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Bremer Sport Frühjahr 2020

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36<br />

GESUNDHEIT<br />

„Das Bermudadreieck der <strong>Sport</strong>medizin“<br />

Dr. Götz Dimanski im Interview: Symptome und Ursachen der Schambeinentzündung<br />

Wenn sich ein Fußballspieler auf<br />

dem Platz an die Leiste fasst, wird<br />

Dr. Götz Dimanski hellhörig. Als<br />

ehemaliger Mannschaftsarzt von Werder<br />

Bremen hatte er oft mit Beschwerden rund<br />

um das Schambein zu tun. Betroffene Spieler<br />

fallen dann aufgrund starker Schmerzen und<br />

muskulärer Probleme nicht selten mehrere<br />

Monate aus. Doch das muss nicht sein, sagt<br />

Dimanski. Im Interview erklärt er, worauf<br />

es bei der Diagnose und Behandlung von<br />

Schambeinentzündungen ankommt.<br />

Im Fußball fallen Spieler häufig mit der<br />

Diagnose Schambeinentzündung aus.<br />

Welche Symptome haben die Betroffenen?<br />

Oft ist ihr erster Gedanke: Da stimmt etwas<br />

nicht. Den Spielern fehlt der Druck beim<br />

Schießen, sie sind im Sprinten gehemmt<br />

und der Bewegungsablauf ist gestört. Erst<br />

später klagen die Betroffenen über extreme<br />

Schmerzen während des Trainings, beim<br />

Anziehen und nachts im Bett, die ohne<br />

Schmerzmittel kaum auszuhalten sind.<br />

Wie kommt es zu dieser Zunahme der<br />

Beschwerden?<br />

Um das zu verstehen, muss man die Ursache<br />

für die späteren Schmerzen erkennen – und<br />

Foto: RehaZentrum<br />

Dr. Götz Dimanski erlangte 1989 den<br />

Facharzt für <strong>Sport</strong>medizin. 1991 kam er<br />

von Leipzig nach Bremen, wo er 23 Jahre<br />

Werder Bremens Fußballer als Mannschaftsarzt<br />

betreute. Heute führt er die<br />

Geschäfte des RehaZentrum Bremen<br />

und praktiziert dort als Chefarzt der<br />

Abteilung für <strong>Sport</strong>medizin und Physiotherapie.<br />

Seine Tätigkeitsschwerpunkte<br />

liegen im Bereich der nichtoperativen<br />

Diagnostik sowie der Therapie von<br />

Erkrankungen und Verletzungen des<br />

gesamten Bewegungsapparats.<br />

die liegt im gestörten Zusammenspiel der<br />

Knochen und Gelenke des Beckenrings, zu<br />

dem auch das Schambein zählt.<br />

Welche Rolle spielt das Schambein in<br />

diesem Gefüge?<br />

Schambein und Schambeinfuge, in Fachkreisen<br />

Symphyse genannt, übertragen und<br />

federn Kraft ab. Die Symphyse ist ein kleines<br />

Gelenk, das es ermöglicht, die Beckenknochen<br />

minimal zu bewegen. Zusammen<br />

mit zwei weiteren Gelenken im hinteren<br />

Beckenring, den Iliosakralgelenken, bilden<br />

sie ein komplexes System, das beim Gehen<br />

und Laufen mäßig beansprucht wird. Bei<br />

rasanten <strong>Sport</strong>arten nimmt die Belastung zu.<br />

Was genau geschieht im Becken, wenn das<br />

Schambein stark belastet wird?<br />

Bleiben wir beim Beispiel Fußball. Dieser<br />

<strong>Sport</strong> zeichnet sich aus durch abrupte Bewegungen.<br />

Die Spieler beschleunigen ruckartig<br />

und wechseln plötzlich die Laufrichtung. Dabei<br />

kann es passieren, dass sich eines der drei<br />

kleinen Gelenke im Beckenring verhakt, also<br />

den Ruhepol nicht wiederfindet, sondern in<br />

der Endposition verbleibt. Das ist der Moment,<br />

in dem der Spieler spürt: Da stimmt<br />

etwas nicht in der Beckenfunktion. Die heftigen<br />

Schmerzen resultieren aus dieser Dysfunktion,<br />

sind also sekundäre Symptome.<br />

Was genau verursacht die Schmerzen?<br />

Das hat mit der Knochenstruktur zu tun.<br />

Der Knochen hat kein homogenes Inneres,<br />

sondern bildet trabekuläre Strukturen, verzweigte<br />

