />

22 VOR ORT<br />

Siemensstadt 2.0<br />

Text Felix Beyer<br />

Foto Siemens<br />

AUS DEM LANDESVERBAND<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong>n<br />

24<br />

STANDPUNKT<br />

Eine gerechte Welt fängt in der Kita an<br />

Text<br />

Foto<br />

Nicola Böcker-Giannini,<br />

Kevin Hönicke, Bettina König<br />

& Julian Zado<br />

Adobe Stock · oksix<br />

26 PORTRÄT<br />

Wahlkampfplakate<br />

an Ruinenwänden<br />

Text<br />

Ulrich Schulte Döinghaus<br />

Fotos Christina Bauermeister<br />

VERMISCHTES<br />

Kultur & Geschichte<br />

29 NEUMITGLIEDERTREFFEN<br />

„Genau hier fängt Politik an“<br />

Text & Fotos Hans G. Kegel<br />

30 BUCHREZENSION<br />

Das, was nicht sein durfte<br />

Text Holger Czitrich-Stahl<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong><br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie<br />

Herausgeber<br />

SPD Landesverband Berlin,<br />

Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),<br />

Müllerstraße 163, 13353 Berlin,<br />

Telefon: 030.4692-222<br />

E-Mail: spd@spd.berlin<br />

Webadresse: www.spd.berlin<br />

Redaktion<br />

Christina Bauermeister und Birte Huizing<br />

Telefon: 030.4692-150<br />

E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de<br />

Mitarbeit an dieser Ausgabe<br />

Felix Beyer, Philipp Bouteiller, Nicola Böcker-<br />

Giannini, Holger Czitrich-Stahl, Kevin Hönicke,<br />

Bettina König, Barbara Loth, Walter Palmetshofer,<br />

Ulrich Schulte Döinghaus, Sabine Smentek,<br />

Julian Zado<br />

Grafik Nico Roicke und Hans Kegel<br />

Titel-Illustration Laura Breiling<br />

Abonnement 29,– Euro pro Jahr im Postvertrieb<br />

Abo-Service Telefon: 030.4692-144,<br />

Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de<br />

Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln<br />

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BERLINER STIMME<br />

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Text Sabine Smentek<br />

Foto SenInnDS | Farbtonwerk<br />

Wann ist die <strong>Berliner</strong><br />

Verwaltung smart?<br />

Sabine Smentek über die politischen Meilensteine<br />

des intelligenten vernetzten<br />

Regierungs- und Verwaltungshandelns<br />

Hinter vorgehaltener Hand sagen Politikerinnen und Politiker: Wenn es<br />

uns nicht gelingt, eine funktionierende Verwaltung zu organisieren,<br />

dann brauchen demokratische Parteien bei den nächsten Wahlen gar<br />

nicht erst antreten. Tatsächlich merken Bürgerinnen und Bürger nicht<br />

an Plenardebatten, ob die Politik ihre Arbeit macht, sondern an einem<br />

funktionierenden Gemeinwesen. Hier legt Rot-Rot-Grün einen klaren<br />

Schwerpunkt.<br />

Das Leitprojekt Bürgerämter hat dazu beigetragen, dass Warteschlangen<br />

vor den Bürgerämtern der Vergangenheit angehören. Und das auf Dauer,<br />

weil wir neben mehr Personal auch die Organisation und die Technik<br />

verbessern – auch bei der Kfz-Zulassung. Ist das schon smart? Nein, wir<br />

arbeiten noch daran, die Normalität<br />

wiederherzustellen. Auf Grundlage<br />

eines der modernsten E-Government- Auf Grundlage eines der<br />

Gesetze haben wir die Chance, die modernsten E-Government-<br />

Verwaltung nachhaltig zu moder-<br />

Gesetze haben wir die Chance<br />

nisieren. 2023 werden Papierakten<br />

durch die E-Akte ersetzt – ein Mega- die Verwaltung nachhaltig<br />

Projekt! Aber: Das Projekt liegt im zu modernisieren<br />

Plan. Die Papierakte abzuschaffen, ist<br />

mehr als nur Technik. Abstimmungen<br />

zwischen Verwaltungen geschehen binnen Sekunden – die Akten sind<br />

dann überall verfügbar dank Laptop oder Tablet. Das ist für Verwaltungen<br />

schon ziemlich smart!<br />

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Wir organisieren die Standardisierung und Modernisierung der IT-<br />

Ausstattung der <strong>Berliner</strong> Verwaltung. Auch hier wurde lange nicht ausreichend<br />

investiert. Außerdem stellen wir den dezentralen Informations-<br />

6 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Sabine Smentek ist seit Dezember 2016<br />

Staatssekretärin für Informations- und<br />

Kommunikationstechnologie in der Senatsverwaltung<br />

für Inneres und Sport.<br />

und Kommunikationstechnikbetrieb<br />

(IKT) um. Künftig werden alle technischen<br />

Komponenten zentral vom IT-Dienstleistungsbetrieb<br />

des Landes Berlin (ITDZ)<br />

betrieben. Damit gehören unterschiedliche<br />

IKT-Ausstattungen der Vergangenheit<br />

an und können einheitlich gewartet<br />

und sicher betrieben werden. Wie wichtig<br />

das ist, hat der letzte Hacker-Angriff<br />

gezeigt. Doch unsere technologischen<br />

Schulden abzubauen dauert mehrere<br />

Jahre – und kostet nicht nur Geld, sondern<br />

auch Zeit. Zum Beispiel haben externe<br />

Dienstleister Lieferschwierigkeiten und<br />

wir müssen aktiv um die Zustimmung<br />

der Personalvertretungen werben. Das<br />

Land Berlin ist kein Start-up. Jede Modernisierung<br />

der Technik ist ein Großvorhaben.<br />

Das Internet wird direkter Zugangsweg<br />

für Bürgerinnen und Bürger sowie für<br />

Unternehmen. Wir wollen bis zum Ende<br />

der Legislatur die „Top-100“ Verwaltungsleistungen<br />

online zugänglich machen.<br />

Über service.berlin.de können schon<br />

heute Infos und Formulare abgerufen<br />

werden. Es gibt einen modernen Chatbot-Assistenten<br />

und ab Februar eine<br />

Online-Antragsverfolgung, die zeigt, ob<br />

der Pass fertig ist. Über die Ordnungsamt-App<br />

kann Müll auf der Straße<br />

gemeldet werden. Für einige Dienstleistungen,<br />

z.B. für den Anwohnerparkausweis,<br />

ist der Gang zum Amt schon<br />

heute nicht mehr nötig. Über das Servicekonto<br />

Berlin kann man ein Nutzerkonto<br />

für die Verwaltung einrichten, um dann<br />

später Dokumente sicher auszutauschen.<br />

Klingt doch schon smarter, oder?<br />

Doch Smart Government will mehr!<br />

Ein intelligent vernetztes Regierungsund<br />

Verwaltungshandeln geht über die<br />

Vorhaben im E-Government-Gesetz<br />

hinaus. Das Internet of Things bietet ungeahnte<br />

Möglichkeiten. Wieso sollen z. B.<br />

nur die Qualitätsprüferinnen und -prüfer<br />

der Bahn mit smarten Brillen ausgestattet<br />

sein? Ich träume von einer Verwaltung,<br />

die auch selbst technologische Entwicklungen<br />

anstößt. Von der Reaktion zur<br />

Aktion – das wäre smart!<br />

Als IKT-Staatssekretärin bin ich gemeinsam<br />

mit vielen Beschäftigten mit der<br />

„Pflicht“, die Modernisierung der IKT<br />

voranzutreiben, bereits gut ausgelastet.<br />

Ich wünsche mir aber einen Innovations-<br />

Ort für die <strong>Berliner</strong> Verwaltung – das<br />

CityLAB (siehe Seite 18 bis 19), dessen<br />

Eröffnung in den nächsten Monaten<br />

geplant ist, kann ein solcher Ort werden.<br />

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BERLINER STIMME<br />

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Fragen Christina Bauermeister<br />

Foto Fotostudio Charlottenburg<br />

„Ein wichtiger Faktor<br />

ist das Vergaberecht“<br />

Hanna Popp von der IHK Berlin im Interview<br />

über die Smart-City-Strategie des Senats<br />

und die drängendsten Probleme<br />

Berlin hat mehr als 300 Forschungsgruppen und forschende Unternehmen,<br />

die an Projekten für die Stadt der Zukunft arbeiten und seit 2015<br />

eine Smart-City-Strategie. In welchem Bereich ist Berlin seitdem smarter<br />

geworden?<br />

Hanna Popp: Es gibt zum Beispiel seit kurzem eine größere Initiative,<br />

mehr Elektroladestationen in der Stadt aufzubauen. Dabei wird die vorhandene<br />

städtische Infrastruktur genutzt, indem die Ladestationen in<br />

Straßenlaternen integriert werden. Diese Initiative kann die Elektromobilität<br />

in der Stadt ein großes Stück voranbringen. Fehlende Ladesäulen<br />

waren bisher ein großes Hindernis. Keiner kauft sich ein Elektroauto,<br />

wenn nicht klar ist, wo man es laden kann.<br />

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Die Smart-City-Strategie des Senats ist inzwischen vier Jahre alt.<br />

