Herrin der Gezeiten Sandra Buchgraber Herrin der Gezeiten - ORF
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vom 11. Oktober 2003 nicht finden. Gereizt vermerkte sie den Verlust auf einem Notizzettel. Die<br />
Aufgabe neigte sich langsam dem Ende zu. Ihre schwarzen Fingerkuppen sichteten die letzten<br />
Ausgaben, die auf ihrem Schoß lagen. Die grünen Euroscheine, die ihr beim Durchblättern in die<br />
Hände fielen, schob sie einzeln zwischen die Papierbögen zurück. Auch die gepressten Kakerlaken,<br />
die ihre letzte Ruhestätte zwischen den rosa Seiten gefunden hatten, erfuhren nur eine kurzfristige<br />
Störung <strong>der</strong> Totenruhe.<br />
Und da war es wie<strong>der</strong>. Das Klopfen, das bis unter ihre Schädeldecke kroch. Sie sang lauter.<br />
Oooordnuuuung ...!<br />
Sie hatte damit gerechnet, dass sie wie<strong>der</strong> kommen. Und dass sie sich in <strong>der</strong> Zwischenzeit vermehrt<br />
hatten. Sie hörte das Getrappel <strong>der</strong> vielen Fußpaare vor ihrer Tür. In <strong>der</strong> Nacht hatte sie Alpträume<br />
gehabt. Es war vergleichsweise einfach, die Briefe <strong>der</strong> Einbrecher in chronologischer Reihenfolge,<br />
nach Absen<strong>der</strong> und Poststempel<br />
sortiert, in ihrer Weltordnung verschwinden zu lassen. Aber gegenüber den gefräßigen Schaufeln,<br />
den behandschuhten Männern in Overalls, dem von Polizeibeamten flankierten Gerichtsvollzieher,<br />
den schwarzen Plastiksäcken, den emphatischen Gesten des Sozialarbeiters, den schaulustigen<br />
Blicken <strong>der</strong> Nachbarn, die in ihre Welt eindrangen, war je<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand zwecklos. Und eine<br />
Zwangseinweisung in die Landesnervenanstalt wollte sie nicht mehr provozieren. Beim letzten Mal<br />
hatte<br />
sie versucht unterzutauchen. Sie hatte tief Luft geholt und war kopfüber in das bunte Potpourri<br />
gesprungen. Die herausragenden Gliedmaßen hatte sie notdürftig mit Zeitungen und Salatblättern<br />
bedeckt. Dann hatte sie sich tot gestellt. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis sie entlassen<br />
wurde.<br />
Und anschließend hatte es wie<strong>der</strong>um mehrere Wochen gedauert, bis ihre von Psychopharmaka<br />
verklebten Synapsen wie<strong>der</strong> Lust verspürten, die Ameisenbeine auf Trab zu bringen.<br />
<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />
Das Timbre ihrer Stimme wurde tiefer. OOOORDNUUUNG ... Sie bahnte sich den Weg zum Fenster.<br />
Auf <strong>der</strong> Straße standen zwei Lastkraftwägen mit <strong>der</strong> Aufschrift „Saubermann-Entrümpelungen“.<br />
Sie schob die Plastikflaschen zur Seite und öffnete den rechten Fensterflügel. Ein süßlicher Duft<br />
schlug ihr entgegen und vermischte sich unwillig mit <strong>der</strong> abgestandenen Luft im Wohnungsinneren.<br />
Die Baumkronen im Park gegenüber waren von einem zartrosa Blütenfilm überzogen. Die Natur<br />
stand im Saft. Die Arbeiter vom städtischen Wirtschaftshof waren damit beschäftigt, abgestorbenes<br />
Geäst zu Haufen zusammenzutragen. Die braunen Laubflecken auf dem Grasteppich wurden mit<br />
dem Rechen entfernt. Blätter und Äste wurden getrennt behandelt. Größere Äste wurden zersägt.<br />
Abgehobelte Erinnerungen an das satte Baumkleid des letzten Jahres wurden kompostiert. Ihr<br />
Mund formte erneut ein „O“ und erstarrte, als <strong>der</strong> Holzrahmen <strong>der</strong> Wohnungstür splitternd den<br />
Wi<strong>der</strong>stand aufgab.<br />
Sie kommen!<br />
Sie kommen sie zu holen!<br />
Sie werden sie nicht finden!<br />
Niemand wird sie finden!<br />
Denn sie ist<br />
weit weg<br />
von sich selbst!