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Herrin der Gezeiten Sandra Buchgraber Herrin der Gezeiten - ORF

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<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

<strong>Sandra</strong> <strong>Buchgraber</strong><br />

Stachelbeerenhäutedosentomatenkruste<br />

Taufscheinurkundebettpfannespinnwebenvorhang<br />

Rosenkranzperlenmatschkaffeehäferlscherbentamponschnur<br />

Es muss alles seine Ordnung haben, murmelte sie vor sich hin. Ordnung ist Leben, nein, Überleben.<br />

Sie zwängte zwei abgerissene Knöpfe in eine Zündholzschachtel und legte sie vorsichtig auf einen<br />

Berg von Zeitschriften. Struktur. System. Sauberkeit, hörte sie die Mutter skandieren. Die drei S.<br />

Vergiss die Männer und die Liebe! Die bringen nur Chaos in dein Leben. Und hinterher bist du<br />

alleine und darfst den Dreck selbst wegräumen. Ihre Mutter hatte sie alleine großgezogen. Sie<br />

war Reinigungskraft von Beruf. Die rüschenbesetzten Schürzen und Klei<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mutter hatte sie<br />

gleich nach <strong>der</strong> Verabschiedung in <strong>der</strong> Feuerhalle in Koffer gepackt und auf dem Klei<strong>der</strong>schrank<br />

zwischengelagert. Sie hatte viele Dinge in Zwischenlagern. Sie sammelte leere Milchkartons mit <strong>der</strong><br />

gleichen Begeisterung wie an<strong>der</strong>e fremdländische Briefmarken. Essbare Trophäen verpackte sie in<br />

Plastiksäcke und schichtete sie neben dem Fenster. Auf <strong>der</strong> Fensterbank standen Plastikflaschen,<br />

die mit trüben Flüssigkeiten gefüllt waren. Sekundärliteratur und Zeitschriften stapelte sie zu Türmen<br />

rund um ihr Bett. Manche Türme reichten bis zur Decke <strong>der</strong> kleinen Altbauwohnung. Sie hatte<br />

keinen Kühlschrank. Es gab keinen Mistkübel. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, je etwas<br />

weggeworfen zu haben. Die Luft war in Zonen unterteilt. Angereichert mit den unterschiedlichsten<br />

Gerüchen. Es war Frühlingsbeginn. Die Zentralheizung lief auf <strong>der</strong> höchsten Stufe.<br />

<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

Die Wände und die Decke waren mit Papierblättern in unterschiedlichen Formaten plakatiert. Auf<br />

dem Papier waren handschriftliche Notizen zu lesen. Es waren Listen. Sie fertigte sie an, um nicht zu<br />

vergessen, wo sie die Dinge lagerte, die sie fand. Sie hatte dieses System entwickelt, weil es sichtbar<br />

machte, wie vieles sie bereits besaß. Es war eine große Landkarte, die Geschichten von <strong>der</strong> Welt<br />

erzählte. Von <strong>der</strong> Welt draußen vor ihrer Tür. Geschichten, aus <strong>der</strong> sie ihren eigenen Kosmos bastelte.<br />

Nach ihren Regeln und in ihrer Ordnung. Die Buchhaltung war ein schwieriges Unterfangen, wenn<br />

nicht sogar eine Lebensaufgabe. Und es kostete sie enorme Disziplin und Ausdauer, sie auf dem<br />

aktuellen Stand zu halten. Es gab nichts Schmerzhafteres für sie, als den Überblick zu verlieren.<br />

Die Anspannung war groß, denn es kamen täglich neue Dinge hinzu, die es wert waren, zumindest<br />

beachtet, sortiert und zwischengelagert zu werden.<br />

Sie verließ nur selten ihre Wohnung. Und wenn dann meist in den Abendstunden. Beim nahegelegenen<br />

Einkaufsmarkt durchsuchte sie die Restmüll- und Biotonnen nach verwertbaren Nahrungsmitteln.<br />

