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1. Frauenbewegung<br />
Seit dem Spätmittelalter, nämlich seit<br />
dem Zusammenrücken des griechischen<br />
und römischen, des germanischen und<br />
slawischen Raumes wird in Europa eine<br />
Frauenfrage wirksam. Vaterrechtliche<br />
und mutterrechtliche Einflüsse prallen<br />
auf das Christentum und seine biblische<br />
Botschaft von der Ebengeburt von Mann<br />
und Frau (Gen 1, 28).<br />
Diese vorwiegend biblisch argumentierende<br />
Linie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
durch die soziale Fragestellung<br />
der Arbeiterinnenbewegung, abgelöst.<br />
Themen waren zunächst gleicher Lohn<br />
für gleiche Arbeit, unmittelbar folgend<br />
aber gleiche Bildung und schließlich<br />
nach dem Ende des Ersten Weltkriegs<br />
gleiches aktives und passives Wahlrecht.<br />
Die Rechts- und Chancengleichheit ist<br />
heute in der westlichen Welt - zumindest<br />
nominell - abgeschlossen.<br />
Zum Horizont der Gegenwart:<br />
Von der<br />
Frauenbewegung zu<br />
Feminismus<br />
und Postfeminismus<br />
von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz<br />
Professorin für Religionsphilosophie und<br />
vergleichende Religionswissenschaft an der<br />
Technischen Universität Dresden.<br />
2. Feminismus<br />
Die zweite Phase der Frauenbewegung,<br />
der Feminismus, entwickelte seit dem 2.<br />
Weltkrieg im Unterschied zur Frauenbewegung<br />
vorrangig theoretische Konzepte,<br />
aus denen erst sekundär gesellschaftliche<br />
und politische Folgerungen gezogen<br />
wurden. Feminismus reflektiert die<br />
gesellschaftliche und individuelle Konstitution<br />
von Frausein mit der Tendenz, bisherige<br />
Festschreibungen zu befragen<br />
und zu weitgehend autonomen Selbstdefinitionen<br />
überzuleiten. Allerdings wird<br />
der Diskurs auch selbstkritisch-kontrovers<br />
geführt, so dass sachlich von „Feminismen“<br />
zu sprechen ist.<br />
2.1 Egalitätsfeminismus<br />
Als „Gründerin“ der feministischen Theorie<br />
wird Simone de Beauvoir betrachtet<br />
mit ihrem Werk von 1949 „Das andere<br />
Geschlecht - Sitte und Sexus der Frau“.<br />
Darin verficht sie die These, niemand sei<br />
als „Frau“ geboren, sie werde erst zur<br />
Frau gemacht. Zwei „Fallen“ des Frauseins<br />
seien abzuschaffen: das Kind und<br />
der Bindungswille an den Mann; beide<br />
führten zu Verantwortung und dauerhafter<br />
Übernahme von Pflichten. Beauvoir<br />
verlangt daher eine Maskulinisierung der<br />
Frau im Sinne weitgehend bindungsloser<br />
Selbstbestimmung.<br />
2.2 Differenzfeminismus<br />
Abgelöst wurde der Egalitätsfeminismus<br />
durch einen Differenzfeminismus seit<br />
den 80er Jahren: „Frau soll nicht Mann<br />
werden, sondern eben Frau sein.“ Die<br />
Amerikanerin Carol Gilligan entwickelte<br />
das Modell eines kulturellen Feminismus<br />
mit der „Ethik der Fürsorge“. Kulturell<br />
bedingte Geschlechtsdifferenz im pflegerischen<br />
oder fürsorglichen Verhalten wird<br />
dabei zustimmend gesehen: Geschichtlich<br />
und interkulturell hätten Frauen eine<br />
Alternative zur Ethik der modernen Medizin<br />
entwickelt. „Etwas besorgen“ bedeu-<br />
<strong>LEBE</strong> <strong>75</strong>/2005<br />
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