In Würde sterben mit Demenz
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<strong>In</strong> <strong>Würde</strong> <strong>sterben</strong><br />
<strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
Vorbereitungslektüre
Impressum<br />
© 2019<br />
Malteser Fachstelle <strong>Demenz</strong> & Fachstelle Hospizarbeit,<br />
Palliativmedizin und Trauerbegleitung<br />
Erna-Scheffler-Str. 2<br />
51103 Köln<br />
www.malteser-demenzkompetenz.de<br />
Illustrationen: Alexander von Lengerke<br />
Fotos: Anne Theresa Hesse<br />
Layout & Satz: mwk-koeln.de
<strong>In</strong>halt<br />
1 Hinführung ................................................ 5<br />
2 Palliative Philosophie und <strong>Demenz</strong> – wie passt das<br />
zusammen? ................................................ 6<br />
3 Person sein bis zum letzten Atemzug – auch bei <strong>Demenz</strong>? . . . . . . . . 8<br />
4 <strong>Demenz</strong> – Was ist das? ...................................... 9<br />
5 <strong>Demenz</strong> in den verschiedenen Phasen ........................ 12<br />
6 Wie können Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> angemessen<br />
unterstützt werden? ....................................... 21<br />
7 Was braucht der <strong>sterben</strong>de Mensch <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong>? . .............. 22<br />
8 Der lange Abschied – Was benötigen die Angehörigen? ......... 25<br />
9 Verlust, Einsamkeit, Trauer – Was bleibt danach? ............... 28<br />
10 Anhang . ................................................. 29<br />
3
4
1 Hinführung<br />
Gerade, wenn Angehörige über Monate und Jahre Sorge und Verantwortung<br />
für einen Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> übernommen und getragen<br />
haben, kann der endgültige Abschied <strong>mit</strong> sehr zwiespältigen Gefühlen<br />
verbunden sein:<br />
→ ein langer Leidensweg geht »endlich« zu Ende<br />
→ ein frei werdender Platz ist zu füllen<br />
Denn dann ist da vielleicht niemand mehr, wo vorher jemand »auf<br />
mich angewiesen war« »auf mich gewartet hat« – wegen oder trotz<br />
einer <strong>Demenz</strong>erkrankung.<br />
Wie jeder Mensch eine <strong>Demenz</strong>erkrankung auf seine ihm eigene Weise<br />
erlebt, lebt und erlebt er auch sein eigenes Sterben. Das fordert<br />
Angehörige und die ihn Versorgenden heraus. Denn egal, wie weit<br />
die <strong>Demenz</strong> fortgeschritten ist und welche Vorstellungen auch immer<br />
da<strong>mit</strong> verbunden sind, gilt es in Beziehung zu bleiben und Lebensqualität<br />
bis zum letzten Atemzug zu ermöglichen. Dabei bleibt die große<br />
Herausforderung, die eigenen Grenzen zu sehen und anzunehmen.<br />
5
2 Palliative Philosophie und<br />
<strong>Demenz</strong> – wie passt das zusammen?<br />
<strong>In</strong> der Begleitung und Versorgung von Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>Demenz</strong>erkrankung<br />
hat sich in den letzten Jahren »Palliative Care« als Basis des<br />
Handelns immer mehr durchgesetzt. Zu den Ersten, die diese Philosophie<br />
in ihre alltägliche Arbeit übernommen und konkret umgesetzt<br />
haben, gehört die schwedische Stiftung Silviahemmet.<br />
Seit 1996 setzt sie sich für die Qualifizierung aller Beteiligten ein, fördert<br />
und zertifiziert den Aufbau von Einrichtungen für Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
und hat gemeinsam <strong>mit</strong> der Karolinska Universität/Stockholm Masterkurse<br />
für Pflegekräfte, Therapeuten und Ärzte auf den Weg gebracht.<br />
Zentrales Anliegen von Silviahemmet ist: »Der Kranke lehrt die Anderen und<br />
ermöglicht ihnen, das Krankheitsbild zu verstehen. Der kranke Mensch ist<br />
unser Lehrer.« Die Malteser kooperieren seit 2009 <strong>mit</strong> der Silviahemmet Stiftung<br />
und haben deren Palliative Philosophie in Deutschland implementiert.<br />
Warum Palliative Philosophie und <strong>Demenz</strong>?<br />
Palliative Care kommt zum Tragen, wenn eine unheilbare Erkrankung<br />
durch Schmerzen und andere begleitende Symptome zur unerträglichen<br />
Belastung für den erkrankten Menschen wird und er in seiner<br />
letzten Lebensphase Linderung und Lebensqualität erfahren soll.<br />
Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>Demenz</strong>erkrankung sind aber schon lange vor<br />
ihrem Lebensende durch die <strong>Demenz</strong> bedingten Symptome in ihrer<br />
Lebensführung stark belastet und eingeschränkt. Sie benötigen deshalb<br />
Palliative Care von Anfang an.<br />
6
Dabei sind die vier Säulen<br />
→ Symptomkontrolle/Person centered care<br />
→ Unterstützung der Angehörigen<br />
→ Team(arbeit)<br />
→ Kommunikation & Begegnung<br />
der Kompass, der den erkrankten Menschen sowie das gesamte Hilfesystem<br />
durch die <strong>Demenz</strong> leitet.<br />
Die vier Säulen der Palliativen Philosophie<br />
7
3 Person sein bis zum letzten<br />
Atemzug – auch bei <strong>Demenz</strong>?<br />
Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>Demenz</strong> sind durch das Fortschreiten der Erkrankung<br />
in besonderer Weise von anderen Menschen abhängig. Trotz ihrer<br />
zunehmenden Beeinträchtigungen bleiben sie aber bis zum letzten<br />
Atemzug eine Person <strong>mit</strong> der ihnen angeborenen <strong>Würde</strong>. Denn der<br />
Verlust oder die Einschränkung bestimmter Fähigkeiten bedeuten nicht,<br />
dass sie kein Bewusstsein mehr haben und als Person nicht mehr existieren.<br />
Ganz im Gegenteil.<br />
Angehörige erleben die durch die <strong>Demenz</strong> hervorgerufenen Veränderungen<br />
oft als Verlust. »Er/sie ist nicht mehr so wie ich ihn/sie<br />
kenne, so wie früher.« Dabei übersehen sie, dass Leben Veränderung<br />
bedeutet, vom Beginn des Lebens bis zu seinem Ende. Niemand bleibt<br />
so wie er oder sie ist.<br />
Als besonders schwierig erleben viele Angehörige die Phase, wenn<br />
der erkrankte Mensch nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht<br />
mehr sprechen kann und sie sich fragen, ob er/sie überhaupt noch<br />
etwas wahrnimmt. Hier sind die Angehörigen besonders auf Begleitung<br />
und Unterstützung angewiesen. Denn die sogenannte nonverbale<br />
Kommunikation, das Einander-Begegnen ohne Worte, bleibt bis<br />
zum Schluss erhalten. Es lohnt, sich darauf einzulassen und auf die<br />
Reaktion des Gegenübers zu warten.<br />
8
4 <strong>Demenz</strong> – Was ist das?<br />
Um die <strong>Demenz</strong>erkrankungen und die <strong>mit</strong> ihnen verbundenen Symptome<br />
verstehen zu können, ist es hilfreich, sich die Aufgaben des<br />
Gehirns und die Funktion des Nervensystems vor Augen zu führen.<br />
Gehirn und Nervensystem<br />
