Neue Szene Augsburg 2020-07
Stadtmagazin für Augsburg und Umgebung
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Gästeblog
AAls Lokalredakteurin bei der AZ lerne ich viele
Menschen kennen. Menschen, an denen man auf
der Straße vielleicht einfach vorbeigehen würde,
ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Durch meinen
Job weiß ich: Jeder von ihnen hat eine interessante
Geschichte zu erzählen. Die einen überraschen,
muntern auf, andere hingegen sind wahnsinnig
traurig. Ich empfinde es jedes Mal als eine Ehre,
wenn Augsburger mir ihre Geschichten und ihre
Gedanken anvertrauen, damit ich diese veröffentlichen
darf. Für mich ist das alles andere als
selbstverständlich. Manche Geschichten bewegen
mich nachhaltig. Wie etwa die der alleinerziehenden
türkischen Mutter.
Nach dem Brand in ihrer Wohnung in Oberhausen
steht die Frau mit den beiden Töchtern vor
dem Nichts. Die Flammen haben alles vernichtet.
Die Frau, die sich als Servicekraft in einem Imbiss
ein schmales Geld verdient, muss mit ihren
Kindern von vorne anfangen. Als wir zusammen
in ihrer verkohlten Wohnung stehen, fließen bei
ihr die Tränen. Aber sie lamentiert nicht, sondern
sucht nach Lösungen. Ich denke etwa auch an
Rosemarie Wirth. Schonungslos offen schildert sie
mir, wie ein rechtsabbiegender Lkw in der Jakobervorstadt
sie auf dem Fahrrad zweimal überfuhr.
Seitdem muss sie ein Leben unter unvorstellbaren
Schmerzen führen. Jeder Tag bedeutet für die
Augsburgerin ein neuer Kampf. Sie nimmt ihn
immer wieder auf und hat dabei einen Wahnsinns-
Humor. Das beeindruckt mich zutiefst. Von
solchen Menschen kann man viel lernen, finde ich.
Außerdem gibt es die skurrilen Begegnungen, die
mich begeistern.
Als mir der König von Augsburg erklärt, wie
er die Wochen nach Farben aufteilt und warum er
welche Routen für seine Spaziergänge aussucht,
lerne ich ihn und seine Logik verstehen. Dass der
Mesner von St. Ulrich und Afra in seiner Freizeit
auf Promi-Beerdigungen geht und Sterbebilder
sammelt, finde ich herrlich schräg. Ich liebe
meinen Beruf - und ich liebe Augsburg. Allerdings
musste ich Letzteres erst lernen. Denn ich komme
ursprünglich aus Landsberg. Für mich ist es eine
der schönsten Städte hier in der Region. Zudem
hat der Oberbayer an sich den gemeinen Schwaben
von Haus aus nicht besonders lieb. Dementsprechend
fielen die Reaktionen meiner Landsberger
Freunde aus, als ich vor sechs Jahren meinen
Umzug verkündete.
„Was, du ziehst nach Augsburg?“ Sie waren
entsetzt. Beachtlich, wie viel Fassungslosigkeit
rund 40 Kilometer Entfernung auslösen können.
Ehrlicherweise fand ich die Vorstellung eines
A-Kennzeichens auch nicht prickelnd. Aber dass
der Umzug schier mit einem Verrat gleichgesetzt
wurde, war übertrieben. Doch der eingefleischte
Landsberger hegt seit Jahrzehnten eine Abneigung
gegenüber dem Augsburger. Woran das liegt?
Vielleicht sind die vielen Sch-Laute im Augsburger
Dialekt schuld. Oder, dass die Schwaben
gerne an Wochenenden ins Landsberger Inselbad
und im Wildpark einfallen und die Plätze in den
Cafés am Lechwehr in Beschlag nehmen. Aber ehrlicherweise
kenne ich die wahren Ursachen nicht.
Ich weiß lediglich, dass es so ist. Da muss ich nur in
meine Jugend zurückschauen.
Wenn der AEV damals noch auf den EVL
(Eishockeyverein Landsberg) traf, war irgendeine
Schlägerei garantiert. Wenn nicht auf dem Eis,
dann unter den Fans. Oberbayern gegen Schwaben,
Schwaben gegen Oberbayern. Abgesehen
davon, dass ich Quentin Tarantino-Filme liebe,
bin ich wenig blutrünstig. Aber als Teenie war ich
doch froh, wenn mal etwas Aufregung ins kleine,
beschauliche Landsberg einkehrte. Und sei es
durch eine Rauferei. A propos beschaulich.
„In Augsburg habe ich
mein eigenes, neues
Bullerbü gefunden.”
