Online-Ausgabe 2, ET 04.04.2020
Rauchende Colts: Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV zusah, ist heute in der Risikogruppe. Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh
Rauchende Colts: Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV zusah, ist heute in der Risikogruppe. Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh
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Samstag, 4. April 2020
Samstag, 4. April 2020
Samstag, 4. April 2020
Online-Ausgabe 287 am am 4. April 4. April 2020 2020
Samstag, 4. April 2020
Was kommen kann
Exit-Strategie
Es wäre jetzt an der Zeit, eine Debatte für
die Zeit nach den Kontaktverboten zu führen
und die Leute dabei mitzunehmen. Eine aus
acht EU-Ländern entwickelte App-Strategie
könnte helfen. Seite 2
Samstag, 4. April 2020
Wenn Stars verzichten
Der ruhende Fußball
Während der Ball ruht, wurde Joachim Löw
erneut Weltmeister: Er ist jetzt dienstältester
amtierender Nationaltrainer auf der Erde.
Derweil verzichten immer mehr Stars wie
Messi auf Gehälter oder spenden. Seite 4
Rauchende Colts
Marshall Matt Dillon hat früher die Banditen gejagt, die ein Halstuch vor Nase und Mund hatten. Wer damals im Röhren-TV
zusah, ist heute in der Risikogruppe. Wie auch die Ärzte, denen millionenfach Schutzausrüstung fehlt. Von Michael Zäh
Wenn es so käme, dass
der deutsche Bürger nur
noch mit Mundschutz
durch die Gegend laufen darf, weckt
dies bei manchem Zeitgenossen
ganz klar Erinnerungen: Rauchende
Colts, ein gewisser Marshall Matt
Dillon, der all jene gejagt hat, die
sich ein Halstuch vor Nase und
Mund gebunden hatten, sprich:
die Banditen. Damals im staubigen
Wilden Westen, und sehr lange vor
dem World-Wide-Web. Auch vom
Virus keine Spur, damals.
Die Vorstellung, dass wir alle
vom „Gunsmoker“ durch die Prärie
gejagt werden, weil wir schnell zu
Pferde eine Postkutsche ausgeraubt
haben, ist durchaus tröstlich. Weil
das ist ja Kindheitserinnerung. Doch
die Vorstellung, dass wir bald alle
unser Gesicht banditengleich hinter
einer Maske verstecken müssen, um
außer Haus gehen zu dürfen, hat
dafür eher den Hauch des Bösen. Da
wüsste der Marshall Matt Dillon ja
gar nicht mehr, welche Schurken er
zur Strecke bringen soll.
Man könnte auch sagen, dass es
etwas irre wirkt, wenn heuer über
solche Mundschutzmasken für die
gesamte Bevölkerung gesprochen
wird, während ja derzeit genau
solche Masken dort millionenhaft
fehlen, wo sie wirklich dringend
gebraucht würden. Laut einer Liste
der AOK fehlen schon allein bei den
niedergelassenen Ärzten (also ohne
die Kliniken, Krankenhäuser oder
auch Pflegeheime etc.) rund 115
Millionen Mund-Nasen-Schutzmasken,
außerdem 47 Millionen
Masken der FFP2-Qualität sowie
zusätzlich noch mal 7,5 Millionen
FFP3-Masken der noch höheren
Qualität. Was außerdem fehlt: 63
Millionen Schutzkittel, 55 Millionen
Packungen Einmalhandschuhe,
sowie 3,7 Millionen Schutzbrillen.
Diese Mängel sind nicht etwa
durch das plötzliche Auftreten des
Coronavirus entstanden, sondern
werden dadurch nur sichtbar. Die
bittere Wahrheit ist nämlich, dass es
bereits 2005, also vor 15 Jahren (ist
ja natürlich nix sind im Vergleich
zu den Hochzeiten von „Rauchende
Colts“) einen Pandemieplan gab,
den das Robert-Koch-Institut (heute
ja in aller Munde) im Auftrag des
Bundesgesundheitsministeriums
erstellt hat. Dieser Plan sieht vor,
dass benötigte Materialien „rechtzeitig
vor Eintreten einer Pandemie“
von der Bundesregierung bevorratet
werden müssen. Sprich: All das, was
jetzt fehlt, hätte eigentlich nach
dem Pandemieplan auf Vorrat sein
müssen. Das hat der Bund aber nicht
so ernst genommen. Man schlug
solche ungeheuren Pläne in den
Wind, weshalb man heute umso
entschiedener darüber nachdenkt,
wie eben dieses Ungeheuer mit dem
Namen Coronavirus durch private
Initiativen noch gebändigt werden
könnte. Bayerns Ministerpräsident
Söder hat prompt vorgeschlagen,
dass Bayerns Bürger zehn Millionen
Masken selbst nähen sollen.
Da wir hier schon mal in Bayern
sind, hört man den Kaiser rufen: „Ja
ist denn jetzt schon Weihnachten?“
Aber gut, das ist eine ganz andere
tragische Geschichte. Heuer würde
es heißen: „Ja ist denn jetzt schon
Ostern?“ Denn bis dahin regiert
ja Marshall Söder als Gunsmoker
mit unbeirrter Hand. Diskussionen
über eine „Exit-Strategie“ hat er
sich verbeten (siehe Seite 2 und 3).
Erst muss der Bandit erlegt sein. Ein
Schuss, ein Treffer, mitten ins Virus,
und dann raucht der Colt.
Montage: Viktor Lukanow
Und danach also soll es all die
selbstgenähten Mundschutzmasken
geben, quasi als Geste der Unterwerfung
des Volkes, wenn es denn
wieder raus darf. Lieber als Bandit
auf der Arbeit als nur Zuhause im
beengten Homeoffice.
Der praktische Nutzen solcher
Masken ist laut WHO äußerst umstritten.
Könnte medizinisch sogar
mehr Schaden anrichten als es
Nutzen hätte. Aber darum geht es
offenbar längst nicht mehr. Eher
scheint es um den Gleichklang der
Herde zu gehen (hier: die deutschen
Bürger in Panik), weil die Autorität
derer zementiert werden soll, die
zuvor fahrlässig versagt haben,
als sie sich nicht an bestehende
Pandemie-Vorsorge hielten.
Na klar schauen jetzt
diejenigen in die Röhre, die
Matt Dillon im Röhren-TV
sahen. Sprich: Risikogruppe!
HALLO ZUSAMMEN
Sagen Sie es
gerne weiter!
Liebe Leserinnen und Leser,
auch die ZaS muss den sich
überschlagenden Ereignissen
aufgrund der Ausbreitung des
Corona-Virus Tribut zollen.
Unsere gedruckten Ausgaben
im April entfallen, da sich in
Druck, Verteilung der Zeitung
sowie auch der Inhalte wie etwa
im Kulturbereich (wo ja alles
still steht) Ungewissheiten auftun.
Wer jedoch Lust und Zeit
hat, findet dafür auf unserer
Homepage unter
www.zas-freiburg.de
nun JEDEN SAMSTAG ein
paar aktuelle Essays und News
wie heute die folgenden Seiten.
Diese Texte gibt es nur aktuell
auf unserer Homepage, aber
ebenso frisch geschrieben und
meinungsstark wie sonst auch
immer. Diese Texte sind für
Sie also immer am Samstag
nur einen Klick weit entfernt,
selbstverständlich ohne Bezahlschranke
und so, also gratis.
Sagen Sie das gerne weiter,
denn je mehr Leser in unseren
Online-Ausgaben schmökern,
desto mehr Seiten wollen wir
online anbieten. Im Mai hoffen
wir, die ZaS dann auch
wieder gedruckt an
Sie zu verteilen.
Wir wünschen
frohe Ostern!
