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sortimenterbrief April 2020

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe April 2020.

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uchrezension<br />

www.mottingers-meinung.at<br />

Mottingers Meinung<br />

Josef Haslingers Bericht über den<br />

sexuellen Missbrauch im Stift Zwettl<br />

Er hat es immer wieder erzählt, erstmals<br />

1982 in Der Konviktskaktus, zuletzt<br />

vergangenes Jahr in Child in Time. 1983<br />

in Die plötzlichen Geschenke des Himmels<br />

schrieb Josef Haslinger: „Er legte mir sein<br />

wulstiges Fleischstück wie eine geweihte<br />

Hostie auf die Zunge“ ... „Ekel“ ... „Es reckte<br />

mich“. Zuhörer reagierten bei Lesungen<br />

empört, nicht wegen des Vorgefallenen,<br />

sondern weil’s einer wagte, dies öffentlich<br />

zu machen, eine Zeitschrift lehnte<br />

einen bereits vereinbarten Abdruck<br />

der Kurzgeschichte ab, der Autor selbst<br />

deklarierte die Fünf-Seiten-Prosa danach<br />

als „moralisch einwandfreie Fiktion“.<br />

Das ist, was Haslinger heute seine<br />

„Phase der Verharmlosung“ nennt, das<br />

Schönreden seines Ausgeliefertseins als<br />

Schutzbefohlener, die Unfähigkeit selbst<br />

zur späten Auflehnung, stattdessen<br />

ein emotionales Verheddern in „So<br />

schlimm war’s ja nicht/Selber schuld“-<br />

Zuweisungen. Ein einstiger Mitschüler,<br />

dessen Namen Haslinger nicht nennt,<br />

sagt am Ende des Buches, wie schwer es<br />

ihm gefallen sei, seine Autoritätshörigkeit<br />

abzulegen, seinen Reflex zum „Einehaun“,<br />

also sich anzubiedern. „Wir seien“, sagt<br />

er, „zu Opportunisten erzogen worden,<br />

zu ,Gefallsöhnen‘, gezwungen zur Selbstaufgabe,<br />

um uns geliebt zu fühlen.“<br />

Haslingers aktuelles Buch Mein Fall nennt<br />

andere Namen klar und deutlich: Pater<br />

Gottfried Eder, Pater Maurus König und<br />

Organist Viktor Adolf, Lehrer allesamt,<br />

sogenannte Erziehungsberechtigte, deren<br />

Verklausulierung durch Abkürzungen<br />

er sich nun zum ersten Mal erspart. Der<br />

Schriftsteller war in den 1960er-Jahren<br />

Sängerknabe im Stift Zwettl. Er wurde von<br />

Zisterzienser-Patres sexuell missbraucht.<br />

Bei Pater Gottfried war er zehn, bei<br />

Pater Maurus schon Mopedfahrer.<br />

Haslinger hat mit der Entanonymisierung<br />

gewartet, bis keiner der Angeführten<br />

mehr am Leben war. Mein Fall ist ein<br />

Bericht, eine Dokumentation, auch über<br />

eine Selbstfindung, und eine „Mein<br />

Fall“-Studie darüber, wie Betroffene<br />

buchstäblich von Pontius zu Pilatus<br />

geschickt werden.<br />

„Nachdem ich jahrelang entschlossen<br />

gewesen war, es nicht zu tun, wandte<br />

ich mich am 25. November 2018 an die<br />

Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“,<br />

so Haslinger. Das Resultat – sein<br />

Buch. Denn mit dem Wagen dieses<br />

ultimativen Schrittes begibt sich<br />

der Autor auf – beinah scheint’s<br />

absichtlich – verschlungene Irrpfade.<br />

Von der Opferschutzanwaltschaft zur<br />

Unabhängigen Opferschutzkommission,<br />

kurz [Waltraud] „Klasnic-Kommission“,<br />

weil beide Institutionen, wobei zweitere<br />

für erstere die Entscheidungen trifft, von<br />

ihr geleitet, zu Kommissionsmitglied<br />

Brigitte Bierlein, zu der Zeit Präsidentin<br />

des Verfassungsgerichtshofes. Dies<br />

nur, um zu erfahren, dass die von<br />

der Erzdiözese Wien eingerichtete<br />

Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und<br />

sexuellem Missbrauch in der katholischen<br />

Kirche die richtige Adresse sei. Ein<br />

Bibelkenner, der da an Matthäus 12,24<br />

denkt. Schließlich, um hier abzukürzen,<br />

endet die Odyssee beim „Erstgespräch“<br />

mit einem Mitarbeiter der Ombudsstelle,<br />

Herrn Michelbach, der dem Opfer bei der<br />

wiederholten mündlichen Darlegung der<br />

sexuellen Übergriffe und erzieherischen<br />

Gewalttätigkeiten sinngemäß bescheidet:<br />

„Herr Haslinger, Sie sind doch ein<br />

Schriftsteller. Sie können das ja alles viel<br />

besser formulieren, als ich das kann.<br />

Wollen Sie mir nicht freundlicherweise<br />

das, was sie mir gerade erzählt haben,<br />

schriftlich zusammenfassen?“<br />

Et voilà! Ein 144 Seiten starkes<br />

literarisches Protokoll über Vorgänge, die<br />

Kardinal Christoph Schönborn als „eine<br />

massive Realität“ innerhalb der Kirche<br />

bezeichnet. „Ich war zehn Jahre alt, als<br />

Pater Gottfried Eder sich für meinen<br />

kleinen Penis zu interessieren begann“,<br />

schreibt Haslinger in seiner überfälligen<br />

Konfrontation mit den Tätern. Und: „Es<br />

kam mir nicht in den Sinn ernsthaft<br />

dagegen etwas zu unternehmen. Ich<br />

hätte Angst gehabt, die Aufmerksamkeit<br />

und Zuwendung von Pater Gottfried<br />

zu verlieren.“ Haslingers expliziter Text<br />

schockt. Schwer auszuhalten ist, wie er<br />

Intimstes, Peinsames und Peinliches<br />

darlegt – und es vor Brigitte Bierlein getan<br />

hat, von der sich mittlerweile wohl jeder<br />

ein offizielles Bild penibler Gepflegtheit<br />

und amtlicher Korrektheit gezimmert<br />

hat. Ihre Reaktion, ihr Gesicht dabei –<br />

kaum vorstellbar. Sie habe mehrmals<br />

genickt, so Haslinger.<br />

Über weiteste Strecken betont sachlich<br />

schildert der ehemalige Konviktszögling<br />

die psychische und physische Folter an<br />

den Kindern.<br />

Haslingers Eltern? Hatten ganz anno<br />

1960er „Pater Bruno ermuntert, mich<br />

nicht zu schonen, wenn ich nicht<br />

pariere.“ Und apropos Mutter: An einigen<br />

wenigen Stellen ergibt sich Haslinger<br />

dem anekdotenhaften Sarkasmus, von<br />

Pater Maurus’ Pornosammlung bis zu<br />

Beschimpfungs-eMails, am skurrilsten<br />

aber da, wo der bereits fürs Priesteramt<br />

angedachte Bauernbub mit seiner<br />

Vertrautheit mit dem Sexualakt angibt.<br />

Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift<br />

Mottingers-Meinung.at<br />

144 Seiten, Hardcover,<br />

ISBN 978-3-10-030058-4<br />

€ 20,60 | S. Fischer<br />

44<br />

<strong>sortimenterbrief</strong> 4/20

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