EWa 19-29
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16 70 Jahre Grundgesetz<br />
17. Juli 20<strong>19</strong><br />
Der Steuermann kam dazu.<br />
Als er sah, daß außer Napoleon<br />
niemand zugegen und<br />
dieser auch gegen mich war,<br />
ließ er seinen ganzen Haß<br />
an mir aus, indem er ohne<br />
weitere Veranlassung mich<br />
ins Gesicht schlug und mich<br />
sogar mit den Füßen in den<br />
Leib trat, so daß ich laut aufschrie.<br />
»Willst du noch schreien!«<br />
zischte er wütend.<br />
Ich überlegte mir den ganzen<br />
Tag, wie ich<br />
mich an dem<br />
Schuft rächen<br />
könnte, und<br />
machte mir<br />
selber Vorwürfe,<br />
daß<br />
ich ihn nicht<br />
mit der ersten<br />
besten Waffe<br />
niedergeschlagen<br />
hatte.<br />
Ich wußte<br />
aber, daß<br />
dann alle gegen mich gewesen<br />
wären. Entweder hätte<br />
man mich totgeschlagen<br />
oder in Eisen gelegt. Das alles<br />
erwog ich an diesem Tage<br />
ernsthaft und hatte sogar ein<br />
paarmal noch schlimmere<br />
Gedanken.<br />
In der kommenden Nacht<br />
trat eine auffallende Moskitoplage<br />
ein, die wahrscheinlich<br />
mit der Witterung im<br />
Zusammenhang stand. Kein<br />
Mensch an Bord und, wie ich<br />
später hörte, auch keiner an<br />
Land – mit Ausnahme der<br />
Schwarzen – konnte zu dieser<br />
Zeit schlafen. Ich hatte mich<br />
von Deck ins Logis geflüchtet,<br />
konnte es aber auch hier<br />
vor Stichen nicht aushalten.<br />
Dann stieg ich wieder auf ein<br />
Mein Leben bis zum Kriege<br />
Fortsetzungsroman von Joachim Ringelnatz Folge 74<br />
Boot, unter das Boot, darauf<br />
kletterte ich an den Wanten<br />
hoch und versuchte, in etwas<br />
gewagter Weise auf dem<br />
Mars zu schlafen. Doch überall<br />
begleitete mich das unheimliche<br />
Summen der kaum<br />
sichtbaren Tiere. Überall<br />
stachen mich diese Bestien.<br />
Es war eine schwüle Mondscheinnacht,<br />
und meine Lage<br />
auf der kleinen, hölzernen<br />
Plattform oben am Mast mit<br />
DIPL.-FINANZW. (FH)<br />
FRANZ WETZEL<br />
STEUERBERATER<br />
27607 GEESTLAND | SÜDERFELD 7<br />
Tel. 0 47 07 7 20 81 95 | FAX 0 47 07 7 20 81 99<br />
der weiten Aussicht über das<br />
Meer hatte etwas sehr Romantisches,<br />
das mich unter<br />
anderen Umständen wohl gereizt<br />
hätte. Aber ich war todmüde.<br />
Schließlich versuchte<br />
ich es doch noch einmal an<br />
Deck, indem ich mein Gesicht<br />
mit einem Hemd verhüllte<br />
und Strümpfe über die<br />
Hände zog.<br />
Am Sonntagmorgen, als<br />
ich in meiner Koje aus ungestörtem<br />
Schlaf erwachte,<br />
hörte ich, daß es draußen<br />
regnete. Irgend jemand rief<br />
mich an Deck. Als ich hinaufkam,<br />
goß mir Jahn einen<br />
Eimer Wasser über den<br />
Kopf, »zur Auffrischung«, wie<br />
er sagte. Ich wollte umkehren,<br />
um meinen Anzug zu<br />
wechseln, doch Steuermann,<br />
der den Vorgang schadenfroh<br />
beobachtet hatte, zog<br />
mich zum Deckfegen nach<br />
achtern. »Nicht wahr, das ist<br />
doch ein gemeiner Mensch?<br />
Der gibt dir noch sonntags<br />
Arbeit«, sagte er und meinte<br />
sich selbst, »denkst du nicht<br />
so?«<br />
»Nein, ich denke nicht so.«<br />
»Nun, du kannst denken, was<br />
du willst, nur denke nicht<br />
laut, sonst<br />
denke ich<br />
mal laut.«<br />
»Sieh mal«,<br />
fuhr er mich<br />
nach einer<br />
Weile wieder<br />
an, indem er<br />
mich in den<br />
Arm zwickte,<br />
»kannst du<br />
das Ende dort<br />
nicht sehen?<br />
Ich werde<br />
dich gleich alle Enden zehnmal<br />
abnehmen und neu aufschießen<br />
lassen.«<br />
Man teilt das Schiffspersonal<br />
in zwei Parteien ein: Die vor<br />
dem Mast, das sind Matrosen,<br />
Leichtmatrosen, Schiffsjungen,<br />
und die achtern<br />
