Takte_2_19
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[t]akte<br />
2I20<strong>19</strong><br />
Der bekannte<br />
Unbekannte<br />
Engelbert Humperdinck vor dem 100. Todestag am<br />
27. September 2021.<br />
„Hänsel und Gretel“ hat seinen Stammplatz unter<br />
den meistgespielten Opern. Aber darüber hinaus<br />
bieten Humperdincks Märchenopern, Schauspielmusiken<br />
und Orchesterwerke reichlich Gelegenheit<br />
zu Entdeckungen.<br />
Es gibt Komponisten, die weltbekannt sind, mit deren<br />
Namen aber nur ein einziges Stück verbunden ist,<br />
obwohl ihr Œuvre vielfältiger, reicher und farbiger ist.<br />
Für Dramaturgen, Programmplaner und Interpreten<br />
sind solche Komponisten eine Chance, da zumindest<br />
der Name auf den Programmen Publikum anzulocken<br />
verspricht. Für die Interpreten bietet sich die Chance,<br />
Neuland zu erkunden und doch schon vorher zu wissen,<br />
welcher Dialekt dort gesprochen wird.<br />
Als Engelbert Humperdinck mit der Märchenoper<br />
Hänsel und Gretel seine über ein Jahrzehnt dauernde<br />
und durch sein ausführliches Engagement für die<br />
Musik Richard Wagners ausgelöste Schaffenskrise<br />
beenden konnte, war sicher weder ihm noch seinen<br />
Verwandten und Freunden klar, dass hier ein Welterfolg,<br />
Kassenschlager und gleichzeitig auch ein künstlerischer<br />
Fluch geboren war, der Humperdinck bis an<br />
sein Berufsende verfolgen sollte. Natürlich war mit<br />
der Oper eine große Last von Humperdincks Schultern<br />
genommen. Der Erfolg verselbständigte sich in kurzer<br />
Zeit so weit, dass finanzielle Sorgen nicht mehr zu befürchten<br />
waren. Gleichzeitig war aber der Druck übermächtig,<br />
etwas dem Stück Ebenbürtiges zu schaffen.<br />
Dabei war es nicht so, dass der Komponist sich nicht<br />
in verschiedenen Genres mit unterschiedlichen Ideen<br />
und innovativer Schöpferkraft als kreativer Tonsetzer<br />
bewiesen hätte. Alleine der große zweite Wurf wollte<br />
und sollte nicht gelingen.<br />
Im Abstand von nun über hundert Jahren muss<br />
man das Werk Humperdincks allerdings umfassender<br />
betrachten und sieht, auch durch mittlerweile erfolgte<br />
Wiederaufführungen von unbekannteren Werken und<br />
Aufnahmen fast des gesamten Œuvres, mit breiterem<br />
Blick auf sein Schaffen. Und hier gibt es nach wie vor<br />
Schätze zu entdecken.<br />
Erst in diesem Jahr wagte Michael Hofstetter mit<br />
seinem Gießener Theaterorchester und Ensemble einen<br />
ersten Versuch, die Melodramfassung von Königskinder,<br />
Humperdincks zweiter großer Märchenoper, wieder<br />
ins Repertoire zu holen. Die Spätfassung des Werkes<br />
ist ja bereits seit einigen Jahren mit Aufführungen<br />
nicht nur an den großen Opernhäusern wieder fest<br />
im Werkekanon der Musiktheaterbühnen verankert.<br />
Die Frühfassung ist in ihrer innovativen Verbindung<br />
des später von Arnold Schönberg aufgegriffenen<br />
musikalisch notierten Sprechens mit dem spätromantischen,<br />
überragend instrumentierten typischen<br />
Humperdinck-Klang eine beachtliche Herausforderung,<br />
besonders dadurch, dass sie Darsteller erfordert,<br />
die der hochartifiziellen Kunstform des Sprechens auf<br />
einer vorgegebenen Sprachmelodie und einem auskomponierten<br />
Sprachrhythmus gewachsen sind. Das<br />
Stück harrt einer aktuellen szenischen Interpretation<br />
und wäre in solcher Form sicher eine Chance gerade für<br />
kleinere Bühnen, sich überregionale Aufmerksamkeit<br />
Humperdincks „Königskinder“ am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, Premiere: 24.11.2018, Musikalische Leitung, Rasmus Baumann, Inszenierung:<br />
Tobias Ribitzki (Foto: Bettina Stöß)<br />
zu verschaffen. Bereits die Ouvertüre zu dieser Fassung<br />
ist bemerkenswert, nimmt sie doch in ihrer Dimension<br />
vieles von der späteren Konzertouvertüre vorweg. Auch<br />
sie ist also eine Entdeckung für sinfonische Programme<br />
wert, ebenso wie man aus dieser Fassung hervorragend<br />
eine circa fünfundzwanzigminütige symphonische<br />
Suite mit den drei Stücken Vorspiel – „Hellafest und<br />
Kinderreigen“, „Verdorben, gestorben“, „Spielmanns<br />
letzter Gesang“ – extrahieren kann.<br />
Ein weiteres gewichtiges und wunderschönes Werk<br />
aus der Feder des Komponisten ist die unterschätzte<br />
Märchenoper Dornröschen. Manchem mögen die fünf<br />
Tonbilder, die ab und zu den Weg in die Konzertsäle<br />
finden, bekannt sein. Das komplette Werk gibt es jedoch<br />
extrem selten. Eine konzertante Aufführung des<br />
Münchner Rundfunkorchesters ist 2011 als Aufnahme<br />
