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Seite 14 www.kikerikizeitung.at

Ausgabe Nov./Dez. 2019

Gedanken

zur Zeit

Was übrig blieb vom Schnee von gestern...

Damals war ich noch ein

Schulkind. Die Straße

nach Oberdorf und

Ponnigl war dunkel,

es war ein düsterer Winterabend.

Schnee. Zu beiden Seiten der Straße

türmte sich das kalte Weiß, es

schneite in dichten, taschentuchgroßen

Flocken, die Äcker lagen

da wie frisch bezogene Betten. Ich

hing an der Hand meiner Mutter.

Wir gingen eine alte Frau besuchen.

Ihr Name war Agnes. Sie war sehr

arm, sehr fromm und sehr allein.

Ihr Haus war kaum größer als unsere

Holzhütte. Meine Mütter brachte

ihr jedes Weihnachten ein Geschenk und besuchte sie auch sonst

manchmal. Einmal bot die Frau uns Kekse an, selbstgebacken. Sie

waren riesengroß, mehlig und steinhart – und schmeckten mir, dem

Kind, das von daheim nur die besten Mehlspeisen gewohnt war,

dennoch vorzüglich, so gut wie niemehr etwas danach. Eine Erklärung

dafür gibt es nicht, nur eine Erinnerung, die geblieben ist, zusammen

mit diesem Geschmack nämlich, dass einem ein fremder

Mensch mitunter ganz nahe kommen kann. Denn irgendwann war

Agnes nicht mehr da. War in irgendein Heim verfrachtet worden,

von irgendwem, und dort eines Tages

gestorben. Sie bedeutete mir

nichts, doch vergessen konnte ich

sie nie. Jeden Winter flackert dieses

Bild kurz in meinem Gedächtnis auf

– der kleine, bucklige Körper in der

Tür, das stets gerötete Altfrauengesicht

mit diesem Ausdruck irgendwo

zwischen Überraschung, Rührung,

Freude und Scham. Als müsste sie

sich unbewusst für ihr Leben entschuldigen,

ohne zugleich je ein

anderes wählen zu können. Ihre

Stimme war schluchzend, seltsam

nass, all ihr Reden hörte sich an wie Weinen, Klagen oder Beten.

Überhaupt hatte sie eine entfernte Ähnlichkeit mit dem damaligen

Papst, Johannes Paul II. Oder umgekehrt: das Gesicht des Papstes

im Fernsehen erinnerte mich stets vage an das der alten Agnes.

Die Spuren von Leben und Tod begleiten alle meine Winter, seit

jeher. Eines Morgens lag unser Kater Nicki im Dezemberschnee.

Das Auge zerborsten, der Kopf zerschmettert, steif gefroren der

pelzige Körper über nacht. Er war überfahren worden. Blut sieht

im Schnee noch furchtbarer aus. Vor allem, wenn man ein Kind ist.

Und dann die schockierende Uberraschung: Obwohl der Verlust so

weh tut, lebt man weiter. Man stirbt nicht gleich am ersten Schmerz.

Aber man beginnt damit. Und weiß dennoch erst als Erwachsener,

wie gern man eigentlich Kind war. Als Kind ging ich auch gern mit

auf den Friedhof. So wie ich damals auch sehr gern in die seinerzeit

noch offenen Särge in der Leichenhalle hineinschaute. Mein

Blick ruhte mit freundlicher Neugierde auf den wächsernen Totengesichtern,

begleitet von der winzigen Hoffnung, etwas in dieser

starren Miene könnte sich plötzlich doch bewegen, ein Zucken um

die Mundwinkel, ein Pochen unter dem Lid, ein unsichtbarer Luftstrom,

der die Nasenflügel sachte bläht. Irgendetwas, das nur ich

wahrnahm, gerade im rechten Moment, sodass ich zum kindlichen

Lebens- oder besser Totenretter wurde. Aber leider, es hat sich keine

Leiche unter meiner Betrachtung je gerührt.

Am Friedhof stellten wir jedes Jahr zu Weihnachten einen kleinen

Baum auf unser Grab, den wir mit Kugeln, Kerzen und Lametta

schmückten. Letztlich sah das unendlich traurig aus – Weihnachten

für die Toten. Das Versatzstück eines Geburtstagsfestes auf einem

Grab. Die Steine und Kreuze ringsum waren eisverbrämt, zugeschneit,

muteten kostbar und märchenhaft an, wie Altäre aus Schnee.

Und immer waren wir zu spät dran, jedes Jahr, immer war es schon

so früh dunkel geworden, zu früh! Auf dem Heimweg schauten wir

uns in der Weizbergkirche die Krippe an. Heute weiß ich: dass sie

mir damals so groß vorkam, lag an der unspektakulären Tatsache,

dass ich selbst eben noch sehr klein war. Ich ging den Erwachsenen

genau bis zur Hüfte. Oder, wie es eine entfernte Verwandte einmal

ausgedrückt hat: "just zum Oarsch-Einischaun..."

Verwandte. Viele von ihnen liegen mittlerweile auf diesem Friedhof.

Einer der ersten damals war mein Opa. Als er noch lebte, brachte

er mich oft zum Kindergarten. Immer dieselbe Strecke: der Kreuzweg.

Über uns brach das Geäst der Winterbäume fast zusammen unter

der Schneelast. Ob es in der Natur der Dinge liegt, dass einem der

Schnee von gestern im Rückblick immer ein bisschen weißer, höher

und schöner erscheint? Bald lag noch eine Tote in unserem Grab.

Minnie, die zweite Frau meines Urgroßvaters. Mir gefiel ihr Name

ausnehmend gut, da ich ihn aus den Micky-Maus-Heften, die ich damals

begeistert verschlang, kannte. Gern fuhr ich mit zu ihr auf Besuch

nach Etzersdorf. Weil sie immer ein Kopftuch trug, schenkten

wir ihr jedes Jahr eines. Vielleicht

trug sie aber auch nur deshalb immer

ein Kopftuch, weil wir ihr ständig eines

schenkten? Auf jeden Fall dachte

damals noch niemand über ein sogenanntes

"Kopftuchverbot", wie es

heute diskutiert wird, nach.

Um eines zu tragen, musste man

nicht streng muslimisch sein. Alt

oder bäuerlich genügte vollends, gern

auch beides. Was uns damals noch an

türkischen Mitbürgern gefehlt haben

mag, machten unzählige Türkenmuster

auf Altfrauenkopftüchern locker

wett. Und: Damals war das eine wie das andere noch kein Problem.

Ich mag die Kälte, den Schnee. Auch wenn ich als Gartenmensch

gern Sommer habe, kann ich mit dieser a-priori-Fröhlichkeit bei

Schönwetter nichts anfangen, und die fordernde Leichtigkeit des

Sonnenscheins fällt mir oft schwer. Für den Gang ins Freibad bin ich

zu schüchtern, und was andere "schwimmen" nennen, sieht bei mir

eher nach "verzweifelt-übertriebenes-Wollen" aus. Obwohl. Wenn

früh am Morgen die Wintersonne blutig rot aufgeht über unserem

Garagendach und abends blassviolett im Schatten der Weizbergkirche

wieder ertrinkt, ist es manchmal so, als existiere etwas so Unsinniges

wie Zeit gar nicht. Es sind die immer gleichen Bilder, an

denen ich hänge, manchmal wie in einem schützenden Netz, dann

wieder wie am Strick. Letztlich wohl eine Frage der Tagesverfassung.

Vielleicht.

Andrea Sailer/Weiz

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