Verstrebungen, die sich der Belastung<br />

entsprechend ausbilden. Ist nun ein<br />

Gelenk des Beckenrings gestört, gerät das<br />

gesamte komplexe System aus den Fugen<br />

und es kommt zu Überbelastungen. Die Bezeichnung<br />

Schambeinentzündung ist folglich<br />

irreführend, da es sich nicht um eine<br />

Entzündung handelt. Treffender wäre „knöcherne<br />

Stressreaktion“.<br />

Wie lange dauert die Genesung?<br />

Je mehr Zeit vergeht zwischen dem Verhaken<br />

des Gelenks und der Wiederherstellung der<br />

Ruheposition, desto länger dauert die Ausheilung.<br />

Eine Studie zwischen 2011 und 2016<br />

in der Bundesliga hat ergeben: Es kommt<br />

jährlich zu fünf bis sechs schwerwiegenden<br />

Ausfällen aufgrund von Schambeinentzündungen.<br />

Die Betroffenen setzen mindestens<br />

vier Wochen aus, im Durchschnitt 140<br />

und bis zu 370 Tage. Dadurch entsteht ein<br />

riesiger ökonomischer Schaden für die Bundesligavereine.<br />

Ist die Behandlung so kompliziert?<br />

Nein, im Gegenteil. Die Therapie ist sehr einfach.<br />

Es reicht eine manuelle Behandlung, um<br />

die Fehlfunktion des Beckens zu korrigieren.<br />

Wenn die Diagnose und Therapie frühzeitig<br />

erfolgen, gibt es keine muskulären Verletzungen,<br />

keine Stressreaktion des Schambeinknochens<br />

und keine Rezidive, also wiederkehrende<br />

Probleme. Die Ausfälle lassen sich<br />

demzufolge erheblich reduzieren, wenn der<br />

Arzt die Fehlfunktion schnell behebt.<br />

Sie meinen also, Ärzte stellen zuweilen die<br />

falsche Diagnose?<br />

Die Diagnose ist nicht falsch, aber unvollständig.<br />

80 Prozent der untersuchten ausgefallenen<br />

Spieler hatten im Vorfeld muskuläre<br />

Verletzungen. Der nicht informierte Mediziner<br />

behandelt die sekundären Symptome.<br />

Der Patient wird jedoch immer wieder Leistenprobleme<br />

haben, wenn die Ursache nicht<br />

behoben wird. Die Schambeinentzündung<br />

gilt als das Bermudadreieck der <strong>Sport</strong>medizin,<br />

weil der Blick für das Wesentliche fehlt.<br />

Wie kann es sein, dass die Schambeinpro<br />

blematik so vernachlässigt wird?<br />

Das Problem liegt in der hoch technisierten<br />

Medizin. Meines Erachtens machen Ärzte es<br />

sich oft zu einfach, wenn sie die Verantwortung<br />

für die Diagnose an bildgebende Geräte<br />

weiterdelegieren. Bisher gibt es keine Technik,<br />

die eine Beckenfehlfunktion eindeutig<br />

abbildet. Es erfordert stattdessen ärztliche<br />

Grundtugenden, die einfach und effizient,<br />

jedoch leider aus der Mode gekommen<br />

sind. Ein Arzt, der zuhört und seine Hände<br />

benutzt, wird oft von jenen Medizinern belächelt,<br />

die sich auf die Technik verlassen.<br />

Wie sind Sie dazugekommen, sich mit dem<br />

Thema Schambein zu befassen?<br />

Als Mannschaftsarzt bei Werder hat es<br />

mich schlichtweg genervt, keine zufriedenstellende<br />

Lösung für dieses weit verbreitete<br />

Problem zu finden. Die Leistenproble matik<br />

von Rade Bogdanović, der bei Werder ab<br />

1999 im Zusammenspiel mit Pizarro viele<br />

Tore geschossen hat, hat mir vor Augen<br />

geführt, dass ich als <strong>Sport</strong>mediziner an meine<br />

Grenzen stieß. Im darauffolgenden Jahrzehnt<br />

habe ich mich dann eingehend mit<br />

der Thematik auseinandergesetzt. Erst 2010<br />

habe ich die Erkenntnis gehabt, dass die<br />

Ursache im Becken liegt. Zwischen 2010 und<br />

2014 gab es dann bei Werder keinen einzigen<br />

Ausfall mehr wegen Leistenproblemen.<br />

DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA WIEDE

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