Das Gehirn ist die Zentrale für Sehen, Hören, Sprechen, Schmecken,<br />
Riechen und für das Gefühlsleben. Zu seinen Aufgaben zählen<br />
→ die Verarbeitung von Sinneseindrücken<br />
→ das Bewahren von Erlerntem und von Ereignissen<br />
(das Gedächtnis)<br />
→ die Planung und Umsetzung von Abläufen<br />
→ die Steuerung aller Vorgänge im Körper wie Schmerzempfinden,<br />
Laufen, Tanzen, Schwimmen, usw.<br />
Das Gehirn besteht aus mehreren Teilen, die alle ihre spezifischen Aufgaben<br />
haben, und aus Millionen von Nervenzellen. Diese Nervenzellen<br />
stehen über verschiedene Stoffe, die sogenannten Signal- oder<br />
Trans<strong>mit</strong>tersubstanzen, <strong>mit</strong>einander in Verbindung.<br />
9
Stirnlappen<br />
Scheitellappen<br />
Hinterhaupts -<br />
lappen<br />
Kleinhirn<br />
Schläfenlappen<br />
Das Gehirn<br />
Jede der Signalsubstanzen hat ganz spezielle Aufgaben. Bei den<br />
<strong>Demenz</strong>erkrankungen spielen Störungen dieser Substanzen eine entscheidende<br />
Rolle.<br />
Was versteht man unter <strong>Demenz</strong>?<br />
Eine <strong>Demenz</strong> wird durch unterschiedliche Erkrankungen oder Schädigungen<br />
des Gehirns hervorgerufen. Die häufigste <strong>Demenz</strong>erkrankung<br />
ist die Alzheimer Erkrankung. Daneben gibt es <strong>Demenz</strong>erkrankungen,<br />
die durch Schädigungen des Blutgefäßsystems hervorgerufen werden<br />
(gefäßbedingte <strong>Demenz</strong>en), und weitere, sogenannte sekundäre<br />
Formen, zum Beispiel bei Gehirntumoren, nach Unfällen <strong>mit</strong> Schädelverletzungen,<br />
nach <strong>In</strong>fektionen des Gehirns, durch Drogen- und<br />
Alkoholkonsum und vieles mehr.<br />
10
Eine <strong>Demenz</strong> kann zwar in jedem Lebensalter auftreten, allerdings<br />
häuft sich ihr Auftreten jenseits des 80. Lebensjahrs. Das führt dazu,<br />
dass diese hochaltrigen Menschen häufig neben der <strong>Demenz</strong> noch<br />
weitere, alterstypische Erkrankungen und Einschränkungen wie Sehund<br />
Hörprobleme aufweisen.<br />
Mit der <strong>Demenz</strong> verbunden sind ein fließender Verlust der alltäglichen<br />
Fähigkeiten, die sogenannte Alltagskompetenz, und die Entwicklung<br />
begleitender Symptome. <strong>Demenz</strong>erkrankungen sind zwar bis heute<br />
noch nicht heilbar, aber durch entsprechende Unterstützung und Förderung<br />
sowie einige ausgewählte Medikamente kann den Betroffenen<br />
eine Teilhabe am Leben ermöglicht werden.<br />
Wie äußert sich eine beginnende <strong>Demenz</strong>?<br />
<strong>Demenz</strong>erkrankungen zeigen in den verschiedenen Krankheitsphasen<br />
unterschiedliche Symptome, die beim einzelnen Menschen nicht alle<br />
zur gleichen Zeit und in gleicher Stärke auftreten.<br />
<strong>In</strong> der Anfangsphase ist vor allem das Gedächtnis betroffen, aber auch<br />
das örtliche und zeitliche Orientierungsvermögen. Fähigkeiten wie<br />
Schreiben und Rechnen, die Fähigkeit, Gegenstände zu erkennen, sowie<br />
Aufmerksamkeit und Urteilsvermögen können ebenfalls eingeschränkt<br />
sein.<br />
11
5 <strong>Demenz</strong> in den<br />
verschiedenen Phasen<br />
Wie verändert sich das Gedächtnis?<br />
Das Gedächtnis von Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>Demenz</strong> verändert sich nach<br />
einem bestimmten Muster. Das, was zuletzt erlernt oder erlebt wurde,<br />
verschwindet als erstes. Manche Menschen beschreiben es so:<br />
»Dass es kein Gestern mehr gibt.«<br />
Kurzzeitgedächtnis: <strong>In</strong> der frühen Phase der <strong>Demenz</strong> ist zunächst das<br />
Kurzzeitgedächtnis betroffen, <strong>mit</strong> dem das Lernvermögen eng verknüpft<br />
ist. Dabei spielen die Tagesform und die äußeren Bedingungen eine Rolle.<br />
Ausgeruht und stressfrei kann die erkrankte Person sich manchmal noch<br />
besser erinnern als in unruhigen und hektischen Momenten.<br />
Schwierig wird es für den erkrankten Menschen auch immer dann,<br />
wenn zu viele Reize aus der Umgebung auf ihn einströmen. Dann<br />
lassen seine Konzentrationsfähigkeit und sein Erinnerungsvermögen<br />
nach, weil er die verschiedenen Reize nicht mehr filtern kann. Diese<br />
Reize können vielfältig sein: neue Gesichter, Umgebungswechsel,<br />
fremde Geräusche, ein neues »unbekanntes« Kleidungsstück, laute<br />
Musik, zu viele Gegenstände auf dem Tisch usw.<br />
Das Tagebuch: Erst nach und nach erlöschen Erinnerungen an Ereignisse<br />
aus dem eigenen Leben wie Hochzeit, Reisen, Arbeit und Berufstätigkeit,<br />
also das, was Menschen erlebt haben, ihr persönliches Tagebuch.<br />
Dadurch kann es manchmal zu kuriosen und auch verletzenden<br />
Situationen kommen, wenn zum Beispiel jemand eine demenzkranke<br />
Frau nach dem Befinden ihres Ehemanns fragt und sie behauptet, nie<br />
geheiratet zu haben.<br />
12
Das Lexikon: Relativ lange bleibt die Erinnerung an erlerntes »gemeinsames«<br />
Wissen, das sogenannte »Lexikonwissen«, erhalten. Dieselbe<br />
Person, die sich an den aktuellen Besuch ihrer Kinder nicht erinnern<br />
kann, weiß immer noch, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist<br />
oder kann lange Gedichte auswendig aufsagen.<br />
Bedienungsanleitung: Erst sehr spät geht das Wissen um erlernte<br />
Abläufe wie Schwimmen, Radfahren und Tanzen verloren, sozusagen<br />
die »Bedienungsanleitung«.<br />
Die Sache <strong>mit</strong> dem Orientierungsvermögen<br />
Sehr früh im Krankheitsverlauf lässt das Orientierungsvermögen<br />
nach. Häufig ist die zeitliche Orientierung betroffen. Termine und Datum<br />
werden verwechselt, und das Gefühl für den Tagesrhythmus oder<br />
die Jahreszeiten geht nach und nach verloren.<br />
Da Zeit etwas sehr Abstraktes ist und sich stetig verändert, brauchen<br />
diese Menschen Orientierungspunkte wie eine gut sichtbare Uhr, die<br />
aktuelle Tageszeitung, einen gut lesbaren Kalender oder einen strukturierten<br />
Tagesplan <strong>mit</strong> festen Mahlzeiten.<br />
13
Auch Probleme <strong>mit</strong> der örtlichen Orientierung nehmen im Lauf der<br />
<strong>Demenz</strong> zu. Oft betrifft das zunächst nur neue Umgebungen, doch<br />
dann auch den eigenen Wohnort und die eigene Wohnung.<br />
Bekannte Wege werden häufig nicht mehr gefunden und Wege wie<br />
ins Schlafzimmer oder zur Toilette nicht mehr erkannt, was <strong>mit</strong> vielen<br />
Komplikationen im Alltag – für die Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> wie ihre<br />
Angehörigen – verbunden ist.<br />
Viele Menschen haben gerade auch im fortgeschrittenen Stadium der<br />
<strong>Demenz</strong> Probleme, sich im Raum zu orientieren und ihre Lage im Raum<br />
