Bremer Sport Frühjahr 2020
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GESUNDHEIT<br />
„Das Bermudadreieck der <strong>Sport</strong>medizin“<br />
Dr. Götz Dimanski im Interview: Symptome und Ursachen der Schambeinentzündung<br />
Wenn sich ein Fußballspieler auf<br />
dem Platz an die Leiste fasst, wird<br />
Dr. Götz Dimanski hellhörig. Als<br />
ehemaliger Mannschaftsarzt von Werder<br />
Bremen hatte er oft mit Beschwerden rund<br />
um das Schambein zu tun. Betroffene Spieler<br />
fallen dann aufgrund starker Schmerzen und<br />
muskulärer Probleme nicht selten mehrere<br />
Monate aus. Doch das muss nicht sein, sagt<br />
Dimanski. Im Interview erklärt er, worauf<br />
es bei der Diagnose und Behandlung von<br />
Schambeinentzündungen ankommt.<br />
Im Fußball fallen Spieler häufig mit der<br />
Diagnose Schambeinentzündung aus.<br />
Welche Symptome haben die Betroffenen?<br />
Oft ist ihr erster Gedanke: Da stimmt etwas<br />
nicht. Den Spielern fehlt der Druck beim<br />
Schießen, sie sind im Sprinten gehemmt<br />
und der Bewegungsablauf ist gestört. Erst<br />
später klagen die Betroffenen über extreme<br />
Schmerzen während des Trainings, beim<br />
Anziehen und nachts im Bett, die ohne<br />
Schmerzmittel kaum auszuhalten sind.<br />
Wie kommt es zu dieser Zunahme der<br />
Beschwerden?<br />
Um das zu verstehen, muss man die Ursache<br />
für die späteren Schmerzen erkennen – und<br />
Foto: RehaZentrum<br />
Dr. Götz Dimanski erlangte 1989 den<br />
Facharzt für <strong>Sport</strong>medizin. 1991 kam er<br />
von Leipzig nach Bremen, wo er 23 Jahre<br />
Werder Bremens Fußballer als Mannschaftsarzt<br />
betreute. Heute führt er die<br />
Geschäfte des RehaZentrum Bremen<br />
und praktiziert dort als Chefarzt der<br />
Abteilung für <strong>Sport</strong>medizin und Physiotherapie.<br />
Seine Tätigkeitsschwerpunkte<br />
liegen im Bereich der nichtoperativen<br />
Diagnostik sowie der Therapie von<br />
Erkrankungen und Verletzungen des<br />
gesamten Bewegungsapparats.<br />
die liegt im gestörten Zusammenspiel der<br />
Knochen und Gelenke des Beckenrings, zu<br />
dem auch das Schambein zählt.<br />
Welche Rolle spielt das Schambein in<br />
diesem Gefüge?<br />
Schambein und Schambeinfuge, in Fachkreisen<br />
Symphyse genannt, übertragen und<br />
federn Kraft ab. Die Symphyse ist ein kleines<br />
Gelenk, das es ermöglicht, die Beckenknochen<br />
minimal zu bewegen. Zusammen<br />
mit zwei weiteren Gelenken im hinteren<br />
Beckenring, den Iliosakralgelenken, bilden<br />
sie ein komplexes System, das beim Gehen<br />
und Laufen mäßig beansprucht wird. Bei<br />
rasanten <strong>Sport</strong>arten nimmt die Belastung zu.<br />
Was genau geschieht im Becken, wenn das<br />
Schambein stark belastet wird?<br />
Bleiben wir beim Beispiel Fußball. Dieser<br />
<strong>Sport</strong> zeichnet sich aus durch abrupte Bewegungen.<br />
Die Spieler beschleunigen ruckartig<br />
und wechseln plötzlich die Laufrichtung. Dabei<br />
kann es passieren, dass sich eines der drei<br />
kleinen Gelenke im Beckenring verhakt, also<br />
den Ruhepol nicht wiederfindet, sondern in<br />
der Endposition verbleibt. Das ist der Moment,<br />
in dem der Spieler spürt: Da stimmt<br />
etwas nicht in der Beckenfunktion. Die heftigen<br />
Schmerzen resultieren aus dieser Dysfunktion,<br />
sind also sekundäre Symptome.<br />
Was genau verursacht die Schmerzen?<br />
Das hat mit der Knochenstruktur zu tun.<br />
Der Knochen hat kein homogenes Inneres,<br />
sondern bildet trabekuläre Strukturen, verzweigte<br />