Michael Zäh
Samstag, 4. April 2020
2
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Samstag, 4.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 4. April 2020
Was alles bald
kommen könnte
Coronavirus. Nach dem schrittweise Aufheben der derzeitigen Kontaktverbote wird es eine
neue Strategie geben müssen, da das Coronavirus noch immer da sein wird. Vielleicht hilft da
eine neue App, die sogar aus acht EU-Ländern kommt. Von Michael Zäh
Warum soll nicht jetzt schon
über Exit-Strategien nachgedacht,
geredet und vielleicht
auch gestritten werden? Früh
hat Armin Laschet (Ministerpräsident
von Nordrhein-Westfalen, CDU) eine
Diskussion darüber bereits angeregt.
Markus Söder (Ministerpräsident von
Bayern, CSU) hat sich eine solche
verbeten, da sie „zur Unzeit“ käme. Es
gehört zu einer Demokratie dazu, sich
rechtzeitig und gemeinsam über Dinge
den Kopf zu zerbrechen, die da kommen
sollen. Und in diesen Tagen umso
mehr, weil ja so gut wie jeder Bürger
von den immensen Einschränkungen
betroffen ist, die gegen die ungehinderte
Ausbreitung des Corona-Virus
verfügt wurden. Es geht dabei ja nicht
darum, dass jetzt sofort schon die Kontaktbeschränkungen
aufgehoben werden
sollen. Denn bis nach Ostern wird
das öffentliche, wirtschaftliche wie
gesellschaftliche Leben still stehen,
haben Bund und Länder beschlossen
und verkündet. Doch könnte man in
der Zwischenzeit nicht darüber reden,
was danach sein könnte?
Nun ja, man könnte nicht nur, man
müsste es tun. Es ist doch wohl jedem
klar, dass der momentane Stillstand
nur zeitlich sehr begrenzt durchzuhalten
ist. Deshalb muss man ja genau die
Zeit dieses – derzeit wohl noch nötigen
– Stillstandes nutzen, um Strategien
für danach zu entwerfen. Wann soll
man es denn sonst tun? Wann wäre
es nicht zur „Unzeit“? (Was eh ein
„Unwort“ ist).
Das Ärgerliche an dem Wegwischen
einer Debatte über Exit-Szenarien
ist ja, dass dies wieder einmal
den Eindruck erweckt, als seien die
deutschen Bürger nicht mündig genug,
obwohl diese ja im Moment mit ihrer
überwältigenden Solidarität beweisen,
dass sie es sind. Sollen die Bürger
nicht so viel an das Danach denken,
damit sie das Heute besser durchhalten?
Denn es ist ja klar, dass in den
Krisenstäben des Bundes und der
Länder längst mit Hochdruck darüber
gegrübelt wird, was alles bald kommen
könnte. Warum also diese Diskussionen
über mögliche Szenarien hinter
verschlossenen Türen führen? Die
Leute hätten heuer eine Menge Zeit,
sich daran zu beteiligen.
Man wird weiterhin alle brauchen,
ganz egal, welchen Weg man wählt.
Zum Beispiel, wenn eine neue App gegen
das Corona-Virus eingesetzt werden
würde. Dann käme es am Ende vor
allem darauf an, dass möglichst alle
Leute diese App auch auf ihr Handy laden.
Und um dies zu erreichen, wäre es
doch schön, schon jetzt mehr darüber
zu diskutieren. Denn möglicherweise
gibt es ja nicht nur bei den Viren eine
Inkubationszeit, sondern auch beim
Samstag, 4. April 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 3
April 2020
Samstag, 4. April 2020
Anfreunden mit neuen Strategien.
Und das zu Recht. Denn alles, was
schnell-schnell gehen soll, ist eben
auch verdächtig. Deshalb sagen wir
hier schon Mal, wie eine Strategie
gegen die weitere Verbreitung des
Corona-Virus wohl aussehen könnte,
nachdem der Stillstand des öffentlichen
Lebens und der Wirtschgaft
schrittweise wieder aufgehoben wird:
Es wäre grob gesagt nach dem Vorbild
Südkoreas, nämlich nach dem Prinzip,
zielgenau die Infizierten zu finden und
zu isolieren. Das ginge wohl nur über
sehr viel mehr zur Verfügung stehende
Schnelltests in Kombination mit
einer App, die blitzschnelle Dienste
leistet, um potenziell Infizierte zu
informieren.
Hier ist eine europäische Lösung
in der Mache. Forscher/innen aus acht
EU-Ländern haben eine Art Baukasten
vorgestellt, um mit Handy-Apps das
Virus einzudämmen. Unis, Startups,
Forschungsinstitute sind beteiligt.
Nicht jedes Land für sich, ausnahmsweise
mal alle zusammen. Epidemiologen,
Psychologen und IT-Experten
waren an der Entwicklung beteiligt.
Bei der App sollen nur so viele Daten
genutzt werden, wie unbedingt nötig
ist. Man will die Bluetooth-Funktion
von Handys nutzen, nicht die
Standortdaten. Um sagen zu können,
ob jemand gefährdet ist, muss eine
App nicht wissen, wo genau er oder
sie sich aufgehalten hat, und der Staat
sollte das erst recht nicht wissen. Es
reicht, dass die App weiß: Der und der
war in der Nähe - das geht mit Bluetooth.
Und wenn sich später herausstellt,
dass jemand infiziert ist, schickt die
App Kontaktpersonen eine Warnung,
dass sie gefährdet sind.
Diese Technik könnte helfen, viel
schneller als bisher all jene zu testen,
die potenziell infiziert wurden. Natürlich
nur, wenn die Leute mitmachen,
sprich: mündig, auch ohne Mundschutz.
Und auch nur, wenn dann auch
wirklich genügend Tests zur Verfügung
stehen, um sofort alle zu testen,
die sich nach Benachrichtigung durch
die App zum Test melden.
Gleichzeitig ist dies aber nur eine
Seite der Medaille. Denn wie schon
zuletzt immer häufiger zu beobachten
kann auch eine Hysterie (siehe Titel
dieser ZaS) immer weiter gesteigert
werden, die ebenfalls Schaden anrichtet.
Denn natürlich ist die Angst mitten
in der Gesellschaft angekommen. Die
Angst, am Virus schwer zu erkranken.
Die Angst, durch die verfügten Verbote
seine wirtschaftliche Existenz zu
verlieren. Die Angst, dass sogar die EU
an dieser Krise zerbricht. Die Angst vor
jedem, der an einem vorbei geht. Die
Angst, dass es alles noch schlimmer
kommen könne.
Da es unabdingbar ist, dass die
Wirtschaft irgendwann wieder Fahrt
aufnehmen muss, die Kinder irgendwann
wieder in die Schule gehen
sollen, ja sogar irgendwann wieder
Kultur, Sport und Events stattfinden
müssen, gibt es noch ein Szenario,
das auch Angst machen kann. Nämlich
jenes, die „Alten“ zu isolieren,
weil diese ja die „Risikogruppe“ sind.
Stell dir vor: Das Leben tobt wieder in
Deutschland, aber über 60 (wahlweise
70 oder 80) Jahren darfst du nur zu
Hause bleiben. Und der Polizist auf
der Straße erkennt es sofort, wenn du
dagegen verstößt, weil: Du siehst ja
auch so alt aus, wie du bist.
Was könnte sonst noch alles bald
kommen? Wenn die Kontaktverbote
wieder gelockert werden, die Kinos,
Fitnessclubs und sogar die Kneipen
wieder öffnen dürfen, kann es zu Staus
kommen, zum Beispiel beim Friseur/
in, beim Einkauf in zuvor so lange
geschlossenen Fachgeschäften (hoffentlich
in den Blumenläden), beim
Ansturm in den Schwimmbädern.