zu bestimmen, was häufiger zu Fehltritten und Stürzen führt.<br />
Überraschenderweise bleibt die Orientierung bzw. das Empfinden für<br />
die eigene Person trotz des Wegfallens der eigenen Lebenserinnerungen<br />
erhalten.<br />
Sprache im Alltag<br />
Bei der Sprache unterscheidet man zwischen Sprachvermögen und<br />
Sprachverständnis. Sprachvermögen bedeutet, dass jemand sprechen<br />
kann, also über einen entsprechenden Wortschatz verfügt und diesen<br />
adäquat anwendet. Sprachverständnis bedeutet, dass jemand die Worte<br />
und deren Sinn versteht.<br />
14
Sprachvermögen: Zu Beginn der Erkrankung funktioniert die Sprache<br />
noch relativ gut. Allerdings kann es schon in dieser Phase immer<br />
wieder zu Wortfindungsstörungen kommen. Die Sprache verarmt.<br />
Der Erkrankte sucht verzweifelt nach dem richtigen Wort oder ersetzt<br />
es durch ein scheinbar »falsches«. Oft sind es ähnliche Begriffe wie<br />
Äpfel und Birnen. Es können aber auch Ersatzbegriffe wie Hemd für<br />
Vorhang oder selbst erfundene Worte sein. Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
können sehr erfinderisch sein.<br />
Im Verlauf der <strong>Demenz</strong> wird dann der Wortschatz immer karger, der Erkrankte<br />
verliert schnell den roten Faden und kann auch einer Unterhaltung<br />
kaum noch folgen. <strong>In</strong> der Schlussphase kann er dann oft gar nicht<br />
mehr sprechen und verständigt sich eher durch kurze Lautäußerungen.<br />
Mit dem nachlassenden Sprachvermögen wird es für den Menschen <strong>mit</strong><br />
<strong>Demenz</strong> immer schwieriger, Gedankengänge zu formulieren und sich<br />
verständlich zu machen. Was für den Erkrankten in seiner Welt logisch<br />
erscheint, muss nicht zwangsläufig <strong>mit</strong> der Welt der anderen übereinstimmen.<br />
Das ist eine Herausforderung für alle Beteiligten und erfordert<br />
Geduld, Fingerspitzengefühl, Phantasie und auch eine Prise Humor.<br />
Sprachverständnis: Was viele Menschen irritiert ist, wenn ein Mensch<br />
<strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> einen Text oder eine Beschriftung laut vorlesen kann, aber<br />
das Gelesene nicht versteht. Gleiches kann bei gesprochenen Anweisungen<br />
passieren. Er wiederholt, was gesagt wurde, kann es aber nicht<br />
umsetzen.<br />
15
Was tun, wenn die Worte ausbleiben?<br />
Menschliche Begegnung findet auch ohne Worte statt. Wir erleben das auch<br />
im »normalen Alltag«, zum Beispiel wenn wir auf Menschen treffen, deren<br />
Sprache – wie Chinesisch oder Japanisch – wir nicht sprechen und verstehen.<br />
Wir reagieren dann verstärkt auf die Lautstärke, den Klang der Stimme,<br />
darauf, wie etwas gesprochen wird (freundlich, lobend, traurig, rügend,<br />
bedrohlich, usw.), auf den Gesichtsausdruck (lächelnd, weinend, böse<br />
schauend, usw.), auf den Blickkontakt, auf Gesten, Körperhaltung und<br />
Berührung oder das äußere Erscheinungsbild des Gegenübers.<br />
16
Was geht wie? Und was ist was? –<br />
Alltägliche Verrichtungen<br />
Auch weitere <strong>Demenz</strong> bedingte Einschränkungen sind für die Umgebung<br />
oft nur schwer nachvollziehbar: plötzlich weiß jemand nicht (mehr),<br />
was er wie tun soll (Apraxie) oder erkennt etwas nicht (mehr) (Agnosie).<br />
Hier einige Beispiele:<br />
→ Selbständiges Anziehen von Kleidungsstücken, bisher kein Problem,<br />
geht nicht mehr so ohne weiteres. Das Nachthemd wird über die<br />
Bluse gestreift, der Ärmel nicht gefunden usw.<br />
→ Der Löffel wird nicht »erkannt« und die Suppe <strong>mit</strong> den Fingern »gegessen«.<br />
→ Glaskugeln oder scharfkantige Gegenstände werden für Bonbons<br />
gehalten und »verzehrt«.<br />
<strong>In</strong> dieser Situation sind Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> auf umsichtige Helferinnen<br />
und Helfer angewiesen, die ihnen zuarbeiten, ohne ihnen die Dinge<br />
aus der Hand zu nehmen oder sie für das Misslingen zu rügen. Denn<br />
das wird trotz fortschreitender <strong>Demenz</strong>erkrankung von den Menschen<br />
gespürt und wahrgenommen.<br />
Meist führt es dazu, dass sie entweder aggressiv werden oder sich zurückziehen<br />
und nichts mehr tun oder auch weggehen. Das ist mehr als kontraproduktiv,<br />
denn je weniger eine Fähigkeit genutzt und trainiert wird, um so<br />
schneller verschwindet sie endgültig. Der Verlauf der <strong>Demenz</strong>erkrankung<br />
wird letztlich dadurch beschleunigt.<br />
<strong>In</strong> der späten Phase der <strong>Demenz</strong> ist dann auch das Gehvermögen beeinflusst.<br />
Meist sind die Menschen bettlägerig und rund um die Uhr auf<br />
Hilfe angewiesen.<br />
17
Schluckschwierigkeiten und andere Probleme kommen hinzu, die gerade<br />
für die Angehörigen oft nur schwer zu ertragen sind. Sie brauchen<br />
jetzt endgültig das Gefühl, Unterstützung zu erhalten und von anderen<br />
getragen zu werden.<br />
Übersicht: Verlauf der <strong>Demenz</strong>erkrankung<br />
<strong>In</strong> der Phase der leichten <strong>Demenz</strong> sind alltägliche Verrichtungen<br />
und soziale Aktivitäten bereits deutlich beeinträchtigt, aber<br />
die Betroffenen können meist Vieles noch selbständig erledigen<br />
und im Allgemeinen noch unabhängig und allein in der eigenen<br />
Wohnung leben.<br />
<strong>In</strong> der <strong>mit</strong>telschweren <strong>Demenz</strong> kommen Verhaltenssymptome<br />
hinzu. Eine selbständige Lebensführung ist nur noch <strong>mit</strong> Schwierigkeiten<br />
möglich und ein gewisses Maß an Unterstützung und<br />
Begleitung im Alltag erforderlich.<br />
<strong>In</strong> der Phase der schweren <strong>Demenz</strong> sind die Betroffenen rund um<br />
die Uhr auf Hilfe angewiesen und müssen kontinuierlich begleitet<br />
werden.<br />
18
Welche Symptome können noch bei einer<br />
<strong>Demenz</strong> auftreten?<br />
Es gibt eine Reihe weiterer Symptome, die vor allem in der fortschreitenden<br />
<strong>Demenz</strong> auftreten und unter »herausforderndem Verhalten«<br />
zusammengefasst werden. <strong>In</strong> der Regel haben sie eine beeinflussbare<br />
Ursache. Gelingt es, die Ursache zu erkennen und auszuschalten, kann<br />
den Menschen geholfen werden.<br />
→ Depressionen können in jeder Phase der <strong>Demenz</strong> auftreten. Bei<br />
fortschreitender Krankheit ist es allerdings immer schwerer, eine<br />
Depression zu erkennen.<br />
→ Angstzustände können Zeichen einer Depression sein. Sicherheit<br />
und Geborgenheit sind ein guter Weg, den Erkrankten zu helfen.<br />
→ Aggressivität, ob <strong>mit</strong> Worten oder körperlich, wird häufiger beobachtet<br />
und hat verschiedene Ursachen. Dazu gehören Stress, fehlende<br />
