Alltag und Konsum
Aufarbeitung einer Sucht.
Aufarbeitung einer Sucht.
- Keine Tags gefunden...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ALLTAG UND<br />
KONSUM<br />
Final Issue<br />
by Alexander Krug<br />
Mai 2019
SEHEN WIR EINEN MENSCHEN<br />
MÜSSEN WIR UNS FRAGEN<br />
WAS ALLES MIT DIESEM MENSCHEN<br />
ZUSAMMENHÄNGT<br />
EINEN CHARAKTER<br />
WAS MIT DIESEM CHARAKTER<br />
UND SO MIT JEGLICHEM GEGENSTAND<br />
AUF DIESE WEISE<br />
SIND WIR FORTWÄHREND NAHE DARAN<br />
VERRÜCKT ZU WERDEN<br />
Thomas Bernhard<br />
1
20190514–Gebote<br />
---<br />
Datum: 2019-05-14-15:41<br />
+++<br />
Schlagwörter: #brasch #ich #goetz #material #normalität #schreiben #alltag #gebot<br />
+++<br />
Titel: 20190514 – Gebote<br />
+++<br />
---<br />
Du musst alles zu Notiz machen können<br />
Du musst jeden Tag einen Film anschauen<br />
Du musst 5 Bücher in verschiedenen Genres auf einmal lesen können<br />
Du darfst nicht rechnen können <strong>und</strong> abzählen<br />
Du musst aus dem letzten Loch laut pfeifen können<br />
Du darfst im Bett an nichts anderes denken<br />
Du musst Dir einbilden können, alles zu sein<br />
Du musst Deinem besten Fre<strong>und</strong> ein Bein stellen können, um ihn wieder aufzurichten<br />
Du musst gegen den Wind laufen können, bis du nicht mehr atmen kannst.<br />
Du darfst nicht schlafend sterben<br />
don’t cry work<br />
2
What is in it<br />
for me?<br />
Living Large<br />
Point of View<br />
3
Hier wird<br />
nicht<br />
hinter geblickt<br />
OHRIA.ME<br />
SoFF<br />
ichhöre<br />
III<br />
taz<br />
Findethirstatt<br />
Ein<br />
anhöre<br />
Hlf<br />
Em aeaazm.fr<br />
aurrereaH<br />
langes<br />
bequemenAufnahme von<br />
Nehmen Sieihn<br />
IIIwert sich<br />
für<br />
a.EE e<br />
üEE 0<br />
4
5
6
7
sonne, sonne, was scheinst du so wild?<br />
was wirfst du dein goldrotes glühen über<br />
uns hin? die urteile überstürzen sich in<br />
blinder hast. der mahlstrom brach sich<br />
eine zu breite bahn. schuldig, tot. täglich<br />
werden „neue“ eingeliefert. sie sehen uns<br />
ehrfürchtig an, um uns „alteingesessene“<br />
spielen schon fast legenden. <strong>und</strong> doch sind<br />
auch wir erst nach monaten gemessen, eine<br />
kurze zeit hier. aber die zeit ist hier<br />
ein relativer begriff geworden, das ganze<br />
dasein, das private leben, die zukunft.<br />
jetzt kann es sich nur noch um wochen<br />
handeln, dass dieser totentanz zu ende geht.<br />
die schliesser gehen mit weichen knien, sie<br />
sind bereit, uns zigaretten zu besorgen,<br />
allerdings zu schandbaren preisen. gerüchte<br />
schwirren. parolen werden ausgegeben <strong>und</strong><br />
sofort widerrufen. täglich rollen die großen<br />
lastwagen nach tegel, nach plötzensee, nach<br />
spandau. der „führer“ soll krank sein,<br />
göring in haft, himmler-, mein himmel! es ist<br />
alles nicht zu glauben. meine zeichenfeder<br />
ruhte in diesen tagen wüster unruhe. die<br />
h<strong>und</strong>erte oder tausende, denn keiner weiß,<br />
wie viele seeelen zwischen diesen mauern<br />
noch sind, sind wie ein riesiger wurm,<br />
der an einem körperende verletzt ist <strong>und</strong><br />
sich nun windet <strong>und</strong> wehrt. jedes kommando<br />
schreckt uns hoch. einer von uns wurde<br />
aufgerufen: wohin brachte man ihn? was wurde<br />
aus ihm? leben? tod? alarm. larm. alarm.<br />
aufheulen der sirene, dies quälende sinnlose<br />
tiergeheul urweltlicher bestien. jaulendes<br />
inferno, zerkrachende in blut <strong>und</strong> flammen<br />
erstickende welt. <strong>und</strong> man wischt sich den<br />
dreck aus den augen <strong>und</strong> atmet gepresst den<br />
stinkenden brodem von mord <strong>und</strong> untergang.<br />
fre<strong>und</strong>e, lebt ihr noch? fre<strong>und</strong>e, ihr wart<br />