Die gute Nachricht ist, dass es
irgendwann einen Impfstoff gegen das
Coronavirus geben wird, womöglich
auch wirksame Medikamente. Die
schlechte Nachricht ist, dass es später
noch andere Viren geben kann, die
heute noch keiner kennt.
Illustrationen: Viktor Lukanow
4 SPORT FUSSBALL Samstag, 4. April 2020
Samstag, 4. Apr
Ausgabe 287 am 4. Ap
Samstag, 4. April 2020
Nachdenklich:
„Die Erde stemmt sich ein bisschen gegen
das Tun der Menschen“, sagte Joachim
Löw. Viele Profis verzichten auf Gehälter
oder spenden Geld an Bedürftige. Auch
Lionel Messi (Foto unten) gehört dazu
Fotos: Witters
Spieler sind auf seiner Wellenlänge
Fußball. Joachim Löw ist jetzt der dienstälteste amtierende Nationaltrainer auf der ganzen Welt, quasi von Geisterhand. Und der
Bundestrainer hat nachdenkliche Töne angestimmt, die ihn ehren. Derweil bibbern viele Klubs um die Existenz. Von Michael Zäh
Zuerst mal Gratulation an den
Bundestrainer Joachim Löw,
der soeben zum zweiten Mal
Weltmeister geworden ist, quasi
von Geisterhand, also dem Corona
geschuldet. Weil nämlich der Fußball-Verband
Uruguays aufgrund
der Krise seinem gesamten
Personal gekündigt hat, traf
dies auch den Nationaltrainer
Oscar Tabarez, der zuvor sechs
Monate länger im Amt war als
Joachim Löw. Nun aber ist der
Jogi der dienstälteste noch
im Amt befindliche Nationaltrainer
auf der Welt.
Also Weltmeister! Und seine
Rede auf einer Videokonferenz
des DFB ist typisch
Löw, aber mit nachdenklichen
Untertönen:
„Ich habe auch so das
Gefühl, dass die Welt
und vielleicht auch die
Erde sich so ein bisschen
stemmt und wehrt gegen
die Menschen und deren Tun,
denn der Mensch denkt immer,
dass er alles weiß und alles kann
und das Tempo, das wir so die
letzten Jahre irgendwie auch
vorgegeben haben, das war
schon auch nicht mehr zu
toppen.“
Joachim Löw sagte, dass
dies ein „kollektives
Burn-Out“ der Welt sei.
„Macht, Gier, Profit,
noch bessere Resultate, Rekorde
standen im Vordergrund. Umweltkatastrophen,
wie in Australien
oder sonst wo, die haben uns nur
am Rande berührt“, sagte er. Nun
habe die Corona-Krise die Welt fest
im Griff. Heißt also
auch: An Fußball
denkt der oberste Fußballtrainer
der Nation im Moment nicht so
viel. Die EM ist auf 2021 verschoben,
und wann er nach monatelanger
Pause überhaupt wieder im
Kreise seiner Spieler sein darf, ist
nach wie vor ungewiss.
Wenn es denn ein guter Geist
war, der Joachim Löw zum
dienstältesten amtieren-
den Chef auf der Welt machte, so
ist der nationale Fußball dennoch
von allen guten Geistern verlassen.
Sprich: Corona regiert, nix
geht derzeit. Die 36 Profiklubs der
ersten und zweiten Bundesliga
haben also beschlossen, dass der
Spielbetrieb bis zum 30. April ausgesetzt
wird. Man hat errechnet,
dass sich Einnahmeverluste auf
bis zu 750 Millionen Euro belaufen
könnten, wenn die ausstehenden
Spieltage gar nicht mehr absolviert
werden könnten. Heißt natürlich,
dass einige Klubs dies gar nicht
überleben würden.
Die Planungen laufen derzeit
wohl auf die Hoffnung
hinaus, dass im Mai und
Juni die Saison zu Ende gespielt
werden kann, natürlich
ohne Publikum. Alles
Geisterspiele, aber live im
TV. Und die sollen auch
noch die bösen Geister
vertreiben, von denen dem
Vernehmen nach vor allem
deutsche Männer befallen
sind, die mangels anderer
Beschäftigung nun angeblich
zur häuslichen Gewalt neigen.
Na toll! Fußball soll also die
Idioten zu Hause bespaßen,
Frau und Kinder bringen dem
Herrn dann das Bier an den
Flachbildschirm.
Das ist natürlich alles
Quatsch. Man könnte
sich solche Argumente auch
sparen, denn es geht für viele Klubs
ums Überleben. Es heißt, dass ein
Drittel der Erstligisten und gar
die Hälfte der Zweitligisten pleite
gehen, wenn es nicht irgendwie
zustande gebracht wird, dass der
Ball für die Fernsehkameras zum
Rollen gebracht wird und somit
Fernsehgelder sowie Sponsorengelder
an die Klubs bezahlt werden.
Da ist es natürlich legitim,
dass die Klubs auch vor leeren
Rängen spielen wollen.
Das Problem daran: Auch für
die Geisterspiele braucht es Leute,
die für die Übertragung sorgen. So
um die 200 Menschen wären das
pro Stadion, die für die Technik
und anderes notwendig sind. Und
dann wären da natürlich auch die
Spieler, die den Mindestabstand
definitiv nicht einhalten können.
Ob dies alles schon im Mai und
im Juni ignoriert werden kann,
scheint derzeit eher unrealistisch.
Denn natürlich hätte das auch
zur Folge, dass via TV die froh
versendete Botschaft an die Öffentlichkeit
wäre, dass diese jetzt
auch nicht mehr so penibel auf zwei
Meter Abstand achten müssse.
Wird also schwer für etliche
Klubs. Umgekehrt ist erfreulich,
dass viele Bundesliga-Profis ihre
Popularität dazu nutzen, ihren Mitmenschen
zu helfen, mit Spenden
wie auch mit Botschaften. Joachim
Löw trifft irgendwann auf Spieler,
die auf seiner Wellenlänge sind.
Corona-Tagebuch | 28. März 2020
5
Das Ende
der Freiheit
So richtig es ist, dass das Corona-Virus durch den Zusammenhalt aller bekämpft werden
soll, so wenig darf es sein, dass Politiker dies nutzen, um ihr Profil zu stärken.
Das wäre nämlich die Blaupause zum totalitären Regime. Von Michael Zäh
Wäre das, was wir alle derzeit erleben ein Film,
würde dessen Titel wohl lauten: „Das Ende
der Freiheit.“ Doch weil es kein Film ist,
sondern die Realität, muss man sagen: Wir führen jetzt
in echt mal ein Leben, das so gespenstisch ist, wie wir
uns das in Deutschland zuvor nicht vorstellen konnten.
Wir können jetzt fühlen, wie das ist, wenn alle Rechte
blitzschnell kassiert werden, quasi hopplahopp. Wer
hätte je gedacht, dass den Bürgern in Deutschland vom
Staat vorgeschrieben wird, wen und wieviele Leute sie
treffen dürfen? Wer hätte es für möglich gehalten, dass
der Staat die Kirchen schließt, dass der Wirt oder seine
Kneipe nicht mehr öffnen darf, dass überhaupt alle
Dienstleister und Vereine in Gesellschaft, Sport und
Kultur dazu gezwungen werden, ihren Betrieb einzustellen,
dass öffentliche Plätze zugesperrt werden, dass
sogar die Schulen, Kindergärten und Kitas zu sind, dass
nix mehr erlaubt ist, was sonst die Vielfalt des Lebens
und der Wirtschaft ausmacht?
Okay, die Begründung dafür ist ja in ihrer Schrecklichkeit
ebenfalls vom anderen Stern. Das sogenannte
„Corona-Virus“ ist über die Welt hergefallen und wütet
grausam, ja sogar heimtückisch unter den Menschen.