Krankheitseinsicht, Frustration, Depressionen, Revierverletzungen<br />
durch Angehörige oder Pflegende und, was oft unterschätzt<br />
wird, nicht erkannte bzw. nicht ausreichend behandelte Schmerzen.<br />
→ Wahnvorstellungen und Halluzinationen stellen die Umgebung<br />
vor große Herausforderungen. Wenn zum Beispiel jemand fest davon<br />
überzeugt ist, dass Dinge, die er selbst verlegt hat und nicht<br />
wiederfindet, von anderen gestohlen wurden, oder er die Menschen<br />
im Fernsehen als real im eigenen Zimmer wahrnimmt. Das kann<br />
»Stress pur« für Alle bedeuten.<br />
→ Weitere Verhaltensauffälligkeiten wie Umherwandern, Fummeln<br />
und Nesteln, ständige Wiederholungen, Rufen und Schreien können<br />
für die Umgebung sehr aufreibend und zehrend werden. Auch<br />
hier gilt es, den Auslöser zu erkennen und zu beheben.<br />
19
Gibt es auch körperliche Symptome?<br />
Im Laufe der <strong>Demenz</strong> kommen körperliche Symptome hinzu, die sowohl<br />
durch den Abbauprozess im Gehirn bedingt sind als auch durch<br />
andere Ereignisse verursacht sein können.<br />
Die Urin-<strong>In</strong>kontinenz kann bereits in der milden Phase beginnen, tritt aber<br />
häufiger in der <strong>mit</strong>telschweren Phase und fast immer in der schweren Phase<br />
auf. Der Erkrankte spürt möglicherweise noch die gefüllte Blase, findet<br />
aber nicht schnell genug zur Toilette oder weiß nicht mehr, was dieser Reiz<br />
bedeutet und sucht erst gar nicht nach der Toilette. Hier können eine gute<br />
Ausschilderung und das regelmäßige Begleiten zur Toilette hilfreich sein.<br />
Weitere körperliche Symptome wie Steifigkeit und Muskelkrämpfe<br />
können sehr schmerzhaft sein. <strong>In</strong> der schweren Phase kann es auch zu<br />
Kontrakturen und unfreiwilligen Muskelzuckungen kommen.<br />
<strong>Demenz</strong> und Ernährung<br />
Im Laufe der <strong>Demenz</strong> treten nach und nach Probleme <strong>mit</strong> der Nahrungsaufnahme<br />
auf. Sei es, weil der Erkrankte das Essen als solches<br />
nicht mehr erkennt oder bisher Bevorzugtes nicht mehr mag. Sei es,<br />
weil er <strong>mit</strong> dem Besteck nicht zurechtkommt, oder auch, weil er durch<br />
die Umgebung gestört wird und sich aufs Essen nicht konzentrieren<br />
kann. <strong>In</strong> der schweren Phase der <strong>Demenz</strong> kommen dann zusätzlich<br />
Probleme beim Kauen und Schluckstörungen zum Tragen. Eine häufige<br />
Todesursache in der schweren <strong>Demenz</strong> ist die sogenannte Aspirationspneumonie,<br />
also eine Lungenentzündung auf Grund von Verschlucken.<br />
20
6 Wie können Menschen <strong>mit</strong><br />
<strong>Demenz</strong> angemessen unterstützt<br />
werden?<br />
Menschen <strong>mit</strong> einer <strong>Demenz</strong> benötigen Menschen, die sich für sie verantwortlich<br />
fühlen und aufmerksam auf ihre Bedürfnisse eingehen.<br />
Trotz aller Einschränkungen bleibt ihr Bewusstsein bis in die letzten<br />
Phasen der <strong>Demenz</strong> erhalten, was ihre Begleitenden vor die große<br />
Heraus forderung stellt, jenseits von gesprochener Sprache Wege zu<br />
ihnen zu finden.<br />
Das kann gelingen, wenn die Begleitenden<br />
→ die Zeichen wahrnehmen und verstehen können,<br />
→ Äußerungen, Gewohnheiten und Signale berücksichtigen,<br />
→ das Lebensumfeld nach den jeweiligen Bedürfnissen und Fähigkeiten<br />
gestalten.<br />
Das geht nur <strong>mit</strong> genauem Hinschauen und Zuhören. Oberstes Prinzip<br />
ist, dass nichts ohne die wahrnehmbare Zustimmung der Menschen geschieht.<br />
Auch die Bezugspersonen sollten stets <strong>mit</strong> einbezogen werden.<br />
Wie kann Nähe entstehen?<br />
Viele, auch hochaltrige Menschen sehnen sich nach Nähe, Berührtwerden<br />
und Hautkontakt. Oft wissen die Helfer und Angehörigen nicht so<br />
recht, was sie anbieten können oder auch zulassen wollen.<br />
Eine gute Möglichkeit ist Silviahemmet Touch (siehe Anhang). Es ist<br />
einfach zu erlernen und überall anwendbar.<br />
21
7 Was braucht der <strong>sterben</strong>de<br />
Mensch <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong>?<br />
Da die <strong>Demenz</strong> vor allem eine Erkrankung des höheren Lebensalters<br />
ist, erleben nicht alle betroffenen Personen das volle Krankheitsbild,<br />
sondern ver<strong>sterben</strong> im frühen oder <strong>mit</strong>tleren Stadium der <strong>Demenz</strong>. Das<br />
hat Auswirkungen auf die Form der Sterbebegleitung.<br />
Während bei erhaltener Sprache <strong>mit</strong> den Sterbenden oft noch über ihre<br />
Anliegen, ihre Sorgen und Ängste gesprochen werden kann, ist die Situation<br />
in der schweren <strong>Demenz</strong>phase eine deutlich andere. Anders als<br />
heute vielfach noch zu lesen ist, sind aber auch Menschen in der späten<br />
Phase noch »ansprechbar«. Es liegt an ihren Begleitenden, den Kontakt<br />
zu ihnen aufzunehmen und ihnen ausreichend Zeit dafür einzuräumen.<br />
Denn wenn das Gehirn »auf slow motion schaltet«, also eine extrem<br />
verlängerte Reaktionszeit hat, kann das in der Begegnung nur durch<br />
ein geduldiges Zuwarten kompensiert werden.<br />
Ich vergesse<br />
dich nicht<br />
Bei denjenigen, die Zeit ihres Lebens durch<br />
ihren Glauben gebunden waren, bietet<br />
es sich an, <strong>mit</strong> ihnen vertraute Gebete zu<br />
sprechen und Lieder zu singen – wenn<br />
möglich unter Einbeziehung der Angehörigen.<br />
Hilfreich dafür ist unter anderem<br />
das vom Geistlichen Zentrum und<br />
der Malteser Fachstelle <strong>Demenz</strong> herausgegebene<br />
Heft »Ich vergesse dich nicht«.<br />
Menschen im Glauben<br />
begleiten<br />
22
Eine oft schwierig zu beantwortende Frage bei der Begleitung von Menschen<br />
<strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> ist, wann bei ihnen die letzte Lebensphase und im<br />
engeren Sinn die Sterbephase beginnt. Anders als in anderen Bereichen<br />
ist hier die Forschungslage noch sehr dünn. Übereinstimmung besteht<br />
aber darin, dass in der letzten Lebensphase häufig <strong>Demenz</strong>symptome<br />
wie Orientierungsstörungen, Verwirrtheits- und Angstzustände und<br />
Agitationen verstärkt zu beobachten sind, die wiederum aber auch typisch<br />
für den »normalen Sterbeprozess« sind, was die Unterscheidung<br />
zwischen einem <strong>Demenz</strong>symptom und dem Hinweis auf den Sterbeprozess<br />
deutlich erschwert. Deshalb sind diejenigen, die Menschen <strong>mit</strong><br />
<strong>Demenz</strong> begleiten, in diesen Phasen besonders in ihrer Aufmerksamkeit<br />
gefordert.<br />
Eine große Herausforderung ist eine adäquate Schmerzbehandlung.<br />
Während Menschen <strong>mit</strong> leichter bis <strong>mit</strong>telschwerer <strong>Demenz</strong> ihre<br />