Regulär im Gebäude eingekauft hatte sie noch nie. Ganze Brotleibe hatte sie schon aus den Tiefen<br />

<strong>der</strong> Tonnen geborgen. Gemüse, abgelaufene Milchprodukte und eine tote Hauskatze. Sie breitete<br />

wie immer einige Plastiktüten auf dem Boden aus und legte die Ausbeute da-rauf. Dann griff sie<br />

ihr Schweizer Taschenmesser und begann ihre Arbeit. Hier ein Schnitt, dort die Kruste abgekratzt.<br />

Sie schnitzte, durchtrennte und entwurmte. Mit chirurgischem Spürsinn entfernte sie pelzige<br />

Schimmeldecken und freute sich darüber, wenn darunter makellos weißes Joghurt zu Tage kam.<br />

Ernsthaft krank war sie noch nie gewesen. Beim Roten Kreuz nahmen sie ihre Blutplasmaspende<br />

jedenfalls gerne entgegen. Das Achtel Rot lehnte sie jedesmal dankend ab.<br />

Klopf klopf ...!<br />

Sie hatte den Termin im Kalen<strong>der</strong> eingetragen. Das heutige Datum war mit rotem Filzstift eingekreist<br />

und in das Feld darunter hatte sie das Wort Einbrecher notiert. Dann hatte sie das Wort wie<strong>der</strong><br />

durchgestrichen und mit <strong>der</strong> Filzstiftspitze darauf eingehackt. Vor dem Schlafen gehen war sie noch<br />

lange angezogen auf ihrem Bett gelegen und hatte an die Decke gestarrt. Sie hatte versucht, die<br />

kleinen Mücken am Plafond zu zählen. Aber kurz bevor sie die Zählung beenden konnte, hatte eines<br />

<strong>der</strong> Tiere seine Flügel ausgebreitet und war aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Zum Trost hatte sie<br />

noch eine Weile dem Knistern <strong>der</strong> Plastiktüten und dem Flug <strong>der</strong> Fleischfliegen gelauscht. So muss<br />

Urlaub am Meer sein, dachte sie sich. Am liebsten genoss sie dieses meditative Erlebnis, wenn sie<br />

dabei bewusst zu schielen begann. Dann schien es, als ob sich die zu Wellenberge aufgetürmten<br />

Gegenstände um das Bett herum vor ihr verneigten. Sie brandeten an die Rän<strong>der</strong> ihres Körpers,


enetzten sie und hüllten sie in einen wohligen Kokon. Es beruhigte sie und gab ihr das Gefühl,<br />

lebendig zu sein.<br />

Zum Fernsehen hatte sie keine Lust verspürt. Es regte sie meistens auf. Vor allem die Werbespots aus<br />

<strong>der</strong> Lebensmittelbranche sorgten dafür, dass sie nicht einschlafen konnte und auch zu später Stunde<br />

noch ihre Notizen zu sichten begann. In Reih und Glied glänzte dort ein gewachstes Obstsortiment<br />

neben dem an<strong>der</strong>en. Und vor <strong>der</strong> Auslage stand ein grinsen<strong>der</strong> Verkäufer und stemmte die Hände in<br />

die Hüften. Er hatte alles unter Kontrolle. Und es schien spielend einfach zu sein. Die Auswirkungen<br />

des letzten Spots eines deutschen Discounters, den sie gesehen hatte, waren verheerend gewesen.<br />

Zuerst war die Wut in ihr aufgeflackert. Ihre Gedanken hatten sich beschleunigt. Einvernehmlich<br />

mit ihrem Puls. Es war wie ein Rausch gewesen, <strong>der</strong> über sie hereinbrach und sie zwang, die<br />