Verstrebungen, die sich der Belastung<br />
entsprechend ausbilden. Ist nun ein<br />
Gelenk des Beckenrings gestört, gerät das<br />
gesamte komplexe System aus den Fugen<br />
und es kommt zu Überbelastungen. Die Bezeichnung<br />
Schambeinentzündung ist folglich<br />
irreführend, da es sich nicht um eine<br />
Entzündung handelt. Treffender wäre „knöcherne<br />
Stressreaktion“.<br />
Wie lange dauert die Genesung?<br />
Je mehr Zeit vergeht zwischen dem Verhaken<br />
des Gelenks und der Wiederherstellung der<br />
Ruheposition, desto länger dauert die Ausheilung.<br />
Eine Studie zwischen 2011 und 2016<br />
in der Bundesliga hat ergeben: Es kommt<br />
jährlich zu fünf bis sechs schwerwiegenden<br />
Ausfällen aufgrund von Schambeinentzündungen.<br />
Die Betroffenen setzen mindestens<br />
vier Wochen aus, im Durchschnitt 140<br />
und bis zu 370 Tage. Dadurch entsteht ein<br />
riesiger ökonomischer Schaden für die Bundesligavereine.<br />
Ist die Behandlung so kompliziert?<br />
Nein, im Gegenteil. Die Therapie ist sehr einfach.<br />
Es reicht eine manuelle Behandlung, um<br />
die Fehlfunktion des Beckens zu korrigieren.<br />
Wenn die Diagnose und Therapie frühzeitig<br />
erfolgen, gibt es keine muskulären Verletzungen,<br />
keine Stressreaktion des Schambeinknochens<br />
und keine Rezidive, also wiederkehrende<br />
Probleme. Die Ausfälle lassen sich<br />
demzufolge erheblich reduzieren, wenn der<br />
Arzt die Fehlfunktion schnell behebt.<br />
Sie meinen also, Ärzte stellen zuweilen die<br />
falsche Diagnose?<br />
Die Diagnose ist nicht falsch, aber unvollständig.<br />
80 Prozent der untersuchten ausgefallenen<br />
Spieler hatten im Vorfeld muskuläre<br />
Verletzungen. Der nicht informierte Mediziner<br />
behandelt die sekundären Symptome.<br />
Der Patient wird jedoch immer wieder Leistenprobleme<br />
haben, wenn die Ursache nicht<br />
behoben wird. Die Schambeinentzündung<br />
gilt als das Bermudadreieck der <strong>Sport</strong>medizin,<br />
weil der Blick für das Wesentliche fehlt.<br />
Wie kann es sein, dass die Schambeinpro<br />
blematik so vernachlässigt wird?<br />
Das Problem liegt in der hoch technisierten<br />
Medizin. Meines Erachtens machen Ärzte es<br />
sich oft zu einfach, wenn sie die Verantwortung<br />
für die Diagnose an bildgebende Geräte<br />
weiterdelegieren. Bisher gibt es keine Technik,<br />
die eine Beckenfehlfunktion eindeutig<br />
abbildet. Es erfordert stattdessen ärztliche<br />
Grundtugenden, die einfach und effizient,<br />
jedoch leider aus der Mode gekommen<br />
sind. Ein Arzt, der zuhört und seine Hände<br />
benutzt, wird oft von jenen Medizinern belächelt,<br />
die sich auf die Technik verlassen.<br />
Wie sind Sie dazugekommen, sich mit dem<br />
Thema Schambein zu befassen?<br />
Als Mannschaftsarzt bei Werder hat es<br />
mich schlichtweg genervt, keine zufriedenstellende<br />
Lösung für dieses weit verbreitete<br />
Problem zu finden. Die Leistenproble matik<br />
von Rade Bogdanović, der bei Werder ab<br />
1999 im Zusammenspiel mit Pizarro viele<br />
Tore geschossen hat, hat mir vor Augen<br />
geführt, dass ich als <strong>Sport</strong>mediziner an meine<br />
Grenzen stieß. Im darauffolgenden Jahrzehnt<br />
habe ich mich dann eingehend mit<br />
der Thematik auseinandergesetzt. Erst 2010<br />
habe ich die Erkenntnis gehabt, dass die<br />
Ursache im Becken liegt. Zwischen 2010 und<br />
2014 gab es dann bei Werder keinen einzigen<br />
Ausfall mehr wegen Leistenproblemen.<br />
DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA WIEDE