so mäßig, so klar <strong>und</strong> nüchtern in eurem<br />
widerstand gegen dieses wahnsinnssystem der<br />
geistigen verknechtung. <strong>und</strong> ich sah nicht<br />
die politischen dinge allein, ich sah den<br />
kulturellen niedergang, den geistigen chaos<br />
vor allen andern dingen. das schied mich<br />
von euch <strong>und</strong> band mich gleichzeitig noch<br />
fester, denn eins gehört zum anderen. ihr<br />
warntet mich oft, doch ich lachte dagegen:<br />
war ich doch eins unter einem glückshaften<br />
sonntagsstern im löwen geboren! ein maler<br />
von gottes gnadentum! ein freier mann, ein<br />
ganz freier mann, ein könig war ich, ein<br />
herr über raum <strong>und</strong> form <strong>und</strong> farbe! ich bin<br />
nichts mehr, weniger als ein nichts. es<br />
ist nun alles mit einmal so ganz einfach<br />
geworden! der generalnenner tod hat uns<br />
auf eine schlichte <strong>und</strong> gerechte formel<br />
gebracht. man könnte in versuchung kommen,<br />
von der philosophie des todes zu sprechen.<br />
wie schön <strong>und</strong> befreiend war die gesellige<br />
lust am wortstreit, bevor die düsternis<br />
des argwohns den riegel vorschob <strong>und</strong> den<br />
letzten hauch von freiheit verpestete. die<br />
unmenschlichkeit begann mit ihrer zitternden<br />
hand wüste kurven zu zeichnen, kurven in<br />
denen man sich verfing <strong>und</strong> hängenblieb <strong>und</strong><br />
verblutete. „der mensch ist frei geschaffen,<br />
ist frei, <strong>und</strong> würd er in ketten geboren!“<br />
von uns ist keiner mehr frei. unser ring<br />
schließt sich <strong>und</strong> keiner von uns weiß, was<br />
morgen sein wird. viele von denen die zu<br />
uns <strong>und</strong> unserer gruppe gehörten, werden<br />
nicht mehr am leben sein. ich habe noch so<br />
vieles vor, jahrzehnte würden nicht genügen,<br />
diesen schaffensdrang einzudämmen. doch ich<br />
weiß nicht, ob das gefühlspendel mich trügt.<br />
allzuschnell verschlingt der moloch staat<br />
seine kinder. du bist schuldig? so musst<br />
du sterben! wir wollten ein damm sein, <strong>und</strong><br />
dieser damm wurde zerbrochen. die flut ging<br />
über uns hin. ein neuer morgen. die bomben<br />
heulen <strong>und</strong> krachen nieder. über unsere<br />
frierenden leiber kriechen fieberschauer.<br />
die wände unten in den kellern sind so nass.<br />
einer sagt leise: heute vielleicht - <strong>und</strong><br />
wir anderen sitzen wie graue steine da.<br />
heute brachten sie einen ritterkreuzträger<br />
weg. es ist ja jetzt alles so einfach:<br />
wir bekommen dann, wenn es zu ende sein<br />
soll, ein papierhemd, zehn zigaretten <strong>und</strong><br />
zwei spiegeleier. es bleibt einem noch zeit<br />
genug, einen kurzen brief an die familie<br />
zu schreiben <strong>und</strong> den gefängnispfarrer zu<br />
sprechen, <strong>und</strong> dann gehen wir sterben. im<br />
morgengrauen ist es dann soweit, kugel oder<br />
strang.<br />
<strong>und</strong> jetzt sind die morgendämmerungen immer<br />
ganz besonders schön.<br />
8
Als müsste ich die größte<br />
aller Sprachen neu erlernen,<br />
wenn ich davon schreibe, wie<br />
sehr ich mich nach deiner<br />
Hand sehne, die nach mir<br />
greift <strong>und</strong> nach dem Funkeln<br />
deiner Augen in einer Klinge,<br />
mit der ich uns tief in das<br />
eigene Fleisch schneide,<br />
damit wir uns sprachlos<br />
einer Gegenwart besinnen,<br />
welche uns lehren wird, dass<br />
unsere Seelen ein Fremdes<br />
auf Erden sind<br />
9
Ich bin der Überzeugung,<br />
daß es für die Menschheit,<br />
so wie sie ist, nur zwei<br />
Möglichkeiten gibt. Entweder<br />
ist man mit seinem Los<br />
unzufrieden, <strong>und</strong> dann schlägt<br />
