Februar 2006 - SchulArena.com
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TG/SH 2 <strong>2006</strong><br />
52<br />
KANTON THURGAU<br />
nen überhaupt noch aufzunehmen, geschweige<br />
denn zu verarbeiten und mit<br />
ihnen umzugehen» (Patzlaff, 2000). In<br />
Deutschland wird die Zahl der Analphabeten<br />
inzwischen mit 4 Mio. angegeben,<br />
was einem Anteil von 15% der über Fünfzehnjährigen<br />
entspricht. Tendenz steigend<br />
(Spiegel 36/1995). Der kalifornische<br />
Literaturwissenschaftler Barry Sanders beschrieb<br />
in seinem Buch «Ais for Ox» die<br />
katastrophalen gesellschaftlichen und kulturellen<br />
Folgen des Postanalphabetentums<br />
und stellte als eine der Hauptursachen<br />
den wachsenden Konsum elektronischer<br />
Medien, v.a. des Fernsehens, heraus<br />
(1995).<br />
Ein Gutachten der OECD (Organisation<br />
für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit)<br />
bestätigte 1995 die Warnungen<br />
von einigen Wissenschaftlern.<br />
Gerade in den reichsten Ländern der Erde<br />
verfügten teilweise mehr als 20% der Erwachsenen<br />
nur über dürftige Schreibund<br />
Rechenfähigkeiten. Die vor zwei Jahren<br />
durchgeführte PISA-Erhebung kommt<br />
zu ähnlichen Resultaten für den deutschen<br />
Sprachraum.<br />
Sprache hat mit Beziehung zu tun. Eine<br />
gesunde Sprachentwicklung kann nur geschehen<br />
in Interaktion zwischen Menschen,<br />
beim Kleinkind zwischen ihm und<br />
den Eltern, bzw. einer Bezugsperson. Interaktion<br />
kann das Fernsehen nicht bieten.<br />
Das Kind sitzt stumm vor dem Kasten<br />
und starrt in extrem rasch flimmernde<br />
Bildpunkte. Der Blick ist starr, ohne die<br />
sonst gewohnte Augenaktivität. Auf die<br />
Nähe des Fernsehens zur Trance haben<br />
australische Forscher vor bald 30 Jahren<br />
hingewiesen (Emery F. und M. 1976).<br />
Heinemann kritisiert, dass das Medium<br />
Fernsehen auf Kinder wegen seiner Überwertigkeit<br />
der visuellen Informationen einen<br />
äusserst ungünstigen Einfluss ausübt.<br />
Was gesprochen wird, nimmt das Kind<br />
kaum wahr angesichts der rasch wechselnden<br />
Bilder. Zudem nimmt im Kind mit<br />
den Jahren die Fähigkeit ab, innere Bilder<br />
zu sehen (Heinemann, 1992).<br />
Die englische Sprachtherapeutin S. Ward<br />
hatte schon1996 festgestellt, dass 20 Prozent<br />
der untersuchten Kinder im Alter von<br />
9 Monaten schon körperliche (!) Entwicklungsrückstände<br />
aufwiesen, wenn Eltern<br />
den Fernseher als Babysitter eingesetzt<br />
hatten. Wurde das Fernsehen fortgesetzt,<br />
hatten die meisten Kinder mit drei Jahren<br />
bereits ein Jahr Entwicklungsrückstand,<br />
sprachen also die Sprache eines Zweijährigen,<br />
womit ihre gesamte Entwicklung gefährdet<br />
war (Ward, 1992).<br />
Damit soll gesagt sein, dass in einer<br />
frühen Phase die Kinder viel prägsamer<br />
sind als später. Was in den ersten Lebensjahren<br />
versäumt wurde, kann nie mehr im<br />
gleichen Masse aufgeholt werden.<br />
– Die erste grundlegende Entwicklungsphase<br />
des Gehirns ist mit drei Jahren<br />
abgeschlossen. Wenn in dieser Phase<br />
dem Kind die Palette möglicher Tätigkeiten<br />
und Erfahrungen nur eingeschränkt<br />
zur Verfügung stand, bilden<br />
sich viele neuronale Verbindungen<br />
nicht aus, und das Gehirn bleibt in seiner<br />
Grösse um 25–30 Prozent zurück<br />
(Buzzel, 1998). Zum Aufbau der Wahrnehmung<br />