Schmerzen meist noch relativ gut verdeutlichen können, sind Menschen<br />
in der schweren <strong>Demenz</strong>phase zu solchen Angaben nicht mehr fähig.<br />
Für die Schmerzerfassung bzw. Schmerzeinschätzung gibt es deshalb<br />
verschiedene standardisierte <strong>In</strong>strumente. Bekannt ist u.a. BESD (Beurteilung<br />
von Schmerz bei <strong>Demenz</strong>), ein Verfahren, das Verhalten in den<br />
fünf Kategorien Atmung, Lautäußerung, Gesichtsausdruck, Körpersprache<br />
und Trost beobachtet und anhand einer Skala bewertet.<br />
Vor allem von den Angehörigen werden die in der schweren <strong>Demenz</strong><br />
auftretenden Schluckstörungen oft problematisch erlebt. Mit abnehmender<br />
Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme wird dann auch immer<br />
wieder die Frage der Nahrungssonde (PEG) gestellt.<br />
23
Wenn nicht andere Gründe wie Apraxie, Schmerzen oder ähnliches die<br />
Ursache der reduzierten Nahrungsaufnahme sind, sondern die Schluckstörung<br />
Ausdruck des Endstadiums der <strong>Demenz</strong>erkrankung ist, wird<br />
durch eine Nahrungssonde weder eine Aspirationspneumonie (Lungenentzündung<br />
durch Verschlucken) wirksam verhindert, noch hat das Anlegen<br />
der Sonde Einfluss auf eine Verbesserung der Überlebensrate, weshalb<br />
in dieser Phase auch keine Nahrungssonde mehr gelegt werden sollte.<br />
Wer sorgt sich um den <strong>sterben</strong>den Menschen?<br />
Wenn es in der Endphase zu krisenhaften Situationen kommt, wird<br />
nicht selten die Krankenhauseinweisung diskutiert. Neben einer Klärung<br />
der Frage, ob diese Einweisung medizinisch notwendig ist, sollte<br />
bedacht werden, dass eine Einweisung ins Krankenhaus für Menschen<br />
<strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> problematisch ist, denn oft reagieren sie auf die fremde<br />
Umgebung <strong>mit</strong> allen belastenden Eingriffen <strong>mit</strong> zunehmender Unruhe<br />
und Verschlechterung ihrer Gesamtsituation.<br />
Hier ist es sinnvoll, <strong>mit</strong> allen Beteiligten inklusive Hausarzt und<br />
SAPV-Dienst zu versuchen, eine individuelle Begleitung in der gewohnten<br />
Umgebung und <strong>mit</strong> vertrauten Personen zu gewährleisten.<br />
Auf was kommt es am Ende an?<br />
→ Versorgung am vertrauten »Wunsch-Ort«<br />
→ die Chance, Wünsche und Prioritäten zu »zeigen«<br />
→ ausreichend Zeit, auch um sich zu verabschieden<br />
→ die Anwesenheit von Nahestehenden<br />
→ die Wahrnehmung existenzieller, spiritueller/religiöser Bedürfnisse<br />
→ Erhalt von <strong>Würde</strong> und <strong>In</strong>tegrität<br />
→ Symptomlinderung<br />
24
8 Der lange Abschied – Was benötigen<br />
die Angehörigen?<br />
Für viele Angehörige setzt <strong>mit</strong> der Diagnose <strong>Demenz</strong> ein langer Abschied<br />
ein. Sie wissen in aller Regel um die Unumkehrbarkeit des<br />
Krankheitsbildes und erleben ein stetiges Nachlassen der Möglichkeiten<br />
und einen Verlust an alltäglichen Ressourcen. Sie müssen sich<br />
auf immer neue Situationen einstellen, erleben krisenhafte Zeiten und<br />
übernehmen nach und nach pflegerische Aufgaben bis an den Rand<br />
der persönlichen Erschöpfung und Belastbarkeit.<br />
Es dauert manchmal lange, bis sie die Krankheit akzeptieren. Manche<br />
schaffen es nie. Der Familienverbund wird auf die Probe gestellt, alte<br />
Konflikte brechen auf und neue Verantwortungen entstehen.<br />
Viele Angehörige vereinsamen durch die täglichen Herausforderungen –<br />
weil die erkrankte Person fremde Hilfe ablehnt, weil Hilfsangebote nicht<br />
greifen oder nicht angenommen werden, Freunde wegbleiben und die<br />
Angehörigen die Versorgung und oft sogar die Pflege allein übernehmen.<br />
Der Übergang in eine stationäre Einrichtung als »letztes Mittel, wenn<br />
nichts mehr geht«, ist dann oft neben möglichen finanziellen Problemen<br />
<strong>mit</strong> Schuld- und Versagensgefühlen verbunden. So werden die<br />
Angehörigen selbst zu Hilfebedürftigen.<br />
25
Was wünschen sich die Angehörigen?<br />
Gerade in der letzten Phase, wenn oft nicht absehbar ist, wie viel Zeit<br />
noch vergehen wird, wünschen sich viele Angehörige, jemanden zu<br />
finden, der sich Zeit für sie nimmt, ihnen zuhört und ihnen über ihre<br />
Verunsicherung hinweghilft.<br />
Sie sind Experten für den Erkrankten, denn sie sind schon lange <strong>mit</strong><br />
ihm verbunden. Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit <strong>mit</strong> allen<br />
Höhen und Tiefen. Gleichzeitig müssen sie loslassen und Abschied<br />
von einer großen Verantwortung, einer krisenhaften Zeit nehmen.<br />
Wenn Angehörige gefragt werden, was sie sich für den Sterbenden<br />
wünschen, dann ist es meist: »nicht allein sein, nicht leiden müssen<br />
und friedlich in der vertrauten Umgebung einschlafen«, wobei die<br />
vertraute Umgebung sowohl die eigene Wohnung als auch das vertraute<br />
Zimmer im Pflegeheim sein kann.<br />
Wie können Angehörige begleitet werden?<br />
<strong>In</strong> der heutigen Zeit ist vielen Menschen der natürliche Sterbeprozess<br />
nicht mehr vertraut. Deshalb ist es umso wichtiger, die Angehörigen in<br />
dieser Phase zu begleiten, sie zu ermutigen den Prozess auszuhalten,<br />
ihnen zu erklären, dass Sterben Zeit braucht, dass alles getan wird<br />
gegen Schmerzen, dass das Einstellen von Essen und Trinken zum<br />
Sterbeprozess dazu gehört, und sie zu ermutigen, dem Sterbenden<br />
Beistand zu leisten, möglicherweise auch nachts, und dafür die Voraussetzungen<br />
zu schaffen.<br />
26
Wenn der Eindruck entsteht, dass der Sterbende in seiner <strong>Demenz</strong><br />
nicht »<strong>mit</strong>bekommt« wie es um ihn steht, dann wird es bedeutsam darauf<br />
hinzuweisen, dass <strong>Demenz</strong>kranke ganz sensibel auf Stimmungen<br />
und Nähe reagieren, auch wenn sie es nicht mehr so deutlich zeigen<br />
können, dass auch sie Angst haben und dass die Nähe vertrauter Personen<br />
sie stärkt und durch ihr Leiden trägt.<br />
Manche Angehörigen sind froh, wenn sie in dieser Phase spirituell<br />
begleitet werden. Das kann der Gemeindepfarrer sein, der Hausgeistliche,<br />
aber auch die Pflegekraft oder die Hospizhelferin, die sich Zeit<br />
für ein Gebet oder ein Gespräch über das Leben nach dem Tod nimmt.<br />
Wichtig ist, dass ihre Gefühle zugelassen und wahrgenommen werden<br />
und sie die Freiheit bekommen, den Sterbenden gehen zu lassen.<br />
27
9 Verlust, Einsamkeit, Trauer –<br />
Was bleibt danach?<br />
Selbst wenn der Tod nicht unerwartet eintritt, ist er durch seine Endgültigkeit<br />