man einander tot, um die<br />
Lage zu verbessern, oder<br />
man ist, <strong>und</strong> das ist eine<br />
rein theoretische Situation,<br />
im Gegenteil mit sich <strong>und</strong><br />
der Welt einverstanden,<br />
dann bringt man sich aus<br />
Langeweile um. Der Effekt<br />
ist derselbe. Was nützt das<br />
göttliche System, solange der<br />
Mensch ein Schwein ist?<br />
Kästner, Erich.<br />
10
ich danke meinem urgroßonkel,<br />
dem maler günther vogler, durch dessen selbstbildnis<br />
ich einen zugang zu einem wissen über mich selbst als<br />
konsequenz meiner familie bekommen habe, welches mir<br />
von den noch-lebenden nie zuteil geworden war. darüber<br />
hinaus danke ich seinem beispiel, seinem mut <strong>und</strong> seiner<br />
unbedingten pflichterfüllung gegenüber seiner berufung<br />
als künstler, die ihn selbst als zu tode veruteilten<br />
im lehrter gefängnis 1944/45 nicht davon hat abhalten<br />
können, heimlich zu zeichnen <strong>und</strong> tagebuch zu führen.<br />
diese aufzeichnungen sind es, die mir stets eine große<br />
hilfe waren, meine kerkerempfindungen in das licht der<br />
sprache zu zerren.<br />
ich danke all den menschen, die mich im laufe meines<br />
lebens verlassen haben – ohne sie wäre die erzählte welt<br />
nicht existent.<br />
ich danke der stadt in der ich lebe <strong>und</strong> der gegenüber ich<br />
immer wieder versucht bin, sie meine heimat zu nennen,<br />
danke ihr für ihr gift, das mich so oft von mir selbst<br />
befreit <strong>und</strong> immer wieder auf schärfste zu mir selbst<br />
zurückgeführt hat. ohne diesen steten pendelschlag hätte<br />
ich nicht zum schreiben zurückgef<strong>und</strong>en.<br />
ich danke allen autoren, deren mir stets treue bücher<br />
mein leben haben ertragen lassen. jedes einzelne werk von<br />
euch liegt schimmernd da irgendwo im schnee vergraben<br />
<strong>und</strong> wartet darauf, entdeckt zu werden.<br />
<strong>und</strong> ich danke dem protagonisten der erzählung, dass er<br />
mich an die hand genommen <strong>und</strong> durch die abgründe dieser<br />
erzählung gelotst hat. durch ihn fühle ich mich als:<br />
mensch in sonne.<br />
11
WIE BESESSEN LIEF ICH<br />
durch das da draußen<br />
wo ich Glück vermutet hab.<br />
Es ist zerbrochen<br />
wieder einmal<br />
<strong>und</strong> alle anderen verblassen<br />
wenn ich an dich denke –<br />
denke ich auch<br />
ich hab’s versucht.<br />
Vielleicht werd’ ich’s auch<br />
leugnen<br />
aber das wäre nicht wahr.<br />
WENN ICH STEHE GÄHNE ICH UND<br />
wenn ich liege schlaf’ ich nicht<br />
dazwischen da nicht-lebe ich <strong>und</strong><br />
dir was sein, das trau’ ich mich<br />
schon lang’ nicht mehr.<br />
12
13
14
In einem kleinen Zimmer in Paris,<br />
wo ich den Kopf vor Sehnsucht gegen alle Wände stieß<br />
<strong>und</strong> deinen Namen leise in die Spiegel schrie,<br />
doch keiner kam <strong>und</strong> niemand nahm mich in den Arm<br />
wie du, der mich verließ.<br />
Und als du gingst, hast du gesagt:<br />
“Du machst das schon, mein Kleines, irgendwie!”<br />
Oh ja, mein Mann! Ich mach das schon.<br />
Ich weine ohne Träne jede Nacht,<br />
ich liebe dich, auch wenn es einsam macht,<br />
ich sterbe so dahin<br />
<strong>und</strong> frag nicht mehr nach einem Sinn<br />
in diesem kleinen Zimmer hier,<br />
wo Gaukler wohnten, Trinker, Diebe,<br />
es war umsonst, denn es war Liebe.<br />
Die Liebe mit dem Leben büßen<br />
Warten, bis das Leben dich vergisst<br />
Jede Nacht, sie bleibt in mir<br />
Auch wenn es Tag geworden ist.<br />
Dann war es still.<br />
Dann gingen viele Jahre hin<br />
<strong>und</strong> ich blieb hier,<br />
in diesem kleinen Zimmer in Paris<br />
<strong>und</strong> trank mit Trinkern auf ihr Glück<br />
