08.05.2020 Aufrufe

FOCUSING JOURNAL 44

  • Keine Tags gefunden...

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Themen<br />

Verkörpertes kritisches Denken<br />

Embodied Critical Thinking (ECT)<br />

■■<br />

Von Donata Schoeller<br />

Wer als Studentin in die Denkwelten<br />

der Philosophie eintritt, begreift<br />

bald: Alles ist anders, als man denkt, je mehr<br />

ein Mensch denkt. Das begeisterte Hineinspringen<br />

in Philosophien hat jedoch auch<br />

einen Haken. Je mehr man sich in das Denken<br />

der anderen vertieft, desto schwieriger<br />

wird es, zum eigenen zurückzukehren.<br />

Man nennt dies auch die Macht des<br />

Diskurses. Begriffe und Perspektiven, mit<br />

denen originelle Denkerinnen und Denker<br />

kommen, werden zu Linsen, die den anderen<br />

ermöglichen, Phänomene besser zu erkennen,<br />

zu debattieren und zu kritisieren.<br />

Anfänger, die diese konditionierende Macht<br />

anzweifeln, werden milde belächelt.<br />

Dieses Lächeln ist symptomatisch. Es<br />

ist auch ein resignatives Eingeständnis. Eigenständig<br />

denken zu lernen, scheint unrealistisch.<br />

Gelehrt wird buchstäblich das<br />

Nach-Denken. Man liest Texte, in denen<br />

man den Gedankengängen der anderen<br />

nach-denkt und diese wiederum mit anderen<br />

Gedankengängen von anderen in Beziehung<br />

bringt. Erlaubt man Studierenden, ihre<br />

eigenen Fragen oder Ideen zu formulieren,<br />

begegnet man zunächst einer Art Schockstarre<br />

und nervös wippenden Füssen.<br />

Heraus aus der Unfreiheit<br />

Trauen sie sich dennoch, dies zu versuchen,<br />

werden ihnen Zusammenhänge allein schon<br />

in diesem ausdrucksstarken Wippen bewusst.<br />

In den Momenten, in denen es ihnen<br />

gelingt, ins eigene Denken durchzubrechen,<br />

berühren sie nicht selten schmerzhaft erfahrene<br />

Entmutigungen.<br />

Kritik an den Absurditäten der Geisteswissenschaften,<br />

wie die durch diese Zeitung<br />

neu entflammte Debatte zeigt, umkreist ihre<br />

Rolle und Relevanz. Kostbare Arbeitszeit<br />

von Geisteswissenschaftlern fließt beispiels-<br />

weise in das Verfassen von Fachartikeln,<br />

die im Durchschnitt, wie Statistiken zeigen,<br />

höchstens zehn Leser haben.<br />

Nur wenige Handvoll Eingeweihte<br />

können häufig nachvollziehen, was in den<br />

Geisteswissenschaften produziert wird. Ihre<br />

Abwicklung deshalb zu befürworten, wäre<br />

jedoch ein trauriger Beleg mangelnden Vorstellungsvermögens,<br />

wie ihr Potenzial besser<br />

zu verwirklichen wäre. Vielversprechender<br />

erscheint eine kritische Selbstreflexion, die<br />

Veränderung – Verbesserung – ermöglicht.<br />

In Vorbereitung auf eine Tagung zur<br />

Nachdenklichkeit des Collegium Helveticum<br />

überlegten die isländische Philosophin<br />

Sigridur Thorgeirsdottir und ich, wieso Gespräche<br />

zwischen uns Profis der Zunft häufig<br />

einem Schlagabtausch gängiger Begriffe<br />

und Konzepte gleichen, schematisch, wenig<br />

inspirierend und vorprogrammiert. Wir<br />

müssen feststellen, dass gerade unsere langjährige<br />

Forschungspraxis einer freien Nachdenklichkeit<br />

und einem überraschenden,<br />

weiterführenden Austausch im Weg steht.<br />

Der philosophische Profi scheint sich die eigene<br />

Unfreiheit mühsam zu erarbeiten!<br />

Eine engagierte Sprache<br />

Das Unbehagen daran kann jedoch auch<br />

einen Ausweg anzeigen. Kognitionswissenschaften<br />

und die Philosophie der Verkörperung<br />

legen heute dar, welche zentrale Rolle<br />

das Fühlen und das verkörperte Erleben<br />

konkreter Situationen beim Denken spielen.<br />

Die Mikrophänomenologie zeigt, dass in<br />

akademischen Denkgewohnheiten eine andauernde<br />

Abkoppelung eingeübt wird.<br />

Das Fühlen trägt jedoch die Komplexität<br />

der Lebenswelten, in denen sich die Geisteswissenschaftlerinnen<br />

bewegen und denken.<br />

Je mehr sich Menschen darauf einlassen, desto<br />

weniger genügen eingespielte Begrifflich-<br />

Der philosophische<br />

Profi scheint sich<br />

die eigene Unfreiheit<br />

mühsam zu<br />

erarbeiten!<br />

Kognitionswissenschaften<br />

und die<br />

Philosophie der<br />

Verkörperung legen<br />

heute dar, welche<br />

zentrale Rolle das<br />

Fühlen und das<br />

verkörperte Erleben<br />

konkreter Situationen<br />

beim Denken<br />

spielen.<br />

focusing journal | heft <strong>44</strong>/2020 41

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!