Meine Freundinnen nennen Landsberg gerne
„Bullerbü“. Weil das Leben dort in Ordnung ist
und jeder jeden kennt. Meist weiß man sogar
mehr über die anderen, als diese jemals selbst von
sich in Erfahrung bringen könnten. Ich dachte, in
Augsburg ist das etwas anders. Bei ihrer Größe ist
die Stadt etwas anonymer. Mein Gott war ich naiv.
Ich erinnere mich nur an diese eine unglaubliche
Szene. Ich war neu in Augsburg und begleitete
meinen Mann auf eine Party.
Jürgen war übrigens der Grund meines
Umzugs, aber das nur am Rande. Auf diesem
großen Fest also ging plötzlich eine Frau gezielt auf
mich zu. Ich kannte sie nicht, aber die Frau meinte
unverblümt: „Ich war schon ganz neugierig auf Sie
und habe mich gefragt, ob Sie wohl Kleidergröße
36 tragen.“ Dabei taxierte sie mich von oben bis
unten und grinste mich herausfordernd an. Wie
meine Gesichtszüge reagierten, weiß ich nicht. Ich
jedenfalls blieb höflich. Bei dieser unvergesslichen
Begegnung wurden mir zwei Dinge klar:
1. Augsburg ist irgendwie auch nur eine Kleinstadt.
2. Von hier an kann es mit den Augsburgern und
mir nur noch bergauf gehen.
Zoom
Ich behielt Recht. Inzwischen liebe ich
Augsburg. Zwar habe ich noch keinen Ersatz für
das tolle Landsberger Inselbad gefunden und
der Lech ist auch nicht so schön in die Stadt
integriert, aber dafür gibt es so viele andere Dinge.
Ich mag den Stadtwald, das Theater, die vielen
Cafés, Gassen und Kirchen, den Wittelsbacher
Park, die Wertach, die Offenheit der Menschen,
aber auch deren Schrulligkeit. Wie mich neulich
ein Straßenbahnfahrer über Lautsprecher zusammengrantelte,
weil ich mich in seinen Augen
als Radfahrerin unkorrekt verhalten hatte, war
herrlich. Den Hotelturm finde ich inzwischen
architektonisch einfach nur geil und manchmal
erwische ich mich bei einem „woisch“.
Ich liebe es, morgens auf den Sandplätzen
des TC Augsburg Tennis zu spielen und dabei die
Störche über die Baumwipfel hinweg fliegen zu
sehen, die im Zoo ihr Nest haben. Ich bekomme
von den Augsburger Geschichten, die Sackpfeifen-
Wirt Egon zu erzählen weiß, nicht genug und
freue mich jedesmal, wenn ich auf der Straße
der über neunzigjährigen Theater-Garderobiere
Hildegard Doser begegne. Eine tolle Frau. Wenn
ich in der Tram durch die Ulmer Straße fahre,
schaue ich gerne in die Schaufenster der vielen
Abend- und Brautmodengeschäfte. Dann male
ich mir aus, wie ich wohl in so einem glitzernden
Tüllhaufen aussähe. Vor allem aber habe ich in
Augsburg mein eigenes, neues Bullerbü gefunden.
Es ist das Lechviertel, in dem mein Mann
und ich leben. Ich finde es ein herrlich beschauliches
Fleckchen Augsburg. Nicht nur wegen der
plätschernden Kanäle, der alten Häuser und der
individuellen Geschäfte. Sondern auch wegen der
Menschen. Ob es DHL-Bote Alois ist, Eisverkäufer
Christian, Boutique-Inhaberin Milana - irgendjemand
hat immer Zeit für einen freundlichen
Ratsch. Oder für Hilfe, wenn nötig. Ich denke da
nur an Barbetreiber Omid vom „Le Coq“. Wir hatten
uns daheim ausgesperrt. Er lieh uns eine lange
Leiter, auf der wir zum geöffneten Küchenfenster
im ersten Stock hochkletterten. Im Lechviertel
hält man zusammen, ohne sich unangenehm auf
die Pelle zu rücken. Das mag ich.
Meine anfänglichen Vorbehalte gegen
Augsburg waren schnell verschwunden. Die vieler
Landsberger mittlerweile auch. Das merke ich vor
allem samstags, wenn sie hier einfallen und die
Plätze auf dem Stadtmarkt, am „Il Vicolo“ oder auf
der Maxstraße besetzen. „Augsburg ist unkomplizierter
und gemütlicher als München und es hat
sich so gemacht“, verkündete mir neulich erst eine
Landsbergerin, die mit ihrem Mann beim Schwingenstein
auf dem Stadtmarkt Fischsuppe löffelte.
Fast wäre mir rausgerutscht: „Merksch was?“
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