Ärmel hochzukrempeln. Das Ritual hatte sich die ganze Nacht lang gezogen. Ihre Hände hatten<br />

sich unaufhörlich durch das vielschichtige Allerlei tief hinab bis auf den matschigen Untergrund<br />

gewühlt. Dabei hatte sie darauf achten müssen, dass sie die Ordnung <strong>der</strong> Anhäufungen nicht<br />

störte, da ansonsten ihre Notizen nicht mehr zu gebrauchen waren. Reiß dich zusammen, hatte<br />

sie sich befohlen. Ihre Fingernägel waren dabei eingerissen und entlang ihrer Arme hatte sie sich<br />

Schnittwunden zugezogen. Geflucht hatte sie und energisches Hämmern <strong>der</strong> Nachbarn hatte sie<br />

begleitet. Am Morgen danach hatte sie sich nicht mehr erinnert, ob sie nach etwas gesucht o<strong>der</strong><br />

etwas gefunden hatte, das es noch zu katalogisieren galt.<br />

<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

Blauschimmelkäsesterbeurkundephotoalbumnussschale<br />

Fruchtfliegenflügelteerosenblattzigarettenfilterstrumpfbandsoletti<br />

Pensionsbescheidstaubsaugerbeutelmarillenknödelkernesalatschleu<strong>der</strong><br />

Kakerlakenbeinwundsalbencomputerführerscheinzertifikatfingernagelhaut<br />

Sie nannte sie Einbrecher. Mit Besuch hatte das ihrer Meinung nach nichts zu tun. Sie kamen<br />

ohne Einladung und beschmutzten mit ihren Blicken das, was für sie rein war. Sie entwendeten<br />

nichts. Sie entwerteten. Und darin waren sich alle Einbrecher sehr ähnlich. Sobald sie die Wohnung<br />

betraten, hielten sie sich alle einstimmig die Hand vor den Mund. Das nahm sie ihnen sehr übel.<br />

Keiner würdigte sie mehr eines Blickes. Dann blieben sie in dem schmalen Vorraum stehen und<br />

kommentierten ihr Hab und Gut. Dabei stierten sie bis in die hinterste Ecke und rümpften ihre Nasen.<br />

Manche fügten dann noch ein Gott im Himmel hinzu, aber sie hatte noch nie verstanden, welche<br />

Art von Erscheinungen sich den Einbrechern in ihrer bescheidenen Behausung offenbarte. Der<br />

liebe Gott war ihr noch nie erschienen. Nicht einmal ein Engel. Dabei imponierten ihr die geflügelten<br />

Boten. Ihr fiel kein irdisches Geschöpf ein, das <strong>der</strong>art rein und blitzblank war, wie ein Engel.<br />

Wenn die Einbrecher einmal die Wohnungsinnereien gesehen und gerochen hatten, kamen sie immer<br />

wie<strong>der</strong>. Es waren Wie<strong>der</strong>holungstäter. Zuerst kamen die Sozialarbeiter. Das war die Vorhut. Dann<br />

kamen welche mit braunen Aktentaschen, die sich ihr nicht vorstellten. Wortkarge. Schmallippige.<br />

Sie kannte sie alle. Sie waren dafür verantwortlich, dass sie sich schämte. Die Einbrecher hatten<br />

nämlich einiges daran auszusetzen, wie sie lebte. Wie können sie nur in diesem Müll leben? fragten<br />

sie sie und blickten ihr dabei wie<strong>der</strong> nicht in die Augen. Eine Kloake! Son<strong>der</strong>mülldeponie, zischten<br />

sie. Sie sah die Einbrecher ungläubig an und verstand nicht, was die sahen. Sie wusste wohl, dass<br />

ihre Arbeit noch nicht beendet war und vieles noch zu schlichten und zu registrieren war. Und sie<br />

war überzeugt, dass sie noch unzählige Schätze bergen würde, mit denen sie nicht mehr zu rechnen<br />

gehofft hatte. Erst unlängst hatte sie am Grunde des fast zur Gänze aufgelösten Fußbodens einen<br />

Eierkarton gefunden. Darin verbargen sich die Überreste einer alten Kaffeetasse, die am Rand mit<br />

einer blassrosa Blumengirlande verziert war. Sie war hocherfreut. Die Tasse war ein Andenken an ihre<br />

