Ennsthaler Magazin Sommer2019
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Der Tiefschlaf<br />
der Vernunft<br />
Großbritannien mauert sich nach dem Brexit ein,<br />
die globale Gehirnwäsche blüht und gedeiht.<br />
Zukunftsmusik in Moll – mit brisanten Zwischenrufen.<br />
Eine Bestandsaufnahme.<br />
Heute denkbar, morgen möglich.<br />
Nach dem vollzogenen<br />
Brexit gilt in Großbritannien das<br />
Gesetz des Stärkeren. Das moralisch<br />
völlig desolate Inselreich ist von<br />
einer hohen Mauer umgeben, auf<br />
potenzielle Eindringlinge wartet ein<br />
Kugelhagel. John Lanchester schuf<br />
mit „Die Mauer“ eine fast apokalyptische<br />
Zukunftsvision, die aber<br />
keineswegs weltfremd erscheint.<br />
Denn der große Hirnriss in Europa<br />
ist evident. Im Zentrum von Lanchesters<br />
grausamer neuen Welt steht<br />
Joseph Kavanagh, der seinen militärischen<br />
Dienst auf der Mauer antritt.<br />
Der einzige, kollektive Auftrag<br />
lautet: Das Bollwerk muss um jeden<br />
Preis verteidigt und vor Eindringlingen<br />
geschützt werden. Das Leben<br />
auf der Mauer und die permanenten<br />
Kampfübungen für den Ernstfall<br />
verlangen dem jungen Soldaten einiges<br />
ab, Halt findet er lediglich in<br />
seiner Familie. Und mit Hifa, einer<br />
jungen Kämpferin, fühlt er sich eng<br />
verbunden. Aber alles wird überschattet<br />
von einem permanenten<br />
Alarmzustand. Schonungslos, düster,<br />
mit Weitblick, stellt sich John<br />
Lanchester allen Herausforderungen<br />
und Schreckensszenarien unserer<br />
Zeit, von den Flüchtlingsströmen<br />
bis zu den ständig wachsenden<br />
politischen Entfremdungen und der<br />
rasch wachsenden und geschürten<br />
Angst der Bevölkerung. So stellt<br />
auch das Buch, spannend geschrieben,<br />
durch aktuelle Ereignisse befeuert,<br />
eine große Herausforderung<br />
dar; man sollte sich ihr unbedingt<br />
stellen. Ehe der Globus tatsächlich<br />
noch mehr Pflaster trägt.<br />
Aktuelle Belege für den aktuellen<br />
Zustand liefert Zadie Smith in ebenso<br />
grandiosen und bedeutsamen wie<br />
beklemmenden Essays, die zuweilen<br />
einem Aufschrei<br />
gleichen. Die<br />
britische Literatin<br />
von Weltgeltung<br />
zeigte in<br />
ihren Romanen<br />
eine verwundete<br />
Gesellschaft,<br />
jetzt zeigt sie<br />
sich politischer denn je. Die Essays<br />
sind in fünf Kategorien unterteilt,<br />
drastisch führen sie im Abschnitt<br />
„In der Welt“ die zahlreichen Sackgassen<br />
vor Augen, in denen wir uns<br />
befinden. Hineinmanövriert durch<br />
eine Politik jenseits jeglicher Vernunft.<br />
Aber noch gibt Zadie Smith<br />
dem Prinzip Hoffnung eine Daseinsberechtigung.<br />
In den Kapiteln<br />
„Im Publikum“, „Im Museum“, „Im<br />
Bücherregal“ und „Freiheiten“ präsentiert<br />
sie ihre Sicht auf kulturelle<br />
„Vermutlich war<br />
der Einzelne schon<br />
immer unwichtig.<br />
Es fiel nur weniger auf.“<br />
Sibylle Berg<br />
Ereignisse oder erzählt von persönlichen<br />
Erlebnissen. „Zähne zeigen“<br />
hieß der Debütroman von Zadie<br />
Smith, der Aufruf könnte auch als<br />
Motto für diese Sammlung an Zeitund<br />
Momentaufnahmen gelten, die<br />
helfen, die Gegenwart erheblich<br />
schärfer und klarer sehen zu lassen.<br />
Mit Salzsäure statt Tinte geschrieben<br />
hat Sibylle Berg ihren im wahrsten<br />
Sinn des Wortes explosiven Roman<br />
„GRM“ mit dem passenden Untertitel<br />
„Brainfuck“<br />
versehen.<br />
Die Brave New<br />
World nimmt<br />
ihren unaufhaltsamen<br />
Lauf,<br />
jeden Tag wird<br />
ein weiteres<br />
westliches Land<br />
autokratisch, Algorithmen, die das<br />
menschliche Denken endgültig ersetzen,<br />
liegen in der Luft. Schauplatz<br />
der zornigen Abrechnung mit<br />
den verlogenen Ideologien ist die<br />
Stadt Rochdale in Großbritannien,<br />
wo der Kapitalismus einstmals seine<br />
Geburtsstunde erlebte und der<br />
zynische Neoliberalismus besonders<br />
schauderhafte Blüten treibt.<br />
Aber vier Kinder spielen da nicht<br />
mit – sie rebellieren. Und das mit<br />
aller Konsequenz. Denn die trüge-<br />
Foto: unsplash<br />
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