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anschaulicht seinem Vater, dass der Eber doch
keine Lanze trage. Weil sich der Kampf also nicht
gegen Menschen, sondern gegen ein Tier richte,
brauche sein Vater keine Angst um ihn zu haben.
Kroisos zeigt sich von dieser Argumentation vollends
überzeugt und lässt seinen Sohn mit auf die
Jagd, bei der er ausgerechnet durch die Lanze des
Mannes, den sein Vater ihm eigens zum Schutze
mitgesandt hatte, getötet wird, als dieser versuchte
den Eber zu treffen, ihn aber verfehlte und
stattdessen Atys traf und tötete. Kroisos versinkt
daraufhin lange Zeit in Trauer (I, 36–40).
11 Schon F. Hellmann, Herodots Kroisos-Logos, Berlin
1934, 36 sah in dieser Episode ein ἀδύνατον ἀπφυγεῖν-
Motiv, „den Gedanken, daß ein kommendes Unglück
nicht abzuwehren sei.“ S. ferner auch: B. Manuwald,
Oidipus und Adrastos. Bemerkungen zur neueren Diskussion
um die Schuldfrage in Sophokles’ ,König Ödipus‘,
in: Rheinisches Museum 135 (1992), 1–43. S. nur exemplarisch
ferner auch: T. Long, Repetition and Variation in
the Short Stories of Herodotus, Frankfurt a. M. 1987, 77,
der davon spricht, dass „fate is in control and is as
infallible as it is inescapable (…).“ oder K. Roettig, Die
Träume (wie Anm. 3), 87: „Es wird ein Geschehen
entfaltet, in dem Menschen mit aller Umsicht und Sorgfalt
vernünftige Anstalten treffen, um etwas zu erreichen.
Diese erweisen sich aber auf völlig unvermutete Art als
wirkungslos. Als wirkungslos jedenfalls, was das Wollen
des Menschen betrifft.“ Selbst Interpreten, wie E. Visser,
Herodots Kroisos-Logos: Rezeptionssteuerung und Geschichtsphilosophie,
in: WJA 24 (2000), 5-28, hier: 18,
der Kroisos ansonsten moralisch verantwortlich für seine
Taten erachtet, sieht keinen Schatten, der in dieser
Episode auf ihn falle. S. Saïd, Herodotus and Tragedy, in:
E. J. Bakker, I. J. F. de Jong, H. van Wees (Hg.), Brill’s
Companion to Herodotus, Leiden/Boston/Köln 2002,
117–147, hier: 134 sieht spricht gar von einem „predetermined
fate“.
12 Lediglich J. Schulte-Altedorneburg, Geschichtliches Handeln
(wie Anm. 2), 144-145 hat zu denken gegeben,
dass Kroisos in diesem Punkte im entscheidenden
Gespräch mit Kroisos ein ,vermeidbarer Fehler‘ unterlaufe,
und damit Kroisos dennoch in der Verantwortung
gesehen. Interessant ist diesem Kontext auch der Artikel
von R. V. Munson, Ananke in Herodotus, in: JHS 121
(2001), 30–50. Aus ihren Analysen von Herodots Verwendungen
der Notwendigkeitsbegriffe geht hervor,
dass die Bedeutung dieser bei Herodot gerade nicht einer
Determination gleichkommt.
(d) Zur Notwendigkeit des
im Traum vorausgesagten
Geschehens
Die Erzählung führt somit vermeintlich vor Augen,
dass Kroisos das Glück nicht in der eigenen
Hand hat. Ja vielmehr scheint der Gott sich an
Kroisos für dessen Arroganz und Hochmut, weil
er glaubte, ganz allein über die Kriterien seines
Glücks befinden zu können, zu rächen. Die Erzählung
scheint so ein weiteres Beispiel dafür zu
sein, dass Herodot noch – naiv – an metaphysische,
göttliche Kräfte glaubt, die mit dem Menschen
nach Lust und Laune spielen oder ihn auch
strafen können. Mehr sogar noch: Obwohl oder
sogar gerade dadurch, dass er alles unternimmt,
um das, was ihm das Traumgesicht angekündigt
hat, zu vermeiden, sorgt er gegen seinen Willen
dafür, dass sich der Traum bewahrheitet. In der
Forschung gibt es zu dieser Episode kaum zwei
Meinungen, zu sehr scheint in dieser Erzählung
Herodots Glauben an die Determination des irdischen,
historischen Geschehens durch das Göttliche
Ausdruck zu finden. 11 Der Gott scheint einen
Willen zur Bestrafung von Kroisos zu verfolgen,
den er auch durchsetzt. Die Notwendigkeit des
Geschehens gründet damit vermeintlich also
doch im göttlichen Willen. Gegen diese Communis
Opinio ist bislang einzig als Argument angeführt
worden, dass Kroisos hätte in Erwägung
ziehen können, dass Männer mit Lanzen an der
Jagd beteiligt sein würden. Wenn Kroisos also
aus Vorsicht sogar die Lanzen in den Gemächern
von den Wänden genommen habe, hätte er auch
so umsichtig sein und bedenken können, dass
auch von den Lanzen der Begleiter seines Sohnes
eine Gefahr für ihn ausgehen kann. 12 Dass Kroisos
diesen Gedanken aber nicht fasst, zeigt, wie sehr
Herodot ihn im ersten Buch der Historien als einen
Menschen zeichnet, der sich zum einen nicht oder
nur sehr bedingt dazu fähig zeigt, um- und weitsichtig
zu denken, und der sich (damit verbunden)
zum anderen von ihm plausiblen und präsenten
Gedanken ganz vereinnahmen lässt, so dass er
in seinem Denken nicht tiefer dringt, womit seine
Denkhaltung als durchaus verantwortlich für das
Geschehen betrachtet werden kann.
