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Die Macht der Bilder<br />
Michel Quenot<br />
In unserem Alltag werden wir von<br />
Bildern geradezu überschwemmt.<br />
Das Bild beherrscht alle sozialen<br />
Schichten, die Straße, den Arbeitsplatz,<br />
ja sogar unsere Wohnungen durch<br />
Presse und Fernsehen. Auf die<br />
Gewöhnung und die Verwendung, die<br />
es bewirkt, reagieren ihre Macher mit<br />
immer subtileren und eindringlicheren<br />
Formen und Farben, allzu oft ohne<br />
große Rücksicht auf die Gefühle des<br />
Zuschauers, den sie gefangennehmen<br />
wollen.<br />
Durch seine Suggestionskraft kann das<br />
Bild gegen den Menschen verwendet<br />
werden, ohne dass er es merkt.<br />
Es kann sein Denken formen, seine<br />
Leidenschaften wecken, sein Verhalten<br />
beeinflussen, mit einem Wort: ihm seine<br />
Freiheit rauben. In unserer Gesellschaft<br />
ersetzt das Bild zusehends den Text.<br />
Statt zu überlegen, lässt man sich lieber<br />
von seinen Gefühlen und vor allem vom<br />
Sehen leiten. Man denke nur an den gewaltigen<br />
visuellen Reiz, den die Straße<br />
mit ihren Schaufenstern, Auslagen und<br />
zum Teil beweglichen und blinkenden<br />
Lichtern ausübt. Und was soll man zu<br />
der uns überflutenden Werbung sagen,<br />
die nur auf Gewinn ausgerichtet<br />
ist? Man muss schon zugeben, dass<br />
von dem Augenblick an, wo nur noch<br />
der Profit zählt, die menschlichen<br />
Wertvorstellungen abstumpfen und<br />
die Sinnesreize überhand nehmen.<br />
Das aufgrund seiner Symbolkraft und<br />
seiner Wirkung auf die Sinne in hohem<br />
Maße suggestive Bild schmeichelt sich<br />
folglich in die Tiefenschichten unseres<br />
Wesens ein und bedroht gleichzeitig<br />
das Innenleben.<br />
Die postindustrielle Gesellschaft, eine<br />
vom Bild abhängige Kultur, durchlebt<br />
eine schwere Krise, die mit einem allgegenwärtigen<br />
Materialismus einhergeht.<br />
Unsere Freiheit erlaubt uns, mit dem<br />
gleichen Recht wie dem Künstler, die<br />
Welt nach unserem Bild zu gestalten.<br />
Wenn unsere Sicht rein ist, vergeistigen<br />
wir alles. Andernfalls bleiben wir gefangen<br />
in der schwerfälligen Materie, in<br />
Raum und Zeit.<br />
Das gesamte spirituelle Leben verlangt<br />
also eine Entscheidung zwischen<br />
den beiden Polen: die Verleiblichung<br />
der Seele oder die Vergeistigung des<br />
Leibes.<br />
Muss man nicht zugeben, dass der rationalistische,<br />
wissenschaftliche und<br />
mechanistische Ausschließlichkeitsanspruch<br />
dieser Zeit mit einer gefährlichen<br />
Verkümmerung der globalen<br />
Fähigkeiten bezahlt wird, wofür manche<br />
Auflösungserscheinungen der modernen<br />
Malerei genügend Beispiele liefern?<br />
Die Vision einer zu einer riesigen<br />
Müllhalde verkommenen Welt, die uns<br />
einige zeitgenössische Künstler vermitteln,<br />
spiegelt treffend die Irrungen und<br />
Wirrungen ihres Unterbewusstseins<br />
wider.<br />
„Die Seelen zerfallen und mit ihnen<br />
auch die Gesichter”, schreibt der große<br />
russische Schriftsteller Nikolaj Gogol,<br />
und er betont, „wie sehr jeder Künstler<br />
in einen Auftrag eingebunden ist, den<br />
er nicht verleugnen darf: Die Kunst versöhnt<br />
uns mit dem Leben. Kunst heißt<br />
Ordnung und Harmonie in die Seele<br />
bringen, und nicht Verwirrung und<br />
Unordnung … Wenn der Künstler nicht<br />
das Wunder vollbringt, die Seele des<br />
Betrachters in Liebe und Vergebung<br />
zu verwandeln, ist seine Kunst nichts<br />
anderes als eine vorübergehende<br />
Leidenschaft.” (Brief vom 10. 1. 1848 an<br />
den Dichter Jukowski)<br />
Ein Mensch wird nach und nach von<br />
dem geprägt, was er sich ansieht.<br />
<strong>LEBE</strong> <strong>113</strong>/2013<br />
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