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Paul W. Bierbaum | Im Aeroplan über die Alpen

Am 23. September 1910 gelang es dem in Paris lebenden Perua­ner Jorge »Geo« Chavez (1887–1910), erstmals mit einem Flugzeug den Alpenhauptkamm zu überqueren. Der Flug ging vom schweizerischen Brig über den Simplonpass ins italienische Domodossola. Und endete tragisch: Während das versammelte Publi­kum schon in Jubelstürme über den geglückten Überflug ausbrach, stürzte der 23-jährige Pilot beim Lande­anflug ab. Vier Tage später verstarb er. Sein Tod löste in der ganzen Welt Betroffenheit aus. Über die Vorbereitungen dieses Fluges, den Flug selber und sein tragisches Ende veröffentlichte der Journalist Paul Willi Bierbaum, der als Bericht­erstat­ter vor Ort war, bereits im Oktober 1910 dieses Buch. Anlässlich des 130. Geburtstages von Geo Chavez am 13. Juni 2017 wurde es neu aufgelegt.

Am 23. September 1910 gelang es dem in Paris lebenden Perua­ner Jorge »Geo« Chavez (1887–1910), erstmals mit einem Flugzeug den Alpenhauptkamm zu überqueren. Der Flug ging vom schweizerischen Brig über den Simplonpass ins italienische Domodossola. Und endete tragisch: Während das versammelte Publi­kum schon in Jubelstürme über den geglückten Überflug ausbrach, stürzte der 23-jährige Pilot beim Lande­anflug ab. Vier Tage später verstarb er. Sein Tod löste in der ganzen Welt Betroffenheit aus.
Über die Vorbereitungen dieses Fluges, den Flug selber und sein tragisches Ende veröffentlichte der Journalist Paul Willi Bierbaum, der als Bericht­erstat­ter vor Ort war, bereits im Oktober 1910 dieses Buch. Anlässlich des 130. Geburtstages von Geo Chavez am 13. Juni 2017 wurde es neu aufgelegt.

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GEO CHAVEZ’ SIMPLONFLUG


www.verlag-monikafuchs.de<br />

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet <strong>die</strong>se Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet <strong>über</strong><br />

http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-947066-05-6 – auch als eBook erhältlich<br />

Bearbeitete Neuausgabe des gleichnamigen Werkes, erschienen 1910 im Orell<br />

Füssli Verlag, Zürich.<br />

Bildnachweis: S. 6: Museo d‘arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto,<br />

gemeinfrei, Bildvorlage: commons.wikimedia.org / S. 41, 59, 64, 69,<br />

102,130: Bildquelle: www.brig-wallis.com/chavez-flug.html / S. 132: Brig –<br />

Markus Schweiss, commons.wikimedia.org, Gnu-Lizenz für freie Dokumentation<br />

CC BY-SA 3.0 / Domodossola – Metaphysicus, commons.wikimedia.<br />

org, Gnu-Lizenz für freie Dokumentation CC BY-SA 3.0 / Lima – Rcbutcher,<br />

commons.wikimedia.org, gemeinfrei.<br />

© 2017 Verlag Monika Fuchs | Hildesheim | www.verlag-monikafuchs.de<br />

Covergestaltung: Steffi Röttger | www.s-artisfaction.com | Hannover<br />

Layout und Satz: Die Bücherfüxin | Hildesheim | www.buecherfuexin.de<br />

Printed in EU 2017


Inhalt<br />

Chavez. Gedicht von Artur Curti 7<br />

Geleitwort 11<br />

1 Zu den Wolken empor 15<br />

2 Drei Simplonwege:<br />

Straße, Tunnel, Luftlinie 19<br />

3 Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung<br />

und <strong>die</strong> Vorbereitungen 35<br />

4 Die meteorologische Situation 48<br />

5 Die Briger Flugwoche 58<br />

6 Der Flug <strong>über</strong> den Simplon 88<br />

7 Die Katastrophe 98<br />

8 Die letzten Tage und <strong>die</strong> letzten Stunden 110<br />

9 Aus Chavez’ Leben 120<br />

10 Zur Erde nieder 126<br />

Nachwort von Monika Fuchs 133<br />

5


Adriana Bisi Fabbri (1881–1918):<br />

Aviatore (Erinnerung an Géo Chávez)


Chavez<br />

Seit göttlicher Odem Natur belebt,<br />

Die Sehnsucht des Nordens den Süden erstrebt<br />

Hinauf zum Licht, wo <strong>die</strong> Schwalben zieh’n,<br />

Und <strong>über</strong> <strong>die</strong> Berge zum Frühling hin!<br />

Es locken <strong>die</strong> Geister seit ewiger Zeit<br />

Den Menschen zum Flug zur Unendlichkeit;<br />

Es locket des Ruhmes erhabenes Glück,<br />

Nach Riesenkämpfen ein Göttergeschick.<br />

Was willig <strong>die</strong> Schöpfung der Schwalbe verlieh’n,<br />

In herrlichem Fluge nach Süden zu zieh’n,<br />

Ein göttlich’ Geheimnis dem menschlichen Leben,<br />

Durchdringe das Dunkel — und lerne zu schweben!<br />

»Du fasstest des Blitzes Feuergewalt<br />

Und fürchtest dich nicht, wenn der Donner hallt,<br />

Du siehst den Adler der Erde entflieh’n,<br />

So wage denn auch, in <strong>die</strong> Lüfte zu zieh’n!«<br />

»Es haben schon Viele zu fliegen versucht,<br />

Das Schicksal begrub sie in tötlicher Flucht —<br />

Doch trotz’ ich der Erde, des Himmels Gewalten:<br />

Ich werde zum Fluge <strong>die</strong> Flügel entfalten!«<br />

7


Chavez<br />

Und <strong>über</strong> <strong>die</strong> Wolken zum blauen Azur,<br />

Zur firnegeschmückten Gebirgesnatur,<br />

Entschwebt ein Jüngling in eiligem Flug,<br />

Quer <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> in südlichem Zug.<br />

Verschwunden schon ist er dem Erdenblick:<br />

Dem Heldenjüngling leuchte das Glück.<br />

Auf mutiger, kühner, verwegener Fahrt,<br />

In Weltalls Weiten mit Flügeln zart!<br />

Hoch <strong>über</strong> dem Abgrund in sonnigem Licht,<br />

Wo freudiges Hoffen <strong>die</strong> Wolken durchbricht,<br />

Bezwingt in gewaltigem, stürmischem Streit<br />

Der menschliche Wille <strong>die</strong> Ewigkeit.<br />

»Du Sonne, verkläre den herrlichsten Sieg,<br />

Ihr Winde, entsaget verderblichem Krieg,<br />

Dass friedlich es lande, das glückhafte Schiff,<br />

Geborgen vor tückischem Schrecken und Riff!«<br />

Schon hat es vom Himmel <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> gegrüßt<br />