erschienen. 2014 wagte das Nordharzer Städtebundtheater<br />
eine szenische Aufführung der zu Unrecht vergessenen<br />
Oper. Problematisch bleibt wohl das Libretto<br />
des Werkes, welches das grimmsche Märchen durch einige<br />
neu eingeführte Umwege des Helden zu verlängern<br />
sucht. Eine Aufführung jedoch, die damit bewusst und<br />
kreativ umgeht, wird mit dem märchenhaften Schwung<br />
dieses musikalisch opulenten Musiktheaters und seiner<br />
reizvollen Mischung aus Gesang und notierter Sprachmelodie<br />
unzweifelhaft Erfolg haben.<br />
Von einer weiteren Oper ist es vor allem die Ouvertüre,<br />
die für Konzertprogramme von großem Interesse<br />
sein kann. Musikalisch ist Die Heirat wider Willen so<br />
etwas wie Humperdincks Rosenkavalier. Sein Humor<br />
und seine unvergleichliche Fähigkeit, Leichtigkeit<br />
zu komponieren in einer Zeit, in der alles schwer am<br />
Boden haftet, wird in diesem wunderschönen Vorspiel<br />
besonders gut deutlich.<br />
Für das Konzertpublikum nach wie vor fast unbekannt<br />
sind Humperdincks zauberhafte Schauspielmusiken.<br />
Ideal geeignet für kurzweilige Programme, hervorragend<br />
zur Kombination mit Texten geeignet, sind<br />
gerade die Shakespeare-Musiken wahrlich eine Wiederentdeckung<br />
wert. Die mendelssohnsche Leichtigkeit,<br />
die Humperdinck im Tanz der Luft- und Wassergeister<br />
aus Der Sturm findet, die an Wagner gemahnende<br />
Innigkeit der Liebesszene „In solcher Nacht“ aus Der<br />
Kaufmann von Venedig und die Richard Strauss‘ Spätstil<br />
vorwegnehmende Serenade aus Was ihr wollt zeigen die<br />
Früchte der engen Zusammenarbeit des Komponisten<br />
mit dem Regisseur Max Reinhardt.<br />
Nicht zu vergessen ist natürlich Humperdincks<br />
wichtigstes und größtes sinfonisches Werk, die knapp<br />
vierzigminütige Maurische Rhapsodie. Die drei überaus<br />
farbigen Sätze „Tarifa“, „Tanger“ und „Tetuan“ brauchen<br />
den Vergleich mit den Tondichtungen von Richard<br />
Strauss nicht zu scheuen. Jedes groß besetzte Orchester<br />
wird in diesem Stück eine dankbare Herausforderung<br />
sehen und jedes Publikum wird mit dankbarer Gänsehaut<br />
auf das zweite Thema im abschließenden Wüstenritt<br />
reagieren. Humperdincks Instrumentationskunst<br />
kommt hier zur vollen Blüte und sein sympathischer<br />
und unverwechselbarer Humor begleitet uns durch<br />
das belebte Café in Tanger bis zu den Zwölftolen der<br />
letzten Fata Morgana.<br />
Dass Engelbert Humperdinck zu den Komponisten<br />
gehörte, die nach einem ersten übergroßen Erfolg nie<br />
an diesen anknüpfen konnten, mag bedauerlich sein.<br />
Auf der anderen Seite wartet dadurch auf uns Interpreten<br />
eine wahre Schatztruhe an Möglichkeiten. Denn<br />
der Tonsetzer war auch ein Aufführungspraktiker. All<br />
seine Werke bieten hervorragende Anknüpfungspunkte<br />
für diverse Konzertformate, die eine reine Rampensituation<br />
aufbrechen wollen. Zum einen ist da die Volkstümlichkeit<br />
seiner Musik. Das Erfolgsrezept seiner<br />
bekanntesten Märchenoper hat Humperdinck durch<br />
sein ganzes Komponistenleben beibehalten und Musik<br />
geschaffen, die in Erinnerung bleibt, die auch nach dem<br />
Konzert weiterschwingt. Seine Theateraffinität, der<br />
Wunsch, Text und Musik zu Einheiten zu verschmelzen,<br />
bieten unzählige Möglichkeiten, Poesie und Musik in<br />
Konzerten und Theaterproduktionen miteinander zu<br />
verweben. Indes ist Engelbert Humperdinck eben der<br />
bekannte Unbekannte, der vertraute Fremde. Und als<br />
solcher passt er gerade mit der Publikumsnähe seiner<br />
Werke, seinem immer für die Musik begeisternden<br />
musikvermittlerischen Ansatz als Komponist hervorragend<br />
in unsere Gegenwart.<br />
Florian Ludwig<br />
Florian Ludwig, der Autor dieses Beitrags, leitet am<br />
24.5.2020 im Detmolder Konzerthaus eine konzertante<br />
Aufführung von „Dornröschen“ mit Vokalsolisten, einem<br />
Sprecher, dem Detmolder Oratorienchor sowie der Nordwestdeutschen<br />
Philharmonie.<br />
Engelbert Humperdincks Werke bei<br />
Brockhaus (Auswahl)<br />
Dornröschen. Märchenoper in drei Akten<br />
Königskinder. Melodram in drei Akten<br />
Königskinder. Märchenoper in drei Akten<br />
Maurische Rhapsodie<br />
Musik zu „Der Kaufmann von Venedig“<br />
Musik zu „Das Wintermärchen“<br />
Musik zu „Der Sturm“<br />
Musik zu „Was ihr wollt“<br />
Shakespeare-Suiten Nr. 1 und Nr. 2<br />
Ouvertüre zu „Die Heirat wider Willen“<br />
Schauspielmusik zu Maeterlincks „Der Blaue<br />
Vogel“<br />
Verleih: Bärenreiter · Alkor<br />
]<br />
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