Herrin der Gezeiten Sandra Buchgraber Herrin der Gezeiten - ORF
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Strenge. Für ihre Geduld, die bis weit über ihren Tod hinaus reichte. Die Einbrecher hatten jedoch<br />
wenig Verständnis für die zeitlichen Verzögerungen. Es schien sie auch nicht zu interessieren, dass<br />
man in dieser Angelegenheit mit großer Sorgfalt vorgehen musste. Es ist ein Prozess, erklärte sie<br />
ihnen. Einige schickten ihr dann eingeschriebene Briefe.<br />
Viele Stempel und Fristen später drohte man ihr auch mit Räumungsklage und Desinfektion. In ihrer<br />
Not hatte sie sich daraufhin an den Bundespräsidenten gewandt. Sie hatte ihm einen Brief geschrieben<br />
und ihn höflich aufgefor<strong>der</strong>t, seine Truppen zurückzubeor<strong>der</strong>n. Nachdem er nicht geantwortet hatte,<br />
schrieb sie ihm einen zweiten Brief. Die Anrede Sehr geehrter Herr Bundespräsident! ersetzte sie<br />
durch Nicht sehr geehrter Herr Bastard! Der restliche Inhalt war ebenfalls nicht sehr höflich.<br />
Nachdem die Einbrecher es zu arg getrieben hatten, öffnete sie ihnen die Wohnungstüre nicht<br />
mehr. Diese schlugen dann ungeniert mit ihren Fäusten gegen das Holz und klemmten bunte<br />
Vorladungskarten in den Türrahmen. Die Belagerungen machten sie sehr nervös. Aber letztlich<br />
wusste sie, wie es enden würde. Es hatte schon oft geendet. Und niemals freiwillig. Und doch hatte<br />
sie immer wie<strong>der</strong> aufs Neue begonnen, die Leere aufzufüllen. Unbeirrt wie eine fleißige Arbeiterameise,<br />
<strong>der</strong>en Bau einem gehässigen Kin<strong>der</strong>fuß in die Quere gekommen war.<br />
<strong>Herrin</strong> <strong>der</strong> <strong>Gezeiten</strong><br />
Klopf, klopf, klopf ...!<br />
Sie war nicht ungepflegt. Einzig alleine ihre Finger-nägel verrieten den Umstand, dass sie sich nicht<br />
mit Oberflächlichem zufrieden gab. Ihre Betreuerin vom Arbeitsmarktservice hatte nie vollständig<br />
aufklären können, warum es nicht gelingen wollte, die aparte Frau mit <strong>der</strong> manierierten Sprache zu<br />
vermitteln. Reifeprüfung. Keinerlei Vorstrafen. Pünktlich. Keine degenerierte Wirbelsäule.<br />
Ein wenig schrullig vielleicht. Aber sonst einsatzfähig. Im Lagerbereich wurde sie eingesetzt, als<br />
Salatwäscherin, Reinigungskraft, Küchenhilfe, Bürohilfskraft. Sie nahm an EDV-Kursen teil und<br />
absolvierte den Europäischen Computerführerschein. Und dennoch behielt sie einen Job nicht<br />
länger als wenige Tage. Nicht teamfähig, war in den Rückmeldebögen an das Arbeitsmarktservice<br />
zu lesen. Sie verschreckt die Kunden, schrieb <strong>der</strong> Chef des Hendl-Ecks. Arbeitet unsystematisch,<br />
benötigt Assistenz, um vorgeschriebene Arbeitsabläufe einzuhalten, meldete <strong>der</strong> Personalchef einer<br />
Reinigungsfirma.<br />
Ein Jahr später wurde ihr die unbefristete Invaliditätspension zuerkannt. Den Wortteil Invalidität hatte<br />
sie nach Erhalt des Bescheides <strong>der</strong> Pensionsversicherungsanstalt sofort mit Rotstift übermalt.<br />
Lächerlich, hatte sie befunden. Sie, die je<strong>der</strong> Fließbandarbeiterin, die im Dreischichtbetrieb<br />
Essiggurken in Einmachgläser stopfte, die Stirn bieten konnte, wenn sie es wollte ... arbeitsunfähig!<br />
Ihre Empörung hielt einige Tage lang an. Sie verfasste Briefe an den Obersten Gerichtshof und<br />
an den Präsidenten <strong>der</strong> Arbeiterkammer und legte Be-schwerde ein. Die hüllten sich jedoch in<br />
Schweigen. Als die Kränkung langsam nachließ, erkannte sie schließlich die glückliche Fügung.<br />
Diese angebliche Arbeitsunfähigkeit ermöglichte es, dass sie ihre Energien nun ausschließlich ihrer<br />
Bestimmung widmen konnte. Und eins war sicher, ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen.<br />
Klooopfffff! Klooopffff! Kloooopfff!<br />
Sardinenbüchsenöffnergemüsebrühenwürfelsehhilfenetui<br />
Ameisenfalleplüschteddybärknopfaugeblasenpulvergemischhaarnetz<br />
Geschirrspültablettekaramellbonbonpapiereinweghandschuhrosinenkuchen<br />
Bohraufsatzsportabzeichensalbeiblattkrümelkatzenkadaverhandstaubsauggerät<br />
Erstehilfekastenaquarellfarbtubefussballweltmeisterschaftssammelalbummutterasche<br />
Ooooordnung, Ooordnung, sei mein Gast ... sang sie vor sich her. Die Melodie erinnerte an das<br />
Requiem von Mozart. Seit dem Morgengrauen war sie damit beschäftigt, unzählige Exemplare „Der<br />
Standard“ von den letzten Jahren aufs Neue aufzutürmen. Der Stapel hatte sich in <strong>der</strong> Nacht zuvor<br />
verselbständigt und war beinahe geräuschlos wie eine flache Südseewelle über ihr Bett geschwappt.<br />
Sie war erst aufgewacht, nachdem es ihrem Atem immer schwerer gefallen war, den Brustkorb in<br />
die Höhe zu stemmen. Eine fette Schlagzeile hatte sich auf ihr Gesicht gelegt und berichtete ihr<br />
von den verheerenden Folgen des Tsunami in Ostasien, als sie die Augen aufschlug. Sie hatte ihre<br />
Li<strong>der</strong> daraufhin wie<strong>der</strong> geschlossen und noch eine Weile in <strong>der</strong> nach Druckerschwärze duftenden<br />
Zeitungshöhle vor sich hin gedöst. Seit zwanzig Minuten kniete sie nun auf dem Bett und blickte<br />
angestrengt um sich. Trotz intensiver Durchforstung ihrer näheren Umgebung konnte sie die Ausgabe