Und sieghaft dräuende Winde geküsst,<br />

Schon grüßet im Tale ein südliches Land<br />

Und jubelndes Winken von liebender Hand –<br />

Doch wehe! – der siegende Jüngling fällt –<br />

Unsterblichkeit weiht ihn – das Luftschiff zerschellt,<br />

Der Berge Titanen gewaltige Hand<br />

Stürzt einen Toten auf blumigen Strand.<br />

Zürich, 2. Oktober 1910.<br />

Arthur Curti<br />

8


In memoriam<br />

Geo Chavez


Geleitwort<br />

Wenn ich in den nachstehenden Seiten eine ausführlichere<br />

Schilderung <strong>über</strong> <strong>die</strong> Überfliegung des Simplon<br />

durch Geo Chavez gebe, so trieben mich zwei Gründe<br />

dazu: einmal das Geschehnis selbst, das mich in seiner Vielgestaltigkeit,<br />

seinen von Stunde zu Stunde wechselnden Bildern,<br />

seiner Spannung, seiner ereignisreichen Ouvertüre<br />

und seinem tragischen, erschütternden Finale reizen musste,<br />

und sodann der Gedanke, dass es bei der Bedeutung des<br />

Ereignisses, der Teilnahme, mit der es von der ganzen Welt<br />

behandelt wurde, wohl nicht ganz ungeschickt sein könnte,<br />

nunmehr im Zusammenhang, nachdem <strong>die</strong> Tageszeitungen<br />

eine gute Woche lang in fiebernder Hast dar<strong>über</strong> geschrieben<br />

haben, <strong>die</strong> einzelnen Szenen noch einmal Revue passieren<br />

zu lassen, um so, bei weniger beschleunigter Lektüre<br />

und nicht behindert durch den übrigen Stoff der Tagesneuigkeiten,<br />

noch einmal <strong>über</strong> <strong>die</strong>se sportliche, aviatisch-kühne<br />

Großtat des 23. September 1910 zu sprechen. Wer kann<br />

wissen, wie bald schon <strong>die</strong> Welt vor größeren Daten in der<br />

Geschichte der Aviatik steht, was <strong>die</strong> nächsten Zeiten schon<br />

bringen werden auf <strong>die</strong>sem grenzenlosen, ins Unendliche<br />

ausgreifenden Gebiete. Die Lebenden triumphieren immer,<br />

und <strong>die</strong> Toten ruhen aus von ihren Taten, für <strong>die</strong> unse-<br />

11


Geleitwort<br />

re leichtlebige, vielerlebende, mit Ereignissen <strong>über</strong>hastete<br />

Zeit kein allzu gutes Gedächtnis mehr besitzt. Es wäre grausam,<br />

wenn einst in der Geschichte der <strong>Alpen</strong> <strong>über</strong>fliegung,<br />

(<strong>die</strong> so sicher kommen wird, wie der »fliegende Mensch«<br />

kam,) <strong>die</strong> Pionierarbeit des Helden der Tragö<strong>die</strong> lediglich<br />

noch als ein Datum genannt würde, eine Merkziffer nur,<br />

nützlich für den, der chronologisch <strong>über</strong> aviatische Dinge<br />

zu berichten hätte. Wer <strong>die</strong>sseits oder jenseits des Simplon<br />

bei seinem Aufstieg und Tod dabei gewesen ist, wer von der<br />

Tragik seines glücklosen Sieges ergriffen wurde, wer im<br />

Sport und in der Aviatik etwas mehr sieht als wie <strong>die</strong> Kohlköpfe,<br />

<strong>die</strong> sie lediglich als nutzlose Betätigung viel freie Zeit<br />

habender Elemente etikettieren, kann <strong>die</strong>s nimmermehr<br />

wünschen. »In memoriam Geo Chavez’« lautet deswegen<br />

<strong>die</strong> erste Zeile <strong>die</strong>ses Buches.<br />

Seine Herausgabe gab mir auch gleichzeitig willkommene<br />

Gelegenheit, verschiedentliche <strong>über</strong> unser Land und speziell<br />

das schweizerische Komitee in Brig und den Leiter des<br />

meteorologischen Dienstes von nicht wenigen, geringen<br />

Takt und Höflichkeit verratenden ausländischen Journalisten<br />

ausgestreute Verdächtigungen richtig zu stellen an<br />

Hand des mir in liebenswürdiger Weise zur Verfügung<br />

<strong>über</strong>lassenen Aktenmaterials.<br />

Den Leitern des Briger Komitee, den Herren Nationalrat<br />

Dr. Seiler in Zermatt und Präfekt Oberstleutnant von Stockalper<br />

in Brig, bin ich für ihre freundliche Unterstützung zu<br />

herzlichem Danke verpflichtet, ebenso Herrn Dr. Maurer,<br />

Direktor der schweizerischen meteorologischen Zentralanstalt<br />

in Zürich und Herrn Dr. Arthur Curti in Zürich, der<br />

mir bei der Lektüre der italienischen Presse seine Hülfe lieh<br />

12


Geleitwort<br />

und von dem das einleitende Gedicht in <strong>die</strong>sem Büchlein<br />

stammt. Freundlichst sei auch der liebenswürdigen Unterstützung<br />

verschiedener Amateurphotographen gedacht,<br />

durch <strong>die</strong> es ermöglicht wurde, dem Text ein reiches Illustrationsmaterial<br />

beizufügen, darunter Aufnahmen, <strong>die</strong> zum<br />

ersten Mal im Druck erscheinen.<br />

Wenn hie und da trotz aller Ausführlichkeit den Schilderungen<br />

Mängel anhaften, so möge der Leser dem Verfasser<br />

zugute halten, dass der hochaktuelle Stoff in der Raschheit<br />

erfolgen musste, <strong>die</strong> bei den Ansprüchen unserer Zeit<br />

dem Verfasser wenig Fristen, wenig stille, dem Ausfeilen<br />

und Überdenken des Manuskriptes gewidmete Stunden<br />

gestattete. Aber vielleicht liegt doch auch ein Vorzug in<br />

<strong>die</strong>sem kinematographischen, zum Rüstzeug eines modernen<br />

Journalisten gehörenden Geschwindtempos, nämlich<br />

der, <strong>die</strong> Eindrücke und Stimmungen, wie sie <strong>die</strong> erlebte<br />