Wie fällt ihre vorläufige Bilanz aus? Wurden Ihre Erwartungen erfüllt?<br />

Die Strategie ist sehr ausführlich und umfassend. Die aktuell geplanten<br />

Projekte zur Außendarstellung sind auch durchaus sinnvoll – wie die<br />

Webseite oder die App, die innovative Orte erfahrbar macht. Zudem<br />

begrüßen wir ausdrücklich, dass das Thema inzwischen direkt in der<br />

Senatskanzlei angesiedelt ist und von dort aus koordiniert wird. Und<br />

mit Sabine Smentek haben wir seit dieser Legislaturperiode eine Staatssekretärin,<br />

die sich im Schwerpunkt um die Digitalisierung der Verwaltung<br />

kümmert – ein wichtiges übergeordnetes Thema. Zusammengefasst:<br />

Wir sehen den politischen Willen, Berlin smarter zu gestalten.<br />

Leider hakt es aktuell an der politischen Umsetzung.<br />

8 BERLINER STIMME


OBEN<br />

Hanna Popp ist wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

bei der IHK Berlin im Bereich Mittelstand &<br />

Energie<br />

Was meinen Sie konkret damit?<br />

Die Wirtschaft ist meiner Ansicht nach<br />

in Berlin bei diesem Thema schon weiter.<br />

Es gibt sehr viele Anbieter smarter Technologien,<br />

die in anderen Städten auch<br />

schon eingesetzt werden, aber eben nicht<br />

in Berlin. Viele Unternehmen sind Teil<br />

des Netzwerks Smart City von Berlin<br />

Partner und haben dort ganz konkrete<br />

Projektideen entwickelt. Zehn davon<br />

sind vor einem Jahr ja auch in einer<br />

Runde mit den Staatssekretären beschlossen<br />

wurden. Aber seither stockt<br />

die Umsetzung – und es liegt nicht an<br />

den Unternehmen.<br />

An welcher Stelle könnte man die<br />

politischen Rahmenbedingungen<br />

schnell verbessern?<br />

Ein wichtiger Faktor ist das Vergaberecht,<br />

das derzeit novelliert wird. Jetzt<br />

hat die Politik also die Gelegenheit,<br />

gesetzlich festzulegen, dass innovative<br />

Projekte bei der Vergabe berücksichtigt<br />

werden. Das würde der Umsetzung der<br />

Smart-City-Strategie echten Auftrieb<br />

geben. Die Politik sollte dieses perfekte<br />

Zeitfenster nutzen.<br />

Sollte der Senat die jetzige Smart-City-<br />

Strategie Ihrer Meinung nach weiterentwickeln<br />

oder gänzlich neu konzipieren?<br />

Ich finde, dass vier Jahre im digitalen<br />

Zeitalter schon eine recht lange Zeit sind.<br />

Insofern sollte die Politik die Strategie<br />

neu auflegen und kürzer gestalten.<br />

Wichtig wären eine starke Vision und<br />

wenige klare Ziele, um schnell in die<br />

Umsetzung zu kommen.<br />

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Den Unternehmen wäre<br />

sehr geholfen, wenn prioritär<br />

die 100 meist nachgefrag-<br />

testen Dienstleistungen<br />

der Verwaltung digitalisiert<br />

werden würden<br />

Wo kann Berlin im Bereich Smart City<br />

noch etwas von anderen Städten lernen?<br />

Ein schönes Beispiel für eine handhabbare<br />

Strategie ist die Smart-City-Strategie<br />

der österreichischen Hauptstadt Wien.<br />

Es gibt wenige inhaltliche Ankerpunkte<br />

und klare Zielvorgaben, was zum Beispiel<br />

in drei Jahren erreicht worden sein soll,<br />

was langfristig bis 2030. Darüber hinaus<br />

formuliert sie einerseits für die Wirtschaft<br />

eine klare Vision, ohne dabei die<br />

Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger<br />

an die moderne vernetzte Stadt der<br />

Zukunft hintenanzustellen.<br />

Die IHK Berlin beschäftigt sich seit<br />

mehr als zwei Jahren intensiv mit den<br />

Erfordernissen der modernen vernetzten<br />

Stadt. Unter anderem haben Sie zehn<br />

Handlungsvorschläge an die Politik<br />

herausgearbeitet. In welchem Teilbereich<br />

ist der Handlungsdruck für politische<br />

Entscheidungen Ihrer Meinung<br />

nach besonders hoch?<br />

Da gibt es mehrere Punkte: Zunächst<br />

einmal ist der Stand der Digitalisierung<br />

in der Verwaltung noch sehr uneinheitlich.<br />

Dabei ist gerade die Umsetzung des<br />

E-Government-Gesetzes und der Ausbau<br />

digitaler Angebote ein wichtiger Schritt<br />

in Richtung mehr Kundenorientierung.<br />

Fakt ist auch: Derzeit müssen <strong>Berliner</strong><br />

Unternehmen oft lange dafür kämpfen,<br />

um ihre Ideen für eine smarte Stadt tatsächlich<br />

umsetzen zu können. Die un-<br />

klaren Zuständigkeiten innerhalb der<br />

Verwaltungen und Verwaltungsebenen<br />

sind eines der drängendsten Probleme<br />

aus Sicht der Wirtschaft. Das macht die<br />

Weiterentwicklung Berlins zu einer<br />

smarten City natürlich auch nicht leichter.<br />

In diesem Punkt erhoffen wir uns<br />

einen Fortschritt durch den Verwaltungspakt<br />

zwischen Senat und Bezirken, der<br />

ja bis Mai geschlossen werden soll.<br />

Das werden wir mit unserer Kampagne<br />

„Eine Stadt – eine starke Verwaltung“<br />

konstruktiv unterstützen. (www.einestarke-verwaltung.de)<br />

Was erhoffen Sie sich konkret?<br />

Eine Prozessvereinheitlichung. Unternehmen<br />

haben in Berlin im Schnitt 140<br />

Kontakte mit der Verwaltung pro Jahr,<br />

die Bürgerinnen und Bürger lediglich 1,3.<br />

Insofern wäre den Unternehmen sehr<br />

geholfen, wenn prioritär die 100 meist<br />

nachgefragtesten Dienstleistungen<br />

der Verwaltung digitalisiert werden<br />

würden. Das wäre ein wichtiger Schritt<br />

Richtung Smart City.<br />

Wo können Smart-City-Anwendungen<br />

das Leben in der Großstadt schon jetzt<br />

verbessern?<br />

In sehr vielfältiger Weise. Bei der Kitaplatzsuche<br />

könnte eine smarte Lösung<br />

dafür sorgen, dass die Eltern nicht mehr<br />

von einem Kindergarten zum nächsten<br />

laufen müssen. Oder nehmen wir die<br />

Schulen. Hier könnten es smarte Angebote<br />

ermöglichen, die Schülerinnen und<br />

Schüler besser nach ihren unterschiedlichen<br />

Fähigkeiten zu fördern. Auch die<br />

Schulorganisation würde von smarten<br />

Anwendungen profitieren. Leider scheitert<br />

das im Moment noch zu oft am fehlenden<br />

oder unzureichenden Schul-WLAN.<br />

Kann das urbane Leben durch die Smart<br />

City auch bezahlbarer werden?<br />

Wenn man dadurch beispielsweise Bauund<br />

Energiekosten senkt, sicherlich.<br />

10 BERLINER STIMME


Text & Fotos Christina Bauermeister<br />

Pecha Kucha<br />

im Container<br />

Was können große Unternehmen von Start-ups lernen?<br />

Und in welcher Weise profitieren Start-ups vom Wissens-Know-How<br />

der etablierten Konzerne? Auf dem EUREF-Campus in Schöneberg<br />

werden darauf Antworten gefunden.<br />

LINKS<br />

Norbert Pauluweit (l.) zusammen<br />

mit Jan Waschnewski und InfraLab-<br />

Mitarbeiterin Maike Hank auf dem<br />

„Dorfplatz“ des InfraLabs, einer Art<br />

Wohnküche mit Sitzecke. Die neuartige<br />

Arbeitsweise soll Kreativität fördern.<br />

Als Günther Jauch Ende November 2015 seine Karriere als Moderator<br />

seiner gleichnamigen Polit-Talkshow beendete, ahnten Norbert<br />

Pauluweit von der <strong>Berliner</strong> Stadtreinigung und Jan Waschnewski von<br />

den <strong>Berliner</strong> Wasserbetrieben noch nicht, dass damit ein einzigartiges<br />

Experiment seinen Anfang nimmt. Jauchs Polittalk wurde im Gasometer<br />

in Berlin-Schöneberg ausgestrahlt. Vor dem Rund waren einige Container<br />

für die Produktion und Redaktion platziert, die von nun an verwaist<br />

waren. Das 5,5 Hektar große Gelände um den Gasometer ist seit 2007<br />

Standort für Unternehmen aus den Bereichen Energie, Nachhaltigkeit<br />

und Mobilität. Entwickelt durch den <strong>Berliner</strong> Architekten Reinhard<br />

