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Heinrich Glareans "Dodekachordon"

Zentraler Gegenstand von Heinrich Glareans Dodekachordon (1547) ist die Tonartenlehre. Andrea Horz zeigt die vielschichtigen Vernetzungen und intertextuellen Bezüge auf, die diesem Musiktraktat eingeschrieben sind. Durch die Verortung der Schrift innerhalb einer übergreifenden Wissenschaftsbewegung, speziell im Kontext des Humanismus erasmischer Prägung, eröffnet die Studie über unmittelbare musikhistorische Belange hinausgehende Forschungsperspektiven. Unter anderem erfährt Glareans Lehre eine Neubewertung innerhalb der zeitgenössischen kirchenpolitischen Auseinandersetzung.

Zentraler Gegenstand von Heinrich Glareans Dodekachordon (1547) ist die Tonartenlehre. Andrea Horz zeigt die vielschichtigen Vernetzungen und intertextuellen Bezüge auf, die diesem Musiktraktat eingeschrieben sind. Durch die Verortung der Schrift innerhalb einer übergreifenden Wissenschaftsbewegung, speziell im Kontext des Humanismus erasmischer Prägung, eröffnet die Studie über unmittelbare musikhistorische Belange hinausgehende Forschungsperspektiven. Unter anderem erfährt Glareans Lehre eine Neubewertung innerhalb der zeitgenössischen kirchenpolitischen Auseinandersetzung.

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I. PRAEFATIO – AD LECTOREM<br />

Als ein verwegenes Unternehmen beschreibt <strong>Heinrich</strong> Glarean zu Beginn sein<br />

Vorhaben in der Dedikationsepistel des Dodekachordon, als ein Vorhaben, mit<br />

dem er sich der Gefahr aussetze vom gesamten Erdkreis verbannt zu werden. 1<br />

Schließlich maße er sich an, nicht allein eine Saite hinzuzufügen, wie Timotheus<br />

von Milet, sondern den Achtsaiter zu einem Zwölfsaiter zu ergänzen. 2<br />

Gewagt, zwar nicht existenzbedrohend, doch bei Weitem nicht selbstverständlich,<br />

erprobt auch die vorliegende Studie einen Zugang, der keineswegs gewöhnlichen<br />

Gepflogen heiten bei der Behandlung musiktheoretischer Texte<br />

folgt. Mit der Tonartenlehre, dem Modus – eine Kategorie, die seit der Antike<br />

nicht allein Musikalisch-Technisches bezeichnet, sondern mit Konnotationen<br />

von emotionalen Eigenheiten bis hin zu spezifischen Charakteristika eines<br />

ganzen Volkes aufgeladen war, 3 zu Beginn des lateinischen Mittelalters durch<br />

Verschmelzung mit weiteren Traditionen, wie den byzantinischen Oktoechoi,<br />

als Ordnungssystem gregorianischer Melodien transformiert, im 15.–16. Jahrhundert<br />

wieder vermehrt in das Blickfeld theoretischer Auseinandersetzung<br />

rückend – war <strong>Heinrich</strong> <strong>Glareans</strong> Traktat innerhalb der musikhistorischen<br />

Forschung dazu prädestiniert, Beachtung allein deshalb zu finden, um hieraus<br />

Hilfestellung für den Umgang mit den Stücken zu destillieren; das Werk also<br />

als Steinbruch dafür zu nutzen, Analysekriterien für die Musik, allem voran<br />

für die Bestimmung der Tonarten polyphoner Stücke, zu legitimieren. Reichlich<br />

zitiert ist diese Abhandlung auch deshalb, weil sie eine Vielzahl von Anekdoten<br />

und zeitgenössischen Sichtweisen auf Komponisten und Kompositionen<br />

bietet, was zur Folge hat, dass <strong>Glareans</strong> Name in einschlägigen Monographien<br />

und Artikeln sehr häufig zu lesen ist. 4 Diese positiven Vereinnahmungen des<br />

Textes konterkariert das vernichtende Urteil von Claude Palisca, der Glarean<br />

eine Fehlleistung bescheinigt, ein Scheitern bei der Rekonstruktion antiker<br />

Tonarten. Denn, so dessen Perspektive, seine Ausführungen haben nichts mit<br />

antiker Wirklichkeit zu tun. 5 Quelle für Methoden heutiger Analyseversuche,<br />

1 <strong>Heinrich</strong> Glarean, Dodekachordon, Basel: <strong>Heinrich</strong> Petri 1547 [VD16 L 2613], Widmungsbrief.<br />

2 Ebda.<br />

3 Harold S. Powers; Frans Wiering, „Mode“ (§ I–III), in New Grove ² 16 (2001), S. 775–823,<br />

hier S. 797. „For the most part, the general idea of modal ethos was accepted in medieval<br />

theory without question (where it appeared at all).“<br />

4 Pars pro toto siehe Rob C. Wegman, „‚And Josquin Laughed …‘ Josquin and the Composer’s<br />

Anecdote in the Sixteenth Century“, in Journal of Musicology 17 (1999), S. 319–357.<br />

5 Claude Palisca, Humanism in Italian Renaissance Musical Thought, New Haven u.a. 1985,<br />

S. 12, 298, 299, 346.<br />

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