Szene, ein Augenblick, eine Begebenheit brachten, ohne<br />

Retouche, ohne rankendes Beiwerk, ohne Fußnoten und<br />

Kommentare, erregt und begeistert, ergriffen und bewegt<br />

niedergeschrieben zu haben, nicht als ein zünftiges Werk<br />

der Literatur, wohl aber als ein mit warmem Herzen geschildertes<br />

Erlebnis, zugleich aber auch als eine Illustration des<br />

Wahlspruches unserer betriebsamen Zeit: »Wir jagen und<br />

werden gejagt!«<br />

Zürich, 15. Oktober 1910.<br />

Bb.<br />

13


1<br />

Zu den Wolken empor<br />

Heißa, wenn wir größer sind,<br />

Wachsen uns noch Flügel,<br />

Und wir fliegen – wippewipp –<br />

Über Berg und Hügel!<br />

So sangen wir einst als Kinder, wenn wir an einem schönen<br />

Sommertag im Grase lagen, und <strong>über</strong> uns <strong>die</strong> Lerche<br />

ins Blaue stieg, zu einer Zeit, da noch das Auflassen eines<br />

Fesselballons im ganzen Umkreis Sensation hervorrief und<br />

das Wort Aviatik noch nicht einmal im Wörterbuch vorkam.<br />

Das sind nun kaum drei Jahrzehnte her und heute?<br />

Die Luft ist erobert, der Mensch, der nach dem Bibelwort<br />

<strong>die</strong> Erde beherrschen solle, hat auch von dem unendlichen<br />

Bereich der Luft siegreich Besitz ergriffen, und bald<br />

wird sein, was Zarathustra träumte: »Alle Grenzen werden<br />

<strong>über</strong>flogen werden.« <strong>Im</strong> Sturmflug, mit Windeseile braust<br />

<strong>die</strong> neue Aera heran, und macht sich <strong>die</strong> Lüfte und Winde,<br />

<strong>die</strong> Wolken und Stürme <strong>die</strong>nstbar. Was schon <strong>die</strong> Alten<br />

erstrebt, was Mythos und Sage zu berichten wissen, was<br />

das Menschengeschlecht seit Anbeginn der Welt erträumt<br />

und ersehnt, von aller Erdenschwere losgelöst, frei von der<br />

Anziehungskraft des Bodens, himmelanstürmend es dem<br />

15


Zu den Wolken empor<br />

leichtbeschwingten Vogel gleichzutun, gleich ihm und mit<br />

ihm <strong>über</strong> Baum und Welt zu fliegen – heute können wir es,<br />

und jeder Tag bringt uns der Vollkommenheit näher.<br />

»Ich bin frei, ich bin frei, ich bin frei,<br />

Der Gefangenschaft Zeit ist vorbei,<br />

Ich bin frei wie ein Vogel, bin frei!«,<br />

jubelt es in den Worten Ibsens, und tausendfältig klingen<br />

sie heute schon und werden sie erklingen, ist erst der große<br />

Kampf beendet und auch der letzte Teil des Luftmeeres dem<br />

menschlichen Geist, dem menschlichen Willen untertan.<br />

Denn nichts mehr ist heute unmöglich, und jeder Tag bringt<br />

neue Wunder.<br />

Der treue Pionier der Aviatik, der Kugelballon, nahm<br />

zuerst das Ringen mit den Lüften auf, stieg höher und höher,<br />

flog, durch keine Zollschranke, keinen rückständigen<br />

Schlagbaum gehemmt, von Land zu Land, hielt sich tagelang<br />

in den Höhen, wurde ein unentbehrliches Instrument<br />

moderner Wissenschaften und zeitigte so eine ununterbrochene<br />

Kette von Erfolgen. Kühne Luftschiffer <strong>über</strong>flogen<br />

<strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> und brachten von ihren Fahrten köstliche Beute<br />

ihrer photographischen Apparate mit heim, Bilder, <strong>die</strong> uns<br />

neue Herrlichkeiten, eine neue Welt vorzauberten, und wie<br />

ungestümer als je unsere Sehnsucht weckten, einzudringen<br />

in das unbekannte Land, mit eigenen Augen dort zu trinken.<br />

Ihm folgte der Lenkballon, das wunderbare mechanische<br />

Mittel, dem Wind zu trotzen, mit des Menschen Wille im<br />

freien Spiel der Stürme ein Vehikel zu lenken, Wind und<br />

Ballon sich gehorsam zu machen. Die »Zeppelin« und <strong>die</strong><br />

»Parseval« und wie sie alle heißen mögen, wurden Trumpf,<br />

16


Zu den Wolken empor<br />

und sie werden das Verkehrsmittel, ein Kulturfaktor der Zukunft<br />

werden, <strong>die</strong> das Sturmschritttempo des Fortschrittes<br />

uns täglich näher und näher bringt, ob auch <strong>die</strong> Elemente<br />

mit grausamer Treffsicherheit schon manchem »glückhaften<br />

Schiff« den Garaus gemacht. Wer weiß, wie bald schon,<br />

und der Witz vom »Luftgroßadmiral« wird reellere Bedeutung<br />

erhalten.<br />

Und als drittes: das Resultat der andern beiden, <strong>die</strong> Aviatik!<br />

In aller Stille hat sie sich emporgerungen, verlacht,<br />

verhöhnt, verspottet wurden ihre Jünger, <strong>die</strong> Jahrhunderte<br />

zu früh gelebt. Wie Diebe in der Nacht mussten sie ihren<br />

Ideen leben, dem schlauen Fuchs gleich auf der Lauer liegen,<br />

um Wind und Wetter Vorteile abzutrotzen. Über Tod<br />

und Verderben ging der Weg, und mancher »Narr« opferte<br />

Gut und Leben, von dem Gedanken beseelt, berufen und<br />

auserwählt zu sein, hinter das Geheimnis des Fliegens zu<br />

kommen. Das zwanzigste Jahrhundert triumphierte endlich;<br />

welche Sensation lief durch <strong>die</strong> Welt, als vor ein paar Jahren<br />

einem Farman ein erster Flug von nur wenigen Metern <strong>über</strong><br />

dem Boden gelang, wie jubelte <strong>die</strong> Menge, als <strong>die</strong> Brüder<br />

Wright <strong>die</strong> große Reihe ihrer kühnen Luftreisen begannen,<br />

und seither ist sie aus dem Erstaunen beinahe nicht mehr<br />

herausgekommen, und unaufhörlich reiht sich Rekord an<br />

Rekord, Ereignis an Ereignis. Eindecker und Zweidecker<br />

sausen durch <strong>die</strong> Lüfte, zehn, zwanzig miteinander. Das<br />

Meer wird <strong>über</strong>flogen, England ist nach berühmtem Ausspruch<br />

dank der Aviatik keine Insel mehr. Bald schon ist<br />

im Höhenflug das dritte tausend Meter erreicht, halbe Tage<br />

lang ziehen <strong>die</strong> Flugmaschinen, mit Passagieren beschwert,<br />

in den Lüften ihre Kreise und bringen Grüße von Land zu<br />

17


Zu den Wolken empor<br />

Land, von Stadt zu Stadt, fliegen eine volle Woche lang genau<br />

nach Programm und Zeit eine vorgeschriebene Route<br />

trotz Nebel und Sturm, <strong>die</strong>nen dem Heer, haben bei Englands<br />