Müller ist das Europäsche Energieforum (EUREF) schnell zu einem<br />

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BERLINER STIMME<br />

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Zukunftsort für die Smart-City-Strategie<br />

des Landes Berlin aufgestiegen.<br />

Die leeren Container in diesem innovationsfreundlichen<br />

Umfeld brachten<br />

Norbert Pauluweit auf eine Idee. Die<br />

500 Quadratmeter Containerfläche<br />

sollten zu einem Ort für visionäre Ideen<br />

für ein klimaneutrales, digitales, smartes<br />

und nachhaltiges Berlin werden.<br />

Dafür unterzeichneten die großen<br />

Infrastrukturdienstleister der Stadt –<br />

die <strong>Berliner</strong> Verkehrsbetriebe, Vattenfall<br />

und das Stromnetz Berlin, die<br />

<strong>Berliner</strong> Wasserbetriebe, die Gasag, die<br />

<strong>Berliner</strong> Stadtreinigung sowie das private<br />

Entsorgungsunternehmen Veolia –<br />

eine Kooperationsvereinbarung.<br />

Zweieinhalb Jahre später bereiten auf<br />

dem „Dorfplatz“ des InfraLab Berlin – so<br />

haben die Dienstleister ihr Co-Creation-<br />

Projekt getauft – einige Mitarbeiter gerade<br />

ein Mittagessen zu. Es gibt eine<br />

Gemüsepfanne mit Möhren und Ingwer<br />

und einen frischen Salat. „Dorfplatz“ ist<br />

das Branding für den großen Raum in<br />

der Mitte der Container. Eine Art Wohnküche<br />

und Vortragsraum mit Coffee<br />

for free, Sitzecke und einer digitalen<br />

Anzeigetafel, die die Mitarbeiter auflistet,<br />

die gerade im Lab sind sowie die<br />

aktuelle Raumbelegung.<br />

Der Steuerungskreis des InfraLab Berlin<br />

trifft sich in der Regel alle 14 Tage.<br />

Wie im UN-Sicherheitsrat müssen die<br />

Beteiligten alle Entscheidungen einstimmig<br />

treffen. Ist die Idee für unseren<br />

Geschäftsbereich relevant? Wird der<br />

Prototyp weiter ausgerollt (d. h. geht<br />

er in Serienproduktion) oder nicht?<br />

Das führt nicht selten zu langen Sitzungen.<br />

So dauert es länger als erwartet,<br />

bis Norbert Pauluweit und Jan Waschnewski<br />

aus einer Besprechung kommen.<br />

Jan Waschnewski zieht sich danach<br />

erstmal einen Kaffee. Er ist bei den<br />

Wasserbetrieben Projektleiter für Forschung<br />

und Entwicklung. Unterm Arm<br />

hat er einen Ausdruck einer Power-Point-<br />

Präsentation über ein neues Kooperationsprojekt.<br />

Dabei geht es um eine<br />

sensorbasierte Stadtgebietsanalyse für<br />

Starkregengefährdungen im urbanen<br />

Raum. Bislang reinigt die BSR die Straßenabläufe<br />

im regelmäßigen Turnus.<br />

Allerdings bedürfen die Straßenabläufe<br />

in topografischen Senken wie etwa am<br />

Rosenthaler Platz voraussichtlich eine<br />

viel häufigere Reinigung. Man muss<br />

wissen, wo sich die Senken konkret befinden<br />

und diese Standorte dann mit den<br />

lokalen Wetterdaten in Echtzeit abzugleichen.<br />

Das neue System soll bis 2021<br />

dynamische Karten für Voraussagen<br />

lokaler Überflutungen erstellen, um<br />

dann Warnungen an die Verkehrslenkung<br />

zu geben. „Hidden Champions“<br />

nennt das Ingenieur Waschnewski,<br />

weil die <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong> von<br />

dieser Innovation in ihrem Alltag nichts<br />

mitbekommen. Außer der Tatsache, dass<br />

Autos und Busse bei Starkregen nicht in<br />

Wassermassen versinken. Die Idee für<br />

das Projekt geht aus den Projektentwicklungen<br />

„Sensorennetzwerke“ des Infra-<br />

Lab Berlin hervor. Die Datenübertragung<br />

erfolgt mit der Smart City Solutions<br />

GmbH, einem Start-up. „Wir Infrastrukturunternehmen<br />

sind für die Start-ups<br />

bei der Projektentwicklung und -umsetzung<br />

die Sparringspartner und umgekehrt“,<br />

erklärt Waschnewski.<br />

Zwei Mal hat das InfraLab Berlin deshalb<br />

schon eine Pecha-Kucha-Night veranstaltet.<br />

Dazu werden zehn bis 15 Start-ups<br />

eingeladen, die ihre Innovationsideen<br />

vorstellen dürfen – allerdings besagen<br />

die japanischen Pecha-Kucha-Regeln –<br />

dass sie insgesamt nur 20 Power-Point-<br />

Folien benutzen dürfen und pro Folie jeweils<br />

nur 20 Sekunden Redezeit haben.<br />

Ausgewählte Firmen bekommen dann<br />

im InfraLab Berlin für einen bestimmten<br />

Zeitraum ein Office for free. Wird die<br />

12 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Jan Waschnewski zeigt auf der Berlin-Karte<br />

die Standorte, wo gemeinsame Projekte stattfinden.<br />

Alle Partner arbeiten eng im Smart-<br />

City-Netzwerk von Berlin Partner zusammen.<br />

Zusammenarbeit zwischen den Partnern<br />

konkreter, werden entsprechende<br />

vertragliche Vereinbarungen geschlossen.<br />

Ein solches Co-Working-Produkt<br />

ist unter anderem die autonome Kehrmaschine<br />

des Start-ups Enway, deren<br />

Prototyp sich gerade in der Testphase<br />

befindet. Anders als autonom fahrende<br />

Autos will die selbstfahrende Kehrmaschine<br />

gerade nicht möglichst<br />

schnell von A nach B fahren. „Es geht<br />

darum, die zu reinigende Fläche genau<br />

abzudecken. Das erfordert ganz andere<br />

Algorithmen, um Fahrwege zu planen",<br />

sagt Firmen-Mitbegründer Bo Chen.<br />

Über Funk<br />

meldet der Mülleimer,<br />

dass er voll ist<br />

Norbert Pauluweit ist das Pendant<br />

von Jan Waschnewski bei der Stadtreinigung.<br />

Er leitet den Bereich Energie,<br />

Umwelt und Innovationen und ist<br />

begeistert von den Vorteilen der LoRa-<br />

WAN-Funktechnologie (Long Range<br />

Wide Area Network). „Der Funk ist<br />

frei verfügbar, er lässt sich sehr kostengünstig<br />

ausbauen und bietet eine normale<br />

Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.“<br />

Diese Art der Verschlüsselung ist für<br />

sensible personenbezogene Daten eher<br />

nicht geeignet, aber sie reiche vollkommen<br />

aus, um etwa die Information zu<br />

übermitteln, dass an der Schlossstraße<br />

der Mülleimer voll ist, so Pauluweit.<br />

Damit ist der LoRaWAN-Funk perfekt<br />

geeignet für den Ausbau des Internet of<br />

Things im öffentlichen Bereich. Denkbar<br />

wären etwa Sensoren für temporäre<br />

Halteverbotszonen, Diebstahlschutz für<br />

Baumaschinen auf Baustellen, mobile<br />

Feinstaubsensoren etc. Im Moment läuft<br />

die Kooperationsvereinbarung zwischen<br />

den Infrastruktur-Unternehmen noch<br />

für ein Jahr. Die Verantwortlichen wollen<br />

das Co-Working-Projekt in eine Dauerfinanzierung<br />

überführen. Demnächst<br />

werden Berlins Schülerinnen und Schüler<br />

vom InfraLab Berlin hören. Die Partner<br />

haben in ihrem Projekt Klimamacher<br />

unter anderem Erklärstücke, Spiele,<br />

Führungen und Filme zur Umwelt- und<br />

Klimabildung für den Unterricht erstellt.<br />

Darin geht es unter anderem um das<br />

Wasserwerk, den Recyclinghof und um<br />

eine simple Botschaft: Die Toilette ist<br />

kein Mülleimer. Auch das ist Smart City.<br />

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BERLINER STIMME<br />

13


Text Philipp Bouteiller<br />

Foto <strong>Berliner</strong> Stadtwerke/Benjamin Pritzkuleit<br />

Eine starke<br />

Entwicklungsachse<br />

Nach der Schließung des Flughafens Tegel soll das Gelände<br />

ein Standort für urbane Zukunftstechnologien<br />

und ein sozial gemischtes, grünes Wohnquartier werden.<br />

So wird die Nachnutzung die Stadt verändern.<br />

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Das Jahr 2018 endete mit einer großartigen Nachricht für Berlin: Die<br />

Siemens AG will 600 Millionen Euro in einen Forschungs- und Innovationscampus<br />

investieren. Mit dieser großen privatwirtschaftlichen Investition<br />

und der Entwicklung der Urban Tech Republic auf der Fläche des<br />

Flughafens Tegel wird der Nordwesten Berlins eine ganz neue wirtschaftliche<br />

Dynamik erfahren. Nimmt man noch die Entwicklung von Gartenfeld<br />

hinzu, liegen hier zukünftig drei starke Innovationsorte in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft zueinander, wobei Berlin TXL mit rund 500 Hektar<br />

der mit Abstand größte sein wird. Wir bekommen so eine starke Entwicklungsachse<br />

vom Nordwesten bis zum BER im Südosten Berlins.<br />

14 BERLINER STIMME


Hier entsteht das größte Cluster relevanter<br />

Zukunftsindustrien in ganz Deutschland.<br />

Hier werden in den nächsten 20<br />

Jahren zweistellige Milliardensummen<br />

investiert – was für eine Chance für Berlin!<br />

Beide Projekte sind nicht nur reine Wirtschaftsprojekte,<br />

sondern nehmen die<br />

aktuelle Frage nach bezahlbarem Wohnraum<br />

in der Stadt ernst. Werner von Siemens<br />

hatte das bereits bei der Gründung<br />

der Siemensstadt im Blick und baute in<br />

erheblichem Umfang Werkswohnungen.<br />

So soll auch in der Siemensstadt 2.0,<br />

wie in unserem Schumacher Quartier,<br />

wieder auf großer Fläche bezahlbarer<br />

Wohnraum entstehen. Die alte Siemensstadt<br />

war aus heutiger Perspektive hochmodern.<br />

Jedoch hat man in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts Arbeiten<br />