Wenn in Italien dann an einem einzigen Tag 800 Menschen
sterben und die Leichen in Lastern der Armee
abtransportiert werden, ist die Notwendigkeit fast aller
Maßnahmen einzusehen. Erst recht, wenn man die
mathematischen Berechnungen kennt, dass es in sehr
kurzer Zeit zu Millionen Toten allein in Deutschland
kommen könnte, wenn man keine einschneidenden
Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus einleitet.
Und natürlich ist jeder Tote einer zuviel.
Doch unabhängig davon stimmt es trotzdem, dass
wir gerade eine Blaupause dessen durchleben, was es
heißt, wenn der Staat totalitär wird. Na klar, wir vertrauen
bisher den Visagen „da oben“, von Merkel bis Kretschmann,
und können uns nicht wirklich vorstellen, dass
die uns in eine Diktatur führen wollen. Würden wir aber
auch einem Orban in Ungarn nichts unterstellen wollen,
oder Trump in den USA? Von jenen Regimes in China,
Russland, Iran, Saudi-Arabien und anderen mal ganz
abgesehen, die den Kampf gegen das Virus für andere
Zwecke instrumentalisieren.
Und schließlich können auch in Deutschland die
Gesichter mal andere sein. Nein, wir nennen jetzt keine
Namen, aber der Phantasie sind hier ja keine Grenzen
gesetzt. Es ist in der Krise schon jetzt ärgerlich, wie
manche Töne angeschlagen werden. Da gibt es Politiker,
die stigmatisieren in unerträglicher Weise (ehemals)
freie Bürger dieses Landes, wie dies etwa Thomas Strobl
(Innenminister in Baden-Württemberg) mehrfach tat.
Da ist dann von den „Unverbesserlichen“ die Rede,
meist junge Leute, die sich noch in Gruppen trafen und
den Ernst der Lage nicht erkannt hätten. Dieser Gruppe
wurde von Strobl öffentlichkeitswirksam harte Strafen
(25.000 Euro Bußgeld oder mehrjährige Haftstsrafen)
quasi versprochen. Im Grunde haben jedoch diese „Unverbesserlichen“
nur das gemacht, was Menschen gerne
miteinander machen. Mag sein, dass sie dabei etwas zu
leichtsinnig waren. Aber die Drohgebärden von Strobl,
Söder und Co. sind trotzdem bedenklich. Ja, es sind viele
harte Hunde unterwegs, angeblich als Reaktion auf das
gefährliche Virus. Der Ton macht die Musik!
Und dies wird dann unerträglich, wenn der Staat und
die Politiker argumentieren, dass wegen der Uneinsichtigkeit
weniger Leute halt dann auch die größere Gruppe
der Einsichtigen mit weiteren staatlichen Einschränkungen
bestraft würden, quasi Herdenhaftung. Denn
dieses Denken und eine solche „Argumentation“ ist ein
ganz klares Kennzeichen autoritärer Regimes. Da wird
die Herde blökender, unwissender Bürger mal so richtig
rangenommen, gell? Dabei gerät ganz in Vergessenheit,
dass die so streng drohenden Politiker von genau denen
gewählt wurden, die nun als „Herde“ gelten. In einer
Demokratie ist das Volk der oberste Souverän.
So richtig es ist, dass der Zusammenhalt aller das
Coronavirus bekämpft, so wenig darf es sein, dass dies
Politiker für ihr Profil nutzen.
Samstag, 4. April 2020
6
GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 4.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 4. April 2020
Bis zum nächsten
Friseurtermin
Coronavirus. Das 750-Milliarden Hilfspaket des Staates gegen die Folgen des Coronavirus ist
schon ein fettes Butterbrot, nachdem zuvor das Knallen der Peitsche dafür gesorgt hat, dass
gesellschaftliche und wirtschaftliche Aktivitäten zum Stillstand kamen. Von Michael Zäh
Wie wird Deutschland in den
kommenden Wochen (oder
gar Monaten) frisiert sein?
Das ist keine kleine Frage, da ja alle
Friseur/innen-Betriebe schließen
mussten. Wird unsere Mutti Merkel
dann plötzlich graue Strähnen im
Haaransatz aufweisen, werden Olaf
Scholz die (bisher nicht vorhandenen)
Haare zu Berge stehen? Und wie wirkt
es sich aus, wenn bei über 80 Millionen
deutschen Bürgern die Matte wächst,
wo sie es gar nicht soll, das Grau und
gar das Weiße sprießt, während das
akkurate Kurzhaar wie auch der schön
gestutzte Bart nur noch eine ferne
Erinnerung sind. Vielmehr sogar eine
Sehnsucht, die unerreichbar in den
Weiten des Seins dahin schwebt.
Nun ja, je länger das deutsche Haar
wird, desto mehr Milliarden Steuergelder
wird das kosten. Weil es
ja so ist: Der Staat nimmt
es, der Staat gibt es –
das ist quasi
ZUR SACHE
Einschneidende
Eingriffe, überall
Die Bundesregierung und die Länder
haben gemeinsam die Schließung
einer Vielzahl von Geschäften
und Institutionen beschlossen. So
sollen „Zusammenkünfte in Kirchen,
Moscheen, Synagogen und
die Zusammenkünfte anderer
Glaubensgemeinschaften“ verboten
werden, auch Gottesdienste
können nicht mehr stattfinden.
Ebenso sind Zusammenkünfte in
Vereinen und sonstigen Sport- und
Freizeiteinrichtungen untersagt,
Angebote in Volkshochschulen,
Musikschulen und sonstigen öffentlichen
und privaten Bildungseinrichtungen
sowie Reisebusreisen
sollen eingestellt, Spielplatzbesuche
unterlassen werden.
Bars, Clubs, Diskotheken sollen
geschlossen bleiben, desgleichen
Theater, Opern, Konzerthäuser,
Museen, Messen, Ausstellungen,
Freizeit- und Tierparks und Anbieter
von Freizeitaktivitäten, Spezialmärkte,
Spielhallen, Spielbanken,
Wettannahmestellen. Auch der
Betrieb öffentlicher und privater
Sportanlagen, Schwimm- und
Spaßbädern sowie Fitnessstudios
muss eingestellt werden. miz
Samstag, 4. April 2020
| 28. März 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 7
April 2020
Samstag, 4. April 2020
ein alter Zopf. Wenn nun also Scholz,
Kretschmann, Söder, Laschet
und Konsorten sich darin übertreffen,
die aufgemotzte Bazooka in Anschlag
zu bringen, dann vergessen staatliche
Kurzhaardackel ja gerne, dass dieses
Geld nicht wie ein Sternenregen vom
Himmel fiel, sondern es sich um genau
jene Kohle handelt, die zuvor der gut
frisierte Steuerzahler (und danach
wirds auch so sein) an den Staat bezahlt
hat. Das ist also ungefähr so, als
ob der Friseur das Trinkgeld spendiert,
das er soeben vom Kunden für die
tolle Tolle bekam. Mit dem kleinen
Unterschied freilich, dass derzeit keine
Frisuren welcher Art auch immer zu
haben sind.
Der Transfer von insgesamt rund
750 Milliarden Euro zurück an die
Wirtschaft und die Steuerzahler ist
ein bisschen ein Ablasshandel dafür,
dass der Staat ja das wirtschaftliche
Leben von oben herab eingestellt hat.
Ja, es ist vielleicht sogar womöglich
so, dass damit auch die Demokratie
geschützt werden kann. Denn der
Staat, der Verbote erlassen hat und
die Freiheit seiner Bürger extrem einschränkt,
gibt so auf der anderen Seite
Millionen Menschen etwas Hoffnung,
dass sie nicht völlig pleite gehen in
den nächsten Wochen. Es ist schon ein
fettes Butterbrot nach der knallenden
Peitsche des Zusperrens allen gesellschaftlichen
Lebens.