Mutter und hatte einen beson<strong>der</strong>en Platz verdient. Ihre Freude währte jedoch nicht lange. Sie konnte<br />

sich nämlich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, wo sie nach <strong>der</strong> dementsprechenden Notiz<br />

suchen sollte, um eine Korrektur des Standortes vorzunehmen. Die Tasse musste also einstweilen<br />

wie<strong>der</strong> auf Tauchgang gehen.<br />

Das Dilemma mit <strong>der</strong> Kaffeetasse war jedoch kein Einzelfall. Und sie musste sich öfters mit gesenktem<br />

Kopf eingestehen, dass sie noch lange nicht am Ziel war. In diesen Momenten <strong>der</strong> Ohnmacht<br />

erinnerte sie sich zwangsläufig zurück an die mütterlichen Standpauken. Ausruhen kannst du dich<br />

dann, wenn du tot bist, mein Kind, hörte sie die Mutter mahnen. Sie war ihr dankbar dafür. Für ihre


Strenge. Für ihre Geduld, die bis weit über ihren Tod hinaus reichte. Die Einbrecher hatten jedoch<br />

wenig Verständnis für die zeitlichen Verzögerungen. Es schien sie auch nicht zu interessieren, dass<br />

man in dieser Angelegenheit mit großer Sorgfalt vorgehen musste. Es ist ein Prozess, erklärte sie<br />

ihnen. Einige schickten ihr dann eingeschriebene Briefe.<br />

Viele Stempel und Fristen später drohte man ihr auch mit Räumungsklage und Desinfektion. In ihrer<br />

Not hatte sie sich daraufhin an den Bundespräsidenten gewandt. Sie hatte ihm einen Brief geschrieben<br />

und ihn höflich aufgefor<strong>der</strong>t, seine Truppen zurückzubeor<strong>der</strong>n. Nachdem er nicht geantwortet hatte,<br />

schrieb sie ihm einen zweiten Brief. Die Anrede Sehr geehrter Herr Bundespräsident! ersetzte sie<br />

durch Nicht sehr geehrter Herr Bastard! Der restliche Inhalt war ebenfalls nicht sehr höflich.<br />

Nachdem die Einbrecher es zu arg getrieben hatten, öffnete sie ihnen die Wohnungstüre nicht<br />

mehr. Diese schlugen dann ungeniert mit ihren Fäusten gegen das Holz und klemmten bunte<br />

Vorladungskarten in den Türrahmen. Die Belagerungen machten sie sehr nervös. Aber letztlich<br />

wusste sie, wie es enden würde. Es hatte schon oft geendet. Und niemals freiwillig. Und doch hatte<br />

sie immer wie<strong>der</strong> aufs Neue begonnen, die Leere aufzufüllen. Unbeirrt wie eine fleißige Arbeiterameise,<br />

<strong>der</strong>en Bau einem gehässigen Kin<strong>der</strong>fuß in die Quere gekommen war.<br />

<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

Klopf, klopf, klopf ...!<br />

Sie war nicht ungepflegt. Einzig alleine ihre Finger-nägel verrieten den Umstand, dass sie sich nicht<br />

mit Oberflächlichem zufrieden gab. Ihre Betreuerin vom Arbeitsmarktservice hatte nie vollständig<br />

aufklären können, warum es nicht gelingen wollte, die aparte Frau mit <strong>der</strong> manierierten Sprache zu<br />

vermitteln. Reifeprüfung. Keinerlei Vorstrafen. Pünktlich. Keine degenerierte Wirbelsäule.<br />

Ein wenig schrullig vielleicht. Aber sonst einsatzfähig. Im Lagerbereich wurde sie eingesetzt, als<br />

