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LEBE_113

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Die Macht der Bilder<br />

Michel Quenot<br />

In unserem Alltag werden wir von<br />

Bildern geradezu überschwemmt.<br />

Das Bild beherrscht alle sozialen<br />

Schichten, die Straße, den Arbeitsplatz,<br />

ja sogar unsere Wohnungen durch<br />

Presse und Fernsehen. Auf die<br />

Gewöhnung und die Verwendung, die<br />

es bewirkt, reagieren ihre Macher mit<br />

immer subtileren und eindringlicheren<br />

Formen und Farben, allzu oft ohne<br />

große Rücksicht auf die Gefühle des<br />

Zuschauers, den sie gefangennehmen<br />

wollen.<br />

Durch seine Suggestionskraft kann das<br />

Bild gegen den Menschen verwendet<br />

werden, ohne dass er es merkt.<br />

Es kann sein Denken formen, seine<br />

Leidenschaften wecken, sein Verhalten<br />

beeinflussen, mit einem Wort: ihm seine<br />

Freiheit rauben. In unserer Gesellschaft<br />

ersetzt das Bild zusehends den Text.<br />

Statt zu überlegen, lässt man sich lieber<br />

von seinen Gefühlen und vor allem vom<br />

Sehen leiten. Man denke nur an den gewaltigen<br />

visuellen Reiz, den die Straße<br />

mit ihren Schaufenstern, Auslagen und<br />

zum Teil beweglichen und blinkenden<br />

Lichtern ausübt. Und was soll man zu<br />

der uns überflutenden Werbung sagen,<br />

die nur auf Gewinn ausgerichtet<br />

ist? Man muss schon zugeben, dass<br />

von dem Augenblick an, wo nur noch<br />

der Profit zählt, die menschlichen<br />

Wertvorstellungen abstumpfen und<br />

die Sinnesreize überhand nehmen.<br />

Das aufgrund seiner Symbolkraft und<br />

seiner Wirkung auf die Sinne in hohem<br />

Maße suggestive Bild schmeichelt sich<br />

folglich in die Tiefenschichten unseres<br />

Wesens ein und bedroht gleichzeitig<br />

das Innenleben.<br />

Die postindustrielle Gesellschaft, eine<br />

vom Bild abhängige Kultur, durchlebt<br />

eine schwere Krise, die mit einem allgegenwärtigen<br />

Materialismus einhergeht.<br />

Unsere Freiheit erlaubt uns, mit dem<br />

gleichen Recht wie dem Künstler, die<br />

Welt nach unserem Bild zu gestalten.<br />

Wenn unsere Sicht rein ist, vergeistigen<br />

wir alles. Andernfalls bleiben wir gefangen<br />

in der schwerfälligen Materie, in<br />

Raum und Zeit.<br />

Das gesamte spirituelle Leben verlangt<br />

also eine Entscheidung zwischen<br />

den beiden Polen: die Verleiblichung<br />

der Seele oder die Vergeistigung des<br />

Leibes.<br />

Muss man nicht zugeben, dass der rationalistische,<br />

wissenschaftliche und<br />

mechanistische Ausschließlichkeitsanspruch<br />

dieser Zeit mit einer gefährlichen<br />

Verkümmerung der globalen<br />

Fähigkeiten bezahlt wird, wofür manche<br />

Auflösungserscheinungen der modernen<br />

Malerei genügend Beispiele liefern?<br />

Die Vision einer zu einer riesigen<br />

Müllhalde verkommenen Welt, die uns<br />

einige zeitgenössische Künstler vermitteln,<br />

spiegelt treffend die Irrungen und<br />

Wirrungen ihres Unterbewusstseins<br />

wider.<br />

„Die Seelen zerfallen und mit ihnen<br />

auch die Gesichter”, schreibt der große<br />

russische Schriftsteller Nikolaj Gogol,<br />

und er betont, „wie sehr jeder Künstler<br />

in einen Auftrag eingebunden ist, den<br />

er nicht verleugnen darf: Die Kunst versöhnt<br />

uns mit dem Leben. Kunst heißt<br />

Ordnung und Harmonie in die Seele<br />

bringen, und nicht Verwirrung und<br />

Unordnung … Wenn der Künstler nicht<br />

das Wunder vollbringt, die Seele des<br />

Betrachters in Liebe und Vergebung<br />

zu verwandeln, ist seine Kunst nichts<br />

anderes als eine vorübergehende<br />

Leidenschaft.” (Brief vom 10. 1. 1848 an<br />

den Dichter Jukowski)<br />

Ein Mensch wird nach und nach von<br />

dem geprägt, was er sich ansieht.<br />

<strong>LEBE</strong> <strong>113</strong>/2013<br />

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