Söhnen bereits den Gedanken an Spionage und Invasionsgefahr<br />

aufgebracht, rufen schon nach internationalen<br />

Konventionen und Regelungen des Luftverkehrs, bringen<br />

<strong>die</strong> Zollschranken zum Wackeln, und immer neue Aufgaben<br />

für <strong>die</strong> Aviatik entdecken findige Köpfe und hunderte<br />

von kühnen Piloten drängen sich heran, ihr Können, ihren<br />

Mut, sich selbst den großen Gedanken und Plänen des neuen<br />

Zeitalters zu opfern.<br />

Industrie und Handel werden von der neuen Bewegung<br />

ergriffen, <strong>die</strong> Technik triumphiert und der Mensch, der verständnisvolle<br />

wie der stupide, der moderne wie der reaktionäre,<br />

profitiert und streicht schließlich den Gewinn ein, ob<br />

er auch noch so verächtlich <strong>über</strong> <strong>die</strong> »Fliegerei« denkt.<br />

Denn alle Errungenschaften äußern ihre Wirkungen auf<br />

unser Geistesleben und das dickste Brett ist doch gottlob<br />

noch immer nicht dick genug, den Geist der neuen Zeit, das<br />

sieghafte Rauschen der Freiheit und Befreiung für immer<br />

auszusperren. Mit andern, mit hellern Augen, mit einem<br />

weitem Blick, werden dereinst <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong> Welt und<br />

das Leben ihrer Welt erkennen.<br />

Großes ruft Großem und das Erreichen des Besten, das<br />

Gelingen des Schwierigsten bleibt unser höchster Wunsch.<br />

Für den Mut gibt es keine Schranken, keine Hindernisse,<br />

nur erkämpfte, ertrotzte, freie Bahnen, nur ein Vorwärts,<br />

ein Hinauf und Hin<strong>über</strong> – und so entstand das kühne Projekt,<br />

ob dem am Anfang auch <strong>die</strong> stärksten Optimisten stutzig<br />

wurden, <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong><strong>über</strong>fliegung, der Simplonflug.<br />

18


3<br />

Das Projekt der<br />

Simplon<strong>über</strong>fliegung und<br />

<strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

Sozusagen <strong>über</strong> Nacht tauchte das Projekt, mit einem <strong>Aeroplan</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> zu <strong>über</strong>fliegen, auf. Der bekannte italienische<br />

Journalist Luigi Barzini hörte zuerst von dem <strong>Alpen</strong>flugprojekt,<br />

als er im Juli <strong>die</strong>ses Jahres in Reims einem<br />

Flugmeeting beiwohnte, und mit der seinen Landsleuten<br />

eigenen Begeisterung griffen <strong>die</strong> italienischen Sportkreise<br />

<strong>die</strong>se Idee auf, speziell <strong>die</strong> »Societa Italiana di Aviazione«<br />

in Mailand und <strong>die</strong> »Commissione Nationale di Turismo<br />

Aereo del Touring Club Italiano« daselbst, <strong>die</strong> damals mit<br />

den Vorarbeiten für eine für den Herbst bestimmte Mailänder<br />

Flugwoche beschäftigt waren und <strong>die</strong> rasch erkannten,<br />

welch wichtiges Zugmittel und Schaustück ihrem Programm<br />

dadurch beigefügt werden könnte. Und so erfuhr eines Tages<br />

<strong>die</strong> erstaunte Welt, dass für <strong>die</strong> zweite Hälfte des September<br />

ein <strong>Alpen</strong>flug per <strong>Aeroplan</strong>, eine Traversierung<br />

des Simplonpasses mit Flugmaschinen geplant sei, und<br />

trotz der Kühnheit des Projektes, trotz der Gefährlichkeit<br />

der Aufgabe gab es Stimmen genug, <strong>die</strong> deren Lösung für<br />

durchaus möglich hielten; zu ihnen zählten in erster Linie<br />

<strong>die</strong> Flieger selbst, deren beste sich begeistert für den Flug<br />

35


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

dem Komitee zur Verfügung stellten, wohl ohne dass <strong>die</strong><br />

meisten vorerst noch recht wussten, um was es sich dabei<br />

handelte, welche Schwierigkeiten zu <strong>über</strong>winden, wie <strong>die</strong><br />

Wind- und Temperaturverhältnisse in mehr als 2000 Meter<br />

Höhe in den <strong>Alpen</strong> seien usw. Für sie bildete außer der<br />

Chance, einen ungemein hohen Preis zu ver<strong>die</strong>nen – denn<br />

<strong>die</strong> Aviatik, ein nebenbei bemerkt <strong>über</strong>aus kostspieliger<br />

Sport, kennt den Begriff der Herrenfahrer heute noch nicht<br />

– der Nervenkitzel, mit einer neuen exorbitanten Leistung<br />

zu brillieren und Weltruhm zu erlangen, durch eine neue<br />

grandiose Tat den Siegeszug der Aviatik fortzusetzen, Ansporn<br />

genug, dabei zu sein. So waren u. a. auch <strong>die</strong> beiden<br />

großen Aviatiker Latham und <strong>Paul</strong>han sofort bereit,<br />

mitzumachen (wenngleich eine definitive Anmeldung von<br />

letzterem nachher nie eintraf, so stark auch das Mailänder<br />

Komitee mit seinem Namen <strong>die</strong> Reklametrommel schlug),<br />

und innerhalb kurzer Zeit liefen derart viele Meldungen<br />

ein, dass sich das Sportkomitee entschließen musste, eine<br />

Reduktion bis auf fünf Flieger zu treffen, schon aus dem<br />

Grunde, um nicht den schweren Bedenken, <strong>die</strong> in der Zwischenzeit<br />

gegen das Gelingen des Projektes laut geworden<br />

waren, noch mehr Nahrung zu geben. Geltend gemacht<br />

wurde vor allen Dingen von warnenden Stimmen, dass <strong>die</strong><br />

späte Zeit des Fluges den Fliegern der Kälte und Winde<br />

wegen, <strong>die</strong> im Simplongebiet herrschen, gefährlich werden<br />

könnte, und auch damals schon wurde <strong>die</strong> Befürchtung ausgesprochen,<br />

dass es auf der ganzen Strecke, zum allermindesten<br />

auf seiner gefährdetsten Partie an jeder Möglichkeit<br />

fehle, Zwischenlandungen vorzunehmen. Reserviert blieb<br />

<strong>die</strong> Konkurrenz nach den Satzungen den mit Motor ange-<br />

36


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

triebenen Flugmaschinen. Ausgesetzt wurden an Preisen<br />

insgesamt 100.000 Fr, von denen dem Sieger 70.000 Fr,<br />

dem Zweiten 20.000 Fr. und dem Dritten 10.000 Fr. zufallen<br />

sollten. Der Hauptpreis fiel demjenigen Flieger zu,<br />

der innerhalb 24 Stunden nach dem Start zuerst in Mailand<br />

eintreffen würde. Als Termin des <strong>Alpen</strong>fluges wurden <strong>die</strong><br />

