SCHWEIZ ENTDECKEN: FREIBURGDie Kunst war sein Land,sein Feuer, seine «raison d’être».it diesen Worten beschreibt Niki deSaint Phalle ihren langjährigenKünstlerfreund und LebenspartnerJean Tinguely. Der Schweizer Künstler,berühmt für seine innovativenkinetischen Werke, wurde 1925 in Freiburg geborenund kehrte 1968 – nach vielen Jahren im Ausland – inseine Heimat zurück, um sich im freiburgischen Neyruzniederzulassen. Welche Spuren hat Jean Tinguelyin und um Freiburg hinterlassen? Und was hat die Saanestadtsonst noch zu bieten? Begleitet von Niki deSaint Phalles persönlichen Erinnerungen machen wiruns mit Stadtführerin und Märchenerzählerin OdileHayoz auf die Suche.Auf der Rue de Lausanne ist wenig los für einen Samstagmittag.Die meisten Freiburger sind wohl noch beimMittagessen oder geniessen die Sonne abseits dergrossen Einkaufsstrasse. «Freiburg ist ein bisschen wieein Dorf, obwohl es eine Stadt ist», sagt Odile Hayoz,die seit 15 Jahren thematische Stadtführungen anbietet.Sie liebt die Atmosphäre Freiburgs, diesen Gegensatzzwischen traditionell und offen, zwischen ländlich undurban. Und die Stadtführerin schätzt das kulturelleFlair, besonders jene Schauplätze, die Jean Tinguelygeprägt hat. Sie führt uns über den Platz, der nach demKünstler benannt ist und auf dem seit 2011 das architektonischauffällige Theater Equilibre thront, zeigt unsdie einstige Garage des Freiburger Formel-1-PilotenJo Siffert, mit dem Jean Tinguely eine tiefe Freundschaftverband, und macht schliesslich Halt vorTinguelys berühmtem, eben diesem Jo Siffert gewidmetenBrunnen auf den Grand-Places wenigeSchritte hinter dem Equilibre.Niemand ist ein Prophetim eigenen Land. […] und icherinnere mich an JeansTränen, als die Stadt Freiburgeine Hommage an seinenFreund Jo Siffert ablehnte […].Tatsächlich hatte es ungefähr zehn Jahre gedauert, bisTinguelys Projekt zu Ehren seines verstorbenen Freundesrealisiert war. «Seine ursprüngliche Idee fand beider Stadt keinen Anklang», erzählt Odile Hayoz. Tinguelyhabe etwas Schnelles kreieren wollen, um eine Verbindungzu Sifferts Beruf als Rennfahrer zu schaffen.Jean Tinguely1925–1991Heute ist der Jo-Siffert-Brunnen ein Wasserspiel, beidem das Wasser unkontrollierbar in alle Richtungenspritzt – ähnlich dem Champagner, den Formel-1-Fahrernach einem Sieg herumspritzen. Damit ist die thematischeVerbindung zum Rennfahren zwar gegeben,doch die Anekdote zeigt, dass Jean Tinguely in der Heimatzu jener Zeit trotz seines grossen internationalenErfolgs keineswegs unumstritten war. «Tinguelys Kunsthat immer polarisiert: Einige konnten mit seinen Maschinengar nichts anfangen, weil sie ihnen nutzlos erschienen;andere sahen darin Poesie.»Nicht nur mit seiner Kunst wusste Tinguely zu provozieren.Schon als Kind hatte er einen eigenen Kopf.Während wir mit Odile Hayoz durch die FreiburgerAltstadt spazieren, schildert sie, wie Tinguely alsSechsjähriger mit einer Zigarette im Mund gefundenund bestraft wurde. Oder wie er als junger Mann seinenLehrmeister in Basel mit seinem aufmüpfigenVerhalten auf die Palme brachte und so gar die Lehrstelleverlor. Auch Niki de Saint Phalle wird Tinguelyviele Jahre später einen «Provokateur der Kunst» nennen,einen, der «in keiner Weise Teil des ‹Establishments›»war. Kennengelernt hatte sie ihn 1955 in Paris,1968 begleitete sie ihn in die Schweiz, wo sie seinezweite Ehefrau wurde.Mit Jean gab es keineLangeweile. Er war wie seineMaschinen, war ganz inBewegung und hatte wederAngst, seine Meinung zuändern, noch sich lächerlichzu machen.Mit seiner unkonventionellen und offenen Art konnteder Künstler gut auf Menschen zugehen, ein richtiger«Netzwerker», wie Odile Hayoz sagt. Zu Lebzeiten warJean Tinguely ein häufig gesehener Gast in FreiburgsRestaurants und Bars. Im gemütlichen Café du Gothardan der Rue du Pont-Muré, nahe der FreiburgerFotos: Keystone-SDANiki de Saint Phalle1930–20021Im Café du Gothardmitten in Freiburg warJean Tinguely häufigzu Gast.2In der Rue de Lausannelässt es sich bestensflanieren, einkaufen,Kaffee trinken.3Weiss viel über Freiburgund die Region zu berichten:die sympathischeStadtführerin undMärchenerzählerinOdile Hayoz.4Im Theater Equilibre aufder Place Jean-Tinguelyspielen Ensembles ausder Schweiz und ausDeutschland.5Im Andenken an seinenFreund: Tinguely hatden Jo-Siffert-Brunnendem ehemaligenFreiburger RennfahrerJo Siffert gewidmet.12
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