Salatwäscherin, Reinigungskraft, Küchenhilfe, Bürohilfskraft. Sie nahm an EDV-Kursen teil und<br />

absolvierte den Europäischen Computerführerschein. Und dennoch behielt sie einen Job nicht<br />

länger als wenige Tage. Nicht teamfähig, war in den Rückmeldebögen an das Arbeitsmarktservice<br />

zu lesen. Sie verschreckt die Kunden, schrieb <strong>der</strong> Chef des Hendl-Ecks. Arbeitet unsystematisch,<br />

benötigt Assistenz, um vorgeschriebene Arbeitsabläufe einzuhalten, meldete <strong>der</strong> Personalchef einer<br />

Reinigungsfirma.<br />

Ein Jahr später wurde ihr die unbefristete Invaliditätspension zuerkannt. Den Wortteil Invalidität hatte<br />

sie nach Erhalt des Bescheides <strong>der</strong> Pensionsversicherungsanstalt sofort mit Rotstift übermalt.<br />

Lächerlich, hatte sie befunden. Sie, die je<strong>der</strong> Fließbandarbeiterin, die im Dreischichtbetrieb<br />

Essiggurken in Einmachgläser stopfte, die Stirn bieten konnte, wenn sie es wollte ... arbeitsunfähig!<br />

Ihre Empörung hielt einige Tage lang an. Sie verfasste Briefe an den Obersten Gerichtshof und<br />

an den Präsidenten <strong>der</strong> Arbeiterkammer und legte Be-schwerde ein. Die hüllten sich jedoch in<br />

Schweigen. Als die Kränkung langsam nachließ, erkannte sie schließlich die glückliche Fügung.<br />

Diese angebliche Arbeitsunfähigkeit ermöglichte es, dass sie ihre Energien nun ausschließlich ihrer<br />

Bestimmung widmen konnte. Und eins war sicher, ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen.<br />

Klooopfffff! Klooopffff! Kloooopfff!<br />

Sardinenbüchsenöffnergemüsebrühenwürfelsehhilfenetui<br />

Ameisenfalleplüschteddybärknopfaugeblasenpulvergemischhaarnetz<br />

Geschirrspültablettekaramellbonbonpapiereinweghandschuhrosinenkuchen<br />

Bohraufsatzsportabzeichensalbeiblattkrümelkatzenkadaverhandstaubsauggerät<br />

Erstehilfekastenaquarellfarbtubefussballweltmeisterschaftssammelalbummutterasche<br />

Ooooordnung, Ooordnung, sei mein Gast ... sang sie vor sich her. Die Melodie erinnerte an das<br />

Requiem von Mozart. Seit dem Morgengrauen war sie damit beschäftigt, unzählige Exemplare „Der<br />

Standard“ von den letzten Jahren aufs Neue aufzutürmen. Der Stapel hatte sich in <strong>der</strong> Nacht zuvor<br />

verselbständigt und war beinahe geräuschlos wie eine flache Südseewelle über ihr Bett geschwappt.<br />

Sie war erst aufgewacht, nachdem es ihrem Atem immer schwerer gefallen war, den Brustkorb in<br />

die Höhe zu stemmen. Eine fette Schlagzeile hatte sich auf ihr Gesicht gelegt und berichtete ihr<br />

von den verheerenden Folgen des Tsunami in Ostasien, als sie die Augen aufschlug. Sie hatte ihre<br />

Li<strong>der</strong> daraufhin wie<strong>der</strong> geschlossen und noch eine Weile in <strong>der</strong> nach Druckerschwärze duftenden<br />

Zeitungshöhle vor sich hin gedöst. Seit zwanzig Minuten kniete sie nun auf dem Bett und blickte<br />

angestrengt um sich. Trotz intensiver Durchforstung ihrer näheren Umgebung konnte sie die Ausgabe


vom 11. Oktober 2003 nicht finden. Gereizt vermerkte sie den Verlust auf einem Notizzettel. Die<br />

Aufgabe neigte sich langsam dem Ende zu. Ihre schwarzen Fingerkuppen sichteten die letzten<br />

Ausgaben, die auf ihrem Schoß lagen. Die grünen Euroscheine, die ihr beim Durchblättern in die<br />