Tage vom 18. bis zum 24. September bestimmt, in dem<br />

Sinne, dass innerhalb <strong>die</strong>ser Woche jeder Konkurrent täglich<br />

in der Zeit von morgens 6 Uhr bis abends 6 Uhr starten<br />

konnte. Zwischenlandungen waren erlaubt, und zwar an<br />

jedem beliebigen Orte, doch kamen hierfür vorzugsweise<br />

Simplonkulm, das alte Hospiz, Domodossola, Stresa und<br />

Varese in Betracht, wo der Flieger Hilfsmannschaften, ohne<br />

<strong>die</strong> auch heute noch ein Start nicht möglich ist, leichter zur<br />

Verfügung hätte haben können. Über<strong>die</strong>s war gestattet, unterwegs<br />

am Apparat Reparaturen vorzunehmen. Startplatz<br />

war Ried oberhalb Brig. Die größte Schwierigkeit bot naturgemäß<br />

der erste Teil der Route, <strong>die</strong> Überfliegung des<br />

Simplonkulm und <strong>die</strong> Zurücklegung der schluchtenreichen<br />

Strecke bis Domodossola, da sich der Flieger hier mitten<br />

im <strong>Alpen</strong>gebiet befindet, das wohl keinem derselben vorher<br />

bekannt war, wenn er auch durch Rekognoszierungsfahrten<br />

im Automobil <strong>die</strong> gefährlichsten Partien, so <strong>die</strong> Saltine- und<br />

<strong>die</strong> Gondoschlucht <strong>die</strong>sseits und jenseits des Simplonkulm<br />

in Augenschein nehmen konnte. Von Domodossola aus bot<br />

dann <strong>die</strong> Aufgabe für einen einigermaßen guten Aviatiker<br />

keine Schwierigkeiten mehr, denn es handelte sich alsdann<br />

lediglich noch um einen Überlandflug von ca. 100 km, den<br />

heute auch Flieger zweiter Klasse auszuführen imstande<br />

sind, und der gegen <strong>die</strong> Schwierigkeiten der Simplontraver-<br />

37


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

sierung gar nicht mehr in Betracht kam. Diese letzte Strecke<br />

musste dem Kurs beigefügt werden, um Mailand als großes<br />

Bevölkerungszentrum zum Ankunftsort bestimmen zu können.<br />

Auch <strong>die</strong> Überquerung des Lago Maggiore von Ponte<br />

Toce bis Laveno bedeutet für <strong>die</strong> Aviatik heute nichts besonderes<br />

mehr.<br />

Es war vorauszusehen, dass das italienische Komitee zur<br />

Durchführung der Vorarbeiten auf schweizerischem, speziell<br />

Walliser Gebiet, sich mit schweizerischen Interessentenkreisen<br />

in Verbindung setzen würde. Am 22. Juli kam denn<br />

auch eine Mailänder Delegation zum erstenmal nach Brig,<br />

um mit den Briger Behörden Rücksprache zu nehmen und<br />

eine Reihe von Persönlichkeiten zur Übernahme eines Mandates<br />

im Briger Lokalkomitee zu bestimmen; es kam damals<br />

eine erste Übereinkunft zustande, eine Art Pflichtenheft für<br />

Brig, in dem in einer Reihe kurz skizzierter Paragraphen <strong>die</strong><br />

Tätigkeit auf schweizerischer Seite fixiert wurde. Trotz aller<br />

Bereitwilligkeit seitens der Briger und der weitgehendsten<br />

Unterstützung der Sache durch <strong>die</strong> Bevölkerung sowohl als<br />

durch <strong>die</strong> Behörden, kamen dann aber leider eine Reihe von<br />

Misshelligkeiten vor, <strong>die</strong> schließlich im letzten Stadium der<br />

Vorarbeiten noch zu offenen Differenzen und damit beinahe<br />

zu einem plötzlichen Abbruch der ganzen Veranstaltung<br />

geführt hätten. Da in den letzten Wochen in ausländischen<br />

Zeitungen gerade <strong>die</strong>se Differenzen zum Gegenstand teilweise<br />

hämischer und unfeiner Betrachtungen gemacht<br />

wor den sind, da neben Anrempelungen der Verkehrs- und<br />

38


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

Hotelierskreise, <strong>die</strong> bei Vorkommnissen solcher Art noch<br />

immer als willkommene Objekte für allerlei boshafte Bemerkungen<br />

gegolten haben, auch <strong>die</strong> schweizerischen Behörden,<br />

der meteorologische Dienst und <strong>die</strong> schweizerische<br />

Presse in wenig liebenswürdiger Weise in den Kreis ausländischer<br />

Schmähartikel gezogen wurden, so würde <strong>die</strong> vorliegende<br />

Arbeit einen Mangel aufweisen, würden ihr nicht,<br />

so unsympathisch auch das Thema ist, wenigstens ein paar<br />

Worte zur Orientierung <strong>über</strong> <strong>die</strong> Situation eingeflochten.<br />

Wir folgen dabei neben den uns zur Verfügung stehenden<br />

Akten im wesentlichen den Ausführungen des Briger Komitees,<br />

das mit scharfen, aber in ihrer Schärfe begreiflichen<br />

Worten, <strong>die</strong> bis heute unwidersprochen geblieben sind, <strong>die</strong><br />

Situation und das Verhalten des Briger Komitees, an dessen<br />

Spitze Nationalrat Dr. Seiler von Zermatt, Präfekt von<br />

Stock alper und Architekt Marty standen, beleuchtet, indem<br />

es u. a. folgendes bekannt gibt:<br />

Brig war von allem Anfang an bereit, das Unternehmen zu<br />

fördern, trotzdem von dem Mailänder Komitee der kleinen<br />

Stadt viel zugemutet wurde. Verlangt wurde neben einem<br />

baren Beitrag von 20.000 Fr. (der nebenbei bemerkt, von<br />

dem Mailänder Komitee schon als II. Preis veröffentlicht<br />

wurde, bevor <strong>über</strong>haupt mit dem Briger Lokalkomitee <strong>über</strong><br />

<strong>die</strong> Höhe des Beitrages diskutiert worden war), der schließlich<br />

auf 10.000 Fr. reduziert werden konnte, <strong>die</strong> kostspielige<br />

Erstellung der Hangars für <strong>die</strong> <strong>Aeroplan</strong>e, ferner eine<br />

Telephonlinie von Brig nach Gondo, <strong>die</strong> Errichtung von<br />

Signalposten u. a. in Rosswald, Simplonkulm, Gabi (Bleiken),<br />

Fistelmatten, Bugliagadendro, Trasquera, Fehrberg,<br />

Furgge, Zwischbergen, Posettaalp, Muncherapass und St.<br />

39


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

Bernardo, meteorologische Beobachtungen auf dem Simplon,<br />

<strong>die</strong> Übernahme des Sicherheits<strong>die</strong>nstes auf der Simplonstraße<br />

