EDUCATION 2.20
Vorurteile
Vorurteile
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Thema | Dossier<br />
Markus P. Neuenschwander: «Wenn Anna, Tochter einer Schweizer Akademikerfamilie, einen schlechten Test schreibt, hatte sie Pech oder einen schlechten Tag.»<br />
erwartet, sein Leistungsverhalten nicht<br />
verändert. Dasselbe konnte auch bezüglich<br />
Motivation nachgewiesen werden.<br />
Wird von einem Kind mehr Motivation<br />
erwartet, steigt in der Regel seine Motivation.<br />
Oder wenn ich erwarte, dass ein<br />
bestimmter Jugendlicher eh wieder den<br />
Unterricht stört, verstärken sich die Unterrichtsstörungen<br />
dieses Kindes. Unsere Erwartungen<br />
– positive wie negative – sind<br />
selbsterfüllend. Man spricht auch vom<br />
Pygmalioneffekt.<br />
Bestimmt gibt es auch das Gegenteil:<br />
Lehrpersonen, die Kinder und<br />
Jugendliche stärker fördern, weil<br />
sie aus einer Arbeiterfamilie mit<br />
Migrationshintergrund kommen …<br />
Was ich beschrieben habe, bildet den<br />
Trend ab. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen.<br />
Dies hat auch ein von uns durchgeführtes<br />
Projekt mit dem Titel «Soziale<br />
Bildungsaufsteiger» bestätigt. Erwachsene<br />
mit einem Tertiärabschluss, deren Eltern<br />
keine Berufslehre abgeschlossen haben,<br />
wurden gefragt, weshalb sie einen untypigerechtigkeit<br />
an Schweizer Schulen im<br />
internationalen Vergleich gross, weil die<br />
Sekundarstufe I in verschiedene Schulniveaus<br />
gegliedert ist, weil schulische<br />
Laufbahnentscheidungen nur teilweise auf<br />
Schülerleistungen basieren und weil Elternerwartungen<br />
die Leistungsbeurteilung<br />
in Schulen stark beeinflussen.<br />
Besonders betroffen sind Kinder<br />
und Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />
aus tieferen sozialen<br />
Schichten, wie etliche Studien<br />
belegen. Wie läuft dies konkret ab?<br />
mit dem entsprechenden Stereotyp zusammenzubringen<br />
versuchen. Eine mittelmässige<br />
Leistung von Anna, Tochter eines<br />
Schweizer Ärztepaars, schätze ich tendenziell<br />
besser ein als eine ebenso durchschnittliche<br />
Leistung von Bekim, Sohn<br />
einer albanischen Arbeiterfamilie. Wenn<br />
Anna einen schlechten Test schreibt, hatte<br />
sie einen schlechten Tag oder Pech. Bekims<br />
schlechtes Abschneiden im selben<br />
Test bestätigt mich in meinem sozialen Stereotyp:<br />
weniger begabt, weniger motiviert<br />
und weniger leistungsfähig.<br />
«Es ist möglich, die Erwartungen von Lehrpersonen<br />
so zu verändern, dass sie fairer beurteilen.»<br />
Markus P. Neuenschwander<br />
Alle Menschen haben soziale Stereotype,<br />
beispielsweise jenen des «Arbeiterkindes»<br />
mit Migrationshintergrund. Tendenziell gilt<br />
dieses Kind als leistungsschwächer und<br />
weniger motiviert als das Kind aus einer<br />
Schweizer Akademikerfamilie, ebenfalls ein<br />
soziales Stereotyp: leistungsbereit, motiviert<br />
und mit Eltern im Hintergrund, die es<br />
fördern wollen und können.<br />
In der Praxis führen solche Vorurteile<br />
dazu, dass wir das Verhalten eines Kindes<br />
Was hat dies für Anna und Bekim<br />
für Folgen?<br />
An soziale Stereotype sind auch bestimmte<br />
Erwartungen geknüpft, die Lehrpersonen<br />
an die Schülerinnen und Schüler<br />
haben. Diese Erwartungen wiederum<br />
haben zur Folge, dass die Kinder ihnen<br />
gerecht werden wollen: Anna wird bei der<br />
nächsten Gelegenheit mehr zu leisten versuchen,<br />
während Bekim, dem bestätigt<br />
wurde, dass man nichts anderes von ihm<br />
PROF. DR. MARKUS<br />
NEUENSCHWANDER …<br />
… leitet das Forschungszentrum Lernen<br />
und Sozialisation der Pädagogischen<br />
Hochschule FHNW und ist Mitglied des<br />
Instituts für Bildungswissenschaften der<br />
Univer sität Basel.<br />
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