Gerade weil Herodot diese Episode durch seine
auktoriale Überleitung unmittelbar mit der Kroisos-Solon-Erzählung
verbindet, scheint es nun
ferner geboten, die Art der Notwendigkeit des
Geschehens auch vor dem Hintergrund genau
dieses Gesprächs zu betrachten. Die zu stellende
Frage lautet, ob nicht die Notwendigkeit auch
in diesem Fall eher in einem göttlichen Wissen
begründet liegt und der Eingriff des Gottes über
den Traum eine Herausforderung der genannten
Schwäche des Kroisos in seiner Denkhaltung bedeuten
kann, ohne dass der Gott aber Kroisos’
Handeln determiniert.
Wenn das Traumgesicht Kroisos den Tod seines
Sohnes durch die Lanze vor Augen hält, so verfügt
der Traum vor dem Hintergrund des Solon-
Kroisos-Gesprächs doch auch über das Potential,
Kroisos ein analoges Glück, das Tellos, Kleobis
und Biton zuteilwurde, in Aussicht zu stellen.
Denn der Traum suggeriert, dass Atys in Verbindung
mit einer ehrenhaften Tat für die Gemeinschaft
umkommen wird. Der Traum bietet Kroisos
damit sogar die Gelegenheit, in dem bevorstehenden
Tod des Atys analog zu der Mutter von
Kleobis und Biton das Schönste zu erblicken,
was seinem Sohn zuteilwerden kann. Denn auf
die Länge des Lebens kommt es nach Solon nicht
an, um das Leben und einen Menschen als glücklich
zu betrachten. Kroisos erhält also Anlass,
sich glücklich zu schätzen ob des vortrefflichen
Kindes, das vermutlich sogar noch wie Tellos für
seine ehrenvolle Tat nach dem Tod geehrt würde.
Dass auch Atys selbst im Gespräch mit seinem
Vater von Herodot die Worte in den Mund gelegt
bekommt, dass es das Schönste und Ehrenvollste
sei, in den Krieg zu ziehen oder auf die Jagd
zu gehen, stellt ebenfalls die Verbindung zu den
Kategorien her, nach denen Solon Tellos, Kleobis
und Biton für die Glücklichsten hielt und nach denen
Kroisos Atys und auch sich selbst glücklich
schätzen könnte.
Es ist in diesem Kontext deshalb gar nicht nötig,
den Gedanken stark zu machen, dass Kroisos
nach Herodot das kommende Unglück, weil es
vom Gott beschlossen worden ist, nicht abwehren
könne. Vielmehr kann als Deutung in den
Vordergrund gerückt werden, dass das Göttliche
das Unglück des Kroisos gerade nicht willentlich
herbeiführt. Es bietet Kroisos aufgrund seines
Vorauswissens zunächst vielmehr mit dem Traum
die Möglichkeit, sich wegen der Aussicht, dass
seinem Sohn ein analoger Tod wie Tellos, Kleobis
und Biton zuteilwerden wird, selbst glücklich zu
schätzen. In dem Kontext, in dem das Traumgesicht
steht, eröffnet es Kroisos die Möglichkeit,
sich diesem Gedanken zu öffnen und das Glück
auf eine Weise zu finden, wie dies nach Solon
auch Menschen ohne Reichtum finden können.
Nur wenn er sich dem Gedanken aber aus eigenen
Stücken nicht öffnet und er meint, sein Glück
selbst anders zu erreichen und bemessen zu können,
ereilt ihn die Trauer als Strafe und tritt an die
Stelle seines Glücks. Dass dieser Traum zu einer
göttlichen Strafe wird, kann auch dann aus der
Perspektive des Kroisos als Strafe begriffen werden,
wenn er selbst zwar innerhalb einer göttlichen
Weltordnung, die ihm die Verantwortung für
sein eigenes Handeln lässt, nicht aber aufgrund
eines Gottes, der sein Handeln determiniert, ins
Unglück gerät. Dieser Zusammenhang wird zum
Abschluss des Beitrages noch genauer reflektiert.
Die Notwendigkeit, mit der die göttliche
Voraussage eintritt, kann jedenfalls wieder allein
im göttlichen Wissen begründet liegen. Dieses
Wissen liegt nach dem Anspruch, den die Pythia
geäußert hat, darin, dass das Göttliche auch die
menschlichen Gedanken kennt, ohne von ihnen
zu hören. Wenn das Göttliche als ein Ewiges zudem
nicht an zeitlich diskursives Erkennen gebunden
ist, sondern alles Geschehen gleichzeitig erkennen
kann, kann leicht angenommen werden,
dass das Göttliche wissen kann, wie sich Kroisos
und auch Atys entscheiden werden, wenn sie das
entsprechende Traumgesicht haben, bzw. davon
hören, und es kann so auch wissen, dass ausge-
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