doch schmerzhaft und nicht ohne weiteres annehmbar. Gerade<br />
wenn eine <strong>Demenz</strong>erkrankung einen langjährigen Verlauf hatte,<br />
bleiben den zurückgebliebenen Angehörigen nicht nur gute Momente<br />
in Erinnerung, und ein Rückblick ohne Reue kann dadurch erst mal<br />
verstellt sein.<br />
So können Trauer und gleichzeitig Erleichterung das Gefühlsleben bestimmen.<br />
Erleichterung, weil das Leiden vorüber ist, und Trauer über<br />
nicht genutzte Zeit, über unausgesprochene Worte, Missverständnisse,<br />
die nicht mehr geklärt werden konnten, und verpasste Gelegenheiten,<br />
als die <strong>Demenz</strong> noch nicht den Alltag bestimmt hat.<br />
Da kann es hilfreich sein, wenn jemand sagt: »Es ist okay, wenn Du<br />
traurig, vielleicht auch wütend bist, weil Du das <strong>mit</strong> der <strong>Demenz</strong> als<br />
ungerecht empfindest. Lass deine Gefühle zu. Sprich darüber, auch über<br />
das, was Du vermeintlich nicht richtig gelöst hast. Sag, was Dich bewegt«.<br />
Hilfreich kann es auch sein, den Blick auf die Zukunft zu richten.<br />
Gerade, wenn in den vergangenen Monaten oder Jahren durch die Sorge<br />
um den Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> kein eigenes Leben mehr möglich<br />
war, ist es umso bedeutsamer, dass jemand da ist, der die Verbindung<br />
hält, den Trauernden Perspektiven aufzeigt und sie auf ihrem Weg<br />
zurück ins Leben begleitet.<br />
Weiterführende Lektüre: Malteser Deutschland (Hrsg.) Mit <strong>Demenz</strong><br />
leben – Den Alltag gestalten, TRIAS Verlag<br />
28
10 Anhang<br />
Reflexion<br />
Meine eigenen Erfahrungen in der Begleitung von<br />
Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />
Überlegen Sie einen Moment, ob und welche Erfahrungen Sie bereits<br />
zu diesem Thema gemacht haben, sei es in Ihrem haupt- oder ehrenamtlichen<br />
Arbeitsfeld, sei es im Freundes- oder Familienkreis bzw.<br />
was Ihnen dazu berichtet wurde. Fassen Sie das Ganze stichwortartig<br />
zusammen und notieren Sie dabei auch Ihre Gefühle, mögliche Bedenken,<br />
Ängste und auch Grenzen.<br />
29
Fallbesprechung<br />
Beispiele aus der Praxis<br />
Bei der Analyse eine konkreten Falls kommt es darauf an, verschiedene<br />
Aspekte ins Auge zu fassen, die bei der Begleitung von Menschen<br />
<strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> und auch in einer Besprechung im Team relevant<br />
sind. Dabei geht es zum einen um die aktuelle Situation, zum<br />
anderen aber auch um mögliche weiterführende <strong>In</strong>formationen,<br />
die in der Begleitung bedeutsam sind. Eine hilfreiche Grundlage<br />
ist dabei die Bearbeitung nach dem Palliative Care Prinzip auf Basis<br />
der vier Säulen Symptomkontrolle, Kommunikation & Begegnung,<br />
Team, Angehörige anhand der folgenden Leitfragen:<br />
1. Was wissen Sie über die erkrankte Person und ihre <strong>Demenz</strong>?<br />
2. Was ist die Herausforderung in der aktuellen Situation?<br />
3. Welche Symptome (Körperhaltung, Stimme, Verhalten, usw.)<br />
nehmen Sie wahr?<br />
4. Welche Ressourcen sind vorhanden?<br />
5. Welche Kommunikation/Reaktion/Ansprache (verbal/nonverbal)<br />
ist möglich/erwünscht?<br />
6. Welche Angehörigen sind beteiligt bzw. einzubeziehen?<br />
7. Mit welchen Herausforderungen/Problemen sehen Sie sich<br />
konfrontiert?<br />
8. Was sind Ihre Bedenken?<br />
9. Wen würden Sie gerne aus dem Team einbeziehen? Oder von<br />
außen hinzuziehen?<br />
10. Was können/wollen Sie tun?<br />
30
1 Der Wunsch, zuhause zu <strong>sterben</strong><br />
Moritz Z., 78 Jahre, hat Zeit seines Lebens auf seinem Hof gelebt und<br />
die Felder und das Vieh bestellt. Seit einiger Zeit zeigen sich Zeichen<br />
einer beginnenden <strong>Demenz</strong>. Er vergisst Termine, kauft wahllos Viehfutter<br />
ein und steht manchmal ratlos vor der Melkmaschine, weil er<br />
nicht mehr weiß, wie er sie bedienen soll.<br />
Ein <strong>Demenz</strong>-Screening ergibt die Diagnose Alzheimer <strong>Demenz</strong>. Seine<br />
Frau Maria Z., 69 Jahre, ist verzweifelt. Wer soll den Hof zukünftig<br />
versorgen? Seine Söhne schlagen vor, ihn ins Heim zu bringen, den<br />
Hof zu verkaufen und von dem Erlös die Pflegekosten zu bezahlen.<br />
Er selbst möchte am liebsten auf dem Hof bleiben so lange es geht<br />
und dort <strong>sterben</strong>, bevor er ins Heim muss. Maria Z. will auf keinen<br />
Fall <strong>mit</strong> ihrem Mann in ein Pflegeheim, fühlt sich aber auch bei dem<br />
Gedanken überfordert, ihn allein zu versorgen. Die Enkel erklären sich<br />
für nicht zuständig. Maria Z. ist ratlos, zumal ihr der Hausarzt nicht<br />
sagen kann, wie lange Moritz Z. <strong>mit</strong> seiner <strong>Demenz</strong> leben wird.<br />
31
2 Die Klärung letzter Dinge<br />
Franz L., 87 Jahre, bewohnt <strong>mit</strong> seiner 82-jährigen Ehefrau Luise L. ein<br />
kleines Eigenheim. <strong>In</strong> ihrer über 40-jährigen Ehe hat er sich stets um<br />
die Finanzen und Verträge gekümmert, die Dinge um Haus und Garten<br />
geregelt, alle Reparaturen durchgeführt und neben seiner beruflichen<br />
Tätigkeit als Klempner noch aktiv in der Freiwilligen Feuerwehr <strong>mit</strong>gewirkt.<br />
Vor zwei Jahren sind ein langsam fortschreitender Prostatakrebs und<br />
eine beginnende <strong>Demenz</strong>erkrankung bei ihm festgestellt worden.<br />
Neuerdings wird er in Stress-Situationen schnell laut und aggressiv,<br />
verdächtigt seine Frau, hinter seinem Rücken <strong>mit</strong> dem Arzt zu sprechen<br />
und seine Termine »immer durcheinander zu werfen«. Auch die<br />
Tumorerkrankung bereitet ihm zunehmend Probleme.<br />
Sein Hausarzt hat seine Frau nun informiert, dass die Tumorerkrankung<br />
so weit fortgeschritten ist, dass er möglicherweise nur noch drei<br />
Monate zu leben hat. Er empfiehlt, <strong>mit</strong> Franz L. nach seinen Möglichkeiten<br />
»die letzten Dinge zu klären«.<br />
Luise L. ist <strong>mit</strong> dieser Situation überfordert. Sie weiß nicht, wie sie <strong>mit</strong><br />
ihrem Mann ins Gespräch kommen soll. Was ihr auffällt ist, dass Franz<br />
anders als bisher häufiger in sich gekehrt ist oder aus unerfindlichen<br />
Gründen leise weint.<br />
32
3 Plötzlich war alles anders<br />
Seit dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren lebt Maria B. allein in<br />
ihrem Haus. Sie ist in der Nachbarschaft sehr beliebt, kümmert sie sich<br />
doch bei Bedarf um die Belange der Nachbarn, wenn diese in Urlaub<br />
fahren. Auch »bebackt« sie ihre Nachbarn an kirchlichen Festtagen.<br />
<strong>In</strong> diesem Jahr ist alles anders. Die Plätzchen und Kuchen von Maria B.<br />
sind ungenießbar. Ihre Körperpflege lässt immer mehr zu wünschen<br />