(nachdem vorher eine von italienischer Seite<br />

gefallene Zumutung, den Signal<strong>die</strong>nst auf dem Fehrberg<br />

und dem Munchera durch italienische Alpini besorgen<br />

zu lassen, mit der nötigen Deutlichkeit abgelehnt worden<br />

war), ein Sanitäts<strong>die</strong>nst an vier Orten mit fliegenden Ambulanzen,<br />

<strong>die</strong> Anbringung von Signaltüchern und rauchenden<br />

Feuern zur Orientierung der Flieger und endlich ein<br />

geeigneter Startplatz. Weitere Zumutungen, wie z. B., nur<br />

<strong>die</strong> italienische Presse zuzulassen, den sämtlichen Mitgliedern<br />

des Touringklubs, der an 80.000 Mitglieder zählt,<br />

und den Mitgliedern der »Societe italienne d’aviation« freien<br />

Zutritt zu dem Startplatz zu gewähren, für andere Besucher,<br />

also speziell Brigs Bevölkerung, aber den Startplatz<br />

zu sperren, forderten natürlich <strong>die</strong> Misshelligkeiten, <strong>die</strong><br />

dann zum offenen Kriege ausbrachen, als bekannt gegeben<br />

werden musste, dass <strong>die</strong> Walliser Behörden das Starten am<br />

18. September, auf welchen Sonntag der eidgenössische<br />

Buß- und Bettag fiel, verboten, nachdem alle Bemühungen<br />

des Briger Komitees, eine Aufhebung <strong>die</strong>ses Verbotes zu<br />

bewirken, wenigstens dazu geführt hatten, dass von 12 Uhr<br />

an das Flugfeld für Probe- und Schauflüge freigegeben wurde.<br />

Unglücklicherweise war dem Briger Komitee, als es im<br />

Juli gemeinsam mit dem Mailänder Komitee den Beginn der<br />

Flugwoche festsetzte, entgangen, dass just auf <strong>die</strong>sen ersten<br />

Tag des Meetingbeginns der höchste schweizerische<br />

kirchliche Feiertag fiel, ein zugegeben ungeschicktes Versehen,<br />

das eine gewisse Verärgerung der Aviatiker und des<br />

Mailänder Komitees wohl hätte begreiflich erscheinen las-<br />

40


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

Ankündigung des Fluges <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong><br />

sen können, das aber durchaus keine Veranlassung für <strong>die</strong><br />

Radauszenen hätte geben sollen, <strong>die</strong> sich in der Nacht vom<br />

Samstag auf den Sonntag als Ouvertüre der Veranstaltung<br />

ereigneten, und <strong>die</strong> wenig Ersprießliches für <strong>die</strong> kommenden<br />

Tage voraussehen ließen. Sie hier nochmals im Detail<br />

zu schildern, nachdem sich <strong>die</strong> Tagespresse damit reichlich<br />

lang beschäftigen musste, darf wohl füglich unterbleiben,<br />

um so eher auch, als sie lediglich als Auswüchse der von<br />

Anfang an gereizten und ungemütlichen Zusammenarbeit<br />

zu gelten haben, kompliziert durch <strong>die</strong> taktlosen Krakehlereien<br />

einiger allzu temperamentvoller Söhne aus dem Süden.<br />

Um den springenden Punkt vermochte freilich keiner<br />

der Zeternden herumzukommen, nämlich, dass das Briger<br />

Komitee von dem Beschluss des Walliser Staatsrates (<strong>über</strong><br />

dessen Notwendigkeit oder dessen Nichtnotwendigkeit hier<br />

post festum keine Betrachtungen angestellt werden sollen)<br />

dem Mailänder Komitee sofort und rechtzeitig Mitteilung<br />

machte. Als dann von Mailand aus ein Protesttelegramm ein-<br />

41


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

lief, beharrte das Briger Komitee begreiflicherweise darauf,<br />

<strong>die</strong> nationale Tradition zu wahren, und daran änderte auch<br />

eine am 16. September in Brig noch zusammentretende<br />

gemeinsame Komiteesitzung nichts, <strong>die</strong> aber das für Brig<br />

sprechende Resultat ergab, dass sich <strong>die</strong> Mailänder mit einer<br />

Verschiebung des Beginnes von Sonntag, den 18. September,<br />

morgens 6 Uhr, auf <strong>die</strong> Mittagsstunde des gleichen<br />

Tages ausdrücklich einverstanden erklärten mit dem besonderen<br />

Hinzufügen der Unterstützung für den Fall von<br />

Komplikationen durch <strong>die</strong> Aviatiker. So kam es, dass an den<br />

beiden letzten Tagen vor dem 18. September kein einziger<br />

Protest laut wurde, und erst in der Nacht vom Samstag auf<br />

den Sonntag ging das Spektakel los, weil von italienischer<br />

Seite her angeblich günstige Witterungsberichte für den<br />

kommenden Morgen eingetroffen waren und <strong>die</strong> Manager<br />

der beiden Flieger Weymann und Chavez plötzlich mit<br />

der Überraschung anrückten, unter allen Umständen werde<br />

am Sonntag früh 6 Uhr gestartet, ganz gleichgültig, ob<br />

ein Verbot bestehe oder nicht. Demgegen<strong>über</strong> nimmt sich<br />

<strong>die</strong> Tatsache höchst sonderbar aus, dass Weymann sowohl<br />

als Chavez dem Briger Komitee in der Nacht vom Samstag<br />

auf den Sonntag in bindender Form erklärten, sie seien<br />

mit der Festsetzung des Beginnes auf mittags 12 Uhr nicht<br />

nur einverstanden, sondern sie begrüßten sogar <strong>die</strong>se Anordnung,<br />

da <strong>die</strong>selbe allen Teilnehmern ermögliche, ihre<br />

Vorbereitungen gründlich und ohne Überstürzungen zu<br />

treffen. Über<strong>die</strong>s lief noch in der Nacht vom 17. auf den 18.<br />

