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Schauspiegel Winter 2019/20

Hallo liebe Leser*innen, wir freuen uns, Ihnen den ersten Schauspiegel in seiner Online-Ausgabe zu präsentieren. Der Schauspiegel ist das Magazin für die Schauspielbranche und erscheint ab sofort quartalsweise. Jedes Heft hat einen eigenen Themenschwerpunkt. Für unsere Premiere haben wir das Thema Diversität gewählt – ein Thema, das momentan überall für Schlagzeilen sorgt und in aller Munde ist.

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Auch<br />

die Idee,<br />

dass es<br />

genau zwei<br />

Geschlechter<br />

gibt,<br />

Mann<br />

und Frau,<br />

ist vielen<br />

Kulturen,<br />

übrigens<br />

auch<br />

islamischen<br />

Kulturen,<br />

sehr<br />

fremd.<br />

Europas im Imperialismus und Kolonialismus einfach<br />

nicht vorbereitet war, wo die ganze Welt sich<br />

erst zu der militärischen und dann auch zu der<br />

wirtschaftlichen Übermacht Europas irgendwie<br />

verhalten musste. Dazu kam, dass es einheimische,<br />

junge Eliten gab, die sich ganz stark an Europa orientierten,<br />

und das waren dann solche Leute, die<br />

sich auch später die Macht erkämpften, vor allem<br />

über den Weg des Militärs, ohne das es ja heute eigentlich<br />

in allen arabischen Ländern gar nicht geht.<br />

Das sind also neue westliche und nicht umsonst im<br />

Militär beheimatete Eliten, die die alten, abwägenden<br />

Religionsgelehrten und die alten Literaten, die<br />

Spaß hatten an vieldeutigen Gedichten, abgelöst<br />

haben und natürlich zu dieser Vereinheitlichung<br />

sehr stark beigetragen haben.<br />

A. R.: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es gerade in<br />

der Literatur möglich war, sehr ambiguitätstolerant<br />

zu sein, dass es da große Widersprüche gab.<br />

T. B.: Wenn Sie heute in einem arabischen Land<br />

etwas veröffentlichen, müssen Sie mit einer sehr<br />

strengen Zensur rechnen. Sie müssen sogar damit<br />

rechnen, in Ägypten z.B. sehr schnell im Gefängnis<br />

zu sein, wenn man das Falsche schreibt. Das ist<br />

eine völlig neue Entwicklung. Sie konnten bis ins 19.<br />

Jahrhundert hinein alles schreiben, was Sie wollten,<br />

und man hat das auch gemacht. Zum Beispiel – das<br />

hat ja auch mit Diversität zu tun – eine Einteilung<br />

in sexuelle Orientierungen. Das gab es überhaupt<br />

nicht. Es gab ja überhaupt den Begriff der Sexualität<br />

weltweit, auch in Europa, erst seit dem 19. Jahrhundert.<br />

In der islamischen Welt war es eigentlich<br />

anerkannte Tatsache, dass man sich in junge, hübsche<br />

Männer genauso verlieben kann, wie in junge,<br />

hübsche Frauen, und man hat das in der Literatur<br />

ausgelebt.<br />

Man hat Liebesgedichte geschrieben und zwar immer<br />

auf beide Geschlechter, auch solche, bei denen<br />

man das Geschlecht der geliebten Person gar nicht<br />

erkennen kann. Man konnte auch als frommer Muslim<br />

Weingedichte schreiben, obwohl das Weintrinken<br />

ja bekanntlich im Islam verboten ist, und mehr<br />

noch sogar: wichtige religiöse und mystische Erlebnisse<br />

eines Eins-Sein mit Gott hat man in Weindichtung<br />

ausgedrückt, ganz unabhängig davon, ob man<br />

ihn nun getrunken hat oder nicht. Aber das Bild des<br />

Weins, des Berauscht-Seins, auch durch die Nähe<br />

Gottes, das waren mächtige literarische Themen.<br />

A. R.: Man schafft sich seine Identität ja nicht nur<br />

über die sexuelle Orientierung, die wichtig ist. Das<br />

merken wir immer wieder, es gibt ich-weiß-nichtwieviele<br />

Geschlechter mittlerweile…<br />

T. B.: Schauen Sie, damit fängt das Problem schon an,<br />

mit der Zählerei. Das ist diese typisch moderne Reaktionsweise.<br />

Auch die Idee, dass es genau zwei Geschlechter<br />

gibt, Mann und Frau, ist vielen Kulturen,<br />

übrigens auch islamischen Kulturen, sehr fremd.<br />

In Pakistan hatte man sogar schon die Möglichkeit,<br />

ein drittes Geschlecht in den Pass eintragen zu<br />

lassen lange bevor wir das in Deutschland hatten.<br />

Dann sehen wir, dass das mit der Zweiteilung, also<br />

der Dichotomie, nicht geht und schaffen Zwischenkategorien,<br />

aber die müssen alle schön definiert<br />

sein. Wir müssen also ganz genau wissen, wie viel<br />

Geschlechter es sind, aber die Tatsache zu sagen,<br />

dass es eine vage Kategorie ist, wo wir aufhören zu<br />

zählen und zu klassifizieren, und dass es einfach<br />

unordentlich ist, das scheint wahnsinnig schwer zu<br />

ertragen zu sein.<br />

A. R.: Warum ist das so wichtig, dass man sich über<br />

Eindeutigkeit definiert? Das scheint ja genau das<br />

Gegenteil von Diversität zu sein. Warum wird das<br />

Private so politisch? Warum muss man sofort nach<br />

außen tragen, dass man Vegetarier oder Veganer ist?<br />

Warum muss man seinen Beziehungsstatus nach außen<br />

tragen? Warum wird das alles so kategorisiert?<br />

T. B.: Ich glaube, das ist tatsächlich eine moderne<br />

Entwicklung, die mit dem allgemeinen Rückgang<br />

von Ambiguitätstoleranz zu tun hat. Man sucht<br />

Eindeutigkeit. Wo findet man Eindeutigkeit? Man<br />

findet sie einmal außen, von einer äußeren Autorität,<br />

etwa im Fundamentalismus. Die Alternative<br />

ist, man findet sie, das ist vielleicht der protestantisch<br />

induzierte Weg, durch beharrliches Hineinhorchen<br />

in sich selbst. Das heißt, man sucht<br />

Identitäten, man will authentisch sein. Das ist vielleicht<br />

kein sehr glücklicher Weg, weil Menschen<br />

von der Evolution her sehr gut fähig sind, andere<br />

Menschen einzuschätzen. Da man sich selbst aber<br />

nicht groß einschätzen muss, wissen die meisten<br />

Menschen wenig über sich selbst, und das dauern-<br />

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