Wolf Wondratschek<br />
16
heute ist montag<br />
17
Nulla<br />
dies<br />
sine<br />
linea<br />
18
19
20
21
23
Ich schnürte meine Stiefel hoch <strong>und</strong> zog die<br />
Kapuze über den brennenden Kopf. Die schwere<br />
Eingangstür aus anthrazitfarbenem Metall ließ ich<br />
für meinen Nachfolger nur angelehnt. Ein dunkler<br />
Schatten zog sich über die gesamte Türhöhe.<br />
Dahinter die Dunkelheit.<br />
24
25
Aus der Absterbensfurcht erklärt sich sich<br />
jener andere Drang, der mich zeitweilig<br />
abdriften läßt, nicht nur ins Außen-, sondern<br />
auch ins Säufer-, ins Zerstörungs- <strong>und</strong><br />
Selbstzerstörungsleben, diese Gefahr.<br />
Dieser Drang ist ein Drang nach Betäubung.<br />
Ist es die Angst, aus der Ernährung, das<br />
heißt, Anschauung zu fallen? Ist ein Pendeln<br />
nötig zwischen diesem Hinausgelangen,<br />
einem Sich-das-Leben-um-die-Ohrenschlagen-lassen<br />
(bis es tönt, wie ein<br />
sommerlicher Waldrand tönt, als sei eine<br />
Stimmgabel angeschlagen worden) <strong>und</strong><br />
dann dem Rückzug nach innen, die Wüste,<br />
den Stollen? Das Aufsteigen wie aus Tiefen,<br />
schlammverkrustet, algenbehängt…<br />
Geht es um das Erreichen eines Trunkenheitszustands,<br />
Zustands eines Ertrinkenden,<br />
Notzustands, um wirklich schreiben zu<br />
müssen? Muss ich immer erst Notfall<br />
werden? Nizon.<br />
26
27
Die Sucht nach diesem möglichst schnell alles<br />
immer, rein rein rein da, <strong>und</strong> weg <strong>und</strong> nichts.<br />
Und dann sich neu erfinden, neu strukturieren<br />
müssen. Da macht das dann keinen Unterschied ob<br />
ich einen Text lese oder einen Text schreibe oder<br />
ob ich mich zuschütte oder mich vollpumpe oder<br />
mit einer Frau in’s Bett gehe oder mein eigenes<br />
Grab schaufel - wenn’s nicht sofort vollständig in<br />
mich hinein- oder in mir übergeht, macht’s doch<br />
gar keinen Sinn, kommt da auch nichts Gutes, also<br />
nichts Neues bei raus. Und danach dann eben das<br />
bisschen grausam Einsamkeit, muss man mit leben,<br />
nicht? Baut man’s halt neu auf <strong>und</strong> dann wieder<br />
groß Abriss. Ist ja eh nichts auf Dauer, dieses<br />
scheiß Leben, warum sollte es auch. Nach mir kommt<br />
dann halt ein anderer, vielleicht sogar einer mit<br />
mehr Talent. Könnt’s also von Glück reden, dass<br />
ich meinen Platz so rasant noch räumen werde.<br />
28
29
Wir sind<br />
einfach<br />
schnell<br />
gelangweilt<br />
<strong>und</strong> gehen<br />
deswegen<br />
einen Schritt<br />
weiter<br />
30
Bemerkungen<br />
zum 11.<br />
September<br />
2001 von<br />
Stockhausen<br />
Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen<br />
Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk,<br />
was es je gegeben hat …<br />
Daß also Geister in einem Akt<br />
etwas vollbringen, was wir in<br />
der Musik nie träumen könnten,<br />
daß Leute zehn Jahre üben wie<br />
verrückt, total fanatisch,<br />
für ein Konzert. Und dann<br />
sterben. [Zögert.] Und das ist<br />
das größte Kunstwerk, das es<br />
überhaupt gibt für den ganzen<br />
Kosmos. Stellen Sie sich das<br />
doch vor, was da passiert ist.<br />
Das sind also Leute, die sind<br />
so konzentriert auf dieses<br />
eine, auf die eine Aufführung,<br />
<strong>und</strong> dann werden fünftausend<br />
Leute in die Auferstehung<br />
gejagt. In einem Moment. Das<br />
könnte ich nicht. Dagegen<br />
sind wir gar nichts, also als<br />
Komponisten. … Ein Verbrechen<br />
ist es deshalb, weil die<br />
Menschen nicht einverstanden<br />
waren. Die sind nicht in das<br />
Konzert gekommen. Das ist<br />
klar. Und es hat ihnen niemand<br />
angekündigt, ihr könntet dabei<br />
draufgehen.<br />
31
32
das mein werk in liebe umschlägt ist eigentlich<br />
nicht zu erwarten