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LP_Winkelmueller_Traenen

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Noch vor einigen Wochen im Herbst hat sie uns ein Gedicht geschickt,<br />

das wohl ihren Abschied von dieser Welt ausdrücken soll:<br />

Ich habe gern gelebt, und ich habe keine Angst vorm Alter.<br />

Vater und ich wandern durch die Wälder - Hand in Hand -<br />

und schauen den Bäumen zu, wie sie ausschlagen.<br />

Wenn die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt, und wie sie wieder grünen<br />

und allmählich wachsen.<br />

Ich werde gern alt und danke Gott für jeden Tag. Für jeden Tag, da Vati und ich<br />

beisammen sind.<br />

Doch irgendwann wird es dunkel, auch am freundlichen Tag.<br />

Irgendwann werden die Füße müde.<br />

Es ist nicht verboten zu sagen: Ich kann nicht mehr!<br />

Mögen wir getragen werden von Liebe, Fürsorge, Behutsamkeit und<br />

dem Beistand Gottes.<br />

Für Euch, Kinder, werden wir da sein, solange die Kraft reicht.<br />

Für Euch - und das größte Gottesgeschenk - unsere 13 Enkelkinder und 4 Urenkel.<br />

Wir wissen, dass sie alle ein warmes Nest haben, aus dem sie in die weite Welt<br />

schlüpfen können, aber auch zurück in die Wärme.<br />

Dafür danke ich Euch allen und Vieles, Vieles mehr.<br />

Änne Winkelmüller, Herbst 2000:<br />

Es vergehen drei Monate. Der Weihnachtsbesuch fällt wegen Schneetreibens<br />

und glatter Straßen aus. Fünf Wochen später sehe ich meine<br />

Mutter wieder. Sie sieht elend aus. Sie ist wegen zunehmender Schmerzen<br />

auf Morphin eingestellt. Inzwischen kennen wir die Diagnose: Das<br />

Knochenszintigramm zeigt eine Aussaat von Metastasen in Wirbelsäule,<br />

Becken- und Schädelknochen. Also hat der Brustkrebs nach der langen<br />

Zeit von 14 Jahren wieder gestreut. Für kurze Zeit erhebt sie sich von<br />

ihrem Bett. Mein Vater schlägt den lindgrünen Bademantel um ihre<br />

schmalen Schultern, sie schleppt sich mühsam in den Sessel und blickt<br />

aus dem Fenster auf das Vogelhäuschen am Balkon und dann in die<br />

Ferne. „Ich muss bald gehen“, sagt sie. Dann deutet sie auf ihren Schreibsekretär.<br />

Dort liegen mehrere Stapel Briefe, mit Bindfaden zusammengeschnürt,<br />

zwei Tagebücher in Leder gebunden und ein Heft in rotem<br />

Umschlag: „Erinnerungen und Gedanken.“<br />

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