FOCUSING JOURNAL 44
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Themen<br />
Verkörpertes kritisches Denken<br />
Embodied Critical Thinking (ECT)<br />
■■<br />
Von Donata Schoeller<br />
Wer als Studentin in die Denkwelten<br />
der Philosophie eintritt, begreift<br />
bald: Alles ist anders, als man denkt, je mehr<br />
ein Mensch denkt. Das begeisterte Hineinspringen<br />
in Philosophien hat jedoch auch<br />
einen Haken. Je mehr man sich in das Denken<br />
der anderen vertieft, desto schwieriger<br />
wird es, zum eigenen zurückzukehren.<br />
Man nennt dies auch die Macht des<br />
Diskurses. Begriffe und Perspektiven, mit<br />
denen originelle Denkerinnen und Denker<br />
kommen, werden zu Linsen, die den anderen<br />
ermöglichen, Phänomene besser zu erkennen,<br />
zu debattieren und zu kritisieren.<br />
Anfänger, die diese konditionierende Macht<br />
anzweifeln, werden milde belächelt.<br />
Dieses Lächeln ist symptomatisch. Es<br />
ist auch ein resignatives Eingeständnis. Eigenständig<br />
denken zu lernen, scheint unrealistisch.<br />
Gelehrt wird buchstäblich das<br />
Nach-Denken. Man liest Texte, in denen<br />
man den Gedankengängen der anderen<br />
nach-denkt und diese wiederum mit anderen<br />
Gedankengängen von anderen in Beziehung<br />
bringt. Erlaubt man Studierenden, ihre<br />
eigenen Fragen oder Ideen zu formulieren,<br />
begegnet man zunächst einer Art Schockstarre<br />
und nervös wippenden Füssen.<br />
Heraus aus der Unfreiheit<br />
Trauen sie sich dennoch, dies zu versuchen,<br />
werden ihnen Zusammenhänge allein schon<br />
in diesem ausdrucksstarken Wippen bewusst.<br />
In den Momenten, in denen es ihnen<br />
gelingt, ins eigene Denken durchzubrechen,<br />
berühren sie nicht selten schmerzhaft erfahrene<br />
Entmutigungen.<br />
Kritik an den Absurditäten der Geisteswissenschaften,<br />
wie die durch diese Zeitung<br />
neu entflammte Debatte zeigt, umkreist ihre<br />
Rolle und Relevanz. Kostbare Arbeitszeit<br />
von Geisteswissenschaftlern fließt beispiels-<br />
weise in das Verfassen von Fachartikeln,<br />
die im Durchschnitt, wie Statistiken zeigen,<br />
höchstens zehn Leser haben.<br />
Nur wenige Handvoll Eingeweihte<br />
können häufig nachvollziehen, was in den<br />
Geisteswissenschaften produziert wird. Ihre<br />
Abwicklung deshalb zu befürworten, wäre<br />
jedoch ein trauriger Beleg mangelnden Vorstellungsvermögens,<br />
wie ihr Potenzial besser<br />
zu verwirklichen wäre. Vielversprechender<br />
erscheint eine kritische Selbstreflexion, die<br />
Veränderung – Verbesserung – ermöglicht.<br />
In Vorbereitung auf eine Tagung zur<br />
Nachdenklichkeit des Collegium Helveticum<br />
überlegten die isländische Philosophin<br />
Sigridur Thorgeirsdottir und ich, wieso Gespräche<br />
zwischen uns Profis der Zunft häufig<br />
einem Schlagabtausch gängiger Begriffe<br />
und Konzepte gleichen, schematisch, wenig<br />
inspirierend und vorprogrammiert. Wir<br />
müssen feststellen, dass gerade unsere langjährige<br />
Forschungspraxis einer freien Nachdenklichkeit<br />
und einem überraschenden,<br />
weiterführenden Austausch im Weg steht.<br />
Der philosophische Profi scheint sich die eigene<br />
Unfreiheit mühsam zu erarbeiten!<br />
Eine engagierte Sprache<br />
Das Unbehagen daran kann jedoch auch<br />
einen Ausweg anzeigen. Kognitionswissenschaften<br />
und die Philosophie der Verkörperung<br />
legen heute dar, welche zentrale Rolle<br />
das Fühlen und das verkörperte Erleben<br />
konkreter Situationen beim Denken spielen.<br />
Die Mikrophänomenologie zeigt, dass in<br />
akademischen Denkgewohnheiten eine andauernde<br />
Abkoppelung eingeübt wird.<br />
Das Fühlen trägt jedoch die Komplexität<br />
der Lebenswelten, in denen sich die Geisteswissenschaftlerinnen<br />
bewegen und denken.<br />
Je mehr sich Menschen darauf einlassen, desto<br />
weniger genügen eingespielte Begrifflich-<br />
Der philosophische<br />
Profi scheint sich<br />
die eigene Unfreiheit<br />
mühsam zu<br />
erarbeiten!<br />
Kognitionswissenschaften<br />
und die<br />
Philosophie der<br />
Verkörperung legen<br />
heute dar, welche<br />
zentrale Rolle das<br />
Fühlen und das<br />
verkörperte Erleben<br />
konkreter Situationen<br />
beim Denken<br />
spielen.<br />
focusing journal | heft <strong>44</strong>/2020 41