Hände fielen, schob sie einzeln zwischen die Papierbögen zurück. Auch die gepressten Kakerlaken,<br />

die ihre letzte Ruhestätte zwischen den rosa Seiten gefunden hatten, erfuhren nur eine kurzfristige<br />

Störung <strong>der</strong> Totenruhe.<br />

Und da war es wie<strong>der</strong>. Das Klopfen, das bis unter ihre Schädeldecke kroch. Sie sang lauter.<br />

Oooordnuuuung ...!<br />

Sie hatte damit gerechnet, dass sie wie<strong>der</strong> kommen. Und dass sie sich in <strong>der</strong> Zwischenzeit vermehrt<br />

hatten. Sie hörte das Getrappel <strong>der</strong> vielen Fußpaare vor ihrer Tür. In <strong>der</strong> Nacht hatte sie Alpträume<br />

gehabt. Es war vergleichsweise einfach, die Briefe <strong>der</strong> Einbrecher in chronologischer Reihenfolge,<br />

nach Absen<strong>der</strong> und Poststempel<br />

sortiert, in ihrer Weltordnung verschwinden zu lassen. Aber gegenüber den gefräßigen Schaufeln,<br />

den behandschuhten Männern in Overalls, dem von Polizeibeamten flankierten Gerichtsvollzieher,<br />

den schwarzen Plastiksäcken, den emphatischen Gesten des Sozialarbeiters, den schaulustigen<br />

Blicken <strong>der</strong> Nachbarn, die in ihre Welt eindrangen, war je<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand zwecklos. Und eine<br />

Zwangseinweisung in die Landesnervenanstalt wollte sie nicht mehr provozieren. Beim letzten Mal<br />

hatte<br />

sie versucht unterzutauchen. Sie hatte tief Luft geholt und war kopfüber in das bunte Potpourri<br />

gesprungen. Die herausragenden Gliedmaßen hatte sie notdürftig mit Zeitungen und Salatblättern<br />

bedeckt. Dann hatte sie sich tot gestellt. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis sie entlassen<br />

wurde.<br />

Und anschließend hatte es wie<strong>der</strong>um mehrere Wochen gedauert, bis ihre von Psychopharmaka<br />

verklebten Synapsen wie<strong>der</strong> Lust verspürten, die Ameisenbeine auf Trab zu bringen.<br />

<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

Das Timbre ihrer Stimme wurde tiefer. OOOORDNUUUNG ... Sie bahnte sich den Weg zum Fenster.<br />

Auf <strong>der</strong> Straße standen zwei Lastkraftwägen mit <strong>der</strong> Aufschrift „Saubermann-Entrümpelungen“.<br />

Sie schob die Plastikflaschen zur Seite und öffnete den rechten Fensterflügel. Ein süßlicher Duft<br />

schlug ihr entgegen und vermischte sich unwillig mit <strong>der</strong> abgestandenen Luft im Wohnungsinneren.<br />

Die Baumkronen im Park gegenüber waren von einem zartrosa Blütenfilm überzogen. Die Natur<br />

stand im Saft. Die Arbeiter vom städtischen Wirtschaftshof waren damit beschäftigt, abgestorbenes<br />

Geäst zu Haufen zusammenzutragen. Die braunen Laubflecken auf dem Grasteppich wurden mit<br />

dem Rechen entfernt. Blätter und Äste wurden getrennt behandelt. Größere Äste wurden zersägt.<br />

Abgehobelte Erinnerungen an das satte Baumkleid des letzten Jahres wurden kompostiert. Ihr<br />

Mund formte erneut ein „O“ und erstarrte, als <strong>der</strong> Holzrahmen <strong>der</strong> Wohnungstür splitternd den<br />

Wi<strong>der</strong>stand aufgab.<br />

Sie kommen!<br />

Sie kommen sie zu holen!<br />

Sie werden sie nicht finden!<br />

Niemand wird sie finden!<br />

Denn sie ist<br />

weit weg<br />

von sich selbst!

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