und Wohnen wieder getrennt. Die Stadtplanung<br />

folgte einer Trennung unterschiedlicher<br />

Funktionen wie Arbeiten,<br />

Einkaufen, Wohnen, Freizeit. Das Auto<br />

hat es möglich gemacht. Erst allmählich<br />

setzen wir wieder auf eine Nutzungsmischung.<br />

Zu Recht! Wenn sich alle Aspekte<br />

des Lebens in unmittelbarer Nähe<br />

befinden, dann gibt es weniger Pendlerverkehr<br />

und das Fahrrad kann zu einem<br />

tragenden Mobilitätsmedium werden.<br />

und mit Leih- und Lastenfahrrädern<br />

sowie Carsharing-Angeboten versehen,<br />

dienen diese „Mobility-Hubs“ zugleich<br />

als zentrale Logistikstandorte. Damit<br />

sorgen wir für die unbedingte Mobilitätsgarantie<br />

im Quartier.<br />

Ursprünglich waren im Bereich des<br />

Schumacher Quartiers nur 1.500 Wohneinheiten<br />

vorgesehen. Diese Zahl haben<br />

wir deutlich erhöht, auf über 5.000 Wohnungen<br />

für mehr als 10.000 Menschen.<br />

Das Schumacher Quartier wird ein sozial<br />

gemischtes, grünes Quartier. Wir werden<br />

mit Holz- und Holzhybridbau im Neubau<br />

experimentieren und insgesamt mehr<br />

mit aktiver Begrünung und nachwachsenden<br />

Rohstoffen arbeiten. Wir halten<br />

das Regenwasser im Quartier und schaffen<br />

Lebensräume für seltene Tierarten.<br />

Vor wenigen Wochen haben wir zudem<br />

gemeinsam mit E.ON und den <strong>Berliner</strong><br />

Stadtwerken ein hochinnovatives, nachhaltiges<br />

Energiekonzept für Tegel vorgestellt.<br />

Wenn diese vielen Maßnahmen<br />

ineinandergreifen, wird das zu einer<br />

besseren und saubereren Stadt führen.<br />

Freuen wir uns<br />

auf diese Zukunft!<br />

LINKS<br />

Bei der Vorstellung des Energiekonzepts für<br />

Berlin TXL: E.ON-Vorstand Karsten Wildberger,<br />

Tegel Projekt-Geschäftsführer Philipp Bouteiller<br />

und Jörg Simon, Vorstandschef der <strong>Berliner</strong><br />

Wasserbetriebe.<br />

Das ist der Ausgangspunkt unserer<br />

Neuplanung des Schumacher Quartiers<br />

auf dem Gelände des Flughafens Tegel:<br />

Wir bündeln alle Funktionen und benötigen<br />

so keine Autos mehr im Inneren des<br />

Quartiers. Quartiersgaragen nehmen die<br />

privaten Pkw auf und werden zugleich<br />

als Mobilitätszentren geplant. Stets direkt<br />

neben einer ÖPNV-Haltestelle gelegen<br />

Wie wird Berlin 2050 aussehen? Wir<br />

wissen es nicht. Städte wandeln sich<br />

nur langsam. Was sich aber vermutlich<br />

am deutlichsten verändern wird, ist der<br />

Verkehr. Der Individualverkehr wird zurückgehen,<br />

das eigene Auto nicht mehr<br />

den heutigen Stellenwert haben. Der<br />

ÖPNV wird dezentraler und autonomer.<br />

Die Schiene wird bleiben, aber ergänzt<br />

durch autonome Verkehrsmittel. Insgesamt<br />

wird es wesentlich ruhiger, sauberer<br />

und sicherer sein. Und damit kann<br />

der öffentliche Raum wieder öffentlich<br />

werden – für vielfältige Nutzungen.<br />

Freuen wir uns auf diese Zukunft!<br />

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BERLINER STIMME<br />

15


Text Christina Bauermeister<br />

Fotos Artisense GmbH & TU München<br />

Maschinen lernen,<br />

wie Menschen zu sehen<br />

Mit ihrem 2015 gegründeten Start-up Artisense wollen der frühere<br />

Audi-Entwickler Andrej Kulikov, der Informatikprofessor Daniel Cremers<br />

und der Internetunternehmer Till Kaestner 3D-Umgebungsdaten<br />

in Echtzeit liefern – die Voraussetzung für Zukunftstechnologien<br />

wie autonomes Fahren. Seit Anfang Januar erstellen sie<br />

eine virtuelle Karte von Berlin.<br />

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Müllfahrzeuge des Recyclingunternehmens Alba erforschen in Berlin<br />

gerade die Mobilität der Zukunft. Zehn Alba-Fahrzeuge liefern Daten,<br />

auf deren Grundlage Maschinen lernen sollen, wie Menschen zu sehen.<br />

Die Software von Artisense wandelt dazu die erfassten Kamerabilder<br />

und Sensordaten in maschinenlesbare Punktewolken um. Im Ergebnis<br />

entsteht eine virtuelle 3D-Karte Berlins als Grundlage für den täglichen<br />

Gebrauch in autonomen Fahrzeugen und anderen Maschinen. Die Fahrzeuge<br />

werden dann mit den 3D-Daten, die in Echtzeit verarbeitet werden,<br />

sicher und ohne GPS fahren können. Das hat den Vorteil, dass die Lokalisierung<br />

zum Beispiel auch in Tunneln oder Parkhäusern funktioniert.<br />

16 BERLINER STIMME


Das Ziel des Start-ups ist es, die<br />

Unfallrate autonomer Fahrzeuge<br />

auf null zu reduzieren.<br />

LINKS<br />

Der Münchner Informatikprofessor<br />

Daniel<br />

Cremers forscht an der<br />

TU München auf den<br />

Gebieten der mathematischen<br />

Bildverarbeitung<br />

und Mustererkennung.<br />

Das Startup<br />

Artisense ist ein<br />

Spin-Off des Lehrstuhls.<br />

LINKS<br />

Till Kästner ist Geschäftsführer von Artisense<br />

und sagt: „Wir wollen dabei helfen,<br />

Mobilität neu zu denken, und uns an die<br />

Spitze der Entwicklung setzen, wenn es<br />

um den künftigen Einsatz autonomer<br />

Systeme in der Smart City geht.“ Der<br />

Münchner Informatikprofessor Daniel<br />

Cremers und Mitgründer sieht die Technologie<br />

auf einem sehr guten Weg:<br />

„Eine wichtige Voraussetzung, die wir<br />

aktuell schaffen, ist die Entwicklung von<br />

Lernverfahren, die mit jedem gefahrenen<br />

Kilometer immer zuverlässiger werden.<br />

Ein großer Vorteil autonomer Fahrzeuge<br />

gegenüber menschlichen Fahrern ist das<br />

Lernen im Kollektiv: Während ich als<br />

menschlicher Fahrer aus einem Fahrfehler<br />

meines Nachbarn nichts lerne,<br />

lernen aus dem Fehler eines autonomen<br />

Fahrzeugs sämtliche anderen autonomen<br />

Fahrzeuge“, so Cremers.<br />

So wird Berlin mit den Augen eines autonom<br />

fahrenden Autos aussehen. Die Software von<br />

Artisense wandelt die erfassten Kamerabilder<br />

und Sensordaten in maschinenlesbare Punktewolken<br />

um.<br />

Das Ziel des Start-ups ist es, die Unfallrate<br />

autonomer Fahrzeuge auf null zu<br />

reduzieren. Dies erfordere mittelfristig<br />

die Fähigkeit des Computers, die Umgebung<br />

um das eigene Fahrzeug in<br />

ähnlicher Weise zu analysieren wie es<br />

menschliche Fahrer tun. „Neben einer<br />

genauen Erfassung der dreidimensionalen<br />

Umgebung muss die Maschine<br />

langfristig auch die Intentionen und Bewegungen<br />

anderer Verkehrsteilnehmer<br />

vorhersagen können, um Kollisionen zu<br />

vermeiden“, erklärt Daniel Cremers.<br />

Ein weiterer Pluspunkt der neuen Technologie:<br />

Sie erlaubt eine höhere Dichte<br />

von Automobilen ohne kilometerlange<br />

Staus. Zudem wird der gesamte Verkehr<br />

vorhersagbarer.<br />

Neben Alba sind Bombadier und Siemens<br />

weitere Projektpartner. Ausschlaggebend<br />

dafür, das Pilotprojekt in Berlin durchzuführen,<br />

sei der Anspruch Berlins, die<br />

Smart City voranzutreiben. Die Stadt<br />

zeige sich sehr offen für technische<br />

Innnovationen, lobt Daniel Cremers.<br />

Der Informatikprofessor kennt die Bedenken<br />

und Vorbehalte gegenüber der<br />

Technologie, die Artisense vorantreibt.<br />

Immerhin werden autonome Systeme<br />

langfristig die Arbeit von Fahrern oder<br />

Beschäftigten am Fließband übernehmen.<br />

Für die Antwort schlägt Cremers<br />

einen historischen Bogen. „Es gab in der<br />

Geschichte bereits eine Fülle von Erfindungen,<br />

die bestimmte menschliche<br />

Tätigkeiten überflüssig gemacht haben.<br />

Nehmen wir nur die Erfindung der<br />

Waschmaschine, die letztlich dazu geführt<br />

hat, dass die harte, wenige angesehene<br />

und schlecht bezahlte schwere<br />

körperliche Arbeit von Wäscherinnen<br />

überflüssig wurde. Heute würde wohl<br />

kaum jemand behaupten, dass die<br />

Waschmaschine keine sinnvolle Erfindung<br />

war“, sagt Cremers.<br />

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BERLINER STIMME<br />

17


Text Walter Palmetshofer<br />

Zeichnung CityLAB Berlin<br />

Foto Fiona Krakenbürger<br />

Verwaltung<br />

trifft auf Start-up<br />

Das CityLAB Berlin wird zu einem Ort der digitalen Erneuerung,<br />

Experimentierfreudigkeit und Zusammenarbeit<br />

von Verwaltung und Zivilgesellschaft<br />

Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof arbeiten<br />

Initiativen, Wissenschaft, Unternehmen und die Senatsverwaltung für<br />

Stadtentwicklung und Wohnen gemeinsam an Visionen für die digitale<br />

Stadt von morgen. In einer einzigartigen „Public Private Plural Partnership“<br />

gestalten sie unter einem Dach ein Stadtlabor für praxisnahe und<br />

bedarfsnahe Zukunftstechnologien.<br />

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Mit dem transdisziplinären CityLAB bekräftigt Berlin, einer der führenden<br />

