Michael Leithinger - ORF
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gekommen ist, dir noch einmal die Nase zu putzen und dich dann einfach über den Rand des<br />
Stegs zu rollen. Da bin ich richtig erschrocken. Aber ich hab einen kühlen Kopf bewahrt und daran<br />
gedacht, dass der See ja gar nicht so tief ist hier. Seitdem gehört dieser Gedanke einfach dazu zur<br />
Abendrunde. Ich grüße dann auch beim Rückweg vom Steg die entgegenkommenden Spaziergeher<br />
besonders freundlich, nachdem ich den Gedanken gehabt habe. Ist dir kalt Franz? Heute geht der<br />
Wind. Ohne auf die Antwort zu warten, nehme ich die Decke aus dem Rucksack und wickle sie um<br />
deine Oberschenkel. Eine kleine Decke reicht vollkommen, so dünn sind sie, deine Oberschenkel.<br />
Ich putze dir noch mal die Nase und wische dir die Spucke vom Kinn. Mein Spucki.<br />
Wir sind viel unterwegs, Franz und ich. Unsere Freunde können da nicht Schritt halten. Am Anfang<br />
sind sie noch manches Mal neben dem Rollstuhl her gelaufen und haben höfliche Fragen gestellt,<br />
wie es uns wohl geht und ob du denn wohl Fortschritte machst. Sie haben auf den See gedeutet, wie<br />
schön doch die Boote in den Wellen wiegen und wie herrlich es hier sei. Als sie mit der Zeit sahen,<br />
dass du keine Fortschritte machst und dass wir immer die ewig gleichen Runden drehen um den<br />
See, da wurde das Begleiten immer seltener. Meine Schwester hat eines Tages ins Telefon geweint,<br />
sie könne das nicht mit ansehen. Das muss sie jetzt auch nicht mehr, da sie nicht mehr kommt. Wir<br />
haben uns, Franz. Ich hab dich geheiratet, Franz, und dich bei mir, bis der Tod uns scheidet, hat der<br />
Herr Pfarrer gesagt. Ich reiche ihm einen Schluck Wasser aus der Trinkflasche und noch einen, denn<br />
eine Hälfte geht immer daneben. Eines Tages hat mich eine ältere Frau angesprochen, ob sie sich zu<br />
mir setzen dürfe. Wir haben nicht viel geredet und sind seither ein paar Mal gemeinsam um den See.<br />
Leider hab ich sie schon seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie auf Sommerfrische<br />
oder auf Kur. Die hast du auch gern, die Dame, die mit uns mitgegangen ist, was Franz? Zumindest<br />
hat er viel gespuckt jedes Mal, wenn wir sie getroffen haben. Ich gehe zu dir hin und küsse dein Ohr.<br />
Es riecht noch nach der Seife, mit der ich dich heute Morgen gewaschen hab.<br />
Einmal hab ich geträumt, dass du auf mir liegen würdest, und wir waren beide verschwitzt und<br />
verschnauft und schoben unsere Lenden hin und her. Als ich munter geworden bin, hab ich dich<br />
angesehen, wie du neben mir gelegen bist, seitlich und zusammengekauert wie ein Kind, und habe<br />
begonnen, in dein Röcheln hinein zu weinen. Ich hab dich zugedeckt und bin in der Küche auf und<br />
ab gerannt. Fast hätte ich deine 60-jährige Mutter angerufen und ihr gesagt, dass sie dich holen und<br />
sich gefälligst um dich kümmern soll. Dann ist die Sonne aufgegangen überm See, und das war mir<br />
ein Trost. Franz, heute am Telefon hat sie schon wieder zu mir gesagt „Du brauchst eine Auszeit.<br />
Das kann doch kein normaler Mensch aushalten.“ Die stellt sich das so einfach vor, deine Mutter,<br />
ich gebe dich für ein paar Stunden ab und lasse jemand anderen dich in der Gegend herumrollen,<br />
fahre derweil in die Stadt, schaue in Schaufenster, trinke Kaffee und wenn ich zurückkomme, bin<br />
ich erholt und vergnügt und kann dich wieder lieben wie früher. Das geht so nicht, Franz. Außerdem<br />
rollt dich keiner so gut wie ich.<br />
Ich kann es nicht mehr hören, wenn die Leute sagen Im Inneren ist er doch derselbe geblieben. Ist<br />
er nicht. Ich hab ihn doch gekannt. Und da ist nichts mehr in seinem Inneren von dem Franz von<br />
früher. Nicht in seinem Blick und nicht in seinem Glucksen. Nicht mal in seinem Röcheln im Schlaf<br />
ist da etwas von früher. Der Opel Astra hat nicht nur seine Wirbelsäule zusammengedrückt und den<br />
Schläfenlappen, er hat dem Franz auch seine Seele aus dem Körper gepresst. So, dass jetzt, im<br />
Rollstuhl neben mir, nicht der Franz sitzt, sondern der Körper vom Franz. Am Anfang hab ich immer,<br />
wenn ich ihn angesehen hab, in meinem Kopf das Bild vom früheren Franz darüber gelegt. Aber<br />
das Glucksen und das Röcheln und der starre Blick haben das Bild immer mehr durchlöchert. Bis<br />
ich es dann habe sein lassen.<br />
Während das Wasser plätschert, kommt mir ein Gedanke. Ich spüre mit einem Mal, wie ich fröhlich<br />
werde. Ich trete vor Franz hin, beschwingt, und winke mit den Armen. Weißt du was, Franz? Diesen<br />
Sommer fahren wir ans Meer. Wir machen mal so richtig Urlaub, wir zwei. Auszeit. Das wird uns<br />
gut tun. Du warst doch noch nie am Meer, Franz. Am Meer gibt es Ebbe und Flut, weißt du. Bei<br />
Ebbe können wir ganz weit raus spazieren. Das Watt ist hart, das trägt den Rollstuhl. Meine Stimme<br />
wird weich. Wenn das Meer wieder kommt, Franz, dann wird alles neu. Dann spült es alles weg, die<br />
vielen Kothaufen von den Wattwürmern und den ganzen Unrat der sich tagsüber angesammelt hat.<br />
Und überhaupt alles. Mit einem Mal. Franz sieht mich mit großen Augen an.<br />
Ich nehme ein neues Taschentuch und wische ihm die Spucke vom Kinn.<br />
Einmal ans Meer