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Selbstverantwortliches
Handeln
Wenn wir uns selbst als freie, d. h. für unser eigenes
Handeln verantwortliche Menschen verstehen,
können wir uns besser mit Charakteren
identifizieren, die uns als für sich selbstverantwortliche
Charaktere begegnen. Andernfalls
wäre die Ilias zwar ein Lehrstück für ein vermeintlich
archaisches Menschenbild, aber ohne Relevanz
für unser eigenes Leben. 6 Um darüber hinaus
verstehen und mitfühlen zu können, müssten
wir die Gründe der Handlungsentscheidungen
kennenlernen. Und um die Entscheidungen einordnen
und bewerten zu können, müssten wir
auch von den Zielen der Charaktere erfahren.
Ist das alles in der Ilias gegeben? Mit Blick auf
die Selbstverantwortlichkeit des Handelns der
Helden rückt zu Beginn die prominente Szene
in den Fokus, in der Athene erscheint und Achill
davon abhält, sein Schwert gegen Agamemnon
zu erheben. Aus dem Text wird deutlich, dass
Achill zunächst selbst zwei Handlungsoptionen
abwägt (1, 188–192) und sich damit offen für
eine vernunftorientierte Entscheidung zeigt. Erst
dann erscheint Athene und präsentiert ihm einen
Weg, der zugleich seinem Zorn gerecht wird als
auch die Möglichkeit aufrechterhält, sein eigentliches
Ziel zu verfolgen. Homer beschreibt explizit
sowohl diese Handlungsoption als ein offenes
Angebot (1, 207) als auch die Entscheidung des
Achill als eine mit Einsicht getroffene Entscheidung:
denn es ist besser so, sagt er! (1, 217).
Auch Agamemnon weiß, dass er selbst Anteil
6 Und mit „wir“ sind auch die Rezipienten der Antike
miteingeschlossen, die auch nicht mehr Teil des in der
Ilias dargestellten „Heldenzeitalters“6 waren. Hesiod
beschreibt in seinen Werken und Tagen (156–173), wie
das vorhergehende Heldenzeitalter sich von dem Zeitalter
seiner Zeitgenossen unterscheidet.
7 Vgl. ausführlich hierzu die Untersuchungen zur Psychologie
bei Homer von A. Schmitt, Selbstständigkeit und
Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer.
Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie
Homers, Stuttgart 1990.
an seinem Fehlverhalten gegenüber Achill hat.
Er weist zwar der gottgesandten Ate, der Verblendung,
einen großen Teil der Schuld zu, weiß
jedoch, dass er seine Fehler wieder gut machen
muss. Einmal verblendet, einmal von Ate befallen,
ist es tatsächlich schwierig, keine Fehler zu
machen. Aber Homer beschreibt eindrücklich, wie
Agamemnon zuvor, also noch vor dem täuschenden
Traum des Zeus, gänzlich eigenverantwortlich,
seinem Charakter entsprechend Entscheidungen
trifft. Auch bei anderen Eingriffen der
Götter in das Treiben der Menschen lassen sich in
dem Eops Hinweise dafür finden, dass die Figuren
selbst ihren Teil dazu beitragen, für bestimmte
Einsichten, Überlegungen, Erkenntnisse, die dann
von göttlichen Figuren geliefert werden, offen zu
sein. 7 Die handelnden Charaktere werden bei Homer
also zum einen als selbstständig handelnde
Charaktere präsentiert. Zum anderen werden sie
auch als Charaktere gezeichnet, deren Handeln
wir nachvollziehen und verstehen können.
Identifikation durch
Nachvollzug der Gründe
Homer gibt sich große Mühe, den Zorn des Achill
für die Zuhörer oder Leser verstehbar zu machen.
Dieser Zorn hat zwar schreckliche Konsequenzen,
die bereits im Proömion genannt werden. Und
doch erfahren wir, warum Achill auch gute Gründe
für seinen Zorn hat; so gute Gründe, dass selbst
Athene, die Göttin der Klugheit, ihm nicht einfach
raten kann, vom Zorn gänzlich abzulassen. Stattdessen
nimmt sie Achill und seine Beweggründe
für den Zorn ernst. Sie rät ihm zwar davon ab, einem
ersten Impuls zu folgen und Agamemnon zu
töten. Doch sie gewährt dem Zürnen auch Handlungsraum,
indem sie vorschlägt, dem Zorn mit
Worten und nicht mit dem Schwert Ausdruck zu
Abb. rechts: Der Anfang von Homers Ilias in der Handschrift
Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus Palatinus
graecus 246, fol. 1r.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a8/
Homer%2C_Iliad%2C_Vaticanus_Palatinus_graecus_246.jpg
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