Der Bundestag hat also ein großes
Rettungspaket für die deutsche Wirtschaft
beschlossen. Die Abgeordneten
stimmten einem Nachtragshaushalt
in Höhe von 156 Milliarden Euro und
dem Rettungsschirm WSF im Volumen
von 600 Milliarden Euro zu. Die
Schuldenbremse des Grundgesetzes
soll vorübergehend ausgesetzt werden.
Selten einhellig: Es gab gegen das gesamte
Paket nur drei Gegenstimmen.
Weil Bundeskanzlerin Angela
Merkel unter häuslicher Quarantäne
steht (ein Arzt, der sie geimpft hat,
hatte das Coronavirus intus), stellte
der Finanzminister und Vizekanzler
Olaf Scholz die Pläne der Regierung
vor. „Vor uns liegen harte Wochen -
und doch: Wir können sie bewältigen“,
sagte Scholz. Quasi ein bisschen Zuversicht
verbreiten. Um dann fortzufahren:
„Wir erleben eine Krise, die in der Geschichte
der Bundesrepublik ohne Vorbild
ist“, und für die Krisenbewältigung
gebe es „kein Drehbuch“. Und erst recht
nicht die passende Frisur, möchten wir
an dieser Stelle hinzufügen.
CSU-Landesgruppenchef Alexander
Dobrindt (lange nix gehört von ihm)
bezifferte das Volumen des Hilfspakets
der Bundesregierung gar auf etwa 1400
Milliarden Euro. Das sei in etwa die
Gesamtsumme an Krediten, Garantien
und Hilfen. Je länger die Haare wachsen
müssen, desto größer sind die Zahlen.
Oh je, Schwindel, lass nach.
Es lässt sich noch gar nicht bis in jede
Haarspitze darstellen, wer denn nun
welche Gelder erhalten soll. Klar ist aber
schon mal der Löwenanteil (nein, bitte
nicht mit der Löwenmähne verwechseln):
Es wird einen 600 Milliarden Euro
umfassenden Schutzschirm für größere
Firmen geben. Der Staat will in großem
Umfang Garantien geben und notfalls
wichtige Unternehmen auch ganz oder
zum Teil verstaatlichen. Wenn die Krise
vorbei ist, sollen sie wieder privatisiert
werden. Profitieren können nicht alle
Unternehmen, sondern nur solche mit
hohen Umsatzerlösen oder mehr als
250 Mitarbeitern. Unter diesen Schutzschirm
können kleinere Firmen nur im
Einzelfall schlüpfen - wenn sie für die
Infrastruktur besonders wichtig sind.
(Wie Friseure, möchte man rufen).
Aber da wären dann noch die 50
Milliarden, die für kleine und kleinste
Unternehmen ausgegeben werden
sollen, inklusive den sogenannten
Solo-Selbstständigen. So hat etwa das
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit
und Wohnungsbau Baden-Württemberg
ein Soforthilfeprogramm aufgelegt:
„Gewerbliche Unternehmen,
Sozialunternehmen und Angehörige
der Freien Berufe, die sich unmittelbar
infolge der Corona-Pandemie in einer
existenzbedrohenden wirtschaftlichen
Lage befinden und massive
Liquiditätsengpässe erleiden, werden
mit einem einmaligen, nicht rückzahlbaren
Zuschuss unterstützt“, heißt es
dort. Ausgezahlt über die Länder (wie
hier BW) sollen kleine Firmen und
Selbstständige, Musiker, Fotografen,
Heilpraktiker oder Pfleger direkte Finanzspritzen
erhalten. Je nach Unternehmensgröße
sind das für drei
Monate 9.000 bis 15.000 Euro. Dies
wären keine Kredite, sondern Zuschüsse,
die nicht zurück gezahlt werden
müssen. Die Anträge hierfür können
bereits digital gestellt werden. Ausgezahlt
werden die Zuschüsse dann
direkt über die Landesbank.
Millionen Menschen in Deutschland,
die sich durch die Maßnahmen
des Staates gegen die Ausbreitung
des Corona-Virus in existenzieller Not
wiederfinden, werden sich über solche
Programme freuen (falls diese dann
auch wirklich so unbürokratisch funktionieren
wie versprochen), und sich
zumindest mal kurz entspannen. Aber
Vorsicht: Experten warnen, dass diese
„Soforthilfen“ hohe Hürden haben
und es sich daher um Augenwischerei
handeln könnte. Es wäre allerdings
skandalös, so laut und unfrisiert die
Hilfe ins Land zu posaunen, riesige
Hoffnungen zu wecken und am Ende
doch für die meisten Kleinen nicht
infrage zu kommen! Es wäre ein staatlicher
und politischer Schwindel, wenn
das Soforthilfeprogramm quasi Hartz IV
ist, nur nicht so heißt.
Ist ja schon verwunderlich genug,
wie schnell über Jahre tragende
Grundsätze wie die „schwarze Null“
oder die im Grundgesetz verankerte
„Schuldenbremse“ von einem Tag
zum anderen plötzlich über Bord sind.
Zack, zack, oder sagen wir: Schnipp
Schnapp!
Ewig kann trotz Milliardenschirm
das komplette Runterfahren des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen
Lebens nicht dauern. Höchstens bis zum
nächsten Friseur-Termin.
ZUR SACHE
Der Streit um die
Deutungshoheit
In Berlin mahnte Gesundheitsminister
Jens Spahn weiterhin die
Einhaltung aller Regeln an. „Noch
ist das die Ruhe vor dem Sturm“,
sagte er. Natürlich werde es „eine
Zeit nach Corona geben“. Das Leben
werde sich aber erst schrittweise
wieder normalisieren müssen. Unter
Medizinern und Politikern gibt
es aber auch welche, die sich öffentlich
dahingehend äußern, dass
das Corona-Virus in Wirklichkeit
gar nicht so schlimm sei. Diesen
Thesen gegenüber hat nun Innenminister
Horst Seehofer Stellung
bezogen: Er lehne die These der
Herdenimmunisierung ab, nach der
möglichst viele Menschen vom Corona-Virus
befallen werden sollen,
um zügig immun zu werden. Das
halte die Kosten der Pandemie zwar
vergleichsweise niedrig, sei aber
nur um den Preis hoher Sterberaten
zu erreichen. „Erstens hat mir
noch kein Wissenschaftler in die
Hand versprochen, dass man dann
wirklich immun ist“, sagte Seehofer.
„Und zweitens heißt das, dass man
Opfer in Kauf nimmt. Das halte ich
für eine unvertretbare Strategie.“
Es gibt Zyniker, die berechnen, was
ein Menschenleben kostet. miz
Montagen: Viktor Lukanow
Samstag, 4. April 2020
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GESELLSCHAFT
GASTBEITRAG
Corona-Tagebuch
Samstag, 4.
Ausgabe 287 am 4.
Samstag, 4. April 2020
„Menschen
ohne Kontakt
werden krank
oder aggressiv“
Gastbeitrag zum Coronavirus. Die Quarantäne ist keine Dauerlösung. Eine Bettenreserve für
die Notzeiten einer Epidemie ist hingegen unverzichtbar. Die bisherigen Anstrengungen zum
Ausbau der medizinischen Versorgung reichen nicht aus.Von Prof. Dr. Joachim Bauer
Berlin 25. März 2020 - Der
Psychoneuroimmunologe und
Psychosomatiker Joachim Bauer
hält die bisher verordneten Maßnahmen
gegen COVID-19 für richtig, warnt aber
vor einer längerfristigen Aufrechterhaltung.
„Mehr als vier Wochen halten
die meisten Menschen das psychisch
nicht durch“. Die Folgen einer längerfristigen
Kontaktsperre wären nicht nur
politisch, wirtschaftlich und kulturell,
sondern auch sozialpsychologisch verheerend.
