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»Guten Morgen Padre, vielen Dank noch
einmal für die Unterkunft, ich habe Sie seit meiner
Ankunft leider nicht mehr gesehen, um mich
persönlich zu bedanken.«
Der alte Mann sieht von seiner Gartenarbeit
hoch in das Gesicht ihres neuesten Klosterzuganges
in den Bergen Kolumbiens.
»Dafür brauchst du mir nicht zu danken. Gott
hat dich zu uns geschickt und ich hoffe, dass du
hier die Ruhe findest, die du brauchst und wieder
auf den richtigen Weg findest.«
Der Mann, der neu zu ihnen gefunden hat,
versucht sein altes Leben hinter sich zu lassen. Er
ist nicht der Erste, der in Trauer oder aus Angst
vor seinem Leben zu ihnen geflüchtet ist, einige
brauchen nur ein paar Tage Ruhe, andere finden
ihren Weg zu einem neuen Leben und zu Gott und
bleiben bei ihnen.
»Ich weiß, doch ich möchte mich gerne mit
meiner Hilfe bedanken. Morgen fahre ich mit
Padre Erikson auf den Markt und helfe ihm auch
dabei, die Holzvorräte aufzufüllen. Ich hoffe, ich
kann so etwas dazu beitragen und mich für das
Bett und die Mahlzeiten bedanken.«
Der alte Mann lächelt nur und nickt.
»Ach so und noch etwas, Padre: Sie wissen ja, dass
ich früher einmal als Psychologe gearbeitet habe.
Padre Ortiga hat mir von dem Arbeiter erzählt,
der seit einigen Jahren bei ihnen lebt und der sein
Gedächtnis nach einem Autounfall verloren hat.
Ich habe mit ihm zwei Sitzungen gemacht. Padre
Ortiga sagt, dass der Mann sich an nichts erinnern
kann. Sie haben ihn damals aus dem Krankenhaus
geholt, nachdem sie verständigt wurden, dass dort
ein Mann liegt, von dem niemand weiß, wohin
er gehört. Doch seine Tattoos und alles andere
zeigen klar, dass er ein Leben vor dem Unfall
gehabt haben muss und nach einigen Stunden der
Überredungskunst habe ich es geschafft, ihn in
Trance zu versetzen.«
Der alte Mann setzt seine Harke ab und schüttelt
den Kopf.
»Wir hatten das schon einige Male besprochen.
Ich weiß, dass Padre Ortiga sich oft Gedanken
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wegen dem Mann macht, doch die Ärzte haben uns
gesagt, dass wir ihn in Ruhe lassen sollen. Meistens
kommt das Gedächtnis ganz von alleine wieder.
Er lag eine Weile im Koma und wenn Gott will,
kommen seine Erinnerungen wieder. Er träumt
schlecht und wir sind uns sicher, dass er sich eines
Tages wieder erinnern wird, doch wir drängen ihn
nicht. Die Ärzte haben davor gewarnt, dass das
noch mehr Schäden verursachen könnte.«
Der Mann nickt. »Das stimmt, das weiß ich.
Meistens kommen die Erinnerungen von alleine
wieder, durch Orte, Gerüche, durch einiges
Vertraute. Man spricht von einer Blockade im
Kopf, die sicherlich durch den schweren Unfall
entstanden ist. Doch diese Therapie, die ich
mache, ist sehr sanft und ich passe auf. In der
ersten Sitzung bin ich nur ganz leicht in sein
Bewusstsein getreten und er hat sofort alles
blockiert.«
Der alte Mann sieht nach oben zum Hang, wo
der Mann, der seit über zwei Jahren bei ihnen lebt
und von dem sie nicht einmal seinen richtigen
Namen kennen, die Holzbalken von einem zum
anderen Haufen trägt.
Er verrichtet hier die schwersten Arbeiten, er
trainiert und geht jeden Tag laufen, er ist immer
höflich und hilft, wo er kann, doch ansonsten
schweigt er. Auch wenn er selbst sich nicht an
sein früheres Leben erinnern kann, so zeigt
die Traurigkeit in seinen Augen deutlich, dass
der Mann vielleicht noch gar nicht bereit dafür
ist, wieder Zugang zu seinen Erinnerungen zu
bekommen.
»Allerdings habe ich es gestern Abend noch
einmal probiert, Padre, und alles, was der Mann
gesagt hat, war ein Name. Ich vermute, dass es eine
Stadt ist. Er hat immer und immer wieder diesen
einen Namen geflüstert: Sierra.«
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