Mast, das sind Kapitän und<br />
Steuerleute.<br />
Der Koch, der midships haust,<br />
nimmt dementsprechend eigentlich<br />
eine Mittelstellung<br />
ein, die er aber gewöhnlich<br />
nicht lange behaupten kann.<br />
Unser Koch stand entschieden<br />
auf der Seite derer achter<br />
dem Mast und begünstigte<br />
diese im Kochen auf unsere<br />
Kosten. So waren wir schlecht<br />
auf ihn zu sprechen.<br />
Weiter nächste Woche<br />
„Ein gutes Haus für alle Deutschen“<br />
„Londoner Empfehlungen“ machten den Weg frei<br />
tw · Es ist das Fundament unseres<br />
Zusammenlebens. Ein<br />
Bekenntnis zur Demokratie.<br />
Ein Dokument der Freiheit,<br />
der eigenen und der der Andersdenkenden<br />
- das Grundgesetz.<br />
Sätze wie „Die Würde<br />
sind unantastbar“, sind inzwischen<br />
für viele fast selbstverständlich.<br />
Doch wie kam<br />
es zur Unterzeichnung am 23.<br />
Mai <strong>19</strong>49.<br />
Am Anfang stand das Ende<br />
eines brutalen Regimes in<br />
Deutschland. Der Untergang<br />
des Nationalsozialismus. Am<br />
8. Mai <strong>19</strong>45 kapitulierte die<br />
deutsche Wehrmacht. Demokratisierung,<br />
Demilitalisierung,<br />
Entnazifizierung und<br />
Dezentralisierung waren denn<br />
auch erst einmal die Grundsätze<br />
auf die sich Harry S. Trumann,<br />
Winston Churchill und<br />
Josef Stalin auf der Potsdamer<br />
Konferenz Anfang August für<br />
die Behandlung Deutschlands<br />
einigten. Doch nur ein gutes<br />
Jahr später sollte es einen<br />
Wandel geben. Der amerikanische<br />
Außenminister James F.<br />
Byrnes sagte am 6. September<br />
in einer Rede, dass Deutschland<br />
wieder<br />
„einen<br />
Platz unter<br />
den freien<br />
und friedliebenden<br />
Nat ionen<br />
70 Jahre<br />
der Welt<br />
erhalten soll“. Dies konnte jedoch<br />
nur unter einer Voraussetzung<br />
geschehen. Es galt<br />
Lehren aus den Fehlern der<br />
Weimarer Republik und den<br />
Verbrechen der Nazi-Zeit zu<br />
ziehen.<br />
Im Juni <strong>19</strong>48 wurden die Weichen<br />
für einen westdeutschen<br />
Teilstaat gelegt, als auf der<br />
Sechsmächte-Konferenz in<br />
London die drei Westalliierten<br />
- USA, Großbritannien<br />
und Frankreich - sowie die<br />
Das Grundgesetz wird 70 Jahre alt und hat nichts von seinem Glanz<br />
eingebüßt<br />
Foto: tw<br />
Beneluxstaaten am 7. Juni die<br />
„Londoner Empfehlungen“<br />
beschlossen. Hiermit beauftragten<br />
sie die Militärgouverneure,<br />
den westdeutschen<br />
Ministerpräsidenten die Einsetzung<br />
einer „Verfassungsgebenden<br />
Versammlung“ zu<br />
erlauben. Dies stieß bei den<br />
Ministerpräsidenten nicht<br />
auf sofortige Gegenliebe. Befürchteten<br />
sie doch, dass damit<br />
die Teilung Deutschlands<br />
besiegelt werde. Nach langen<br />
Diskussionen einigten sich die<br />
Beteiligten darauf keine ver-<br />
tw · Nach dem Festakt konstituierte<br />
sich der Parlamentarische<br />
Rat in der Aula der<br />
Pädagogischen Akademie in<br />
Bonn. Je 27 Abgeordnete der<br />
CDU/CSU und der SPD, fünf<br />
von der FDP, sowie je zwei<br />
von DP, KPD und Zentrumspartei<br />
berieten und stritten in<br />
den folgenden Monaten über<br />
das Grundgesetz. Zum Präsidenten<br />
wählten die Mitglieder<br />
den späteren Bundeskanzler<br />
Konrad Adenauer von der<br />
CDU. Ihm zur Seite standen<br />
als Erster und Zweiter Vizepräsident<br />
Adolph Schönfelder<br />
(SPD) und Hermann Schäfer<br />
(FDP).<br />
Das Grundgesetz sollte nicht<br />
nur die Grundrechte der<br />
Menschen festlegen, wie die<br />
Menschenwürde, die freie<br />
Entfaltung der Persönlichkeit<br />
oder die Gleichberechtigung,<br />
es sollte auch Bollwerk gegen<br />
Feinde der Demokratie sein<br />
und mit seinen Gesetzten<br />