übrig. Ständig ist sie <strong>mit</strong> fettigen Haaren und verschmutzter Kleidung<br />
unterwegs – oft auch nachts. Allerdings findet sie immer noch den Weg<br />
nach Hause.<br />
Als sie eines Morgens nicht auftaucht und auch über den ganzen Tag<br />
nicht zu sehen ist, rufen die Nachbarn Polizei und Schlüsseldienst.<br />
Diese finden Maria B. im Eingangsbereich auf dem Boden liegend vor.<br />
Der Krankenwagen bringt sie ins nächste Krankenhaus, wo sie drei<br />
Wochen später infolge eines Herzversagens verstirbt.<br />
33
4 Ein Versprechen für die Ewigkeit<br />
Karl L., 85 Jahre, lebt <strong>mit</strong> seiner Frau Regina L., 83 Jahre, in einer Seniorenwohnanlage.<br />
Karl ist von jeher ein ängstlicher Typ, der auf fremde<br />
Reize <strong>mit</strong> Schreien oder aggressiven Handlungen reagiert.<br />
Seit zehn Jahren ist er an der Alzheimer <strong>Demenz</strong> erkrankt. Seit etwa<br />
einem Jahr ist er bettlägerig und wird von seiner Frau versorgt. Als<br />
er seine <strong>Demenz</strong>-Diagnose bekam, hat er seiner Frau das Versprechen<br />
abgenommen, bei ihm zu bleiben und ihn niemals allein zu lassen.<br />
Die Tage <strong>mit</strong> ihm sind eine große Belastung für Regina L. Sobald sie<br />
nicht in seiner Nähe ist, wird er unruhig und schreit »Hilfe«, auch<br />
nachts. Regina L. ist durch den Schlafentzug <strong>mit</strong>tlerweile am Rand<br />
ihrer Kräfte und vollkommen erschöpft. Sie will aber immer noch<br />
keine Unterstützung annehmen, um ihren Mann nicht »allein unter<br />
Fremden zu lassen«.<br />
34
5 Rückzug aus der Welt<br />
Gabriele M., 69 Jahre, alleinstehend, war lange als Krankenschwester<br />
tätig. Sie ist eine starke Raucherin und hat enorme Blutdruckprobleme.<br />
Da sie wegen ihrer fortschreitenden gefäßbedingten <strong>Demenz</strong> nicht<br />
mehr allein leben kann, wohnt sie seit 12 Monaten in einer Altenhilfeeinrichtung.<br />
Sie spricht kaum, meist nur in Zweiwortsätzen, bildet gelegentlich auch<br />
neue Begriffe und nimmt nur <strong>mit</strong> wenigen Personen Kontakt auf. Meist<br />
läuft sie während des Tages stundenlang über den Wohnbereich und isst<br />
oft auch nur »unterwegs«. Die Körperpflege lässt sie nur widerwillig über<br />
sich ergehen. Alle zwei Stunden begleitet eine Mitarbeiterin sie für eine<br />
Rauchpause auf den Balkon des Wohnbereichs.<br />
Seit einigen Tage sitzt sie immer wieder fast apathisch über lange Zeit<br />
vor ihrem Zimmer und murmelt leise vor sich hin. Sie lässt sich widerspruchlos<br />
versorgen, die Kleidung wechseln und duschen. Nur Essen und<br />
Trinken verweigert sie. Ihr Blick scheint wie nach innen gerichtet. Die<br />
Mitbewohner beobachten, wie sie wie in einem Schattenspiel »imaginär«<br />
immer wieder eine Zigarette auspackt, anzündet und zum Mund führt.<br />
Aktuell will sie auch nicht mehr aufstehen und ruft nach ihrer »Mama«.<br />
<strong>In</strong> der Nacht sitzt sie fortwährend auf der Bettkante und lässt sich<br />
von der Nachtschwester kaum beruhigen. Gegen Morgen verstirbt sie.<br />
35
6 Ohne Worte<br />
Hildegard S., 80 Jahre, leidet seit zehn Jahren an einer Alzheimer <strong>Demenz</strong>.<br />
Seit etwa einem Jahr ist sie nach einem längeren Krankenhausaufenthalt<br />
bettlägerig und verbringt täglich einige Stunden im Lagerungsrollstuhl.<br />
Sie nimmt – in der Regel zeitverzögert – Anteil an ihrer<br />
Umgebung und reagiert – mal <strong>mit</strong> einem kritischen Blick, mal lächelnd,<br />
mal traurig. Sie spricht aber nicht bzw. kann anscheinend nicht mehr<br />
sprechen.<br />
Seit drei Monaten hat sie Schwierigkeiten beim Schlucken und die Ernährung<br />
ist nur noch sehr eingeschränkt möglich. Jetzt ist sie wegen einer<br />
Aspirationspneumonie akut stationär aufgenommen worden. Sie ist<br />
kaum ansprechbar und kann selbst ihren Speichel nicht mehr schlucken.<br />
Zur Schmerzlinderung erhält sie Opioide, die behandelnden Ärzte haben<br />
jegliche orale Flüssigkeits- oder Nahrungsaufnahme abgesetzt und <strong>mit</strong><br />
der Familie die Situation besprochen.<br />
Hildegards Kinder sitzen abwechselnd an ihrem Bett und diskutieren<br />
ständig das weitere Vorgehen. Immer, wenn Hildegard die Augen öffnet,<br />
hoffen die jüngeren Geschwister auf Besserung und diskutieren <strong>mit</strong><br />
dem Arzt das Anlegen einer PEG, um ihre Mutter nicht verhungern zu<br />
lassen. Die älteste Tochter, die gleichzeitig die Betreuung hat, ist hin- und<br />
hergerissen.<br />
Schließlich schläft Hildegard S. friedlich ein, als nur ihre älteste Tochter<br />
an ihrem Bett sitzt.<br />
36
7 Zerreißprobe für die Familie<br />
Hedwig R., 90 Jahre, lebt im Haus ihrer Tochter Karin H., die eine kleine<br />
Boutique in der Nähe betreibt. Karins Töchter studieren außerhalb,<br />
kommen aber am Wochenende immer noch nach Hause. Ihr Mann ist<br />
Polizist <strong>mit</strong> unterschiedlichen Dienstzeiten. Während Karins Abwesenheit<br />
versorgen Betreuungskräfte und ein Pflegedienst Hedwig R.<br />
Hedwig R. ist noch gut zu Fuß, aber durch ihre <strong>Demenz</strong> stark desorientiert,<br />
was auch im Haus immer wieder zu Konflikten führt, wenn sie z.B.<br />
das Zimmer der Enkelinnen kurzerhand zu ihrem erklärt.<br />
Die größte Herausforderung für die Familie und die Betreuungskräfte<br />
sind aber ihre <strong>In</strong>kontinenz und das Entleeren der Blase überall dort, wo<br />
sie gerade steht. Neben der starken Geruchsbelästigung ist die ganze<br />
Familie <strong>mit</strong>tlerweile sehr entnervt, weil sie sich spontan nirgendwo mehr<br />
hinsetzen kann.<br />
Als nach einem Schlaganfall Hedwig R.‘s Pflegebedarf steigt und der<br />
Hausarzt die Familie darauf vorbereitet, dass es möglicherweise zu Ende<br />
gehen könnte, entbrennt ein Streit zwischen allen Beteiligten. Während<br />
der Schwiegersohn viel Zeit bei Hedwig R. verbringt und die Pflegekräfte<br />
unterstützt, ist Karin H. ganz unglücklich. Sie fordert den Hausarzt auf:<br />
»Lassen Sie das endlich zu Ende gehen.« Und zu ihrem Mann sagt sie:<br />
»Ich wollte sie wäre tot.«<br />
37
8 Ein letztes Zeichen<br />
Fritz W., 92 Jahre, verwitwet, liegt nur noch apathisch in seinem Bett<br />
und zeigt keine Reaktion, wenn er versorgt wird. Sein Sohn kommt ihn<br />
nicht mehr besuchen, »weil er eh nichts <strong>mit</strong>bekommt«. Seine Tochter,<br />
die ihn gemeinsam <strong>mit</strong> dem häuslichen Pflegedienst versorgt, hängt<br />
sehr an ihm und hofft, dass er spürt, dass sie da ist.<br />
Als alles auf ein nahes Ende hindeutet, bittet sie ihren Vater um ein<br />
letztes Zeichen: »Papa hörst du mich? Zeig mir doch, dass du da bist.«<br />