September <strong>die</strong> Mitteilung ein, dass auf Simplonkulm ein<br />

sehr starker Wind von 12–15 Meter Sekundengeschwindigkeit<br />

herrsche, somit eine Traversierung in den frühen<br />

42


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

Morgenstunden unmöglich gewesen wäre, wie in einem<br />

spätern Resultat noch näher dargetan werden soll. Als dann<br />

das Briger Komitee fest blieb und schließlich sogar vor jeden<br />

Flugschuppen Polizeiaufgebote aufstellen musste, um<br />

dem Flugverbot der Behörden Nachachtung zu verschaffen,<br />

hätte nicht viel gefehlt, und ein paar der Hauptschreier –<br />

Aviatikermanager mit den Allüren eines schlechtgezogenen<br />

Kutschers – hätten hinter Schloss und Riegel an dem flugfreien<br />

Tag dar<strong>über</strong> Betrachtungen anstellen können, dass<br />

das Respektieren amtlicher Anordnungen, selbst wenn sie<br />

von der »kleinen Schweiz«, dem Lande »Ho-Tells«, wie mit<br />

Vorliebe in den italienischen und französischen Zeitungen<br />

in letzter Zeit geschmacklos zu lesen stand, ausgehen. Cattaneo<br />

aber, einer der gemeldeten Flieger, der den Simplon<br />

nicht erreichte, also ein kaum ernst zu nehmender Konkurrent<br />

Chavez’, ließ sich aus Stimmungsmacherei flink<br />

zwischen zwei Polizisten, <strong>die</strong> natürlich <strong>die</strong> Absicht nicht<br />

merkten, photographieren, und <strong>die</strong> fremden Photographen<br />

sausten mit Windeseile davon, <strong>die</strong>se »skandalöse Behandlung<br />

eines Fremden« durch das Mittel der internationalen<br />

Presse so rasch als irgend möglich der Welt zur Kenntnis<br />

zu bringen. »Seit der französischen Invasion«, bemerkte ein<br />

Zuschauer der Skandalszenen, »haben <strong>die</strong> Mauern von Brig<br />

sicher nie mehr eine so unruhige Bande beherbergt wie in<br />

<strong>die</strong>sen Tagen.«<br />

Bedauerlich bleibt dabei, dass auch <strong>die</strong> angesehensten<br />

italienischen Zeitungen, in der ersten Zeit wenigstens, mit<br />

Schmähartikeln gegen <strong>die</strong> Schweiz nicht zurückblieben,<br />

und dass es bis heute nicht möglich gewesen ist, von dem<br />

italienischen Komitee trotz aller Bemühungen und Vorhalte<br />

43


Das Projekt der Simplon<strong>über</strong>fliegung und <strong>die</strong> Vorbereitungen<br />

nach <strong>die</strong>ser Richtung hin eine Anerkennung des nackten<br />

Tatbestandes zu bekommen, auf Grund dessen dann wenigstens<br />

eine Richtigstellung in den Hauptpunkten möglich<br />

würde. Scharf sind <strong>die</strong> Meinungen seither aufeinander geplatzt,<br />

und <strong>die</strong> Kampfstimmung hat einen derartigen Grad<br />

der Schwüle erlangt, dass es gar nicht mehr ausgeschlossen<br />

erscheint, es werde zum Finale der unglückseligen Flugwoche<br />

in irgendeinem italienischen oder schweizerischen Gerichtssaal<br />

geblasen werden.<br />

Wie wenig Grund übrigens, abgesehen von dem vergriffenen<br />

Datum des 18. September, <strong>die</strong> Italiener hatten, mit<br />

dem kleinen Brig unzufrieden zu sein, dürfte auch durch einen<br />

kleinen Ausguck nach der finanziellen Seite hin hervorgehen;<br />

man wird dabei entdecken, dass sich <strong>die</strong> Hoteliers<br />

von Brig allein mit einem Beitrag von 5000 Fr, <strong>die</strong> Briger<br />

Behörden mit einem solchen von 3000 Fr. an dem Arrangement<br />

beteiligten, während das ungefähr gleich große Domodossola<br />

ganze hundert Fr. hiefür opferte. Viel näher, als<br />

der gegen <strong>die</strong> Schweiz erhobene Verdacht, das regierungsrätliche<br />

Verbot sei nur erfolgt, um <strong>die</strong> Fremden möglichst<br />

lange in Brig zu halten, könnte der Gedanke liegen, dass <strong>die</strong><br />

ganze <strong>Alpen</strong><strong>über</strong>fliegung von italienischer Seite nur geplant<br />

worden sei, um für <strong>die</strong> Mailänder Flugwoche ein zügiges,<br />

spektakelmachendes Schaustück zu haben, bei dem es sich<br />

vielleicht mehr um das Arrangement einer günstigen Reklame,<br />

als um das Gelingen einer hohen aviatischen Aufgabe<br />

handelte. Unorganisierter trotz aller italienischen »Behendigkeit<br />

und Lebhaftigkeit« hat sich noch keine aviatische<br />

Woche präsentiert, und wenn <strong>die</strong> deutschen und schweizerischen<br />

Zeitungsvertreter, ja wenn <strong>die</strong> gesamte schweize-<br />

44


Nachwort<br />

von Monika Fuchs<br />

In memoriam Geo Chavez – der Wunsch <strong>Paul</strong> Willi <strong>Bierbaum</strong>s,<br />

den er zu Beginn und am Ende seines Berichtes<br />

ausdrückte, hat sich erfüllt: Bis heute ist Geo Chavez und<br />

mit ihm sein <strong>Alpen</strong>flug unvergessen. Manches Gedenken<br />

wird <strong>Bierbaum</strong> noch miterlebt haben, so <strong>die</strong> Errichtung der<br />

Denkmäler in Brig und Domodossola. Anderes geschah erst<br />

nach seinem Tod (1942). So blieb Chavez’ Grab nicht in<br />

Paris. Allerdings kam er auch nicht zurück nach Brig oder<br />

Domodosso la an den Fuß der <strong>Alpen</strong>, wie <strong>Bierbaum</strong> es für<br />

passend erachtet hatte. 1957 wurden Chavez’ sterbliche<br />

Überreste nach Peru gebracht, in <strong>die</strong> Heimat seiner Familie.<br />

Sein Grab befindet sich auf dem Gelände der Offiziersschule<br />

der peruanischen Luftwaffe. Deren Hymne ist ein<br />

Lobgesang auf Chavez. Der Flughafen der Hauptstadt Lima<br />

trägt seinen Namen, in der Eingangshalle ist eine Nachbildung<br />

seiner Blériot XI zu bewundern. Die Kinder lernen in<br />

der Schule Chavez und <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> im fernen Europa kennen,<br />

und der 23. September, der Tag der <strong>Alpen</strong><strong>über</strong>querung, ist<br />

der Nationale Tag der Luftfahrt in Peru.<br />

Ein umfassendes Lebensbild und weiterführendes Material<br />

(in Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch) findet<br />

sich auf der Website www.jorgechavezdartnell.com<br />

133


Nachwort<br />

In Europa ist Geo Chavez nicht mehr so bekannt, <strong>die</strong> Kenntnis<br />

um sein Leben und seine <strong>Alpen</strong><strong>über</strong>querung fällt schon<br />

in den Bereich »Spezialwissen«. Selbst in Flugzeugmuseen<br />

ist von <strong>die</strong>sem großen Tag aus der Jugend der Aviatik<br />

nicht <strong>über</strong>all zu lesen. Als <strong>Paul</strong> Willi <strong>Bierbaum</strong> im September<br />

