LGBB_012014_fritsch
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nerhalb und außerhalb des Berufes diente den<br />
sog. studia humaniora; es sind die seit der Renaissance<br />
so bezeichneten Bemühungen um<br />
ein »menschlicheres Leben«, das wiederum nur<br />
möglich wird durch die Beschäftigung mit<br />
der Literatur. 2 Wir können nicht alles lesen,<br />
heutzutage schon gar nicht. Es empfiehlt<br />
sich daher, wie der römische Philosoph und<br />
Staatsmann Seneca im 2. Brief an Lucilius<br />
sagt, immer wieder zu den »anerkannten Autoren«<br />
zurückzukehren. Er schreibt dort: »Auch<br />
wenn du Lust hat, einen Abstecher zu anderen<br />
zu machen, kehre doch immer wieder zu den<br />
bewährten Autoren zurück: Probatos itaque<br />
semper lege, … ad priores redi« (Sen. epist. 2,4).<br />
Einer von diesen »bewährten Autoren« ist für<br />
uns der deutsche Philosoph, Pädagoge und<br />
Dichter Johann Gottfried Herder (1744–<br />
1803), zunächst übrigens ein ausgesprochener<br />
Römer- und Lateinfeind, später räumte er den<br />
2 Cf. Seneca, epist. 82,3: Otium sine litteris mors est et<br />
hominis vivi sepultura.<br />
3 Vgl. Wilfried Stroh, Latein ist tot! Es lebe Latein! Berlin<br />
2007, S. 257-259.<br />
4 Herder, Von der Notwendigkeit der Schulzucht zum<br />
Flor einer Schule (1779). Schulreden von J. G. Herder,<br />
hg. von Hermann Michaelis. Leipzig: Reclam o. J.<br />
(nach 1901), S.16. (In der Herder-Ausgabe von Hermann<br />
Nohl, Bd. 6, Anhang, S. 19. SWS XXX 45.)<br />
5 Kritik an Herder bei Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches“,<br />
2. Bd., 2. Abt., Kap. 118 (Ausgabe von<br />
Karl Schlechta, F. Nietzsche, Werke I, S. 924 f.) Siehe<br />
unten Anm. 7.<br />
6 Sen. nat. 1, praef. 5; vgl. Heinrich Weinstock (1889–<br />
1960). Die Tragödie des Humanismus. Heidelberg, 4.<br />
Aufl. 1960, S. 198.<br />
7 Titel einer Schrift von F. Nietzsche (1886). In der<br />
Ausg. von K. Schlechta, F. Nietzsche, Werke I, S. 435-<br />
1008.<br />
8 Carl Schurz (1829-1906), zit. nach Klaus Franken,<br />
Spruchbrevier für junge Menschen. Kevelaer 1957, S.<br />
95. – Albert Schweitzer: „Die Macht des Ideals ist<br />
unberechenbar“ […]; „das weiche Eisen des Jugendidealismus“<br />
soll sich „zum Stahl des unverlierbaren<br />
Lebensidealismus“ härten (Aus meiner Kindheit und<br />
Jugendzeit, Berlin 1953, S. 61). – Seneca: „Proponamus<br />
oportet finem summi boni, ad quem nitamur,<br />
ad quem omne factum nostrum dictumque respiciat:<br />
veluti navigantibus ad aliquod sidus derigendus est.<br />
Vita sine proposito vaga est.” (epist. 95,45 f.)<br />
9 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, 57.<br />
Brief. In: Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche<br />
Literatur, S. 396ff.<br />
studia humanitatis und auch dem Lateinischen<br />
doch einen angemessenen Platz in der Jugendbildung<br />
ein. 3 In einer seiner Schulreden sagt er<br />
(und das ist einer meiner Leitgedanken): »Was<br />
soll all der Kram der Wissenschaften und des<br />
Gedächtnislernens, wenn unsere Seele dadurch<br />
nicht zu guten Gesinnungen gebildet,<br />
wenn unser Herz und Leben nicht durch gute<br />
Übungen genährt wird.« 4 Es kommt also auf<br />
die Verwirklichung – oder wie man heute meist<br />
sagt – auf die Umsetzung des Gelesenen und<br />
als richtig Erkannten ins praktische Leben an,<br />
und das gilt erst recht für das pädagogische<br />
Handeln. 5<br />
In der Renaissance sprach man im Sinne Ciceros<br />
von den studia humanitatis. Möglicherweise<br />
geht der später geprägte, auch von Herder<br />
und Immanuel Kant verwendete Ausdruck<br />
(studia) humaniora, also mit der Steigerungsform<br />
humaniora, zumindest inhaltlich auf eine<br />
Stelle bei Seneca zurück: »O quam contempta<br />
res est homo, nisi supra humana se erexerit.<br />
Was für ein verächtliches Ding ist doch der<br />
Mensch, wenn er sich nicht über das Menschliche<br />
hinaus erhebt.« 6<br />
Das ermuntert uns, nicht beim »Menschlich-<br />
Allzumenschlichen« 7 stehen zu bleiben, sondern<br />
uns auch an überzeitlichen Idealen zu<br />
orientieren. Von dem Deutsch-Amerikaner<br />
Carl Schurz stammt das schöne Wort: »Ideale<br />
sind wie Sterne – wir erreichen sie niemals,<br />
aber wie die Seeleute richten wir unseren Kurs<br />
danach.« 8<br />
Herder hat in seinen »Briefen zur Beförderung<br />
der Humanität« den großen Pädagogen des<br />
17. Jahrhunderts, Johann Amos Comenius,<br />
wieder in das kollektive Gedächtnis der Pädagogik<br />
eingeführt. 9 Der Comenius-Rezeption<br />
waren und sind auch jetzt noch viele meiner<br />
Aktivitäten gewidmet. Comenius, aus seiner<br />
böhmischen Heimat vertrieben, hielt sich notgedrungen<br />
viele Jahre in Polen, England, Schweden<br />
und Ungarn auf und verbrachte die<br />
letzten 14 Jahre seines Lebens als Asy-<br />
16 <strong>LGBB</strong> 01 / 2014