„Zwischenmenschliche Nähe
ist, wenn sie einem Menschen nicht
aufgezwungen wird, eine der stärksten
heilsamen Drogen“, so Bauer. Er fordert
einen schnellen und massiven Ausbau
medizinischer Einrichtungen. Ein längerfristiger
Verzicht auf fundamentale
Freiheitrechte, wie er von einigen Virologen
und Epidemiologen avisiert werde,
gleiche einem aus Angst vor dem Tode
vorgenommenen präventiven Suizid.
„Politik muss mehr sein als Virologie
und Epidemiologie. Dass sich diejenigen,
die sich dem angeblich alternativlosen
Rational einiger Epidemiologen und
Virologen nicht beugen, dem Verdacht
aussetzen, mit den Erkrankten nicht
solidarisch sein zu wollen, ist inakzeptabel“,
so Bauer, der auch Facharzt für
Innere Medizin und Psychiatrie ist. Die
bisherigen Anstrengungen zum Ausbau
der medizinischen Versorgung der Gefährdeten
reichten, so Bauer, bei Weitem
nicht aus. Hier sein Gastbeitrag:
An der vom SARS-CoV2 Virus ausgelösten
Erkrankung COVID-19 gibt
es nichts zu beschönigen. Zwar erleiden,
wie bisher vorliegende Studien
zeigen, über 80% der Infizierten nur
leichte bis mittelschwere Symptome
(in der Regel mit Husten und Fieber),
ähnlich einer Grippe. Da aber bei bis
zu 20% der Infizierten der Virus zu
einer schweren Lungenentzündung
führt, handelt es sich um eine überaus
ernst zu nehmende Erkrankung. Etwa
fünf Prozent der Infizierten brauchen
intensivmedizinische Behandlung
mit maschineller Beatmung. Die bisher
gehandelten Prozentzahlen des
Anteils schwer Erkrankter, ebenso
wie die Angaben zum Anteil der an
der Infektion Verstorbenen sind tatsächlich
vermutlich deutlich niederer.
Der Grund dafür ist, dass die bisher
vorliegenden Studien sich nicht
auf die Gesamtheit von Infizierten in
der Bevölkerung bezogen, sondern
auf Menschen, die sich in einer Klinik
vorgestellt hatten. Alle Experten
gehen von einer nicht erfassten hohen
Zahl unerkannt Infizierter aus, die
nur geringe Symptome entwickeln.
Aufgrund dieser „Dunkelziffer“ ist
der tatsächliche prozentuale Anteil
derer, die schwer erkranken oder der
Infektion erliegen, als weit geringer
anzunehmen als bisher vermutet. In
Deutschland liegt der Anteil der Verstorbenen
unter den SARS-CoV2-Infizierten
nach neuesten Zahlen bei
0,4%.
Virologisch und epidemiologisch
unbestritten ist, dass wir alle der
Infektion auf Dauer nicht entkommen
können. Konsens der Fachleute
ist, dass wir einer „Durchseuchung“
(etwas vornehmer ausgedrückt: Herdenimmunität)
entgegengehen: An
deren Ende werden bis zu 70% der
Bevölkerung (das sind in unserem
Land 50-60 Millionen Menschen) den
Virus „durchgemacht“ und dann eine
Immunität erworben haben. Diese
bieten dann ihrerseits den restlichen
30% der Bevölkerung, sozusagen
als Puffer, einen gewissen Schutz.
Die bisherigen, der Reduktion von
Kontakten zwischen den Menschen
dienenden Maßnahmen haben – was
gerne verdrängt wird – nicht das Ziel,
Menschen vor der Infektion zu schützen.
Sie sollen lediglich verhindern,
dass sozusagen „alle auf einmal“
krank werden und unsere medizinischen
Einrichtungen überfordern.
Daher sind die Maßnahmen jetzt erst
einmal richtig. Auf längere Sicht
schützen sie aber niemanden, auch
die besonders Gefährdeten nicht vor
einer Infektion!
Unsere Gesellschaft steht vor einem
Dilemma: Je konsequenter und
länger wir die radikalen Maßnahmen
der Kontaktsperre aufrechterhalten,
desto weniger Menschen werden zu
einem gegebenen Zeitpunkt krank,
desto länger würde es aber auch
dauern, bis die genannten 70% der
Bevölkerung, also rund 50-60 Millionen
Menschen „durchinfiziert“
wären. Virologen und Epidemiologen
wie der Direktor des Robert-Koch-Instituts
haben nur das eine Ziel vor
Augen: der Kurvenverlauf müsse
abgeflacht werden, um unsere medizinischen
Einrichtungen, die als
nur wenig veränderbare, konstante
Größe kalkuliert werden, nicht zu
überlasten. Diese Argumentation ist
zunächst einmal richtig. Dass an
Samstag, 4. April 2020
| 28. März 2020
April 2020
GASTBEITRAG GESELLSCHAFT 9
April 2020
Samstag, 4. April 2020
einer Lungenentzündung erkrankte
Menschen, wenn sie stationäre
Behandlung brauchen (nicht alle
brauchen sie), eine Klinik finden, ist
ein „Muss“. Menschen haben, damit
ihre Gesundheit geschützt bleibt, aber
nicht nur körperliche, sondern auch
psychische, soziale und kulturelle
Bedürfnisse, die ebenso zu beachten
sind, in ihrer Bedeutung aber gerne
unterschätzt oder gering gehandelt
werden. Politik hat das gesamte Spektrum
dieser Bedürfnisse im Auge zu
behalten.
Menschen können ohne sozialen
Kontakt auf Dauer nicht auskommen.
Menschen sind ausweislich ihrer
neurobiologischen Konstruktionsmerkmale
auf sozialen Kontakt angewiesene
Wesen. Zwischenmenschliche
Nähe ist, wenn sie einem Menschen
nicht aufgezwungen wird, eine
der stärksten heilsamen Drogen, die
wir kennen. Psychisches Erleben hat
tiefgreifende, wissenschaftlich nachweisbare
– und tatsächlich unendlich
oft nachgewiesene - Auswirkungen
auf die biologischen Abläufe des
menschlichen Körpers. Das menschliche
Gehirn – US-Kollegen prägten
den Begriff des „social brain“ –
konvertiert psychische und soziale
Erfahrungen in Biologie. Mit
am stärksten davon betroffen ist
das menschliche Immunsystem,
dessen biologische Abwehrkräfte
erlahmen, wenn Menschen Einsamkeit
oder soziale Ausgrenzung
erleben. Dass die moderne Medizin,
auf die wir uneingeschränkt
stolz sein können und selbstverständlich
nicht verzichten wollen,
diesen Aspekt unterbewertet, ist
bedauerlich, macht ihn aber nicht
weniger bedeutsam. Menschen ohne
Kontakt werden krank und
depressiv oder aggressiv.
Gemeinschaft, soziale und kulturelle
Verbundenheit sind unersetzliche,
essentielle Lebensbedürfnisse.
Die analoge, physische
Gemeinschaft mit anderen Menschen
lässt sich durch digitale
Kommunikationsmedien für viele
Menschen gar nicht, für die andere
nur eingeschränkt und jedenfalls
nicht auf Dauer ersetzen. Vielen alten
Menschen, vielen Blinden oder
schwer Behinderten, aber auch vielen
Kleinkindern stehen die digitalen
Kommunikationsmittel gar nicht zur
Verfügung. Aber auch diejenigen, die
in der digitalen Welt zuhause sind,
wissen, dass der physische Kontakt,
der Blick in die Augen eines Anderen,
der Austausch eines Lächelns von Angesicht
zu Angesicht letztlich nicht zu
ersetzen ist. Gemeinsam Ausflüge
zu machen, gemeinsam Konzerte zu
besuchen oder sich anlasslos treffen
zu können sind menschliche Grundbedürfnisse.