1910 mit einem Journalistenkollegen nach Brig fuhr,<br />

nahm ein Großteil der Welt Anteil an dem Flugversuch.<br />

Fliegen war damals noch etwas durchaus Experimentelles,<br />

man brauchte Geld (viel Geld!) und Mut (sehr viel Mut!)<br />

dazu, um sich eine <strong>die</strong>ser neumodischen Flugmaschinen<br />

leisten zu können und dann auch noch damit in <strong>die</strong> Luft<br />

zu gehen. Es faszinierte <strong>die</strong> Menschen, wie <strong>die</strong> Schwerkraft<br />

<strong>über</strong>wunden und man sich wie ein Vogel in <strong>die</strong> Lüfte<br />

erheben konnte – und dass <strong>die</strong>s immer besser gelang, <strong>die</strong><br />

»tollkühnen Männer« immer weiter und höher flogen. Wie<br />

man dem Bericht <strong>Bierbaum</strong>s entnehmen kann, war <strong>die</strong> ganze<br />

Situation emotional aufgeladen, auch er selbst, der doch<br />

ein »neutraler« Berichterstatter sein sollte, wurde davon<br />

angesteckt. Das machen seine Zeilen sehr deutlich. Spannung<br />

lag in der Luft, Erregung, Unsicherheit: Würde jemand<br />

<strong>die</strong> Herausforderung wirklich annehmen, würde <strong>die</strong><br />

<strong>Alpen</strong> <strong>über</strong>querung klappen? Viele Gefahren lauerten auf<br />

<strong>die</strong> Flieger, <strong>die</strong> Gefahr eines Absturzes in den Bergen war<br />

nicht gering. Umso begeisterter <strong>die</strong> Masse, als Chavez wirklich<br />

<strong>über</strong> Domodossola erschien, und umso tragischer der<br />

Tod des Helden – zumal er erst 23 Jahre alt war. Was hätte<br />

aus ihm noch werden können!<br />

134


Nachwort<br />

Andere Flieger ließen sich von dem Unglück nicht abhalten,<br />

neue Rekorde in Länge und Höhe anzustreben und <strong>die</strong><br />

Aviatik weiterzuentwickeln. Heute ist es kein großes Abenteuer<br />

mehr, wenn man in einem Verkehrsflugzeug vor Wind<br />

und Wetter geschützt mit vielen anderen Passagieren den<br />

Simplon <strong>über</strong>quert. Ob sich dabei jemand an Geo Chavez<br />

und <strong>die</strong> Flugpioniere des beginnenden 20. Jahrhunderts<br />

erinnert?<br />

Weit <strong>über</strong> 100 Jahre nach der Briger Flugwoche kommen<br />

immer noch Touristen nach Brig. Sie schauen vom Denkmal<br />

auf dem Platz vor dem Hotel Paris hinauf zum Simplonpass.<br />

So auch der Schriftsteller Günter von Lonski, der sich von<br />

seinem Enkel fragen lassen musste: »Hättest du dich das<br />

auch getraut?« Weil von Lonski sicher ist, dass man sich<br />

nicht in Lebensgefahr begeben muss, um Mut zu beweisen,<br />

schrieb er als Antwort <strong>die</strong> Geschichte des 15-jähringen<br />

Björn. Dieser lernt Geo Chavez in einem Flugzeugmuseum<br />

kennen. Beeindruckt von ihm, kauft Björn sich das Buch<br />

»<strong>Im</strong> <strong>Aeroplan</strong> <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong>«. Durch <strong>die</strong> Beschäftigung mit<br />

Geo Chavez lernt Björn, sein Leben in <strong>die</strong> Hand zu nehmen,<br />

und als <strong>die</strong>ser ihn auffordert: »Flieg endlich los!«, startet<br />

Björn durch und <strong>über</strong>windet mutig alle Hindernisse, <strong>die</strong><br />

sich vor ihm mindestens in <strong>Alpen</strong>höhe auftürmen.<br />

»Mut verleiht Flügel« heißt das Buch. »<strong>Im</strong> <strong>Aeroplan</strong> <strong>über</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Alpen</strong>« wird darin stellenweise zitiert. Um den gesamten<br />

Text in einer preisgünstigen Ausgabe verfügbar zu machen,<br />

hat sich der Verlag entschlossen, anlässlich des 130.<br />

Geburtstages von Geo Chavez <strong>die</strong> <strong>Bierbaum</strong>sche Beschrei-<br />

135


Nachwort<br />

bung des Simplonfluges neu herauszugeben. Der Text wurde<br />

stellenweise behutsam und geringfügig an heutige Lesegewohnheiten<br />

in Bezug auf Orthografie und Interpunktion<br />

angepasst, Druckfehler der Erstausgabe korrigiert.<br />

Möge es helfen, das Gedenken an Geo Chavez zu bewahren<br />

und neu zu beleben.<br />

Hildesheim, am 13. Juni 2017<br />

Monika Fuchs<br />

Günter von Lonski | Mut verleiht Flügel<br />

160 Seiten | 12,5 x 20 cm | Paperback<br />

Verlag Monika Fuchs | Hildesheim 2017<br />

ISBN 978-3-947066-04-9<br />

ab 12 Jahre – auch als eBook erhältlich<br />

Björn hasst Fußball. Dumm nur, dass sein<br />

Vater Trainer der Schulmannschaft ist und<br />

ihn immer wieder aufstellt. Auf dem Feld<br />

ist er <strong>die</strong> Lachnummer der Mannschaft, mit<br />

dem Zeichenstift aber kann er zaubern. Am<br />

liebsten entwirft er Mode, sein Traumberuf<br />

ist Herrenschneider. <strong>Im</strong>merhin lernt Björn<br />

bei einem Spiel Mell kennen, sie spielt Rechtsaußen. Die beiden treffen<br />

sich, und schon bald will Mell mehr von ihm. Doch Björn wehrt ab. Er findet<br />

sie nett, aber mehr auch nicht. Wenn er allerdings Sven sieht, dann<br />

flattern Schmetterlinge in seinem Bauch.<br />

Zum Glück findet der 15-Jährige einen Freund, mit dem er <strong>über</strong> alles<br />

reden kann. Dass den außer ihm niemand sehen kann – was soll’s? Er<br />

zeigt sich nur Björn: in den Wellen eines Baches, in einer Fensterscheibe,<br />

in einer Radkappe. Der Mann mit der Fliegermütze stellt sich als Geo<br />

Chavez vor, seines Zeichens Aviatiker. 1910 <strong>über</strong>querte er mit seiner Blériot<br />

XI als erster Mensch <strong>die</strong> <strong>Alpen</strong> im Flugzeug. Sein Vorbild lässt in Björn<br />

einen Entschluss reifen …<br />

136

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