Plötzlich fängt er an zu weinen.<br />
38
Silviahemmet Touch<br />
Leben <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> – entspannen und wohlfühlen<br />
Wie alle anderen haben auch Menschen <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> das Bedürfnis<br />
nach Nähe, Geborgenheit und Berührung. Sie fühlen sich dadurch angenommen,<br />
geliebt und getröstet.<br />
Eine vorsichtige und sensible Berührung kann die oftmals bei <strong>Demenz</strong><br />
beobachtete Ruhelosigkeit verringern, die Körperwahrnehmung verbessern,<br />
Ängste abbauen und Vertrauen schaffen, die Zusammengehörigkeit<br />
stärken und Kommunikation ohne Worte ermöglichen.<br />
Silviahemmet Touch (engl.: Berührung) ist eine besondere Form der Berührung<br />
der Hände, des Rückens oder der Füße, die dem Gebenden wie<br />
dem Empfangenden Ruhe und Wohlgefühl ver<strong>mit</strong>telt. Silviahemmet<br />
Touch kann jeder anwenden. Wichtig ist nur, den richtigen Zeitpunkt zu<br />
wählen und bei einer Berührung der Füße – die Methode orientiert sich<br />
an der derjenigen für die Hände – besonders sensibel vorzugehen.<br />
Zur Durchführung von Silviahemmet Touch benötigen Sie eine fetthaltige<br />
Hautcreme oder Öl. Es reicht normales Olivenöl. Wichtig ist,<br />
dass der Duft der Creme oder des Öls den Erkrankten nicht irritiert.<br />
Und so geht‘s:<br />
→ Setzen Sie sich dem Erkrankten gegenüber.<br />
→ Nehmen Sie Blickkontakt auf.<br />
→ Wählen Sie eine ruhige Hintergrundmusik.<br />
→ Sorgen Sie für eine angenehme Raumtemperatur.<br />
→ Erklären Sie, was geschehen wird.<br />
→ Schließen Sie Störungen aus.<br />
→ Dann können Sie starten.<br />
39
Hände<br />
→ Während der Sitzung die Hände warm halten und die Hand,<br />
die nicht behandelt wird, in ein Handtuch einschlagen.<br />
→ Öl in Reichweite halten.<br />
→ Das Öl in die eigene Handfläche geben, <strong>mit</strong> der anderen Hand<br />
verteilen, anwärmen, dann <strong>mit</strong> der Berührung beginnen.<br />
→ Die Berührung nicht unterbrechen!<br />
Die Hand des Erkrankten zwischen beide Hände nehmen<br />
und vom Gelenk zu den Fingerspitzen hin ausstreichen.<br />
Daumen nicht vergessen.<br />
1<br />
Hand halten. Mit den Daumen den Handrücken von den<br />
Fingern zum Handgelenk hin fächerförmig ausstreichen<br />
(drei bis viermal).<br />
2<br />
Die Daumen <strong>mit</strong> sanftem Druck von der Handwurzel,<br />
zwischen den Mittelhandknochen entlang zu den einzelnen<br />
Fingerzwischenräumen ziehen und dort den Druck kurz<br />
halten (jede Strecke dreimal).<br />
3<br />
Einen Finger nach dem anderen erst seitlich vom Fingergrundgelenk<br />
zur Fingerspitze <strong>mit</strong> Daumen und Zeigefinger<br />
ausstreichen. <strong>In</strong> umgekehrter Richtung „Zugfahren“: kleine<br />
kreisende Bewegungen <strong>mit</strong> Daumen und Zeigefinger zur<br />
Fingerwurzel hin. Den Finger kurz umschließen, abschließend<br />
<strong>mit</strong> leichtem Druck auf den Fingernagel die Berührung<br />
des Fingers abschließen (einmal pro Finger).<br />
4<br />
40
Wie bei<br />
1<br />
danach die Hand wenden.<br />
5<br />
Wie bei<br />
2<br />
jetzt auf der<br />
Handinnenfläche.<br />
6<br />
Handinnenfläche „putzen“: <strong>mit</strong> Zeige-, Mittel- und Ringfinger<br />
die Handinnenfläche im Uhrzeigersinn kreisend<br />
„putzen“.<br />
7<br />
Mit leichtem Druck Handgelenk auf Handgelenk, Puls<br />
auf Puls drücken, dann die Hand zu den Fingerspitzen<br />
hin ausstreichen (dreimal wiederholen). Danach die Hand<br />
wieder wenden.<br />
8<br />
Das Handgelenk beidseitig erst <strong>mit</strong> dem Daumen (oben/<br />
seitlich) dann <strong>mit</strong> dem Zeigefinger (unten/seitlich) kreisend<br />
massieren.<br />
9<br />
Wie bei<br />
1<br />
danach die Hand kurz festhalten und dann ins Handtuch<br />
einschlagen.<br />
10<br />
Die Berührung der zweiten Hand erfolgt nach dem gleichen<br />
Schema.<br />
41
Rücken<br />
→ Silviahemmet Touch kann im Sitzen (<strong>mit</strong> dem Oberkörper nach vorne<br />
über Stuhllehne oder Tisch gebeugt) oder in bequemer Bauchlage<br />
(Kopf auf den Armen abgelegt) durchgeführt werden. Wichtig ist<br />
eine bequeme Position und Haltung für beide Personen.<br />
Die Berührung wird auf der Kleidung durchgeführt.<br />
→ Die Berührung nicht unterbrechen – eine Hand immer am Rücken!<br />
Spirale<br />
Beide Hände in Rücken<strong>mit</strong>te links und rechts der Wirbelsäule<br />
platzieren. Dann <strong>mit</strong> den Händen parallel in immer<br />
größer werdenden Kreisen im Uhrzeigersinn über den<br />
Rücken streichen bis der ganze Rücken erreicht wurde.<br />
(Persönliche Bereiche wie z. B. Achselhöhlen meiden.)<br />
1<br />
Uhr<br />
Beide Hände liegen <strong>mit</strong>tig auf dem Rücken. Von dort beginnend<br />
streicht eine Hand nach außen, z.B. Richtung 6.00 Uhr,<br />
die zweite Hand folgt, dann startet die erste Hand von der<br />
Mitte aus Richtung 7.00 Uhr, die zweite Hand folgt usw. im<br />
Uhrzeigersinn bis die Uhr voll ist. Eine Hand bleibt immer<br />
am Rücken.<br />
2<br />
Schwimmen<br />
Hände im unteren Rückenbereich rechts und links der<br />
Lendenwirbelsäule platzieren, <strong>mit</strong> beiden Händen entlang<br />
der Wirbelsäule von unten nach oben über den Rücken streichen.<br />
Auf Schulterhöhe über die Schulterblätter nach außen<br />
streichen und die Hände an den Seiten wieder zurück zum<br />
unteren Rücken führen.<br />
3<br />
42
Herzen<br />
Hände im unteren Rückenbereich rechts und links der Lendenwirbelsäule<br />
platzieren, <strong>mit</strong> beiden Händen in herzförmigen<br />
Bewegungen von unten nach oben über den Rücken<br />
streichen. Im Schulterbereich die Herzen so groß „malen“,<br />
dass die gesamte Schulterpartie berührt wird.<br />
4<br />
Slalom<br />
Hände rechts und links der Wirbelsäule im Schulterbereich<br />
platzieren. Nun <strong>mit</strong> den Händen parallel bis zur Lendenwirbelsäule<br />
„Slalom fahren“. Der eigene Körper folgt der<br />
Bewegung!<br />
5<br />
Form des Rückens<br />
Eine Hand im Nacken platzieren, die andere im Bereich der<br />
Lendenwirbelsäule. Die erste Hand zieht <strong>mit</strong>tig zur zweiten<br />
nach unten. Danach streicht die erste Hand wieder aus der<br />
Grundstellung an der linken Seite den Rücken entlang nach<br />
unten, dann an der rechten Seite den Rücken entlang zur<br />
zweiten Hand. Eine Hand ist immer am Rücken. Es soll ein<br />
Gefühl für die Dimension des Rückens entstehen.<br />
6<br />
Spirale<br />
wie bei<br />
1<br />
7 8<br />
Ausklingen lassen<br />
Hände auf den Schultern ruhen lassen. Den<br />
Erkrankten anschauen und ein Getränk anbieten.<br />
43
www.malteser-demenzkompetenz.de