Standorte weltweit im Bereich Civic Tech zu sein. Das heißt, die angesiedelten<br />

Initiativen entwickeln digitale Lösungen von, für und mit<br />

der Stadtgesellschaft, fördern soziale Teilhabe, Demokratisierung der<br />

Verwaltung und gestalten damit die wachsende Stadt Berlin als sozialen<br />

und innovativen Digitalstandort. Ziel ist eine digitale Stadt für alle.<br />

18 BERLINER STIMME


Das CityLAB Berlin wird dabei zum<br />

Impulsgeber fur Zukunftsbranchen wie<br />

Innovationen im öffentlichen Sektor<br />

(Creative Bureaucracy), Smart Mobility<br />

und Open Data. Es unterstützt eine langfristige<br />

Entwicklungsstrategie der Länder<br />

Berlin und Brandenburg.<br />

Im sogenannten Civic Tech Hub kommen<br />

die zivilgesellschaftlichen digitalen<br />

Know-How-Träger sowie Verwaltungsexpertinnen<br />

und -experten zu Zukunftsthemen<br />

der Stadt zusammen. Das Civic<br />

Tech Hub identifiziert, sucht und koordiniert<br />

alte und neue Akteure und sorgt<br />

dafür, dass die heterogenen Stakeholder<br />

adäquat eingebunden werden.<br />

Ein besonderes Augenmerk liegt dabei<br />

auf der internationalen Koordinierung,<br />

digitalen Serviceleistungen, Informationsbereitstellung<br />

und der Weiterverarbeitung<br />

von Daten zu Gunsten des Gemeinwohls.<br />

Die Arbeit im<br />

CityLAB führt digitalaffine<br />

Personen an<br />

die Verwaltung heran<br />

und zeigt auf, dass<br />

die <strong>Berliner</strong> Verwaltung ein attraktiver<br />

Arbeitgeber sein kann. Mithilfe transparenter<br />

Projektpläne und Tools zur Partizipation<br />

sind Aufgabenfelder, Arbeitsfortschritte<br />

und Ergebnisse jederzeit<br />

abrufbar. Dieser Methodenansatz des<br />

Civic Tech Hubs führt zu raschen Erfolgen<br />

bei aktuellen Themen und eine schnelle<br />

Umsetzung.<br />

Zukunftsthemen sind u. a.:<br />

▶ aktuelle Themen der Stadtinfrastruktur<br />

wie Fahrradplanung und digitalisierte<br />

Bürgerserviceleistungen (z. B.<br />

Kfz-Anmeldungen)<br />

▶ Open Data (dynamische Information,<br />

Anwendungsprogrammierung (APIs)<br />

▶ Innovationen im Bereich Smart City<br />

▶ E-Government-Anwendungen<br />

OBEN<br />

Walter Palmetshofer ist Ökonom und Mitglied<br />

der Open Knowledge Foundation, die das Konzept<br />

für das CityLAB mitentwickelt haben.<br />

Im Sommer 2018 wurde unter knapp<br />

zweijähriger Mitwirkung der Zivilgesellschaft<br />

Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz<br />

von der <strong>Berliner</strong> Politik beschlossen.<br />

Viele der Paragraphen für besseren Radverkehr,<br />

ÖPNV, Fußverkehr und smarte<br />

Mobilität bieten Schnittstellen für mehr<br />

Beteiligung der Stadtgesellschaft an<br />

einer guten Zukunft Berlins und es bietet<br />

sich damit als prototypisches Thema für<br />

den Civic Tech Hub an.<br />

Einige der Grundlagen für die technologische<br />

Souveränität der Städte sind<br />

freie Software, offene Daten und offene<br />

Standards für Dokument- und Datenformate<br />

und Kommunikationsprotokolle.<br />

Sie sichern die digitalen Rechte der<br />

Bürgerinnen und Bürger bestmöglich<br />

und spiegeln ihre Wünsche basierend<br />

auf Partizipation wider.<br />

Das CityLAB unterstützt nicht nur lokale<br />

Innovationen, sondern ermöglicht auch<br />

eine bessere datengesteuerte Entscheidungsfindung<br />

in den Städten. Es schafft<br />

durch Sichtbarkeit und Rechenschaftspflicht<br />

mehr Vertrauen in politische<br />

Entscheidungen sowie ein größeres<br />

Engagement der Bürgerinnen und Bürger<br />

bei der Politikgestaltung. Losgehen soll<br />

es damit im April <strong>2019</strong>.<br />

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BERLINER STIMME<br />

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Text Barbara Loth<br />

Illustration Adobe Stock · mast3r<br />

Foto Joachim Gern<br />

Berlin als Modellstadt<br />

für Digital Health<br />

Berlin hat sich zu einem der führenden Standorte der Gesundheitswirtschaft,<br />

Gesundheitsversorgung und der Life Sciences entwickelt.<br />

Wir wollen Berlin bis 2030 zur europäischen Top-Adresse<br />

in der medizinischen Forschung und Versorgung machen.<br />

Mit der Charité und Vivantes verfügt Berlin über das größte Universitätsklinikum<br />

und den größten kommunalen Krankenhauskonzern<br />

in Deutschland. Hinzu kommt ein einmaliges Gefüge aus wissenschaftlichen<br />

Einrichtungen und innovativen Unternehmen der Gesundheitsbranche.<br />

Die daraus erwachsenden Möglichkeiten werden wir gezielt<br />

weiterentwickeln, um den Menschen in unserer Stadt auch künftig die<br />

bestmögliche medizinische Versorgung anzubieten.<br />

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Unterstützt und begleitet von Initiativen wie dem Masterplan Gesundheitsregion<br />

Berlin-Brandenburg und Institutionen wie HealthCapital<br />

werden bereits heute Innovationen für den regionalen wie den globalen<br />

Gesundheitsmarkt entwickelt. Wir wollen diese Standortentwicklung<br />

vorantreiben.<br />

20 BERLINER STIMME


die Modellstadt für die Digitalisierung<br />

der Gesundheitsbranche weiterzuentwickeln.<br />

OBEN<br />

Barbara Loth ist Vorsitzende des Fachausschusses<br />

Wirtschaft, Arbeit, Technologie<br />

der SPD Berlin.<br />

Um dieses Potenzial weiter zu stärken,<br />

brauchen gerade junge Unternehmen<br />

Unterstützung, damit der Transfer ihrer<br />

Innovationen in den schwierigen Versorgungsmarkt<br />

gelingt. So kann Berlin sich<br />

als Innovationstreiber positionieren und<br />

auch Standards zur Datensicherheit und<br />

zur Qualität entwickeln.<br />

Dazu gehört es auch, die Instrumente<br />

kontinuierlich zu evaluieren und zu<br />

sichern. Nur so können Inkubatoren,<br />

Labs, Ausgründungen von Universitäten<br />

sowie das Start-up-Umfeld weiter gefördert<br />

und soziale Innovationen unterstützt<br />

werden. Wir wollen Marktzugänge<br />

erleichtern und Finanzierungsquellen<br />

zugänglich machen. Innovationspotenziale<br />

müssen an den Schnittstellen der<br />

unterschiedlichen Branchen der Gesundheitswirtschaft<br />

zur Standortentwicklung<br />

genutzt werden. Die Digitalisierung<br />

bietet enormes Potenzial hierfür.<br />

Durch die Nutzung neuer Ideen und<br />

Angebote sowie die Vernetzung aller<br />

Akteure können die großen Herausforderungen<br />

unseres Gesundheitssystems<br />

bewältigt werden. Dazu gehören u. a.<br />

die Versorgungssicherung strukturschwacher<br />

Regionen, der Umgang mit<br />

Kostensteigerungen durch medizinische<br />

Innovationen und der demographische<br />

Wandel. Berlin ist und bleibt dabei als<br />

Standort für Digital Health besonders<br />

attraktiv. Die Verbindung großer Gesundheitsversorgungs-<br />

wie auch Gesundheitsforschungseinrichtungen<br />

mit der<br />

Start-up-Landschaft und ihren digitalen<br />

und sozialen Innovationen bieten die<br />

besten Voraussetzungen, um Berlin als<br />

Im Mai vergangenen Jahres hat Michael<br />

Müller eine unabhängige Zukunftskommission<br />

„Gesundheitsstadt Berlin 2030“<br />

unter Vorsitz des Gesundheitsexperten<br />

Karl Lauterbach ins Leben gerufen. Sie<br />

soll strukturelle Empfehlungen erarbeiten,<br />

wie eine forschungsbasierte und zukunftsfähige<br />

Krankenversorgung für<br />

Patientinnen und Patienten in Berlin<br />

unter Berücksichtigung der Folgen des<br />

demographischen Wandels und des<br />

wachsenden Fachkräftebedarfs gesichert<br />

werden kann. Dabei gilt es das besondere<br />

Potenzial des Gesundheitsstandortes<br />

und die Synergiemöglichkeiten zwischen<br />

der Charité-Universitätsmedizin Berlin<br />

und der Vivantes GmbH künftig besser<br />

zu nutzen. Die Ergebnisse der Zukunftskommission<br />

sollen Anfang <strong>2019</strong> vorgestellt<br />

werden.<br />

Der Regierende Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzende<br />

Michael Müller und Gesundheitssenatorin<br />

Dilek Kolat werden am 25. März <strong>2019</strong><br />

gemeinsam mit dem Managerkreis der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung und Mitgliedern aus<br />