Weil sie genau das sind,
haben wir die Grundrechte. Sie sind
kein juristischer Selbstzweck. Sie
sekundieren menschliche Grundbedürfnisse.
Wichtig für künftige Notzeiten:
eine Bettenreserve
Aus diesen Gründen muss Politik
mehr sein als Virologie und
Epidemiologie. Politik muss mehrere
Zielgrößen im Auge haben. Die körperliche
Gesundheit des Menschen ist
eine, ja eine besonders wichtige Zielgröße
- aber nicht einzige. Ich sehe
die Gefahr, dass wir als Gesellschaft
dabei sind, unseren Blick unter der
Drohung der uns bevorstehenden Epidemie
auf die Virologie zu verengen.
Die hier von mir nicht weiter thematisierten
wirtschaftlichen Schäden,
die der Shut-Down vieler gesellschaftlicher
Bereiche anrichtet, sind
derart gewaltig, dass jetzt hunderte
von Milliarden aufgebracht werden
sollen, um die Folgen von Maßnahmen
wiedergutzumachen, die eigentlich
eine Therapie sein sollten. Dies
mag in Ordnung sein. Doch warum
verwenden wir nicht einen guten
Teil dieser „Bazooka“-Gelder dazu,
unsere medizinischen Strukturen
in kürzester Zeit baulich, apparativ
und personell massiv aufzurüsten?
Für eine solche notfallmäßige Hochgeschwindigkeits-Aufrüstung
mit
Schaffung von 50.000 zusätzlichen
Betten nötig wäre ein Betrag in der
Größenordnung von 25 bis 50 Mrd. €.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie
ist nicht die erste, die unser Land
heimsucht, und sie wird nicht die
letzte gewesen sein. In Deutschland
liegt die Influenza-bedingte Übersterblichkeit
seit vielen Jahren alljährlich
bei über 20.000 Menschen.
Neue unbekannte Erreger sind auch
in der Zukunft zu erwarten. Daher
ist für ein Land wie das unsere eine
Bettenreserve für die Notzeiten
einer Epidemie unverzichtbar. Sie
kann in „Friedenszeiten“ ruhiggestellt
werden. Zu einer solchen Reserve
zählt auch ein Personalpool
von Menschen, die in Friedenszeiten
hinreichend trainiert wurden und in
Notzeiten kurzfristig aktiviert werden
können. Diese Bettenreserve vorzuhalten,
wäre, wie wir jetzt sehen,
eine weit billigere Angelegenheit
als das, was wir jetzt zur Stützung
der Wirtschaft und zur Abwendung
eines Totalkollaps der Gesellschaft
ausgeben müssen.
ZUM AUTOR
Professor Dr.
Joachim Bauer
Universitäts-Professor Dr. Joachim
Bauer ist Professor für Psychoneuroimmunologe,
Facharzt für
Innere Medizin und für Psychiatrie
und in beiden Fächern auch habilitiert.
Von der Corona-Krise ist
er persönlich wegen einer Bronchial-Allergie
betroffen (was ihn
zu einem Teil der Risikogruppe
macht) sowie auch als Betreuer
seiner 89-jährigen, in einem Berliner
Pflegeheim lebenden erblindeten
Mutter. Bauer forschte am
Mount Sinai Medical Center in
NYC über Immunbotenstoffe und
war lange Jahre am Uniklinikum
Freiburg tätig. Er lebt und arbeitet
in Berlin, wo er eine Gastprofessur
innehat. „Das Gedächtnis
des Körpers – Wie Beziehungen
und Lebensstile unsere Gene steuern“
(Piper Verlag, 11 Euro) und
„ Wie wir werden wer wir sind –
Die Entstehung des menschlichen
Selbst durch Resonanz“ (Blessing
Verlag, 22 Euro) heißen zwei
seiner Best seller.
Samstag, 4. April 2020
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GESELLSCHAFT
DEUTSCHLAND
Corona-Tagebuch
Samstag, 4.
Ausgabe 287 am 4.
Eine Hand wäscht
die andere,
oder wie?
Samstag, 4. April 2020
Coronavirus. Die drastischen Maßnahmen der deutschen Behörden
gegen die Verbreitung des Virus könnten am Ende zu einer paradoxen
Reaktion führen: Gelingt die Eindämmung auf einige Zehntausend
Fälle mit anschließend flacher Kurve, wird es heißen: Und deswegen
all die Verbote? Gelingt dies trotz aller Maßnahmen nicht, heißt es:
Wofür der ganze Zauber? Hat ja eh nichts genutzt! Von Michael Zäh
Es ist nicht so, wie man denkt, sondern so, wie es
kommt. Das sagte Sigmund Freud, der Begründer
der Psychoanalyse und einer der größten
Denker der Menschheit. Dies ist keinesfalls zu verwechseln
mit dem rheinischen Grundgesetz: „Et kütt
wie et kütt.“ Denn dieses „Es kommt wie es kommt“
ist eher fatalistisch lässig gemeint, bis hin zum unvermeidlichen
Untergang, während Freud sein Leben
lang Wissenschaftler war, der sich Gedanken darüber
machte, was den Menschen helfen könnte.
Niemand von uns hat derzeit die Macht, auch
nur zu wissen, was kommt und wie es kommt. Wohl
auch unsere Wissenschaftler nicht, denen aber in
der derzeitigen Situation zunächst einmal Glauben
geschenkt werden sollte. Und diese haben denn auch
eine recht klare Formel in Umlauf gebracht: Siebzig
Prozent der deutschen Bevölkerung werden sich über
kurz oder lang mit dem Corona-Virus anstecken. Dies
wären rund 58 Millionen Menschen in Deutschland.
Die Frage sei nur, in welchem Zeitraum dies geschehe.
Und genau diese Frage sei entscheidend dafür, wie
schlimm es kommt. Entweder zur Katastrophe und dem
gesellschaftlichen Zusammenbruch, oder zu einer gewaltigen
Aufgabe, die aber bewältigt werden könnte.
Die Wissenschaftler gehen bei ihren Prognosen
von zwei Prämissen aus: Erstens wird sich das Corona-
Virus so lange von Mensch zu Mensch weiter verbreiten,
in Deutschland wie in der Welt, bis es keine neuen
Wirte mehr findet, die nicht schon immun sind. Und
zweitens würde die Kurve der Ansteckungen in kurzer
Zeit steil nach oben gehen, wenn keine einschneidenden
Maßnahmen ergriffen würden. Wenn wie bisher
knapp ein Sechstel der Infizierten einen schweren
Verlauf der Lungenkrankheit bekämen und daher im
Krankenhaus behandelt werden müssten, dann wären
dies also knapp neun Millionen Menschen.
Dieses Szenario ist so, wie Wissenschaftler es
heute denken. Nein, keiner weiß, ob es so kommt.
