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sortimenterbrief April 2020

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe April 2020.

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uchrezension<br />

www.barbara-brunner.at<br />

Der aktuelle Lesetipp von Dr. Barbara Brunner<br />

Loibelsberger entführt in seinem neuen Roman<br />

ins Wien des Jahres 1873<br />

Verehrte Damen und Herren,<br />

es ist eine ganz eigene Welt, in die uns<br />

Gerhard Loibelsberger in seinem neuen<br />

Roman Alles Geld der Welt entführt. Es ist<br />

auch kein Krimi, wie man es von diesem<br />

Autor erwarten würde, auch wenn in dem<br />

Roman veritable Verbrechen geschehen,<br />

die aber nur in seltenen Fällen mit den<br />

herrschenden Gesetzen geahndet werden<br />

können.<br />

Es ist die Welt des Heinrich von Strauch,<br />

dessen Großvater noch zu Beginn des 19.<br />

Jahrhunderts in Wien eine Pfandleihe<br />

betrieb, dessen Vater Aaron Rosenstrauch<br />

während des Wiener Kongresses vielen<br />

adeligen Familien Geld lieh, der mit<br />

Geschick und Konsequenz Reichtum und<br />

Adelstitel erwarb und sich nach der Taufe<br />

Antonius von Strauch nennen durfte. Man<br />

wohnte schon in einem Barockpalais,<br />

und das Jüngelchen, Heinrich, zeigte<br />

nach der Matura und einem kurzen<br />

Abstecher ins Jus-Studium, dass er ein<br />

goldenes Händchen für wirtschaftliche<br />

Unternehmungen und Geldgeschäfte hat.<br />

Wir schreiben das Jahr 1873, Heinrich<br />

ist am Zenit seines Erfolgs – er hat eine<br />

große Bank gegründet, besitzt Bau- und<br />

Industrieunternehmen und ist einer der<br />

ganz Großen an der Wiener Börse. Er<br />

hat rechtzeitig auf die Stadterweiterung<br />

Wiens zur Donau hin und in den<br />

Außenbezirken gesetzt, er finanziert zu<br />

großen Teilen die Weltausstellung in<br />

Wien, die am 1. Mai 1873 ihre Pforten<br />

öffnen sollte, und er will mit der Orient-<br />

Eisenbahn-Aktiengesellschaft eine Bahn<br />

von Wien nach Istanbul bauen. Es<br />

ist die Zeit des schwindelerregenden<br />

Aufschwungs in Wien – vom Barbier<br />

Maitre Pöltl bis zu Beamten und<br />

Adeligen – sie alle wollen am Kuchen<br />

der versprochenen Börsengewinne<br />

teilhaben, doch die wenigsten erkennen,<br />

dass die Lage instabil ist und hinter vielen<br />

erfolgversprechenden Projekten nur eine<br />

große Rosstäuscherei steckt, kurzum,<br />

dass der Kapitalismus grausamer als das<br />

grausamste Raubtier ist.<br />

In seinem Überfluss melden sich bei<br />

Heinrich immer öfter der Überdruss<br />

und Ekel vor der Gier der Menschen<br />

und manchmal auch Gewissensbisse<br />

ob seiner eigenen Manipulationen und<br />

Spekulationen – die er allerdings schnell<br />

in den Armen seiner diversen Geliebten<br />

zu vergessen sucht. Um sich mit seinen<br />

Tonis und Fritzis ganz dem Genuss<br />

hingeben zu können, erteilt er seinem<br />

Schulfreund Dr. Ernst Xaver Huber eine<br />

Vollmacht für alle Geschäfte ...<br />

Wir sehen hinter die Kulissen der<br />

damaligen Wiener Börse, einer windschiefen<br />

Bude aus Holz, die vorgab,<br />

ein Renaissancebau zu sein – die also<br />

genauso windig war wie die Geschäfte, die<br />

im Inneren dieses „lächerlichen Tempels<br />

des Mammons“ abgewickelt wurden.<br />

Aber Heinrich und sein Compagnon<br />

Ernst Xaver Huber spielen brillant auf<br />

der Klaviatur der Börse und lassen uns<br />

teilhaben an Scheinspekulationen, Differenzgeschäften,<br />

Kostgeschäften und<br />

Primitivgründungen. Wir lesen von<br />

Agiotage, von Gründerkurs und Emissionskurs,<br />

von Haussespekulanten<br />

und ahnen, wie überhitzt Börse und<br />

Wirtschaft zu dieser Zeit waren. Von<br />

der Weltausstellung erwartete man sich<br />

einen weiteren Aufschwung – dass die<br />

Kosten für dieses Riesenprojekt von<br />

sechs Millionen Gulden auf mehr als das<br />

Doppelte angeschwollen und die Arbeiten<br />

bei der Eröffnung in der legendären<br />

Rotunde noch nicht abgeschlossen<br />

waren, mutet hingegen fast modern an.<br />

Aber auch die Welt der Dienstboten<br />

lernen wir kennen, die des Major-<br />

Domus Jean, der Köchin Otti oder<br />

des Dienstmädchens Rosi, die ohne<br />

Kündigungsschutz oder Altersvorsorge<br />

ihrer Herrschaft ausgeliefert waren und<br />

ihnen buchstäblich Tag und Nacht zur<br />

Verfügung stehen mussten.<br />

Wir begleiten Heinrich mit seiner<br />

Geliebten zu den Luststätten in der<br />

Vorstadt – zu Schwenders Colosseum<br />

in Rudolfsheim, zum Viktoria-Saal in<br />

Fünfhaus, aber auch zu Maskenbällen in<br />

den Sophiensälen oder im Musikverein.<br />

Es wäre nicht Gerhard Loibelsberger,<br />

würde er seinen Roman nicht mit<br />

Zeitungsberichten aus der Zeit würzen,<br />

seinen Heinrich ausgiebig die klassischen<br />

Speisen dieser Zeit wie Fledermaus oder<br />

einen faschierten Rostbraten genießen<br />

lassen oder einzustreuen, dass es anno<br />

1873 in Wien 1500 Fiaker, 1200 Einspänner<br />

und 1000 Privatequipagen gab,<br />

sodass das Überqueren der Straßen<br />

schon gefährlich wurde. Er lässt einen<br />

seiner Vorfahren, den Schriftsetzer Karl<br />

Loibelsberger, kurz durch den Roman<br />

schwirren und gibt auch dem aus seinen<br />

bereits erschienenen Krimis bestens<br />

bekannten Inspector Joseph Maria<br />

Nechyba eine kleine Rolle. Charmant sind<br />

auch die vielen Wiener Ausdrücke, die<br />

auf jeder Seite erklärt und am Ende des<br />

Buches zu einem äußerst vergnüglichen<br />

Glossar zusammengefasst werden.<br />

Überhaupt das Ende des Romans: Was<br />

Heinrich mit dem (ebenfalls aus früheren<br />

Büchern bekannten) Gauner Szygmund<br />

Karminsky, genannt der „Guade“, zu tun<br />

hat und welche Rolle Sparbücher spielen,<br />

das müssen Sie selbst lesen – im Juni,<br />

wenn Alles Geld der Welt im Gmeiner<br />

Verlag erscheint.<br />

Bis dahin: Haben Sie Geduld und lassen<br />

Sie bei Börsen-Spekulationen Vorsicht<br />

walten.<br />

Herzlich<br />

Barbara Brunner<br />

352 Seiten, broschiert<br />

ISBN 978-3-8392-2686-5<br />

€ 16,– | Gmeiner<br />

ET: 10. Juni<br />

42 <strong>sortimenterbrief</strong> 4/20

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