dem Fachausschuss Wirtschaft, Arbeit, Technologie<br />

der <strong>Berliner</strong> SPD, Akteuren der <strong>Berliner</strong><br />

Gesundheitslandschaft sowie Branchenvertreterinnen<br />

und -vertreter über die Ergebnisse<br />

der Zukunftskommission diskutieren.<br />

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BERLINER STIMME<br />

21


Text Felix Beyer<br />

Foto Siemens<br />

Siemensstadt 2.0<br />

Beim Thema Smart City denken viele zunächst an digitale Start-ups und<br />

Locations in den hippen Bezirken Mitte oder Friedrichshain-Kreuzberg.<br />

Berlins mit Abstand größtes Projekt im Bereich Smart City wird jedoch<br />

an ganz anderer Stelle entstehen. In einem traditionellen Arbeiterund<br />

Industriekiez, dem Spandauer Ortsteil Siemensstadt.<br />

Zu einer Informationsveranstaltung der Spandauer SPD kamen Ende<br />

Januar mehr als 250 interessierte Anwohnerinnen und Anwohner und<br />

zeigten sich sehr aufgeschlossen für den neuen Campus. Rund 600<br />

Millionen Euro will die Siemens AG an ihrem Stammsitz in den nächsten<br />

zehn Jahren investieren. Der Chef der Senatskanzlei Christian Gaebler,<br />

Siemens-Sprecher Yashar Azad und der Wahlkreisabgeordnete Daniel<br />

Buchholz informierten und beantworteten viele Fragen, der Spandauer<br />

SPD-Kreischef und Fraktionsvorsitzende im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus<br />

Raed Saleh moderierte die Veranstaltung.<br />

Siemens plant in Zusammenarbeit mit Land und Bezirk die Umgestaltung<br />

eines mehr als 70 Hektar großen Areals beidseits der Nonnendammallee.<br />

Entstehen sollen moderne, vernetzte Arbeitsplätze für die<br />

Industrieproduktion der Zukunft, eingebunden in ein Forschungsumfeld<br />

aus Universitäten, Start-ups, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen.<br />

Das neue Stadtquartier wird durch Wohnungen, Büros, Läden, Hotels und<br />

soziale Infrastruktur ergänzt.<br />

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Trotz der positiven Grundstimmung gab es auch kritische Nachfragen.<br />

Einige Anwohnerinnen und Anwohner befürchten vor allem steigenden<br />

Mieten durch die Aufwertung der Wohnlage und zunehmende Verkehrsprobleme.<br />

Daniel Buchholz stellte die geplanten angrenzenden Wohngebiete<br />

vor. In den Entwicklungsgebieten Wasserstadt Spandau, Insel<br />

Gartenfeld und dem Siemens-Campus sollen in den nächsten Jahren<br />

15.000 Wohnungen für rund 30.000 Menschen entstehen.<br />

22 BERLINER STIMME


OBEN<br />

Aus der historischen Siemensstadt entsteht<br />

eine neue Arbeits- und Lebenswelt. Mit dem<br />

„Zukunftspakt – Siemensstadt 2.0“ plant<br />

Siemens das größte Entwicklungsprojekt<br />

in seiner Geschichte auf dem historischen<br />

Siemens-Gelände in Berlin Spandau.<br />

Auf die berechtigten Sorgen gingen Raed<br />

Saleh und Daniel Buchholz mehrfach ein.<br />

So wird der Wohnungsneubau auf dem<br />

Siemens Innovations-Campus größtenteils<br />

zu sozialverträglichen Mieten<br />

geschehen und die Einrichtung von<br />

Milieuschutzgebieten in Siemensstadt<br />

und benachbarten Spandauer Stadtteilen<br />

forciert. Die Verkehrsproblematik ist<br />

nach einhelliger Meinung nur durch<br />

den Wiederaufbau der Siemens-S-Bahn<br />

und den Ausbau weiterer Verkehrsträger<br />

nachhaltig lösbar.<br />

Im Moment steht das Projekt nach der<br />

unterzeichneten Absichtserklärung<br />

zwischen Siemens, Senat und Bezirk<br />

noch am Anfang. Eine gemeinsame<br />

Steuerungsgruppe trifft sich regelmäßig<br />

und koordiniert die nächsten Schritte,<br />

erläuterte Christian Gaebler. Der Senat<br />

übernimmt dabei die zentrale Steuerung<br />

und hat das Projekt zum Gebiet von<br />

außerordentlicher stadtpolitischer<br />

Bedeutung erklärt. Siemens-Sprecher<br />

Yashar Azad bedankte sich ausdrücklich<br />

für die schnelle und umfangreiche<br />

Unterstützung für das Projekt durch die<br />

beteiligten Verwaltungen.<br />

In Kürze wird ein städtebaulicher Wettbewerb<br />

für die Gestaltung des gesamten<br />

Areals gestartet. Für Ende Mai/Anfang<br />

Juni <strong>2019</strong> hat Siemens einen eigenen<br />

Bürgerdialog angekündigt. Außerdem<br />

will das Unternehmen eine Kampagne<br />

starten, die alle <strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong><br />

in die Namensfindung für das neue<br />

Quartier einbindet. Erste Bauarbeiten<br />

könnten Ende 2020 starten, das gesamte<br />

Projekt 2030 fertiggestellt sein. Auch die<br />

SPD vor Ort wird den Prozess aktiv begleiten<br />

und plant weitere Informationsveranstaltungen<br />

nach der Sommerpause <strong>2019</strong>.<br />

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BERLINER STIMME<br />

23


Text Nicola Böcker-Giannini, Kevin Hönicke, Bettina König & Julian Zado<br />

Foto Adobe Stock · oksix<br />

Eine gerechte Welt<br />

fängt in der Kita an<br />

Vorschläge für eine umfassende Bildungs- und Familienpolitik<br />

im Bereich Kindertagesstätten<br />

24 BERLINER STIMME


Es ist noch nicht lange her, da wurde<br />

Familienpolitik als gescheitert erklärt,<br />

weil immer weniger Familien gegründet<br />

wurden. Heute wirken diese Diskussionen<br />

wie aus einer anderen Zeit. Denn<br />

aktuell bestimmen Worte wie „Kitaplatzmangel“,<br />

„Mangel an Erzieherinnen und<br />

Erziehern“ und „ungerechte Zukunftschancen“<br />

die breiten Diskussionen in<br />

Politik und Gesellschaft. Klar ist auch:<br />

Geht ein Kind nicht in die Kita oder hat<br />

es dort eine schlechtere Betreuung,<br />

kommt es mit schlechteren Startbedingungen<br />

in die Schule. Denn ohne Kita sind<br />

kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen<br />

der Kinder weniger ausgeprägt.<br />

Zusammengefasst: Eine gerechte und<br />

engagierte Kitapolitik ist nicht nur<br />

Grundstein einer sozialen und zukunftsorientierten<br />

Familienpolitik, sondern<br />

auch entscheidend für die Zukunftschancen<br />

unserer Kinder.<br />

Wir machen deshalb vier Vorschläge<br />

für die Verbesserung der Situation an<br />

den <strong>Berliner</strong> Kitas:<br />

1. Um den Erzieherberuf attraktiver zu<br />

machen, muss die Ausbildung auch während<br />

der ersten zwei theoretischen Ausbildungsjahre<br />

endlich vergütet werden!<br />

Hierdurch soll die Leistung der Azubis<br />

wertgeschätzt und sie in die Lage versetzt<br />

werden, ihre Lebenshaltungskosten<br />

zu finanzieren. Wir müssen endlich von<br />

dem Dogma abweichen, dass in den<br />

meisten sozialen Berufen keine Ausbildungsvergütung<br />

bezahlt wird. Gerade<br />

um eine Konkurrenz zu anderen Bundesländern<br />

zu vermeiden, muss daneben –<br />

ähnlich wie bei Lehrerinnen und Lehrern<br />

– eine Berlin-Zulage und an sogenannten<br />

Brennpunkt-Kitas eine Brennpunkt-<br />

Zulage gezahlt werden, damit auch die<br />

Kitas, die als besonders anstrengend<br />

gelten, gute Erzieherinnen und Erzieher<br />

bekommen.<br />

2. Eine gute Ausbildung sichert eine<br />

gute berufliche Zukunft. Für die Kita<br />

bedeutet das, dass an zwei Tagen in der<br />

Woche Personal fehlt. Je mehr berufsbegleitende<br />

Auszubildende an einer Kita<br />

sind, desto größer können die daraus<br />

resultierenden Engpässe werden. Zudem<br />

benötigen Auszubildende noch Hilfen,<br />

Hospitationen und individuelle Gespräche<br />

durch Praxisanleiterinnen und<br />

-anleiter. Daher sollten künftig die<br />

Arbeitszeiten der berufsbegleitenden<br />

Auszubildenden nicht mehr auf den<br />

Betreuungsschlüssel angerechnet<br />

werden.<br />

3. Die Kitas, die von freien Trägern betrieben<br />

werden (von denen einige kommerziell,<br />

andere gemeinnützig sind), müssen<br />

in der Lage sein, die gleiche Betreuungs-<br />

Qualität anzubieten wie städtische Kitas.<br />

Aktuell bezahlen Träger-Kitas oft schlechter<br />

als Eigenbetriebe, weshalb gute Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter von dort<br />

weggehen. Deshalb brauchen wir eine<br />

bessere Finanzierung der Träger-Kitas.<br />

Zugleich muss sichergestellt werden, dass<br />

das Geld auch bei den Erzieherinnen und<br />

Erziehern und bei der Kita-Ausstattung<br />

ankommt. Deshalb brauchen wir mehr<br />

Transparenz und Kontrolle dieser Kitas.<br />

4. Berlin verbessert kontinuierlich den<br />

Betreuungsschlüssel. Dieser Weg ist<br />

richtig, da er die Qualität der Bildungsangebote<br />

für die Kinder in den Kitas<br />

erhöht und die Belastung für die Erzieherinnen<br />

und Erzieher senkt. Dieser<br />

Schlüssel ist jedoch nur eine rechnerische<br />

Größe. Er stellt sich in der Realität<br />

aufgrund von Krankheiten o. ä. als unrealistisch<br />

heraus. Er sollte mittelfristig –<br />

gemäß der Beschlusslage der <strong>Berliner</strong><br />

SPD – in der Krippe bei 1:3 und in der<br />

Kita bei maximal 1:7,5 liegen. Sich zielorientiert<br />

auf diesen Weg zu machen,<br />

ermöglicht eine verlässliche Personalentwicklung<br />

in den Kitas.<br />

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Text Ulrich Schulte Döinghaus<br />

