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Herrin der Gezeiten Sandra Buchgraber Herrin der Gezeiten - ORF

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enetzten sie und hüllten sie in einen wohligen Kokon. Es beruhigte sie und gab ihr das Gefühl,<br />

lebendig zu sein.<br />

Zum Fernsehen hatte sie keine Lust verspürt. Es regte sie meistens auf. Vor allem die Werbespots aus<br />

<strong>der</strong> Lebensmittelbranche sorgten dafür, dass sie nicht einschlafen konnte und auch zu später Stunde<br />

noch ihre Notizen zu sichten begann. In Reih und Glied glänzte dort ein gewachstes Obstsortiment<br />

neben dem an<strong>der</strong>en. Und vor <strong>der</strong> Auslage stand ein grinsen<strong>der</strong> Verkäufer und stemmte die Hände in<br />

die Hüften. Er hatte alles unter Kontrolle. Und es schien spielend einfach zu sein. Die Auswirkungen<br />

des letzten Spots eines deutschen Discounters, den sie gesehen hatte, waren verheerend gewesen.<br />

Zuerst war die Wut in ihr aufgeflackert. Ihre Gedanken hatten sich beschleunigt. Einvernehmlich<br />

mit ihrem Puls. Es war wie ein Rausch gewesen, <strong>der</strong> über sie hereinbrach und sie zwang, die<br />

Ärmel hochzukrempeln. Das Ritual hatte sich die ganze Nacht lang gezogen. Ihre Hände hatten<br />

sich unaufhörlich durch das vielschichtige Allerlei tief hinab bis auf den matschigen Untergrund<br />

gewühlt. Dabei hatte sie darauf achten müssen, dass sie die Ordnung <strong>der</strong> Anhäufungen nicht<br />

störte, da ansonsten ihre Notizen nicht mehr zu gebrauchen waren. Reiß dich zusammen, hatte<br />

sie sich befohlen. Ihre Fingernägel waren dabei eingerissen und entlang ihrer Arme hatte sie sich<br />

Schnittwunden zugezogen. Geflucht hatte sie und energisches Hämmern <strong>der</strong> Nachbarn hatte sie<br />

begleitet. Am Morgen danach hatte sie sich nicht mehr erinnert, ob sie nach etwas gesucht o<strong>der</strong><br />

etwas gefunden hatte, das es noch zu katalogisieren galt.<br />

<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />

Blauschimmelkäsesterbeurkundephotoalbumnussschale<br />

Fruchtfliegenflügelteerosenblattzigarettenfilterstrumpfbandsoletti<br />

Pensionsbescheidstaubsaugerbeutelmarillenknödelkernesalatschleu<strong>der</strong><br />

Kakerlakenbeinwundsalbencomputerführerscheinzertifikatfingernagelhaut<br />

Sie nannte sie Einbrecher. Mit Besuch hatte das ihrer Meinung nach nichts zu tun. Sie kamen<br />

ohne Einladung und beschmutzten mit ihren Blicken das, was für sie rein war. Sie entwendeten<br />

nichts. Sie entwerteten. Und darin waren sich alle Einbrecher sehr ähnlich. Sobald sie die Wohnung<br />

betraten, hielten sie sich alle einstimmig die Hand vor den Mund. Das nahm sie ihnen sehr übel.<br />

Keiner würdigte sie mehr eines Blickes. Dann blieben sie in dem schmalen Vorraum stehen und<br />

kommentierten ihr Hab und Gut. Dabei stierten sie bis in die hinterste Ecke und rümpften ihre Nasen.<br />

Manche fügten dann noch ein Gott im Himmel hinzu, aber sie hatte noch nie verstanden, welche<br />

Art von Erscheinungen sich den Einbrechern in ihrer bescheidenen Behausung offenbarte. Der<br />

liebe Gott war ihr noch nie erschienen. Nicht einmal ein Engel. Dabei imponierten ihr die geflügelten<br />

Boten. Ihr fiel kein irdisches Geschöpf ein, das <strong>der</strong>art rein und blitzblank war, wie ein Engel.<br />

Wenn die Einbrecher einmal die Wohnungsinnereien gesehen und gerochen hatten, kamen sie immer<br />

wie<strong>der</strong>. Es waren Wie<strong>der</strong>holungstäter. Zuerst kamen die Sozialarbeiter. Das war die Vorhut. Dann<br />

kamen welche mit braunen Aktentaschen, die sich ihr nicht vorstellten. Wortkarge. Schmallippige.<br />

Sie kannte sie alle. Sie waren dafür verantwortlich, dass sie sich schämte. Die Einbrecher hatten<br />

nämlich einiges daran auszusetzen, wie sie lebte. Wie können sie nur in diesem Müll leben? fragten<br />

sie sie und blickten ihr dabei wie<strong>der</strong> nicht in die Augen. Eine Kloake! Son<strong>der</strong>mülldeponie, zischten<br />

sie. Sie sah die Einbrecher ungläubig an und verstand nicht, was die sahen. Sie wusste wohl, dass<br />

ihre Arbeit noch nicht beendet war und vieles noch zu schlichten und zu registrieren war. Und sie<br />

war überzeugt, dass sie noch unzählige Schätze bergen würde, mit denen sie nicht mehr zu rechnen<br />

gehofft hatte. Erst unlängst hatte sie am Grunde des fast zur Gänze aufgelösten Fußbodens einen<br />

Eierkarton gefunden. Darin verbargen sich die Überreste einer alten Kaffeetasse, die am Rand mit<br />

einer blassrosa Blumengirlande verziert war. Sie war hocherfreut. Die Tasse war ein Andenken an ihre<br />

Mutter und hatte einen beson<strong>der</strong>en Platz verdient. Ihre Freude währte jedoch nicht lange. Sie konnte<br />

sich nämlich beim besten Willen nicht mehr entsinnen, wo sie nach <strong>der</strong> dementsprechenden Notiz<br />

suchen sollte, um eine Korrektur des Standortes vorzunehmen. Die Tasse musste also einstweilen<br />

wie<strong>der</strong> auf Tauchgang gehen.<br />

Das Dilemma mit <strong>der</strong> Kaffeetasse war jedoch kein Einzelfall. Und sie musste sich öfters mit gesenktem<br />

Kopf eingestehen, dass sie noch lange nicht am Ziel war. In diesen Momenten <strong>der</strong> Ohnmacht<br />

erinnerte sie sich zwangsläufig zurück an die mütterlichen Standpauken. Ausruhen kannst du dich<br />

dann, wenn du tot bist, mein Kind, hörte sie die Mutter mahnen. Sie war ihr dankbar dafür. Für ihre

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