wenn nerven - Selbsthilfe-Kontaktstelle Frankfurt e.V.
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Als Arbeitsphase gilt danach ein Zustand, in dem die Gruppe<br />
anerkennt, dass die ursprünglichen Zielsetzungen in einem<br />
störanfälligen, von multiplen Übertragungen gekennzeichneten<br />
Interaktionsprozess einer ständigen Fortschreibung<br />
unterliegen und das Gruppengleichgewicht immer wieder neu<br />
hergestellt werden muss. Nach Michael Lukas Moeller, dem<br />
verstorbenen Gründungsvater der deutschen <strong>Selbsthilfe</strong>bewegung<br />
erwirbt eine Gruppe auf diesem Weg die Fähigkeit zur<br />
Selbststeuerung, das heißt die Mitglieder schaffen sich einen<br />
gruppeninternen Spielraum für den Entwurf und die Erprobung<br />
veränderter Interaktionen.<br />
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Diese abstrakten und ein wenig blutleeren Ausführungen<br />
verleiten womöglich zu der entmutigenden Annahme, dass<br />
man sich ohne ein wissenschaftliches, fundiertes Instrumentarium<br />
nicht an die Teilnahme oder gar die Initiierung einer<br />
<strong>Selbsthilfe</strong>gruppe herantrauen sollte. Aus meiner eigenen<br />
Erfahrung kann ich sagen, dass es keiner Theorie bedarf, ja<br />
dass einem noch nicht einmal den Begriff der <strong>Selbsthilfe</strong> zu<br />
Ohren gekommen sein muss, um sich die in jeder Hinsicht<br />
heilsame Wirkung der Gruppe verfügbar zu machen: Leidensdruck<br />
und Veränderungswunsch bilden eine ausreichende<br />
individuelle „Grundausstattung“. Als mir meine Lebensgefährtin<br />
im Frühjahr 1977 mitteilte, dass aus unserer Liebesbeziehung<br />
in absehbarer Zeit das herbeigesehnte Kind hervorgehen<br />
würde, war die Freude groß, aber leider nicht anhaltend. Mit<br />
jedem Tag, der verging und uns dem Ankunftstermin näher<br />
brachte, wurde die Liste der offenen Fragen länger. Wird die<br />
Geburt des Kindes unsere Beziehung gefährden? Bin ich dem<br />
Anspruch gewachsen, dem neuen Erdenbürger eine besserer<br />
Vater zu sein als es mein eigener Vater war? Wie gehe ich<br />
mit dem Erwartungsdruck um, der von meiner in der Frauenbewegung<br />
organisierten Gefährtin ausgeht? Beginnt jetzt<br />
der Ernst des Lebens und wie sieht der aus? Sollte ich vorher<br />
noch heiraten und damit meine Beteiligung am Sorgerecht<br />
sichern? Wäre es jetzt nicht an der Zeit, den Marsch durch die<br />
Institutionen in aller Stille in eine bürgerliche Berufskarriere<br />
einmünden zu lassen? Ich kann von Glück sagen, dass ich in<br />
diesem Zustand der allgemeinen Verunsicherung auf eine<br />
Kleinanzeige im „Pfl asterstrand“, dem Blatt der so genannten<br />
Sponti-Szene stieß, in dem ein „lockerer und netter Typ“<br />
Mitmänner für die Gründung einer Gruppe „Werdende Väter“<br />
warb. Obwohl die sieben Geschlechtsgenossen, die an einem<br />
lauen Sommernachmittag im Bockenheimer „Dionysos“ ein -<br />
kehrten, durch die erwartete Vaterschaft, einen identischen<br />
Fragenkatalog, Haarlänge, Kleidung und politische Anschau-<br />
ungen ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielten, hatte<br />
die daraus resultierende spontane Sympathie durch die Unterschiedlichkeit<br />
der Lebensgeschichten, Temperamente und<br />
Charaktere recht bald eine von vielen Bewährungsproben zu<br />
bestehen: Kiffer, Flipper, Zwängler, Muttersöhnchen, Intellektuelle,<br />
desillusionierte Revolutionäre und ewige Studenten<br />
auf dem neurotisch verminten Weg zur neuen Vaterschaft.<br />
Ich möchte den Leser nicht mit den einzelnen Etappen dieser<br />
kollektiven, von Trennungen, Zusammenbrüchen und Beziehungskrisen<br />
begleiteten Wanderung langweilen, kann aber im<br />
nachhinein zweierlei sagen: Dass diese Männergruppe auch in<br />
Unkenntnis der selbsthilfegruppenspezifi schen Grundregeln<br />
der Gesprächsführung alle im vorausgegangenen Abschnitt<br />
skizzierten Entwicklungsphasen durchlaufen hat und nach<br />
innen und außen eine nachhaltige Wirkung entfaltete. Aus<br />
der Vätergruppe ging die Gründung einer selbstorganisierten<br />
Krabbelstube hervor, in der unsere Töchter und Söhne nach<br />
den Regeln einer maßvollen antiautoritären Erziehung heranwuchsen,<br />
um sich nach fünf Jahren in einer „Schutzzone“ der<br />
alternativen Gegenöffentlichkeit gut gerüstet und erfolgreich<br />
den Herausforderungen des staatlichen Schulwesens zu stellen.<br />
Obwohl sich unsere Gruppe nach der Bewältigung dieser<br />
Aufgabe in gewisser Weile überlebt hatte und die meisten der<br />
Beteiligten getrennte Wege gingen, ist der innere Zusammenhalt<br />
unserer kleinen Brüderschaft nie ganz verloren gegangen.<br />
Als wir 25 Jahre später mit nahezu allen Akteuren in der Nähe<br />
unseres alten Kinderladens zusammentrafen, war das kein Anlass<br />
in nostalgischen Erinnerungen zu schwelgen, sondern es<br />
war auf Anhieb zu spüren, dass die impliziten Qualitäten unseres<br />
Zusammenschlusses, Offenheit, Konfl iktfähigkeit, Einfühlsamkeit<br />
und gelebte Solidarität, auf unsere Nachfolger nachhaltig<br />
abgefärbt hatte – die jungen Erwachsenen, die da nach<br />
all der Zeit unter den Augen ihrer Eltern wieder miteinander<br />
ins Gespräch kamen, gingen derart warmherzig und vertrauensvoll<br />
miteinander um, dass es so schien, als hätten sie den<br />
Sandkasten erst gestern verlassen. Die persönliche Genugtuung,<br />
die ich darüber empfi nde, ist das eine. Die Tatsache,<br />
dass diese Erfahrung meine berufl iche Entwicklung geprägt<br />
hat, ist das andere. Als professioneller Gruppenanalytiker und<br />
<strong>Selbsthilfe</strong>unterstützer war und ist diese Erfahrung handlungsleitend:<br />
Die Gruppe ist ein primäres<br />
Medium der heilsamen<br />
Selbstveränderung und der<br />
sozialen Integration.<br />
Titel<br />
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