Fotos Christina Bauermeister<br />

Wahlkampfplakate<br />

an Ruinenwänden<br />

Ende Januar wurde der Wilmersdorfer<br />

Kurt Ottenberg 90 Jahre alt. Ein Porträt.<br />

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Zu den ausgestorbenen Ehrenämtern, welche die SPD groß gemacht<br />

haben, gehört die Funktion des Unterkassierers. Dieses Amt hatte in den<br />

1950er und 1960er Jahren unter anderem auch Kurt Ottenberg inne.<br />

Er erinnert sich, wie er damals in Berlin-Wilmersdorf von Wohnung zu<br />

Wohnung zog, um die SPD-Mitgliedsbeiträge zu kassieren. Während er<br />

das Geld verbuchte und die Genossinnen und Genossen ihre Marken ins<br />

blaue Mitgliedsbuch klebten, sprach man miteinander. Schnell wurden<br />

die Gespräche politisch oder handelten vom Kiez, wo das eine oder das<br />

andere nicht in Ordnung war. Unterkassierer wie Kurt Ottenberg waren<br />

die <strong>Stimme</strong> und das Gehör der Partei. „So etwas fehlt heute“, sagt der<br />

heute 90-Jährige im Rückblick.<br />

26 BERLINER STIMME


LINKS<br />

Wir sind in der Wilmersdorfer Barstraße<br />

mit einem Herrn verabredet, der gut<br />

gelaunt und beneidenswert schlank ist.<br />

Die frische Gesichtsfarbe verrät, dass er<br />

gerne in der Natur ist. Regelmäßig fährt<br />

er in seinem zweitürigen Opel Astra ins<br />

Rhinluch, etwa um Kraniche, Störche<br />

und Brachvögel zu beobachten. Oder er<br />

reist zur Nordseeinsel Amrum. Dort ist<br />

Ottenberg bis heute im Aufsichtsrat des<br />

Berlin-Wilmersdorfer Nordseeheims,<br />

besser bekannt als Schullandheim Berlin-<br />

Wilmersdorf. Wie viele dieser einst<br />

segensreichen Einrichtungen „kämpfen<br />

wir ums Überleben. Klassenfahrten<br />

ins Schullandheim sind nicht mehr so<br />

beliebt wie früher“.<br />

Kurt Ottenberg in seinem Wohnzimmer. An seinem<br />

90. Geburtstag nahm ihn der Bezirksbürgermeister<br />

von Charlottenburg-Wilmersdorf Reinhard Naumann<br />

mit zum Bundesliga-Spiel Hertha BSC gegen Schalke 04.<br />

„Es war ein Herzenswunsch von mir, das Spiel gegen<br />

den Erzrivalen Schalke im Stadion mitzuverfolgen.“<br />

„Wie wurden Sie Sozialdemokrat?“ Für<br />

die Antwort muss Kurt Ottenberg ein<br />

wenig ausholen. Er erzählt vom Kriegsjahr<br />

1943, als er eine Ausbildung als<br />

Verwaltungsangestellter in der Bezirksverwaltung<br />

Wilmersdorf begann.<br />

„Verwaltung und Kaufmännisches lag<br />

mir“, sagt Kurt Ottenberg. In den letzten<br />

Kriegsmonaten sei er als 16-Jähriger<br />

noch zum „Volkssturm“ eingezogen worden,<br />

um einen absurden Kriegsdienst zu<br />

verrichten. „Wir mussten in der Zehlendorfer<br />

Villengegend Schützengräben<br />

ausheben und sollten so die Rote Armee<br />

am Einmarsch hindern.“<br />

Nach Befreiung und Kriegsende wurden<br />

Verwaltungsfachleute dringend gebraucht.<br />

Kurt Ottenberg schloss drei Jahre später<br />

seine Ausbildung ab und begann als<br />

Angestellter im Rathaus Wilmersdorf.<br />

Gehalt: 167 Reichsmark. Er absolvierte<br />

Verwaltungsprüfungen, um in den gehobenen<br />

Beamtendienst übernommen zu<br />

werden. Dort arbeitete er unter anderem<br />

in der Jugendfürsorge. Eine Situation<br />

bleibt ihn noch gut in Erinnerung. „Eine<br />

blutjunge Alleinerziehende verzweifelte.<br />

Ich brachte sie mit meiner Frau zusammen,<br />

die ihr zeigte, wie man einen Säugling<br />

füttert und wie man seine Windeln<br />

wechselt.“<br />

Als die Sowjets Berlin blockierten,<br />

packte er mit Kollegen und<br />

Genossen bei der Luftbrücke an –<br />

entlud britische Frachtflugzeuge<br />

auf dem Flughafen Gatow<br />

Seinen beruflichen Ehrgeiz kombinierte<br />

Ottenberg mit gewerkschaftlichem Engagement,<br />

und wer sich als Gewerkschafter<br />

für die Kolleginnen und Kollegen einsetzte,<br />

der landete damals fast automatisch<br />

in der SPD. „Irgendwann sagte<br />

jemand, unterschreib mal eben, Kurt.<br />

Und schon war ich SPD-Mitglied.“<br />

Das war im Oktober 1948. Praktisch,<br />

solidarisch, politisch. Als die Sowjets<br />

Berlin blockierten, packte er mit Kollegen<br />

und Genossen bei der Luftbrücke an –<br />

entlud britische Frachtflugzeuge auf<br />

dem Flughafen Gatow.<br />

Man war aktiv, jung, neugierig, engagiert<br />

und lebenslustig. „Ich war ein Kellerschüler“,<br />

sagt Kurt Ottenberg grinsend<br />

und erinnert an die traditionsreiche<br />

Tanzschule Keller in der Rheinstraße,<br />

in der zehntausende <strong>Berliner</strong> Walzer,<br />

Foxtrott und Cha Cha Cha gelernt hatten,<br />

selbst in den erbärmlichsten Nachkriegszeiten.<br />

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„Ich war im SPD-Abteilungsvorstand<br />