im Gehirn braucht das Kleinkind<br />
viele körperliche Tätigkeiten (Zimmer,<br />
1995).<br />
– Aufrechtstehen, Gehen und die Koordination<br />
der Hände werden in den ersten<br />
vier Jahren erlernt. Ab dem vierten bis<br />
zum zehnten Lebensjahr steht dann die<br />
Möglichkeit offen, die Feinmotorik der<br />
Hände und Gliedmassen durch vielfältigste<br />
Anregung auszubilden, danach<br />
nimmt die Bildbarkeit rapide ab.<br />
– Die feinmotorische Führung der Augenmuskulatur<br />
ist mit vier Jahren noch<br />
nicht abgeschlossen, sondern braucht<br />
zur vollen Reife weitere Jahre (Fischer,<br />
1999).<br />
Als Zusammenfassung ein Zitat von Prof.<br />
Renate Zimmer: «Den meisten Kinder<br />
fehlt heute eine ausgewogene Stimulierung<br />
und Entwicklung aller Sinnesbereiche.<br />
Sie leben in einer reizintensiven und<br />
sensationsreichen Umwelt, ohne die Zeit<br />
und Gelegenheit zu haben, die Vielzahl<br />
der Reize auch zu verkraften. Andrerseits<br />
wachsen sie in einer hinsichtlich ihrer körperlich-sinnlichen<br />
Erfahrungen verarmten<br />
Lebenswelt auf, die ihnen viele Anregungen<br />
und Erfahrungen vorenthält bzw. verschliesst.<br />
Dies ist auch ein Grund für eine<br />
Vielzahl von Wahrnehmungsstörungen».<br />
«So ist die Raumwahrnehmung und -vorstellung<br />
die Voraussetzung für das Schreiben-<br />
und Lesenlernen und auch für einfache<br />
mathematische Operationen» (Zimmer<br />
1995).<br />
Mangelnde Geborgenheit<br />
Nachdenklich macht der Bericht eines Neurobiologen,<br />
der feststellt, dass eine wesentliche<br />
Ursache für Hirnentwicklungsstörungen<br />
mangelnde Geborgenheit ist.<br />
«In einer Welt, in der die Geborgenheit<br />
verloren geht, kann die Hirnentwicklung<br />
nicht mehr normal verlaufen… Wenn wir<br />
unser komplexes und ausgesprochen<br />
lernfähiges Gehirn bis ins Alter weiterentwickeln<br />
wollen, dann müssen wir ein<br />
Weltbild und mit ihm eine Gesellschaft<br />
verabschieden, die allein auf Konkurrenz<br />
und Wettbewerb setzt.» (Hüther G.,<br />
1999).<br />
Bergmann erwähnt, dass im Zusammenhang<br />
mit POS/ADS immer «Mama» im<br />
Zentrum steht und die prägende Figur<br />
eines abwesenden oder flüchtigen oder<br />
schwachen Vaters im Hintergrund (Bergmann,<br />
2003). «Diese Konstellation<br />
scheint für Kinder, besonders für kleine<br />
Jungen, fatal zu sein. Sie zwingt sie in Bindungen<br />
zu Mama, die einen desorientierenden<br />
Charakter haben. Sie zwingen<br />
diese Kinder dazu, die Mama-Beziehung<br />
auf keinen Fall aufzugeben, weil sie die<br />
einzige Bindung ist, die sie überhaupt<br />
noch aufrecht erhalten können. …Sie<br />
sind auf seltsame Weise antriebsleer und<br />
trotzdem unruhig, immer gelangweilt und<br />
zugleich unfähig, eine «interessante»<br />
Tätigkeit aufzunehmen… Sie kennen<br />
buchstäblich nur ihr Ego und dies ist weitgehend<br />
leer.» (Bergmann, 2003, S. 128/<br />
129).<br />
Die Kinder brauchen die Zeit ihrer Eltern,<br />
aber sie brauchen nicht einfach «mehr<br />
Zeit» mit ihren Eltern, sondern «qualitative<br />
Zeit» mit ihnen, besonders mit ihren<br />
Vätern (Bergmann, 2003).<br />
Folgerungen<br />
Unsere Kinder haben viele Einflüsse und<br />
zum Teil schwierige Bedingungen auszuhalten,<br />
die ihre körperliche, seelische und<br />
geistige Entwicklung beeinträchtigen<br />
können. Sie sind vor allem in der Stadt