die Grundmauern des neuen<br />
Staates festigen. Hierzu gehören<br />
unter anderem die Stärkung<br />
des Parlaments und des<br />
Bundeskanzlers gegenüber<br />
einem geschwächten Bundespräsidenten,<br />
das föderale<br />
System und das konstruktive<br />
Misstrauensvotum, das besagt,<br />
dass ein Kanzler nur<br />
bei einer gleichzeitigen Wahl<br />
eines neuen Kanzlers gestürzt<br />
werden kann. Am 8. Mai <strong>19</strong>49<br />
wurde das Grundgesetz mit<br />
53 zu 12 Stimmen beschlossen.<br />
Dagegen stimmten die<br />
Abgeordneten der DP, der KPD<br />
und des Zentrums. Aber auch<br />
sechs der 13 Abgeordneten der<br />
CSU. Sie sahen die Interessen<br />
der Bundesländer nicht ausreichend<br />
gewürdigt.<br />
Vier Tage später wurde das<br />
Grundgesetzt von den Militärgouverneuren<br />
der drei Westmächte<br />
genehmigt und von<br />
zehn der elf Landtage gebilligt.<br />
Bayern stimmte wie erwartet<br />
nicht zu, ließ sich aber eine<br />
große Hintertür offen. Denn<br />
wenn mindestens zwei Drittel<br />
der Länder das Grundgesetz<br />
annehmen sollten, würden<br />
fassungsgebende Versammlung<br />
sondern einen Parlamentarischen<br />
Rat einzuberufen<br />
und statt einer Verfassung ein<br />
Provisorium - das Grundgesetz<br />
- zu erarbeiten.<br />
Auf einem vorbereitenden Verfassungskonvent,<br />
das vom 10.<br />
bis 23. August <strong>19</strong>48 auf Herrenchiemsee<br />
stattfand, entwarfen<br />
sie Richtlinien für das Grundgesetz,<br />
das die Grundrechte<br />
garantieren sollte aber auch<br />
einen föderalen Staat vorsah.<br />
Der sogenannten „Chiemseer-<br />
Entwurf“ bildete eine wichtige<br />
Grundlage für die Arbeit des<br />
Parlamentarischen Rats. Da<br />
sämtliche elf Landtage den<br />
Entwurf eines Modellgesetzes<br />
über die Errichtung des Parlamentarischen<br />
Rats annahmen<br />
und Abgeordnete wählten,<br />
stand den Beratungen zum<br />
Grundgesetz nichts<br />
mehr im Wege.<br />
Mit insgesamt 65<br />
Abgeordneten, 61<br />
Männern und vier<br />
Frauen, wurde am<br />
1. September <strong>19</strong>48<br />
der Parlamentarische<br />
Rat mit einem Festakt<br />
im Lichthof des Museums Alexander<br />
Koenig in Bonn eröffnet.<br />
„Wir beginnen mit dieser<br />
Arbeit, in der Absicht und dem<br />
festen Willen, einen Bau zu errichten,<br />
der am Ende ein gutes<br />
Haus für alle Deutschen werden<br />
soll“, sagte der damalige<br />
Ministerpräsident Nordrhein-<br />
Westfalens Kai Arnold bei der<br />
Begrüßung der Gäste.<br />
Die Beratungen konnten<br />
beginnen.<br />
Die Geburtsstunde der BRD<br />
Weg zur Unterzeichung des Grundgesetzes war nicht einfach<br />
Der Präsident des Parlamentarischen Rates, Dr. Konrad Adenauer (l.), bei<br />
der Unterzeichnung des Grundgesetzes. Beobachtet wird er dabei vom<br />
damaligen Cuxhavener Oberbürgermeister Karl Olfers (r.), der in seiner<br />
Funktion als Präsident des niedersächsischen Landtags ebenfalls das<br />
Grundgesetz mit unterschrieb. Festgehalten wurde das Geschehen von der<br />
Fotografin Erna Wagner-Hehmke, die die Arbeit des Parlamentarischen<br />
Rats dokumentierte Foto: Wagner-Hehmke, Haus der Geschichte<br />
sie auch unterschreiben. Und<br />
so kam es erwartungsgemäß<br />
auch.<br />
Die Unterzeichnung am 23.<br />
Mai <strong>19</strong>49 fand unter großem<br />
Zuschauerandrang statt. Der<br />
Platz in der Aula reichte nicht<br />
aus, so dass vor den geöffneten<br />
Fenstern Stühle bereitgestellt<br />
wurden. Das Grundgesetz<br />
unterschrieben nicht<br />
nur die Abgeordneten des Parlamentarischen<br />
Rates sondern<br />
auch die Ministerpräsidenten<br />
und die Landtagspräsidenten.<br />
Der Grundstein war gelegt, die<br />
Bundesrepublik Deutschland<br />
geboren.