Weil aber allein die Möglichkeit besteht, dass es –
ohne all die Gegenmaßnahmen, die bereits ergriffen
wurden – zu einem Kollaps in Kliniken führen könnte
(weil natürlich nicht neun Millionen Menschen dort
gleichzeitig behandelt werden könnten) alles rechtfertigt,
was man dagegen tun kann, kommt es im Moment
bei der Gesellschaft – uns allen – ganz gut an, wenn
nun der Ausnahmezustand ausgerufen ist. Noch dazu,
weil die Wissenschaftler ja darauf hinweisen, dass es
hauptsächlich eine bestimmte Gruppe ist, die durch
den Rest der Gesellschaft – uns alle – geschützt werden
müsse: Ältere und bereits erkrankte Menschen, also
unsere Eltern oder Großeltern (insofern wir das nicht
selbst schon sind). Und wer möchte nicht seine eigenen
Eltern schützen? Ohne die Bereitschaft aller käme es
laut Hochrechnungen bis zu 1,8 Millionen Toten in
kürzester Zeit durch das Corona-Virus. Hinzu kämen
vermutlich noch viele weitere Tote, die an ganz anderen
Krankheiten (wie etwa Herzinfarkte, Krebs und
dergleichen) leiden, aber wegen des Zusammenbruchs
des Gesundheitssystems nicht mehr entsprechend versorgt
werden könnten. Dass es nicht so kommen darf,
wie sich das die Wissenschaftler vorsorglich denken,
überzeugt auch jene von uns, die ungern auf all das
verzichten, was unser Leben schon auch ein bisschen
ausmacht: Soziale Kontakte, Kultur, Sport, Kneipen,
die Freiheit, sich dort bewegen zu dürfen, wo man will.
Man übt sich in Solidarität, es fühlt sich ja auch an
wie zwischen den Zeiten (verwandt mit den wenigen
Wochen zwischen den Jahren), ist mal etwas Neues
und schweißt im Abstandhalten sogar zusammen. Eine
Weile geht das gut. Es sind Coronaferien, die man gar
nicht beantragen musste (ja, die man nicht mal auf
die eigene Kappe nehmen muss), eine überraschend
geschenkte Zeit im Kreise seiner Nächsten. Und es
kann sogar sein, dass man dann in neun Monaten den
„Corona-Baby-Boom“ feststellt. Ja, was soll man auch
machen, wenn man mal nicht gestresst ist?
Eine Weile lang ist es ein Test, der seinen Reiz entfaltet.
Das sonstige gesellschaftliche Leben in Deutsch-
ZUR SACHE
Die „Bazooka“ soll
nun also helfen
Es ist eine seltsame Wortwahl, die
Finanzminister Olaf Scholz und
Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier in Anschlag bringen: Der
Bund werde die „Bazooka“ gegen
die Auswirkungen des Corona-Virus
einsetzen. Nun ja, das ist wohl als
Beruhigung gemeint, obwohl das
„Ofenrohr“ im Zweiten Weltkrieg
als eher grobschlächtige Waffe der
US-Streitkräfte galt, die nicht selten
die Schützen selbst zu Tode verbrannte.
In Übersetzung heißt dies,
dass der Bund in unbegrenzter Höhe
Kredite für Firmen bereitstellen will,
die durch das Corona-Virus in Not
geraten sind. „Das ist ein Schritt,
den es so in der Nachkriegsgeschichte
noch nicht gegeben hat.
An fehlendem Geld und fehlendem
Willen soll es nicht scheitern“, so
Altmaier. Man sitze auf gut gefüllten
Kassen und habe deshalb auch
großes Durchhaltevermögen, sagte
Scholz. „Wir können alles stabilisieren,
was stabilisiert werden muss“,
so der Finanzminister weiter. Dies
soll für kleine wie für große Unternehmen
gelten, so heißt es. Wenn
man dies aber die „Bazooka“ nennt,
rennen viele Firmen gleich davon.
Verbrennungsgefahr! miz
Samstag, 4. April 2020
| 21. März 2020
April 2020
DEUTSCHLAND GESELLSCHAFT 11
April 2020
Samstag, 4. April 2020
land ist ausgeknipst – was können wir an dessen Stelle
rücken? Manche machen vielleicht den Couch-Potato
vor der Glotze, dem Computer oder dem Handy. Ist
bequem und tut nicht weh. Wann hat man das schon,
dass es auch noch ohne schlechtes Gewissen gemacht
werden kann? Ist zum Schutz der Großeltern und ja
auch staatlich verordnet.
Andere nutzen die Auszeit dafür, mal das zu
machen, an das sie sonst gar nicht denken dürfen.
Nachdenken übers eigene Leben und das der Nächsten.
Sogar über Politik und Ethik. Mal ein Buch lesen, das
tausend Seiten hat. Mal raus aus der ewigen Beschleunigung
des sonstigen Alltags, um zu sich selbst zu
finden. Quasi eine Erfrischungskur für Geist und Seele.
Und dann soll es auch jene geben, die ganz konkret
helfen wollen. So gibt es bereits spontan gegründete
Nachbarschaftshilfen für ältere Menschen, damit diese
nicht selbst einkaufen gehen müssen. Oder es gibt
Leute, die vorübergehend arbeitslos geworden sind und
sich als Babysitter anbieten, um jene zur Arbeit gehen
zu lassen, die dringend benötigt werden, vor allem im
Gesundheitssystem.
Wenn wir alle immer schön unsere Hände waschen
und es dann auch noch stimmt, dass offiziell eine Hand
die andere wäscht, weil die Regierung einfach allen
Betroffenen finanziell unter die Arme greift, könnte
am Ende etwas ganz Großartiges stehen. Das wäre fast
wie das deutsche Wirtschaftswunder in der Folge des
Zweiten Weltkriegs.
Die Frage ist allerdings, wie lange diese Solidarität
gutgehen kann. Denn angesichts existenzieller
Nöte von all jenen, die freischaffend tätig sind oder
auf öffentliches Publikum angewiesen sind, wird es
wohl nicht allzu lange dauern, bis es sogar soziale
Unruhen geben wird. Wenn in vier Wochen alles unter
Kontrolle wäre und die rigorosen Beschränkungen mit
Pauken und Trompeten alle wieder aufgehoben werden
könnten, wäre dies noch machbar. Dann würde sich
die Gesellschaft ob ihres Zusammenhalts vielleicht
sogar feiern.
Wenn es nach acht Wochen immer noch heißt,
dass kein Ende absehbar sei, sondern immer noch neue
unzumutbare Restriktionen erlassen würden, rauscht
die gesellschaftliche Depression heran. Wenn es ein
halbes Jahr, gar ein Jahr oder länger dauern sollte, wäre
die Gesellschaft und die Wirtschaft, wie wir sie heute
kennen, nicht mehr wieder zu erkennen. Dann wäre es
nicht so, wie es von heute aus gedacht war, sondern
so, wie es dann gekommen ist. Es wäre der Absturz ins
Bodenlose, mit allen politischen Verwerfungen, die das
mit sich brächte.
Kurzfristig könnte es zu einer paradoxen Reaktion
kommen: Sollte es nämlich gelingen, dass durch die
drastischen Maßnahmen des Staates die Zahl der Infektionen
recht konstant auf einem niedrigen Niveau
gehalten würde und dann flach verläuft, dann würden
die Millionen Menschen, die ihre wirtschaftliche
Existenz verloren haben, sagen: Wie bitte, wegen nur
ein paar zehntausend Infektionen wurde vom Staat
der Ausnahmezustand verfügt und habe ich alles
verloren? Sollte aber umgekehrt eine gesundheitliche
Katastrophe über das Land herein brechen, weil alle
Maßnahmen es nicht verhindern konnten, dann werden
Millionen Menschen sagen, dass man dann diese
wirtschaftlich vernichtenden Verbote auch hätte sein
lassen können, da sie ja nichts bewirkt haben.
Man kann sich das ausdenken wie man will. Derzeit
werden selbst frohgemute Geister verunsichert sein
und daran zweifeln ob ein „Et hätt noch immer jot jejange“
zutrifft. Es stimmt ja außerdem auch nicht, dass
es noch immer gut gegangen ist. Eher könnte sein, dass
das Jahr 2020 ein einschneidendes in der Geschichte
der Menschheit sein wird.
Womöglich kommt es so, dass der Virus irgendwann
kontrolliert wird, aber die Weltordnung und die
globale Wirtschaft sich zwischenzeitlich stark verändert
haben werden. Könnten wir uns denken, wenn wir
nicht wüssten, was Freud gesagt hat.