Beigeordneter für Jugendfragen,<br />

Kassierer und aktiver Wahlhelfer. An<br />

Ruinenwänden haben wir Wahlkampfplakate<br />

geklebt, und bis zu meinem<br />

80. Lebensjahr habe ich im Straßenwahlkampf<br />

Handzettel verteilt und<br />

mit Leuten gesprochen.“ Otto Suhr und<br />

Willy Brandt, das waren Persönlichkeiten,<br />

deren Vorbild junge Sozialdemokraten<br />

wie ihn prägten. Und die ihn<br />

beflügelten, selbst wenn die Parteiarbeit<br />

manchmal überhandnahm.<br />

Aus heutiger Sicht, sagt er rückblickend,<br />

war es gelegentlich zu viel. Familienstreit<br />

jedoch brach wegen der SPD<br />

selten aus, schon gar nicht mit seiner<br />

Ehefrau. Auch sie nahm Parteifunktionen<br />

in der heimischen Abteilung oder<br />

im Kreisverband Wilmersdorf ein. Sie<br />

starb nach 45 gemeinsamen Ehejahren.<br />

Das Paar hat einen gemeinsamen Sohn.<br />

Kollegen, Nachbarn, Freunde und<br />

Genossen aus dem Ortsverein haben<br />

ihn immer wieder aufgerichtet. Seine<br />

<strong>Stimme</strong> wird leiser, der Blick richtet<br />

sich auf die zahlreichen Fotoalben<br />

auf dem Bücherschrank, die an gemeinsame<br />

Reisen ins ostafrikanische Tansania<br />

erinnern.<br />

„Wenn du Verwaltungsbeamter in Wilmersdorf<br />

bist, dann hast du es immer<br />

mit wechselnden Mehrheiten zu tun.<br />

Ich habe in der Verwaltung aus meiner<br />

Überzeugung und Parteizugehörigkeit<br />

nie einen Hehl gemacht, immer aber zu<br />

verstehen gegeben, dass ich als loyaler<br />

Verwaltungsbeamter allen Bürgerinnen<br />

und Bürger gleichermaßen zu dienen<br />

habe.“<br />

Ideenreichtum, Engagement und Einsatz<br />

führen bei Kurt Ottenberg immer<br />

dazu, dass er verschiedene Ehrenämter<br />

bekleidete. Eines dieser Ehrenämter, die<br />

er jahrzehntelang ausübte, war der Job<br />

OBEN<br />

Kurt Ottenberg ist im vergangenen Jahr<br />

von seiner Abteilung Wilmersdorf Südost<br />

für seine 70-jährige SPD-Mitgliedschaft<br />

geehrt worden.<br />

des Schiedsmanns. Streit unter Familienangehörigen<br />

oder Nachbarn, meist um<br />

Nickeligkeiten, werden gelöst, wenn<br />

Schiedsmänner wie er beide Seiten zu<br />

Gesprächen bitten. Das Ziel: Verständigung,<br />

Kompromissbereitschaft oder Einsicht.<br />

Fast 50 solcher Verfahren schloss<br />

Kurt Ottenberg erfolgreich ab.<br />

Dieser ehrenamtliche Dienst hat ihn im<br />

Bezirk so bekannt gemacht, dass sogar<br />

das Fernsehen Notiz davon nahm, und<br />

zwar in der Dokumentationsreihe Berlin<br />

Ecke Bundesplatz. „Einige Häuser weiter<br />

wohnt der eher bescheidene Beamte und<br />

Schiedsmann Kurt Ottenberg, der nach<br />

dem Tod seiner Frau ein neues Glück<br />

sucht. Preußische Staatsdiener wie er<br />

wird es in Zukunft weniger geben“, so<br />

ist es heute in einem Pressetext der<br />

Filmfirma zu lesen.<br />

28 BERLINER STIMME


Text & Fotos Hans G. Kegel<br />

„Genau hier fängt Politik an“<br />

Gut 100 Genossinnen und Genossen,<br />

die im letzten halben Jahr in die SPD<br />

eingetreten sind, kamen Ende Januar<br />

zum Neumitgliedertreffen im Festsaal<br />

des Rathauses Charlottenburg zusammen.<br />

In seiner Begrüßung forderte der<br />

Landesvorsitzende Michael Müller<br />

dazu auf, sich aktiv einzubringen, in<br />

den Arbeitsgemeinschaften, den Fachforen,<br />

aber auch in die Arbeit „vor Ort“,<br />

in den Abteilungen. „Genau hier fängt<br />

Politik an“, sagte er.<br />

Gaby Bischoff, die <strong>Berliner</strong> SPD-<br />

Kandidatin für die Europawahl,<br />

rief die Neumitglieder dazu auf,<br />

sich im bevorstehenden Wahlkampf<br />

zu engagieren. „Als Sozialdemokratie<br />

müssen wir dafür sorgen, dass<br />

wir überall in Europa gute Arbeit<br />

und faire Löhne haben“, so Bischoff.<br />

Einen Unterbietungswettbewerb<br />

um die niedrigsten Löhne und<br />

Sozialstandards gilt es zu verhindern.<br />

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Text Holger Czitrich-Stahl<br />

Das, was<br />

nicht sein durfte<br />

Wer sich dafür interessiert, warum gerade in den<br />

neuen Bundesländern rechtspopulistische oder rechtsextremistische<br />

Haltungen auf einen größeren Nährboden treffen, komm am<br />

aktuellen Buch des Historikers Harry Waibel nicht vorbei.<br />

Waibel promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung der<br />

Technischen Universität Berlin mit einer historischen Studie zum Neonazismus<br />

und Antisemitismus in der DDR. Sein Interesse gilt seit jeher<br />

der Arbeiterbewegung und dem Nazifaschismus.<br />

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Dass der mörderische NSU eine Blut- und Schreckensspur in Thüringen<br />

und Sachsen hinterlassen konnte und niemand darauf vorbereitet zu<br />

sein schien, habe auch etwas damit zu tun, dass man die antifaschistische<br />

Selbststilisierung der DDR zu unhinterfragt akzeptiert hatte, ohne<br />

auf das Auseinanderklaffen zwischen offiziellem Diskurs und brauner<br />

Subkultur zu schauen, analysiert Waibel. Viele mögliche Zugänge blieben<br />

während der Existenz der DDR potenziell interessierten Wissenschaftlern<br />

verschlossen. Eine Vielzahl von Dokumenten, die Waibel im Laufe seiner<br />

Forschungsarbeit erschloss, trugen den Stempel „streng geheim“. Nichts<br />

sollte an die Öffentlichkeit dringen.<br />

Waibels Recherchen belegen, wie tief die braune Saat in den Achtzigern<br />

bereits aufgegangen war. Dass hier autoritäre Gesellschaftsstrukturen,<br />

tradierter Nationalismus, Antisemitismus und Nazismus eine Subkultur<br />

hervorbrachten, die sich heute längst als offene, gewaltbereite und<br />

gefährliche Massenbewegung breit macht, lässt sich bei Waibel nachverfolgen:<br />

Circa 9000 registrierte Straftaten, darunter zehn Todesfälle,<br />

tausende Verletzte, 145 Friedhofsschändungen in mehr als 400 Kommunen<br />

der DDR.<br />

30 BERLINER STIMME


Harry Waibel: Die braune Saat.<br />

Antisemitismus und Neonazismus in der DDR.<br />

Schmetterling-Verlag Stuttgart 2017,<br />

380 Seiten, 22,80 Euro<br />

ISBN 3-89657-153-2<br />

vertuscht wurden, erfolgten eher milde<br />

Bestrafungen wie Degradierungen oder<br />

einzelne Entlassungen, Parteiausschlüsse<br />

bzw. Anklagen wegen „Rowdytums“.<br />

Die Neonazis gingen erfolgreich in der<br />

Einheitsbewegung der Jahre 1989/90 auf,<br />

gliederten sich während und nach der<br />

Wiedervereinigung in die neonazistische<br />

Organisationswelt der BRD ein und erweiterten<br />

deren Massenbasis – übrigens<br />

auch im gesamteuropäischen Kontext –<br />

erheblich. Das ist die „braue Saat“, die<br />

unsere Gegenwart vergiftet.<br />

Wie sich die Reproduktion autoritärer<br />

Strukturen, Antisemitismus und Neonazismus<br />

als autoritäre Gegenbewegung<br />

zur DDR-Politik ausdehnten, macht<br />

Waibel besonders an den zahlreichen<br />

dokumentierten Vorfällen bei der Volkspolizei<br />

und in den Streitkräften und<br />

Sicherheitsorganen der DDR deutlich.<br />

Unter Beteiligung von Dienstkräften<br />

wurden Nichtdeutsche beleidigt oder<br />

verprügelt, es bildeten sich geheime Zirkel,<br />

die sich NS-Dienstbezeichnungen<br />

gaben etc. Die Vielzahl der Fälle spricht<br />

für sich. Wo sie nicht disziplinarrechtlich<br />

Eine Latenz an rechtsextremistischen<br />

Einstellungen findet sich mindestens<br />

so stark in den Streitkräften der DDR<br />

wie bei Volkspolizei wieder. Und<br />

das hieß Hitlergruß, Sieg-Heil-Rufe,<br />

Schmierereien, Hitler-Fanclubs etc.<br />

Die insgesamt noch zahlreicher als bei<br />

der Volkspolizei dokumentierten und<br />

hier publizierten Fälle von Rassismus,<br />

Antisemitismus, Judenhass, Russenverachtung<br />

und Menschenverachtung<br />

schlechthin lassen einen in einen<br />

Abgrund schauen, der schaudern lässt.<br />

Allein bei der Nationalen Volksarmee<br />

und dem Ministerium für Staatssicherheit<br />

kann man aktenkundig von rund<br />

700 neonazistischen Ereignissen zwischen<br />

1965 und 1980 ausgehen, seit den<br />

achtziger Jahren mit steigender Tendenz,<br />

wie auch schon bei der Volkspolizei.<br />

Um so unverständlicher bleibt es, dass<br />

es im Strafrecht der DDR keine Statistiken<br />

über Militärstrafdelikte gab.<br />

Was offenbar nicht sein durfte, sollte<br />

auch vom Recht her nicht erfasst und<br />

beurteilt werden.<br />

Holger Czitrich-Stahl ist Geschichtslehrer<br />

in Reinickendorf und Historiker mit dem<br />

Schwerpunkt 19. und 20. Jahrhundert.<br />

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Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 7 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

TITELTHEMA<br />

SAWSAN CHEBLI<br />

Nicht im Zuschauermodus<br />

verharren<br />

BAHNHOFSMISSION<br />

„Die blaue Weste macht<br />

uns alle gleich“<br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 3 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

INTERVIEW<br />

Christian Hoßbach: Neue Welle<br />

beim Thema Arbeitszeit<br />

VOR 60 JAHREN<br />

Die „<strong>Berliner</strong> Abendschau“<br />

geht auf Sendung<br />

ANALYSE<br />

Wie können rechte Betriebsräte<br />

verhindert werden?<br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 9 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

TITELTHEMA<br />

MANIFEST<br />

Pflege geht<br />

uns alle an!<br />

PORTRÄT<br />

50 Jahre in der SPD:<br />

Klaus Böger<br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 10 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

TITELTHEMA<br />

INTERVIEW<br />

So bekämpft Neukölln<br />

die Clankriminalität<br />

FEATURE<br />

Die wichtige Arbeit<br />

der Stadtteilmütter<br />

PLÄDOYER<br />

Ein neues<br />

Recht auf Arbeit<br />

ZWISCHENBERICHT<br />

Das diskutiert die Kommission<br />

Politische Handlungsfelder<br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 5 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

EUROPAWAHL<br />

Unsere Kandidatin<br />

Gabriel Bischoff im Interview<br />

REPORTAGE<br />

Der Alltag in<br />

einem Pflegeheim<br />

LANDESPARTEITAG<br />

Das sind die<br />

wichtigsten Beschlüsse<br />

Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 6 · 2018 | 68. Jahrgang<br />

ÜBERBLICK<br />

Neues Miteinander –<br />

Berlin baut Bildung<br />

TITELTHEMA<br />

VOR 70 JAHREN<br />

Wie die Berlin-Blockade<br />

die Stadt veränderte<br />

REPORTAGE<br />

Aus dem Alltag einer<br />

Grundschul-Rektorin<br />

TITELTHEMA<br />

MEINUNG<br />

Peter Strieder:<br />

Verantwortung für Berlin<br />

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PFLEGE<br />

BÜRGERSCHAFTLICHES<br />

ENGAGEMENT<br />

BILDUNG<br />

URBANE<br />

SICHERHEIT<br />

Alle Ausgaben der<br />

BERLINER STIMME,<br />

die Erscheinungstermine<br />

und Schwerpunktthemen<br />

sowie Abo-Hinweise<br />

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